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https://de.wikipedia.org/wiki/Smaragdlibellen
Smaragdlibellen
Die Smaragdlibellen (Somatochlora) sind eine Gattung der Falkenlibellen (Corduliidae) mit derzeit 43 beschriebenen Arten. Sie sind im Wesentlichen rund um die Arktis in Nordamerika, Europa und Asien vom südlichen Indien bis an den nördlichen Wendekreis (zirkumboreal) anzutreffen. Einzelne Arten gehören damit zu den Libellen mit den nördlichsten und damit kältesten Verbreitungsgebieten und sind entsprechend durch ihre Lebensweise, Entwicklungszeiten und durch physiologische Eigenschaften wie einem Gefrierschutz bei den Larven an Kaltregionen angepasst. Mit 17 Arten ist Kanada der Staat mit der größten Artenfülle und in Nordamerika ist es die artenreichste Falkenlibellengattung überhaupt. In Europa sind sieben Arten anzutreffen, von denen drei auch im russischen Ostasien leben, wo vier weitere Arten existieren. Für Japan sind sieben Arten nachgewiesen, von denen jedoch nur S. clavata dort endemisch ist, während die anderen Arten auch im östlichen Asien verbreitet sind. Ihren deutschen Namen erhielten die Smaragdlibellen aufgrund ihrer smaragdgrünen Augen, auch der englische Name „Emeralds“ beziehungsweise „Emerald dragonflies“ für diese Libellen leitet sich hiervon ab. Merkmale Die Smaragdlibellen weisen sowohl als Larven wie auch als ausgewachsene Tiere (Imago) nur eine vergleichsweise geringe Varianz in ihren Merkmalen auf, insbesondere bezüglich Körpergröße und Färbung. Merkmale der Imagines Die mit 39 bis 68 Millimeter mittelgroßen Imagines besitzen in der Regel einen dunkel gefärbten und metallisch glänzenden Körper mit einer undeutlichen hellen Zeichnung. Von einigen teilweise dicht behaarten Körperstellen wie den Thoraxseiten abgesehen sind sie moderat behaart. Ein auffälliger Geschlechtsdimorphismus besteht bei den Arten nicht, Geschlechtsunterschiede beschränken sich auf die Ausbildung der Genitalanhänge am Hinterleib sowie auf die Form des Hinterleibs, der bei den Weibchen durch die im Inneren liegenden und mit Eiern gefüllten Ovarien anders als bei den Männchen zylindrisch ist und am dritten Hinterleibssegment keine Einschnürung aufweist. Besonders ausgeprägt ist dieser Unterschied unter den europäischen Arten bei S. metallica. Die Augen sind nach dem Schlüpfen der Imago rötlich braun und färben zu einem leuchtenden Smaragdgrün aus. Das Gesicht ist schwarz mit einem metallischen Glanz, die metallisch blaue Frons besitzt in der Regel gelbe Seitenflecke oder ein durchgehendes gelbes Band und auch das Labium ist meistens hell. Der Thorax ist metallisch grün und kann kupferfarbene Reflexe hervorrufen. Er ist weitestgehend ungezeichnet, kann jedoch bei einigen Arten maximal ein bis zwei helle Flecken bzw. Streifen aufweisen. Das Abdomen ist sehr dunkel – von schwarz bis metallisch dunkelgrün – und besitzt eine artspezifische undeutliche Zeichnung aus hellen Flecken und weißlichen Intersegmentalringen. Das zweite Abdominalsegment ist verdickt. Die Beine sind in der Regel schwarz bis schwarzgrau, wobei die Vorder- und Hinterbeine der Männchen mit einem Kiel auf den Tibien ausgestattet sind, der den Mittelbeinen fast immer fehlt. Die Flügel sind in der Regel farblos, können jedoch insbesondere bei frisch geschlüpften Weibchen vor allem am Vorderrand auch rauchgrau oder gelblich sein. Teilweise ist zudem die Flügelbasis bernsteinfarben. Die Flügeladerung ähnelt den nahe verwandten Falkenlibellen (Cordulia), unterscheidet sich von ihnen jedoch durch zwei zusätzliche Queradern zwischen der Cubitalader und der Analader. Die Flügeldreiecke sind zweizeilig, die Subtriangel des Vorderflügels dreizeilig und die des Hinterflügels einzeilig und durchsichtig. Unter dem Flügelmal (Pterostigma) befindet sich eine einzige Vene. Die Hamuli, Verzahnungsstrukturen am Genital der Männchen für die Paarung, sind groß und abgeflacht. Sie bilden Haken mit nach hinten gerichteter Spitze und die Form ist artspezifisch. Die Cerci (Appendices superiores) sind zugespitzt und besitzen ventrale Zähnchen, die Form ist artspezifisch unterschiedlich. Das Epiproct (Appendix inferior) ist kürzer und länglich dreieckig, wobei das Ende oft zugespitzt und umgebogen und seltener abgestumpft oder leicht eingebuchtet ist. Die Subgenitalplatte kann artspezifisch in Form und Größe sehr unterschiedlich ausgeprägt sein; es gibt flache, rinnen- und schnabelförmige Ausprägungen. Durch diese Variationen des Hinterleibs lassen sich Smaragdlibellen am besten über die Ausgestaltung der Hinterleibsanhänge unterscheiden und bestimmen. Merkmale der Larven Die Larven entsprechen in ihrem Habitus den typischen Falkenlibellenlarven. Sie besitzen einen breiten Kopf (doppelt so breit wie lang) und das Abdomen ist mehr oder weniger oval ausgebildet. Die Färbung ist in der Regel einfarbig dunkelbraun, teilweise mit schwarzen Flecken am Körper und an den Beinen, dunkle Streifen an den Thoraxseiten sind jedoch nie vorhanden. Sie sind mäßig bis stark behaart und besitzen kurze bis mittellange Beine. Die Fangmaske ist wie für Falkenlibellen typisch als „Helmmaske“ ausgebildet, sie ist also nicht flach wie die „Tellermaske“ bei anderen Großlibellenlarven, sondern schüsselförmig gebaut. Diese tiefe Schale wird durch die Labialpalpen und den Vorderteil des umgeformten Prämentums gebildet und oben durch lange, aufrichtbare Borsten abgeschlossen. Der Innenrand der Labialpalpen ist eingekerbt und besitzt einen spitzen Dorn als beweglichen Haken. Das Fangmaskengelenk (Labialsutur) reicht bis an die Basis des Mesothorax oder bis zum Ansatz der Hüften (Coxae) des mittleren Beinpaares. Die Hinterflügelscheide reicht bei den Larven des Endstadiums (F-0) bis zur Mitte des sechsten Abdominalsegments. An den Segmenten 3 bis 9 können Rückendornen vorhanden sein. Seitendornen sind maximal an den Segmenten 8 und 9 ausgebildet, können jedoch auch fehlen. Die Analpyramide ist etwa so lang wie die beiden letzten Segmente (9 und 10) gemeinsam. In Europa werden die Larven der alpestris-Gruppe (S. alpestris, S. arctica, S. sahlbergi) von denen der metallica-Gruppe (S. metallica, S. meridionalis, S. flavomaculata, S. graeseri) unterschieden. Bei den Larven der ersten Gruppe ist die Behaarung stark, Rückendornen sind nicht vorhanden und Seitendornen sind minimal ausgebildet, letztere besitzen eine schwache Behaarung und sind auf dem Rücken und an den Seiten mit deutlichen Dornen ausgestattet. Genetische Merkmale Wie bei den meisten Insektengruppen liegen auch von Smaragdlibellen nur sehr wenige Daten zur Genetik und dem Genom vor. Bislang ist von keiner Libellenart das Genom vollständig sequenziert. Einzelne Genabschnitte der Kern-DNA und der mitochondrialen DNA von verschiedenen Arten wurden für vergleichende phylogenetische Analysen verwendet wie beispielsweise für S. flavomaculata auf der Basis von 18S und 28S rRNA sowie bei den Arten S. viridiaenea (in zwei Unterarten) und S. clavata in Japan auf der Basis mitochondrialer DNA. Von Ardila-Garcia und Gregory 2009 wurde im Rahmen einer Abschätzung der Genomgröße von etwa 100 Libellenarten auch die Größe des Genoms von S. williamsoni und S. elongata bestimmt. Dabei wurde für S. williamsoni eine Genommasse von 1,9 pg (Pikogramm) und für S. elongata von 2,85 pg ermittelt (1 pg entspricht etwa 1 Milliarde Basenpaaren), wobei die Abschätzung gegenüber bekannten Daten für Drosophila melanogaster und Tenebrio molitor erfolgte. Innerhalb der Studie besaß S. elongata das größte Genom von allen untersuchten Arten. Verbreitung Auch wenn viele Arten in südlicheren Gebieten und S. dido auf Taiwan sowie S. daviesi im südlichen Indien bis an den nördlichen Wendekreis anzutreffen sind, sind Smaragdlibellen vor allem holarktisch in Nordamerika und Eurasien und im Wesentlichen zirkumboreal verbreitet. Einzelne Arten gehören damit zu den Libellen mit dem nördlichsten und damit kältesten Verbreitungsgebieten. Mit 17 Arten besitzt Kanada die größte Artenfülle. In Europa sind sieben Arten anzutreffen, von denen drei auch im russischen Ostasien leben, wo vier weitere Arten existieren. Auch in Japan sind sieben Arten beschrieben, von denen jedoch nur S. clavata endemisch ist, während alle anderen auch im östlichen Asien verbreitet sind. Die Lebensräume der Smaragdlibellen variieren artabhängig und regional, wobei eine Vorliebe für Moorgebiete erkennbar ist. So kommen 14 der 17 kanadischen Arten in Hochmooren vor und auch die europäischen Arten sind überwiegend in Moorgebieten vertreten. Lebensweise Wie alle Libellen sind auch Smaragdlibellen aufgrund der aquatischen Entwicklung ihrer Larven auf Gewässer angewiesen. Ausgewachsene Tiere entfernen sich teilweise sehr weit von den Brutgewässern und bei einigen Arten findet die Paarung sogar bevorzugt auf Hügeln statt. Dabei lassen sich nur wenige Aussagen treffen, die für alle Arten der Smaragdlibellen gelten. Lebensweise der Larven Die Larven ernähren sich anfangs vom Rest ihres Dottervorrats, beginnen jedoch bereits in der ersten Woche mit dem Beutefang, bei dem sie ihre bereits einsatzfähige und voll ausgebildete Fangmaske nutzen. Sie ernähren sich opportunistisch, fangen also fast alles, was sie überwältigen können. Dabei sind Smaragdlibellenlarven Lauerjäger am Boden und orientieren sich überwiegend an taktilen Reizen, während die Augen für den Beutefang nur eine untergeordnete Rolle spielen. Wie bei S. metallica beobachtet, klettern sie nicht in die Wasserpflanzen zum Beutefang, wie dies bei anderen Libellenlarven vorkommt. Kotanalysen der Larven von S. alpestris in kleinen Alpentümpeln ergaben als Nahrung vor allem Zuckmückenlarven, Wasserflöhe, Schlammfliegenlarven, kleine Muscheln, Ringelwürmer und Wassermilben, aber auch Büschelmückenlarven, die in der Regel Freiwasserbewohner sind, und auch Larven der eigenen Art (Kannibalismus). Bei Analysen des Mageninhalts von S. arctica in Norwegen bestand die Nahrung zu 58 Prozent aus Zuckmückenlarven und zu 40 Prozent aus Wasserflöhen, die restlichen 2 Prozent stellten Wassermilben dar. Die Larvengewässer der meisten Smaragdlibellen zeichnen sich durch sehr niedrige pH-Werte und hohe Nährstoffgehalte aus (Moorgewässer). Die Larven sind sehr tolerant gegenüber Verunreinigungen und können in Gewässern unterschiedlichster Eigenschaften von völlig oligotroph bis stark eutroph leben, ebenso wie in sehr weichem bis hartem und stark saurem bis leicht basischem Wasser. Mehrere Wochen in Wasser mit einem pH-Wert von 3 oder auch in destilliertem Wasser schadeten untersuchten Larven von S. alpestris und S. arctica nicht. Sie sind allerdings sehr empfindlich gegenüber zu hohen Wassertemperaturen, wobei konstante Temperaturen von mehr als etwa 26 °C für die Tiere sehr ungünstig sind. Auch gegenüber dem Einfrieren gelten Smaragdlibellenlarven verglichen mit anderen Libellenlarven als sehr tolerant. Sie überstehen längere Frostperioden bei Temperaturen bis etwa −20 °C unbeschadet, solange das Zellinnere nicht einfriert. Dies gelingt ihnen unter anderem durch spezielle Substanzen in den Körperflüssigkeiten, die als Frostschutzmittel dienen; vor allem Polyhydroxyalkohole erfüllen diese Funktion. Eine weitere besondere Anpassung der Smaragdlibellenlarven ist ihre sehr lange Überlebensfähigkeit bei der Austrocknung ihrer Larvalgewässer, was bei kleineren Tümpeln vor allem im Hoch- und Spätsommer häufig geschieht. Dabei überdauern die Larven die Trockenperioden teilweise im eingetrockneten Schlamm, die Larven der amerikanischen S. hineana sollen sich hierzu auch in Krebsbauten zurückziehen. In feuchtem Substrat wie Laubstreu und Moospolstern beträgt die Überlebensdauer teilweise mehrere Monate. In Experimenten konnten Larven von S. semicircularis im Trockenen bei 20 °C und ungefähr 70 Prozent Luftfeuchte im Mittel 13 Tage überleben, während Larven anderer Arten aus denselben Gewässern in der Hälfte der Zeit austrockneten. Lebensweise der Imagines Mit dem Jungfernflug beginnt die präreproduktive Phase des Imaginallebens, während deren sich die Reifung der ausgewachsenen Libellen vollzieht. Der Jungfernflug führt in der Regel steil in die Baumwipfel der gewässerumgebenden Vegetation und kann bei fehlender Vegetation auch einige hundert Meter weit reichen. Die Anfälligkeit gegenüber Fressfeinden – vor allem Vögeln – ist während dieses Jungfernflugs besonders hoch, da die noch nicht voll ausgehärteten Libellen nur vergleichsweise unbeholfen fliegen und manövrieren können. Während der Reifungszeit leben die Libellen in ihrem Reifungshabitat im Bereich der Vegetation abseits der Gewässer, etwa auf Waldlichtungen und in locker buschigem Gelände. Dabei weisen die Habitate bei allen Smaragdlibellen eine ähnliche Struktur auf. So findet sich S. sahlbergi im subarktischen Birkenwald und S. arctica in aufgelockertem Nadelwald, als Ruheplätze nutzen sie die hohen Baumbereiche. Anders als viele andere Libellen nutzen Smaragdlibellen (und auch andere Falkenlibellen) keine Warten, von denen aus sie ihre Beute erspähen und dann jagen, sondern jagen im Flug. Sie jagen dabei vor allem Kleininsekten wie Mücken (vor allem Zuckmücken) und Fliegen. Dabei durchfliegen sie mehr oder weniger geradlinig bis wellenförmig, manchmal auch in Zickzackflügen, vor allem die Paarungsschwärme ihrer Beutetiere und fangen Einzelinsekten, die sie mit ihren Mundwerkzeugen packen und noch in der Luft zerkauen. Seltener jagen sie auch größere Einzelinsekten wie Steinfliegen, Eintagsfliegen oder Regenbremsen. Für S. metallica konnte auch die Jagd auf die Vierflecklibelle (Libellula quadrimaculata) nachgewiesen werden. Dabei erfolgt die Jagd in der Regel auf dem Land in einiger Entfernung zum Wasser an offenen Stellen im Moor oder an baumarmen Hängen und offenen Waldbereichen, während die Libellen am Paarungsplatz oder -gewässer nur selten Insekten fangen. Gelegentlich jagen Smaragdlibellen auch im Verband, wobei die japanischen S. viridiaenea in einem Verband von 23 Individuen und die nordamerikanischen S. hineana sogar mit 30 bis 70 Individuen beobachtet wurden. S. alpestris kann im Gegensatz dazu jedoch auch Jagdreviere bilden, die sie gegen Artgenossen verteidigt. Fortpflanzung und Entwicklung Fortpflanzung Nach dem Abschluss der Reifezeit und damit während der reproduktiv aktiven Periode halten sich Männchen wie Weibchen zur Paarung wieder im Bereich der Fortpflanzungsgewässer auf, wobei die Flugzeiten artabhängig variieren. S. flavomaculata befindet sich zwischen 8:30 und 17:00 Uhr nach Untersuchungen am Paarungsgewässer, während S. alpestris bis etwa 19:00 Uhr dort anzutreffen ist. Die nordamerikanische S. linearis ist dagegen nur am frühen Morgen bis maximal 8:00 Uhr am Paarungsgewässer zu finden. Der Treffpunkt der Geschlechter (Rendezvousplatz) entspricht bei den meisten Arten den Eiablagegewässern. Insbesondere bei Arten, die ihre Eier in kleine Gewässer ablegen wie bei S. arctica und S. alpestris, kann er jedoch auch abseits des Wassers liegen. Die Männchen besuchen die Rendezvousplätze auf der Suche nach paarungsbereiten Weibchen und patrouillieren hier teilweise für mehrere Stunden oder suchen die umgebende Vegetation ab. Einzelne Arten sind dabei territorial und verteidigen ihre Reviere gegenüber anderen Männchen oder auch anderen Arten. So bildet S. clavata in Japan Reviere an Bewässerungsgräben in Reisanbauflächen. Auch wurden Revierverteidigungen bei S. metallica an Kleinseen und bei S. meridionalis an schmalen Fließgewässern beobachtet. Weibchen kommen dagegen nur selten und dann in der Regel nur für kurze Zeit an die Rendezvousplätze, sodass der Anteil der anwesenden Männchen meistens deutlich über 90 Prozent (operational sex ratio (OSR) > 0,9) liegt, während das Verhältnis in der Gesamtpopulation eher ausgeglichen ist. Eingeleitet wird die Paarung bei Smaragdlibellen (und auch bei anderen Falkenlibellen) nur sehr selten abseits der Rendezvousplätze und der Eiablagegewässer. Die Weibchen werden optisch erkannt, wobei die Männchen erst auf die Art der Bewegung reagieren und die Weibchen nachfolgend an der Form des Hinterleibs erkennen. Fehlpaarungen kommen nur sehr selten vor, allerdings können einzelne Arten miteinander hybridisieren und lebensfähige gemeinsame Nachkommen produzieren. Dokumentiert ist dies vor allem von S. sahlbergi mit S. hudsonica und S. albicincta in Yukon, Kanada. Die unverpaarten Weibchen signalisieren ihre Paarungswilligkeit durch ein spezielles Flugverhalten, bei dem sie mehrfach verharren (Präkopulationsflug, „premating flight“). Wenn sie dabei entdeckt werden, werden sie von einem Männchen angeflogen und für die Paarung gepackt. Die Paarung findet bei allen Falkenlibellen und den meisten Großlibellen in gleicher Weise statt. Dabei ergreift das Männchen das Weibchen in der Regel mit den Beinen von oben am Thorax und „wandert“ dann nach vorne zum Kopf. Dort ergreift es mit den Cerci den Kopf des Weibchens und fliegt mit dem Weibchen im Tandemflug weiter. Indem es sein Abdomenende erneut nach vorne zieht, überträgt es Spermien in den Kopulationsapparat an der Unterseite des zweiten Abdominalsegments. Danach fordert es das Weibchen zur Bildung des Paarungsrades auf, bei dem das Weibchen das eigene Hinterleibsende unter den Kopulationsapparat des Männchens bringt und dort verkoppelt. Während die meisten Arten nun rasch in die Vegetation fliegen, bleiben einige Smaragdlibellen wie S. arctica und S. flavomaculata noch mehrere Minuten kreisend über dem Rendezvousplatz und setzen sich erst dann auf einen sicheren Platz in der Vegetation, wo die eigentlich Begattung stattfindet. Die Dauer der Kopulation kann auch innerhalb der Arten sehr stark variieren, sie liegt in der Regel zwischen 15 Minuten und fast einer Stunde (oder sogar darüber). Die paarigen Hamuli des Männchens sind dabei mit der Subgenitalplatte des Weibchens verhakt, während der „Penis“ zwischen die beiden Lappen der Subgenitalplatte geschoben wird und mit Pumpbewegungen das Sperma in die weibliche Genitalöffnung presst. Nach der Begattung trennen sich zunächst die Genitalien und erst ein bis zwei Sekunden später löst sich auch der Tandemgriff, bevor einer der Partner abfliegt, während der andere in der Regel noch eine kurze Zeit am Paarungsplatz verbleibt. Eiablage Die Eiablage erfolgt erst einige Zeit nach der Begattung, wobei das Weibchen allein am Eiablageplatz erscheint und den Männchen auszuweichen versucht, um die Eier ungestört ablegen zu können und weiteren Kopulationen zu entgehen. Die Weibchen von S. flavomaculata, S. arctica und S. alpestris verhalten sich dabei sehr unauffällig innerhalb der Vegetation. Werden sie entdeckt, fliehen sie vor den Männchen in Richtung Ufer oder signalisieren Paarungsunwilligkeit durch einen nach unten gekrümmten Hinterleib. Die befruchteten Eier mit dem enthaltenen Embryo, der sich im Ei aus der Zygote bildet, werden bei der Eiablage in das Wasser abgegeben, wobei sie bei den Smaragdlibellen und den nahe verwandten Falkenlibellen der Gattung Cordulia in kleinen Gruppen abgelegt werden. Sie treten rasch aufeinander folgend aus der Geschlechtsöffnung aus und sammeln sich ohne zu verkleben unter der rinnenförmig ausgebildeten Subgenitalplatte. Wie bei allen Falkenlibellen werden die aus der Genitalöffnung austretenden Eier im Flug an der Wasseroberfläche in kleinen Portionen von 2 bis 15 Eiern an der Wasseroberfläche abgetupft und sinken dann zum Gewässerboden ab. Sie vereinzeln sich, danach sinken sie ab und bleiben auf dem Substrat des Gewässerbodens oder auf Pflanzenteilen liegen. Durch Wasseraufnahme im Exochorion quellen die Eier gallertig auf und verkleben mit der Substratfläche. Bei den Eiern von S. arctica und S. alpestris dauert es etwa 30 bis 60 Minuten, bis die Eier klebrig werden und sich nach dem Absinken festsetzen können. Bei Fließgewässerarten könnte dieser Prozess schneller gehen, um eine Drift zu verhindern – entsprechende Untersuchungen liegen für Smaragdlibellen jedoch nicht vor. Die Anzahl der abgegebenen Eier liegt bei etwa 300 bis 1.000 pro Weibchen, wobei einzelne Weibchen auch mehrfach Eier legen können. Allerdings kommt bei verschiedenen Smaragdlibellen im Gegensatz zu fast allen anderen Libellen auch eine Eiablage an Land vor. So legt S. metallica Eipakete in das weiche Substrat am Seeufer, indem sie sie mit Hilfe des Ovipositors etwa einen Millimeter in den Boden versenkt. Ähnliches wurde auch bei S. meridionalis, S. sahlbergi, S. uchidai, S. williamsonis, S. elongata und S. minor beobachtet, für weitere Arten mit ähnlich spitzhammerartig geformtem Ovipositor wird das gleiche Verhalten angenommen. Die Eier entgehen auf diese Weise aquatischen Räubern, die Larven müssen allerdings nach dem Schlupf entweder aktiv ins Wasser gelangen oder eingespült werden. Embryonalentwicklung Wie bei allen anderen Libellenarten findet auch die Entwicklung der Smaragdlibellen nach der Befruchtung der Eier in der Spermathek (paarig angelegte, schlauchförmige Kammern, in denen die Spermien der Männchen nach der Kopulation gespeichert werden) in den Eiern im Hinterleib des Körpers der weiblichen Libellen statt. Die Geschlechtsentwicklung hängt dabei davon ab, ob die Zellen nach der Befruchtung ein oder zwei X-Chromosomen enthalten. Der Embryo entwickelt sich zur Prolarve, die im Wasser schlüpft und sich hier zu einer vollständigen Larve ausbildet. Die Gesamtentwicklung von der Befruchtung bis zum Schlupf der Prolarve aus dem Ei dauert bei S. viridiaenea 19 bis 21 Tage. Am vierten Entwicklungstag ist der Keimstreifen des Embryos etwa auf die Länge des Eis angewachsen und am folgenden Tag werden die Segmente mit den Körperanhängen ausgebildet. Ab dem neunten Tag beginnt die Ausrollung des Embryos, der in den verbleibenden etwa 10 Tagen voll ausreift. Die Augenanlagen bestehen bei Smaragdlibellen aus nur sieben Einzelaugen (Ommatidien), bei der Gattung Epitheca sind es zehn und bei den Edellibellen (Aeshnidae) sogar bis zu 270. Für die Embryonalentwicklung ist ein sehr enges Temperaturfenster mit einer Spanne von etwa 10 °C notwendig. S. arctica und S. alpestris stellen wahrscheinlich unterhalb von 16 °C die Entwicklung ein, bei dauerhaften Temperaturen oberhalb von 26 °C sterben die Eier und Embryonen ab. Der Schlupf erfolgt nach Abschluss der Embryonalentwicklung, allerdings liegt zwischen dem Abschluss der Morphogenese im Herbst bei den im Ei überwinternden Larven eine Diapause, sodass sie erst im darauffolgenden Frühjahr, induziert durch eine Temperaturerhöhung, schlüpfen. Diese Diapause-Eier sind beispielsweise für S. arctica und S. alpestris nachgewiesen. Beim Schlupf sägt die Prolarve mit einem fein gezähnten Kamm auf dem Kopf (in Analogie zum Eizahn der Vögel ebenfalls als „Eizahn“ bezeichnet) die Eihaut von innen auf und befreit sich durch schlängelnde Bewegungen vom Ei und der Gallerte. Der Schlupf kann sowohl tagsüber wie auch nachts erfolgen, konzentriert sich allerdings auf die Zeit direkt nach Sonnenuntergang und wird wahrscheinlich durch den Lichtwechsel induziert. Larvalentwicklung Die Larvalentwicklung stellt bei den Smaragdlibellen, wie bei anderen Libellen auch, den längsten Lebensabschnitt dar und dauert – artabhängig – in der Regel mehrere Jahre. So wird die Entwicklungszeit von S. arctica und S. alpestris auf jeweils mindestens drei Jahre mit zwei bis drei Überwinterungen geschätzt. Bei Arten mit sehr weit im Norden liegenden Verbreitungsgebieten wie S. semicircularis in Colorado und S. sahlbergi in Yukon, Kanada, beträgt die Entwicklungszeit sogar vier bis fünf Jahre. Das Prolarvenstadium (von einigen Autoren bereits als erstes Larvenstadium bezeichnet) ist nach dem Schlupf etwa einen Millimeter lang und durchscheinend. Die weitere Entwicklung verläuft über mindestens 11 Häutungen, wodurch 12 bis 14 Larvenstadien möglich sind. Die Körpergröße nimmt mit jeder Häutung etwa um ein Viertel zu, die Stadiendauer nimmt ebenfalls zu und kann bei einigen Arten in späteren Stadien wieder abnehmen. Bei einigen Arten kommt es zu einem so genannten crowding effect, wenn mehrere Larven desselben Geleges im gleichen Kleingewässer aufwachsen und so um Nahrung konkurrieren. In diesem Fall wurde für Handaufzuchten von S. arctica nachgewiesen, dass sich nur ein einzelnes Individuum normal entwickelt, während die anderen auch bei optimaler Ernährung im Wachstum zurückbleiben. Dies ist insbesondere dann von Bedeutung, wenn die Larven gemeinsam in sehr kleinen Moortümpeln aufwachsen, wie dies bei einigen Smaragdlibellen der Fall ist. Vor der Umwandlung zur Imago erfolgt bei den meisten Larven eine weitere Diapause zur Überwinterung im letzten Larvenstadium, wodurch der Abschluss der Larvalentwicklung synchronisiert werden kann und die Imagines im frühen Frühjahr fast gleichzeitig schlüpfen und ausfliegen. Umwandlung zur Imago Den Abschluss der Larvalentwicklung bildet die Imaginalhäutung (Schlupf) und die Veränderung des Lebensraums und der Lebensweise vom Wasserleben zum Landleben (Ausflug bzw. Emergenz). Die Umwandlung der Larve zur Imago, die Metamorphose, wird bei allen Insekten hormonell durch das Ecdyson und das Juvenilhormon gesteuert und vollzieht sich am Ende des letzten Larvenstadiums durch einen plötzlichen Ecdyson-Anstieg und ein Fehlen des Juvenilhormons. Bei den Libellen wird die Bildung der Imaginalorgane, insbesondere der Geschlechtsorgane, abgeschlossen, larvale Merkmale wie die Fangmaske werden wenige Tage vor der letzten Häutung zurückgebildet. Kurz vor der Umwandlung zur Imago steigt die Larve an einem Pflanzenhalm oder einem anderen Substrat aus dem Larvengewässer aus und klammert sich daran oberhalb der Wasseroberfläche fest. Dies geschieht bevorzugt im Bereich des Ufers. Die Atmung erfolgt über bereits ausgebildete Tracheen mit Atemöffnungen (Stigmata) am Thorax. In dieser Haltung trocknet die Larvenhaut und wird von der Libelle durch das so genannte „Pumpen“ von der neuen Haut abgelöst. Während dieser Zeit kommt es zum „Beinkreisen“ zur besseren Verankerung, das für Falkenlibellen typisch ist und unter anderem für S. meridionalis beschrieben ist. Die Haut platzt im Bereich der Flügelscheiden auf und der Riss erweitert sich über die Flügelanlagen und den Kopf. Aus dieser Öffnung quellen Kopf und Thorax hervor, danach werden die Beine, die Flügel und der Hinterleib von der Larvenhaut befreit. Nachdem die Imago vollständig aus der Larvenhülle ausgestiegen ist, erfolgt die Entfaltung der Flügel, die sich bis zum Schlupf stark aufgefaltet in den Flügelscheiden befanden, durch das Einpumpen von Hämolymphe. Gleichzeitig wird der Hinterleib gestreckt und es erfolgt eine vollständige Aushärtung und Ausfärbung der Libelle. Mit dem anschließenden Jungfernflug beginnt das Imaginalleben. Die Emergenz der Smaragdlibellen erfolgt entweder mit dem Beginn der warmen Saison im Frühjahr (Frühjahrsarten), wobei die letzte Larvalhäutung vor dem Winter stattfand, oder nach ein oder zwei weiteren Häutungen im Frühsommer (Sommerarten). So wird S. alpestris als Frühjahrsart und S. metallica als Sommerart beschrieben, während S. arctica regional sowohl Frühjahrs- wie Sommerart sein kann. Der Schlupf dauert mehrere Stunden, für S. alpestris wurde eine Dauer von etwa 3,5 und für S. arctica von 4,5 Stunden beobachtet. Er findet bei den meisten Arten während des Vormittags statt. Für S. semicircularis aus den Rocky Mountains konnte nachgewiesen werden, dass bis zum Mittag etwa 75 Prozent der Tageskohorte geschlüpft sind und die restlichen Libellen in den direkt folgenden Stunden abfliegen. Imaginalleben Das Imaginalleben, also das Leben als ausgewachsene und schließlich auch fortpflanzungsfähige Libelle, ist im Vergleich zur mehrjährigen Larvalentwicklung nur sehr kurz. Für Falkenlibellen wird eine durchschnittliche Lebensdauer von 50 Tagen angenommen, Freilanduntersuchungen bei S. alpestris haben maximal 66 Tage und durchschnittlich nur 45 Tage ergeben. Die Libellen sind nach der Emergenz allerdings noch nicht fortpflanzungsfähig, sondern bedürfen noch einer kurzen Reifezeit, die sie in der umgebenden Vegetation verbringen. In dieser Zeit härten die Tiere vollständig aus, wobei sich die anfänglich braunen Augen in ein leuchtendes Smaragdgrün umfärben, der dunkle Körper den typischen grünen Metallglanz erhält und sich die Geschlechtsorgane vollständig entwickeln. Die Reifezeit dauert bei den Smaragdlibellen zwischen 7 und 28 Tagen, bei S. uchidai sogar bis zu 36 Tagen beim Männchen und 32 Tagen beim Weibchen bei einer maximal festgestellten Lebensdauer von 69 Tagen für die Männchen und 49 Tagen für die Weibchen. Fressfeinde und Parasiten Fressfeinde der Larven und Fraßvermeidung Sowohl die Larven wie auch die Imagines werden oft Beute anderer räuberisch lebender Tierarten (Prädatoren). So werden die Larven vor allem von Libellenlarven (teilweise auch der eigenen Art) sowie von Fischen erbeutet, wobei diesbezüglich keine gattungsspezifischen Unterschiede zwischen Smaragdlibellen und anderen Libellenlarven dokumentiert sind. Für die nahe verwandte Epitheca cynosura wurde ermittelt, dass bereits im ersten Larvenjahr innerhalb eines Monats nach dem Schlupf bis zu 60 Prozent der Junglarven durch andere Libellenlarven und Fische dezimiert werden, für Cordulia amurensis liegen sogar Berechnungen vor, dass nach der fünfjährigen Entwicklungszeit nur etwa 0,2 Prozent der ursprünglichen Larven bis zum Schlupf überleben. Zum Schutz gegenüber Fressfeinden dienen vor allem die verschiedenen Möglichkeiten der Tarnung und des Versteckens, zudem die Eiablage in sehr kleinen und meist sauren Gewässern, die keine Fische enthalten. Letzteres wird von S. arctica und S. alpestris praktiziert, die ihre Eier in Kleinstgewässern im Moor ablegen, wo kein Fraßdruck durch Fische besteht. Andere Arten wie S. meridionalis sind stark abgeflacht und besitzen ein körperauflösendes (somatolytisches) Farbmuster auf dem Hinterleib, wodurch sie am Boden sehr gut getarnt sind. S. alpestris besitzt demgegenüber einen hochaufgewölbten Hinterleib mit einem dichten Besatz an Borsten, in dem sich Torfpartikel verfangen, sodass die Larven im Torfschlamm getarnt sind. Werden die Larven trotz Tarnung entdeckt und angegriffen, erfolgt ein Totstellreflex (Thanatose). S. metallica, S. meridionalis und S. flavomaculata besitzen zudem wie viele andere Libellenlarven starke Dornen auf dem Rücken und an den Seiten des Hinterleibs, durch die besonders die größeren Larven gemeinsam mit den abgespreizten Beinen Fische vom Verzehr abhalten. Experimentell konnte nachgewiesen werden, dass einige Libellenlarven in Gegenwart von Fischen größere Dornen ausbilden und in fischreichen Gewässern größere Dornen besitzen. Für Smaragdlibellen liegen diesbezüglich jedoch keine Untersuchungen vor. Parasitenbefall ist bei Smaragdlibellenlarven nur wenig dokumentiert. Allgemein werden Libellenlarven von Gregarinen und Larvenstadien von Band- und Saugwürmern sowie von Saitenwürmern befallen. So konnte für S. metallica ein Befall mit Larven eines Bandwurms der Gattung Schistotaenia nachgewiesen werden, bei der gleichen Art fand sich auch der Saitenwurm Gordius aquaticus. Neben diesen parasitischen Besiedlern können Libellenlarven zudem als Substrat für sessile Einzeller und Kleintiere wie Glockentierchen (beispielsweise Zoothamnium spec.), Süßwasserpolypen (Hydra spec.) und Moostierchen (beispielsweise Fredericella) dienen, die unter anderem an S. metallica nachgewiesen wurden (Epizoose). Fressfeinde der Imagines Die Imagines der Falkenlibellen fallen aufgrund ihrer Färbung und ihrer Geschwindigkeit nur vergleichsweise selten Beutegreifern zum Opfer. Sie sind besonders anfällig während der Imaginalhäutung und des Jungfernfluges, als Paarungsrad sowie bei der Eiablage. Die gelegentliche Erbeutung wurde für eine Reihe von Vogelarten nachgewiesen, unter anderem Buchfink, Rauchschwalbe und Rohrschwirl. Größere Bedeutung als Nahrung kann die Gattung für den Bienenfresser haben, wobei in Südostpolen bei letzterem beobachtet wurde, dass lokal bis zu 20 Prozent der Nestlingsnahrung aus S. flavomaculata bestand. Hinzu kommen Frösche, Raubfliegen sowie andere Großlibellen, die Smaragdlibellen jagen können, seltener auch Spinnen und Fische. Tote und sterbende Libellen, die geschwächt auf die Wasseroberfläche der Fortpflanzungsgewässer fallen, werden von Wasserläufern attackiert und ausgesaugt und in Spinnennetzen gefangene Libellen können von Skorpionsfliegen und anderen Aasfressern gefressen werden. Zu den Parasiten der Imagines gehören vor allem die bereits die Larven befallenden Gregarinen sowie Saug- und Bandwürmer, die die Libellen als Zwischenwirte nutzen und als Endwirte meistens insektenfressende Vögel befallen. Hinzu kommen als Ektoparasiten insbesondere die Larven der Wassermilbengattung Arrenurus, in Europa ausschließlich Arrenurus pustulator. Diese suchen sich schlupfbereite Libellenlarven und steigen bei der Imaginalhäutung auf die Libellen über, wo sie sich an der Unterseite der hinteren Abdominalsegmente durch ein Saugrohr (Stylosom) von der Hämolymphe der Libelle ernähren und nach der drei bis vier Wochen dauernden parasitären Entwicklungsphase wieder ins Wasser fallen lassen. Der Befall kann dabei von sehr wenigen Milben bis über 1.000 Milben an einer Libelle betragen. Als Wirte der Milben wurden in Europa bislang nur S. metallica und Cordulia aenea identifiziert. Ebenfalls zu den Ektoparasiten gehören Gnitzen der Gattung Forcipomyia, die neben anderen Libellen auch S. arctica, S. uchidai und S. flavomaculata befallen und sich mit ihren stechend-saugenden Mundwerkzeugen an den Flügeladern nahe der Flügelbasis festsetzen und dort Hämolymphe saugen. In der Regel befinden sich maximal zwei bis drei Gnitzen an einer Libelle. Evolution und Systematik Fossilbericht Der Fossilbericht der Falkenlibellen ist insgesamt nur sehr spärlich, wobei auch die Zuordnung schwierig ist, wie die systematischen Diskussionen gezeigt haben. Als älteste, sicher den Falkenlibellen zugeordneter Fossilfund gilt heute die im Jahr 2005 beschriebene Molecordulia karinae aus dem Paläozän Dänemarks mit einem Alter von etwa 65 Millionen Jahren. Der älteste Fund einer Smaragdlibelle stammt evtl. aus dem Miozän Bulgariens (5 bis 24 Millionen Jahre), allerdings ist die aktuelle Zuordnung als Somatochlora alpestris ebenfalls umstritten. Äußere Systematik Die Smaragdlibellen werden als Gattung innerhalb der Falkenlibellen (Corduliidae) und damit in die Libelluloidea eingeordnet. Derzeit werden innerhalb dieser Familie insgesamt 39 Gattungen unterschieden, wobei die Monophylie der Falkenlibellen in Bezug auf die Segellibellen (Libellulidae) von mehreren Autoren angezweifelt wird. Dies betrifft insbesondere die Gattung Macromia und einige assoziierte Gattungen, die entsprechend von einigen Autoren als eigene Familie Macromiidae ausgegliedert werden, sowie die Gattungsgruppe um den Flussfalken (Oxygastra) und eine Reihe weiterer Gattungen, die als Schwestergruppe der gesamten restlichen Falkenlibellen und der Segellibellen betrachtet werden. Verwandtschaftsverhältnisse der Falken- und Segellibellen nach Ware et al 2007: Innerhalb der Falkenlibellen werden die Smaragdlibellen gemeinsam mit einigen Gattungen (u. a. Cordulia und Epitheca) zu den Corduliinae (bzw. Corduliidae sensu stricto) zusammengefasst, die als monophyletisch betrachtet wird. Zur Monophylie der Gattung selbst liegen keine Angaben vor, sie wird jedoch auch nicht angezweifelt. Die Schwestergruppe ist nicht eindeutig bestimmt. Innere Systematik Die heute gültige Erstbeschreibung der Gattung als Somatochlora erfolgte durch Edmond de Selys-Longchamps im Jahr 1871. Der wissenschaftliche Name leitet sich von den griechischen Bezeichnungen sôma für „Körper“ und chlôros für „grün“ ab, bedeutet also „grüner Körper“. Die gleiche Bedeutung hatte auch der ältere Name Chlorosoma, der der Gattung 1840 von Toussaint von Charpentier gegeben wurde und sich aus denselben Wörtern in anderer Reihenfolge zusammensetzte. Da dieser Name jedoch bereits für die heute unter dem Namen Philodryas bekannte Natterngattung vergeben war, wurde er ungültig und durch den von Edmond de Selys-Longchamps vergebenen Namen ersetzt. Innerhalb der Smaragdlibellen werden je nach Autor etwa 40 Arten unterschieden, wobei die Unterschiede in der Artenzahl vor allem auf die potenzielle Synonymisierung einzelner Arten als Unterarten anderer zurückzuführen sind. Die nachfolgende Artenliste orientiert sich dabei an Schorr et al. 2014 und listet 43 Arten: Gefährdung und Schutz Innerhalb der Smaragdlibellen gibt es einige Arten, die regional oder auch in ihrer Gesamtverbreitung als gefährdet eingeschätzt werden. Die International Union for Conservation of Nature and Natural Resources (IUCN) führt in der Roten Liste gefährdeter Arten 13 Somatochlora-Arten, von denen jedoch nur zwei als gefährdet („vulnerable“) und drei als Arten der Vorwarnliste („near threatened“) eingeschätzt werden, während die übrigen Arten als ungefährdet („least concern“) betrachtet werden oder die Datenlage für eine Gefährdungseinschätzung nicht ausreichend ist („data deficient“). Die gefährdete Art S. margarita zeichnet sich durch ein sehr kleinräumiges Verbreitungsgebiet aus – so ist S. margarita endemisch in zwei US-Bundesstaaten. Auch die drei Arten der Vorwarnliste (S. hineana, S. ozarkensis und S. calverti) haben sehr begrenzte Verbreitungsgebiete und wurden daher entsprechend eingestuft. Belege Literatur Hansruedi Wildermuth: Die Falkenlibellen Europas. (= Die Neue Brehm-Bücherei. Band 653). Westarp Wissenschaften Hohenwarsleben 2008, ISBN 978-3-89432-896-2. Garrison, von Ellenrieder, Louton: Dragonfly Genera of the New World. The Johns Hopkins University Press, Baltimore 2006, ISBN 0-8018-8446-2, S. 168 ff. James George Needham, Minter Jackson Westfall, Michael L. May: Dragonflies of North America. Smithsonian Institution Press, 2001, ISBN 0-945417-94-2. Klaus Sternberg, Rainer Buchwald (Hrsg.): Die Libellen Baden-Württembergs. Band 2: Großlibellen (Anisoptera). Verlag Eugen Ulmer, Stuttgart 2000, ISBN 3-8001-3514-0, S. 236 ff (Artporträts für S. alpestris, S. arctica, S. flavomaculata und S. metallica). Edmund Murton Walker: The North American Dragonflies of the genus Somatochlora. University of Toronto, 1925. Weblinks Falkenlibellen
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https://de.wikipedia.org/wiki/Angus%20Campbell%20%28Sozialpsychologe%29
Angus Campbell (Sozialpsychologe)
Albert Angus Campbell (* 10. August 1910 in Leiters Ford, Indiana; † 15. Dezember 1980 in Ann Arbor, Michigan) war ein amerikanischer Sozialpsychologe, der von 1946 bis zu seinem Tod am Survey Research Center der University of Michigan wirkte und mit seinen Arbeiten grundlegende Beiträge zur Wahlforschung leistete. Zusammen mit anderen Autoren entwarf er zur Erklärung des Stimmverhaltens von Wählern bei politischen Wahlen ein sozialpsychologisches Modell, das als eine der drei theoretischen Hauptströmungen der Wahlforschung gilt. Diesem auch als Ann-Arbor-Modell bezeichneten Ansatz zufolge werden, mit je nach Wahlsituation wechselnder Gewichtung, die Beurteilung der Kandidaten, die Bewertung der aktuell relevanten politischen Themen sowie die Parteiidentifikation als die wesentlichen Faktoren bei der individuellen Wahlentscheidung angesehen. Sein 1960 unter dem Titel The American Voter erschienenes Hauptwerk gilt dementsprechend als politikwissenschaftlicher Meilenstein mit weitreichendem Einfluss auf andere Autoren. Darüber hinaus beschäftigte sich Angus Campbell auch mit der Untersuchung der Beziehungen zwischen den verschiedenen ethnischen Bevölkerungsgruppen in den USA sowie der Erforschung der Wahrnehmung von Lebensqualität und Zufriedenheit. Er gilt als Pionier der angewandten Meinungsforschung und war im Bereich der politischen Psychologie einer der einflussreichsten Wissenschaftler in der zweiten Hälfte des 20. Jahrhunderts. Für seine wissenschaftlichen Leistungen wurde er unter anderem mit dem Distinguished Scientific Achievement Award der American Psychological Association ausgezeichnet und 1980 in die National Academy of Sciences aufgenommen. Leben Ausbildung und frühe Arbeiten Angus Campbell wurde 1910 als fünftes von sechs Kindern der Eheleute Albert Alexis Campbell und Orpha Brumbaugh in Leiters Ford im US-Bundesstaat Indiana geboren und wuchs ab dem zweiten Lebensjahr in Portland auf. Sein Vater, Sohn eines Farmers aus einem streng presbyterianischen Umfeld, hatte an der University of Michigan Latein und Griechisch studiert und war als Lehrer sowie später in leitenden Positionen in der Schulverwaltung in Miami County, Indiana und in Portland tätig gewesen. Angus Campbell absolvierte ein Studium der Psychologie an der University of Oregon und erlangte 1931 seinen B.A.- sowie ein Jahr später seinen M.A.-Abschluss. Anschließend wechselte er an die Stanford University, an der er unter anderem Lehrveranstaltungen von Kurt Lewin besuchte. Lewin, mit dem er bis zu dessen Tod freundschaftlich verbunden war, übte großen Einfluss auf die fachlichen Ansichten von Angus Campbell aus. 1936 promovierte er unter Ernest Hilgard, der aufgrund seiner Forschungs- und Lehrmethodik zum Vorbild für Angus Campbell wurde, mit einer Arbeit über die Konditionierung des Wimpernschlages. Im gleichen Jahr nahm er eine Stelle als Dozent für Psychologie an der Northwestern University an, an der er 1940 zum Assistant Professor ernannt wurde. Nachdem er ursprünglich geplant hatte, seine auf seiner Doktorarbeit basierende Orientierung zur experimentellen Psychologie weiter auszubauen, wurde aufgrund der Lehrverpflichtungen an der Northwestern University die Sozialpsychologie zum Schwerpunkt seines Wirkens. Er kam dabei in Kontakt mit dem Anthropologen Melville J. Herskovits, auf dessen Anraten er mit einem Stipendium des Social Science Research Council 1939 nach Großbritannien an die Cambridge University ging, um sich als Postdoktorand in Sozialanthropologie weiterzubilden. Bereits nach einem halben Jahr kehrte er jedoch, bedingt durch den Beginn des Zweiten Weltkrieges, vorzeitig in die USA zurück. In der Folgezeit widmete er sich auf den Amerikanischen Jungferninseln einer Feldstudie über die Kultur und den Charakter der Einwohner von Saint Thomas. Während seines Aufenthalts auf Saint Thomas heiratete er im Juni 1940 seine Frau, die er als Psychologiestudentin an der Northwestern University kennengelernt hatte. Aus der Ehe gingen zwei Töchter und ein Sohn hervor. Tätigkeit an der University of Michigan 1942 wechselte Angus Campbell an die von Rensis Likert aufgebaute Division of Program Surveys, eine Abteilung des Landwirtschaftsministeriums der Vereinigten Staaten, deren Aufgabe die Untersuchung der durch den Krieg bedingten sozialen und wirtschaftlichen Probleme in den Vereinigten Staaten war. Er fungierte hier von 1942 bis 1944 als Studienleiter, von 1944 bis 1945 als Forschungsdirektor und von 1945 bis 1946 als stellvertretender Leiter der Abteilung. Während dieser Zeit beschäftigte er sich mit der Methodik von Umfragen, insbesondere mit deren Planung, den zugrunde liegenden Interviewtechniken und dem Entwurf von Fragebögen. Nach dem Ende des Zweiten Weltkrieges wechselte die Abteilung 1946 unter der Bezeichnung Survey Research Center an die University of Michigan. Nachdem Kurt Lewin 1948 gestorben war, wurde seine Forschungsgruppe vom Massachusetts Institute of Technology ebenfalls an die University of Michigan verlegt und dort als Research Center for Group Dynamics etabliert. Beide Forschungszentren wurden dann zum Institute for Social Research zusammengefasst, als dessen Direktor Rensis Likert fungierte, während Angus Campbell stellvertretender Direktor wurde und die Leitung des Survey Research Center übernahm. Nach Likerts Pensionierung im Jahr 1970 wurde er dessen Nachfolger als Direktor des Instituts. Sechs Jahre später gab er diese Position auf, um sich als Programmdirektor des Survey Research Center wieder verstärkt Forschungsaktivitäten widmen zu können. Die Lehrverpflichtungen von Angus Campbell an der University of Michigan umfassten neben Vorlesungen an den Abteilungen für Psychologie und Soziologie ab 1964 auch Seminare in Rechtssoziologie an der juristischen Fakultät. Neben seinem akademischen Wirken fungierte er unter anderem zwischen 1959 und 1961 mehrfach als Berater der Ford Foundation. Darüber hinaus wirkte er in Komitees der National Academy of Sciences, des zum Arbeitsministerium der Vereinigten Staaten gehörenden Bureau of Labor Statistics und für verschiedene andere Regierungsbehörden sowie für Fachverbände wie die American Psychological Association und Wissenschaftsorganisationen wie das National Research Council. Seine Frau war an der University of Michigan als Direktorin des Zentrums für Weiterbildung tätig. Er starb 1980 im Alter von 70 Jahren in Ann Arbor infolge eines Herzinfarkts. Sein Nachlass wird in der Bentley Historical Library der University of Michigan verwahrt. Wirken Das Ann-Arbor-Modell des Wählerverhaltens Schwerpunkt der Forschungsaktivitäten von Angus Campbell war die Untersuchung des Wählerverhaltens bei politischen Wahlen, zu der er 1952 unter dem Titel The People Elect a President seine erste Monografie veröffentlichte. Als sein bekanntestes und einflussreichstes Werk gilt das acht Jahre später erstmals erschienene Buch The American Voter, das auf Untersuchungen von landesweiten Daten aus den Wahlen von 1952 und 1956 sowie kleineren Stichproben zu den Wahlen von 1948, 1954 und 1958 beruhte. Ziel der gemeinsam mit seinen Kollegen Philip E. Converse, Warren E. Miller und Donald E. Stokes veröffentlichten Studie war es, anstelle einer Betrachtung der gesamten Wählerschaft die Gründe für das individuelle Wählerverhalten zu analysieren. Angus Campbell entwickelte in diesem Werk ein bereits 1954 in The Voter Decides entworfenes Modell weiter, nach welchem die Wahlentscheidung vor allem auf drei Einflussgrößen beruht: der Beurteilung der Kandidaten, der Bewertung der aktuell relevanten politischen Themen sowie der sogenannten Parteiidentifikation. In The American Voter veränderte er diesen als Ann-Arbor-Modell bezeichneten Erklärungsansatz dahingehend, dass zum einen die Parteiidentifikation als langfristig stabile und zentrale Größe gilt. Zum anderen wurden diese drei Faktoren nicht mehr als gegeben betrachtet, sondern auf die historischen Erfahrungen und das soziale Umfeld des Wählers zurückgeführt. Darüber hinaus berücksichtigte er nun weitere Einflussgrößen wie die Wirtschaftslage und reagierte damit auf die Kritik, dass sein Ansatz den gesellschaftlichen Kontext bei der Wahlentscheidung fast vollständig ausblenden würde. Zur bildlichen Veranschaulichung seiner Theorie nutzte Angus Campbell in seinem Werk den Begriff des sogenannten „Kausalitätstrichters“ (Funnel of causality), der das Zusammenwirken aller relevanten Aspekte beschreibt, die letztendlich zur Wahlentscheidung führen. Der Vergleich mit einem Trichter verdeutlicht dabei den Anstieg der Komplexität bei der Betrachtung der möglichen Einflüsse, je weiter sich die Untersuchung von den drei postulierten sozialpsychologischen Hauptvariablen zu Faktoren in der individuellen Vergangenheit des Wählers verlagert. Aus den Untersuchungen, die dem Werk The American Voter zugrunde liegen, schlussfolgerten Angus Campbell und seine Kollegen unter anderem, dass für zwei Drittel bis drei Viertel aller Wähler ihre Wahlentscheidung bereits vor Beginn des Wahlkampfes feststeht. Demgegenüber legen sich rund zehn bis 20 Prozent während des Wahlkampfes fest, und nur etwa einer von zehn Wählern entscheidet sich in den letzten zwei Wochen vor der Wahl. Klassifikation von politischen Wahlen Aufbauend auf dem Ann-Arbor-Modell schlug Angus Campbell in The American Voter außerdem eine Einteilung für amerikanische Präsidentschaftswahlen vor. Diesem Ansatz zufolge seien die meisten dieser Wahlen, so beispielsweise die republikanischen Siege in den 1920er Jahren sowie die Wahl von 1948, sogenannte maintaining elections (machterhaltende Wahlen). Deren Ausgang wäre vorrangig von langfristigen Parteibindungen geprägt, wodurch die vorhandenen Machtverhältnisse erhalten bleiben würden. Demgegenüber stellte er zum einen Wahlen, die er als deviating elections (abweichende Wahlen) bezeichnete. Das Ergebnis einer solchen Wahl sei, wie beispielsweise bei den Wahlen von 1916 und 1952, in besonderem Maße durch die Persönlichkeiten der Kandidaten oder andere außergewöhnliche Umstände beeinflusst und weiche dadurch vorübergehend von längerfristig bestehenden parteipolitischen Wählerpräferenzen ab. Als dritten Typ definierte er andererseits sogenannte realigning elections (Neuausrichtungswahlen) wie die Wahlen von 1896 und 1932. In deren Ergebnis käme es seiner Theorie zufolge zu einer längerfristigen Veränderung der Wählerorientierung und der politischen Verhältnisse. 1966 veröffentlichte Angus Campbell zusammen mit anderen Autoren mit Elections and the Political Order ein weiteres Werk zur Wahlforschung, in dem neben Analysen des individuellen Wahlverhaltens in den USA auch vergleichende Studien auf der Basis von Daten aus Frankreich und Norwegen enthalten waren. Dieses Werk, bei dem es sich um eine Sammlung von zuvor bereits anderweitig veröffentlichten Beiträgen handelte, stellte eine durchgängige Aufbereitung und Weiterentwicklung des zuvor in The American Voter entworfenen Modells dar. Insbesondere wurde die Klassifikation von Wahlen um einen vierten Typ erweitert, die als reinstating elections (wiederherstellende Wahlen) bezeichnet wurden und durch eine Rückkehr zu vorher bestehenden politischen Verhältnissen gekennzeichnet sind. Von Angus Campbell selbst stammte in diesem Buch ein Beitrag, den er 1960 in der Fachzeitschrift Public Opinion Quarterly veröffentlicht hatte. In diesem entwarf er eine Erklärung für zwei regelmäßig auftretende Szenarien bei Wahlen in den USA. Dies betraf zum einen das Phänomen, dass nach einer Präsidentschaftswahl die Partei des Präsidenten bei den unmittelbar folgenden Kongresswahlen Sitze verliert, und zum anderen die Beobachtung, dass eine Zunahme der Wahlbeteiligung bei Präsidentschaftswahlen nur bei einer von beiden Parteien zu einem nennenswerten Zugewinn an Wählerstimmen führt. Als Ursache postulierte er einen von ihm als „Surge and Decline“ bezeichneten Effekt, mit dem er den Wechsel beschrieb zwischen high stimulus elections (Wahlen mit hohem Anreiz), zu denen er die Präsidentschaftswahlen zählte, und low stimulus elections (Wahlen mit geringem Anreiz), zu denen seiner Meinung nach die meisten auf eine Präsidentschaftswahl folgenden Kongresswahlen gehörten. Bei high stimulus elections mit einer hohen Wahlbeteiligung stünde bei der Wahlentscheidung vor allem die Bewertung der Kandidaten und der aktuellen Themen im Vordergrund gegenüber der Parteiidentifikation. Sowohl sogenannte periphere Wähler mit geringerem Wahlinteresse als auch unabhängige Wähler ohne feste Parteiidentifikation würden sich bei einer solchen Wahl überwiegend an kurzfristig wirkenden Faktoren orientieren. Demgegenüber sei bei low stimulus elections insbesondere die langfristige Parteiidentifikation ausschlaggebend für die Wahlentscheidung. Neben dem Ausbleiben der peripheren Wähler und damit einer geringeren Wahlbeteiligung entfällt deshalb meist auch die Wirkung der die vorhergehende high stimulus election entscheidenden kurzfristigen Faktoren. Außerdem würden nach Angus Campbells Ansicht Wähler, die in einer high stimulus election aufgrund der aktuellen Umstände von ihrer Parteibindung abgewichen seien, in einer low stimulus election wieder entsprechend ihrer langfristigen Parteiidentifikation wählen. Weitere Forschungsinteressen Neben der Wahlforschung widmete sich Angus Campbell auch der Untersuchung der Beziehungen zwischen den verschiedenen ethnischen Bevölkerungsgruppen in den USA sowie in späteren Jahren seines Lebens der Analyse der Wahrnehmung von Lebensqualität und Zufriedenheit. In beiden Bereichen veröffentlichte er mehrere Werke, so 1971 die Monografie White Attitudes Toward Black People und fünf Jahre später The Quality of American Life: Perceptions, Evaluations, and Satisfaction. Sein letztes Werk, das auf Befragungen zum Ehe- und Familienleben, zur Arbeitssituation, zu den nachbarschaftlichen Verhältnissen, zum Lebensstandard, zur Gesundheit sowie zu einer Reihe weiterer Themen basierte, erschien 1980 unter dem Titel The Sense of Well-Being in America: Recent Patterns and Trend. Eine seiner Schlussfolgerungen aus diesen Untersuchungen war, dass in den USA eine steigende Zahl an Menschen nicht-wirtschaftlichen Faktoren eine zunehmend wichtige Bedeutung in ihrem Leben beimessen würden. Eine Neuauflage von The Quality of American Life sowie ein begonnenes Werk zur Lebensqualität älterer Menschen blieben aufgrund seines Todes unvollendet. Rezeption Wissenschaftshistorischer Kontext Der methodische und konzeptionelle Ansatz von Angus Campbell in der Wahlforschung stellte eine grundlegende Weiterentwicklung der Methodik der von Paul Felix Lazarsfeld begründeten Denkrichtung der Columbia School dar. Diesem mikrosoziologischen Modell zufolge, das Lazarsfeld auf der Basis von 1940 in Erie County, Ohio durchgeführten Befragungen postuliert hatte, wird das Stimmverhalten eines Wählers vor allem von den sozialen Gruppen beeinflusst, denen er angehört und deren politische Verhaltensnormen seine Wahlentscheidung prägen. Nach Lazarsfeld sind dabei der sozioökonomische Status, die Konfessionszugehörigkeit und die Größe des Wohnortes die entscheidenden Merkmale, die er zu einem „Index der politischen Prädisposition“ zusammenfasste. Seine Untersuchungen, die er 1944 in dem Werk The People’s Choice veröffentlichte, unterlagen dabei jedoch Beschränkungen, die sich aus der Fokussierung auf eine bestimmte lokale Bevölkerungsgruppe in einem einzigen Wahljahr ergaben. Lazarsfeld wurde in der Folgezeit das weitestgehende Versagen der Wahlprognosen bei der US-Präsidentschaftswahl 1948 angelastet, da die beteiligten Umfrageinstitute basierend auf seiner Theorie in der Endphase des Wahlkampfes auf Umfragen verzichtet hatten und somit den wahlentscheidenden Stimmungsumschwung zugunsten von Amtsinhaber Harry S. Truman nicht vorhersagten. In einer 1968 erschienenen Neuauflage von The People’s Choice erkannte Lazarsfeld die von Angus Campbell und seinen Kollegen postulierte Bedeutung der Parteiidentifikation an, betonte jedoch auch den Einfluss der Columbia School auf die von ihnen verwendete Methodik. Etwa zeitgleich zu Angus Campbells Arbeiten wurde von Anthony Downs mit seinem 1957 erschienenen Werk An Economic Theory of Democracy der Rational-Choice-Ansatz in die Wahlforschung eingeführt, der von einer rationalen Entscheidung des Wählers nach Abwägung von Aufwand und Nutzen zugunsten seiner eigenen Interessen ausgeht. Basierend auf diesem Modell wurde an Angus Campbells Theorie später unter anderem das Fehlen einer Regel kritisiert, mit der sich die Frage beantworten ließe, welche der drei von ihm untersuchten Hauptvariablen im Konfliktfall entscheidend sei. Für dieses Problem präsentierten Angus Campbell und seine Kollegen keine allgemeingültige Lösung. Ebenso wurde Angus Campbells Ansicht, dass die Parteiidentifikation langfristig stabil sei, auf der Basis des Rational-Choice-Ansatzes in Frage gestellt. Ein weiterer Kritikpunkt war, dass sein Ansatz zu sehr von den Besonderheiten des politischen Systems der Vereinigten Staaten wie dem dort bestehenden Zweiparteiensystem geprägt sei. Auch Angus Campbell selbst war der Meinung, dass sein Modell nicht auf andere politische Systeme übertragen werden könne. Später zeigte sich jedoch, dass sich der sozialpsychologische Kern seiner Überlegungen durch länderspezifische Wirtschafts-, Kultur- und Sozialfaktoren ergänzen lässt und dann für eine Vielzahl anderer Länder Gültigkeit besitzt. Die Autoren des Werkes The Changing American Voter vertraten den Standpunkt, dass die Schlussfolgerungen von Angus Campbell und seinen Kollegen spezifisch nur für die den analysierten Daten zugrundeliegenden Wahlen gelten würden und damit auch im Bezug auf Wahlen in den USA nicht allgemeingültig seien. Lebenswerk Angus Campbell trug durch sein Wirken wesentlich dazu bei, die Untersuchung psychologischer Fragestellungen in die vergleichende Politikwissenschaft zu integrieren. Er leistete außerdem wichtige methodische Beiträge zur Meinungsforschung, insbesondere im Bereich der Durchführung und Auswertung von Umfragen, und war mitverantwortlich für die Entwicklung des Institute of Social Research der University of Michigan zu einer der weltweit führenden Institutionen im Bereich der sozialwissenschaftlichen Forschung. Mit den Arbeiten zu seinem sozialpsychologischen Erklärungsmodell des Wählerverhaltens begründete er eine der drei theoretischen Hauptströmungen der Wahlforschung neben der mikrosoziologischen Theorie von Lazarsfeld und dem Rational-Choice-Ansatz von Downs. Durch Wählerbefragungen, die für die Forschung von Angus Campbell von zentraler Bedeutung waren, anstelle der Analyse von Wahlstatistiken gelang es ihm, zuvor bestehende Beschränkungen der Wahlforschung aufzuheben und deren Ausrichtung auf die Mikroebene individueller Motive und Entscheidungen zu verlagern. Dies ermöglichte detailliertere und verlässlichere Wahlanalysen als die Ableitung des Wählerverhaltens aus statistischen Untersuchungen von Wahldaten. Aus seinen Forschungen zum Wahlverhalten entstand später das Center for Political Studies innerhalb des Institute for Social Research an der University of Michigan. Angus Campbells Buch The American Voter gilt aufgrund seiner weitreichenden Bedeutung als konzeptioneller und methodischer Durchbruch im Bereich der Untersuchung der amerikanischen Politik sowie als Schlüsselwerk der Politikwissenschaft. Sein langanhaltender Einfluss auf die Wahlforschung kommt unter anderem in einer Reihe von Veröffentlichungen anderer Autoren mit ähnlichen Titeln zum Ausdruck. Zu diesen zählen beispielsweise The Changing American Voter (1976), The Unchanging American Voter (1989), The Disappearing American Voter (1992), The New American Voter (1996) sowie The American Voter Revisited (2008). Zusammen mit dem vier Jahre später veröffentlichten Elections and the Political Order bildete The American Voter die Grundlage für die Denkrichtung der Michigan School in der Wahlforschung. Die bis in die Gegenwart vom Survey Research Center regelmäßig im Rahmen der American National Election Studies durchgeführten Untersuchungen zu amerikanischen Präsidentschafts- und Kongresswahlen wurden hinsichtlich ihrer Methodik weltweit zum Modell für Studien zur Analyse von politischen Wahlen. Insbesondere in den 1960er und 1970er Jahren entwickelte sich die Ann Arbor Summer School, in der Angus Campbell und seine Kollegen die theoretischen Grundlagen ihres Modells sowie die darauf aufbauende Methodik der Datenerhebung und -auswertung lehrten, zum „Mekka der politischen Verhaltensforschung“ für Wahlforscher aus anderen Ländern. Auszeichnungen Angus Campbell erhielt für sein Wirken unter anderem 1962 den Distinguished Achievement Award der Amerikanischen Vereinigung für Meinungsforschung, 1969 den Distinguished Faculty Achievement Award der University of Michigan, 1974 den Distinguished Scientific Contribution Award der American Psychological Association, 1977 den Lazarsfeld Award des Council for Applied Social Research und 1980 den Laswell Award der Internationalen Gesellschaft für politische Psychologie. Die University of Strathclyde verlieh ihm 1970 einen Ehrendoktortitel. Darüber hinaus wurde er 1961 in die American Academy of Arts and Sciences und 1980 in die National Academy of Sciences aufgenommen. Das Survey Research Center vergibt zur Erinnerung an Angus Campbell ein nach ihm benanntes Stipendium. Schriften (Auswahl) The People Elect a President. Ann Arbor 1952 The Voter Decides. Evanston 1954 The American Voter. New York 1960 Elections and the Political Order. New York 1966 White Attitudes Toward Black People. Ann Arbor 1971 The Human Meaning of Social Change. New York 1972 The Quality of American Life: Perceptions, Evaluations, and Satisfaction. New York 1976 The Sense of Well-Being in America: Recent Patterns and Trends. New York 1980 Literatur Clyde H. Coombs: Angus Campbell 1910–1980. Reihe: Biographical Memoirs. Band 56. National Academy of Sciences, Washington D.C. 1987, ISBN 0-309-03693-3, S. 42–59 (mit Bild und Bibliographie; Online-Fassung) Kai Arzheimer: Angus Campbell/ Philip E. Converse/ Warren E. Miller/ Donald E. Stokes, The American Voter, New York 1960. In: Steffen Kailitz (Hrsg.): Schlüsselwerke der Politikwissenschaft. VS Verlag für Sozialwissenschaften, Wiesbaden 2007, ISBN 978-3-531-14005-6, S. 67–72 Edward G. Carmines, James Wood: Campbell, Albert Angus. In: Glenn H. Utter, Charles Lockhart: American Political Scientists: A Dictionary. Greenwood Press, Westport 2002, ISBN 0-31-331957-X, S. 57/58 Campbell, Angus (1910–1980). In: Raymond J. Corsini (Hrsg.): Encyclopedia of Psychology. Wiley, New York 1994, ISBN 0-47-186594-X, Band 1, S. 178 Weblinks University of Michigan - Institute for Social Research: Timeline (englisch, mit historischen Informationen und Fotos von Angus Campbell) University of Michigan - Bentley Historical Library: Angus Campbell Papers 1949–1980 (englisch, Nachlass von Angus Campbell) Einzelnachweise Sozialpsychologe Soziologe (20. Jahrhundert) Hochschullehrer (University of Michigan) Mitglied der National Academy of Sciences Mitglied der American Academy of Arts and Sciences Ehrendoktor der University of Strathclyde US-Amerikaner Geboren 1910 Gestorben 1980 Mann
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https://de.wikipedia.org/wiki/Blackbirding
Blackbirding
Blackbirding oder Blackbird catching bezeichnet seit Mitte des 19. Jahrhunderts die zwangsweise Heranziehung von Insulanern des Südpazifiks zur Arbeit. Im westlichen Südpazifik beheimatete Melanesier und Mikronesier wurden bevorzugt auf Plantagen in Australien sowie den Fidschi- und Samoainseln eingesetzt. Aus dem östlichen Südpazifik stammende Polynesier verbrachte man zumeist nach Peru und dem Königreich Hawaiʻi. Darüber hinaus wurde eine große Zahl von Insulanern zu Fischerei- und Matrosendiensten an Bord europäischer Schiffe geholt. Ein Kernelement der Praktik war die Anwendung von Täuschung, Drohung und Gewalt bei der Rekrutierung. Internationale Proteste bei den Arbeitgeberländern lösten eine weitgehende gesetzliche Regulierung des Handels mit Pazifikinsulanern als Arbeitskräften aus, die letztlich das blackbirding beendete. Bei der Strafverfolgung kam es zu spektakulären Gerichtsfällen. Bei englischen Missionsgesellschaften und der Royal Navy stand blackbirding unter dem Verdacht des Sklavenhandels. Ob es sich bei dem umfassenden System der indentured labour (Arbeitsverpflichtung), das mit dem blackbirding bedient wurde, insgesamt um eine Spätform der Sklaverei handelte, ist bis heute umstritten. Methoden Alle Formen des blackbirding zeigen in unterschiedlichem Maß Elemente von physischer Gewalt, Erpressung oder Täuschung. Bei Begegnungen auf See nahm man Kanus mit Insulanern häufig vor den Bug und rammte sie, um dann eine Rettungsaktion vorzutäuschen und die Insassen an Bord zu schaffen. Hier verführten Kapitäne oder Anwerber sie, eine vertragliche Verpflichtung zur Plantagenarbeit abzuzeichnen, oder machten sie durch Drohungen, physische Gewalt, Verabreichung von Alkohol oder Opium handlungsunfähig und setzten sie mit Fußeisen gefangen. Menschenjagden auf Pazifikinseln zur Erlangung von Arbeitskräften gab es genauso wie Fälle von Raub und Erpressung. Häufig wurden einzelne Wohnstätten oder ganze Dörfer niedergebrannt, womit Inselherrscher oder Familienoberhäupter zur Abgabe von Stammesmitgliedern an die rekrutierenden Kapitäne oder Schiffsmannschaften gezwungen werden sollten. An speziellen Täuschungsmanövern gab es den sogenannten Missionarstrick, dessen Erfindung dem Anwerber Henry Ross Lewin auf Tanna (Neue Hebriden) oder dessen Komplizen John Coath zugeschrieben wird: In einer subtileren Variante schickten Anwerber einen eingeborenen Matrosen in einer Missionarskutte an Land, um Insulanern die Möglichkeit einer geistlichen Karriere vorzuspiegeln und sie an Bord zu locken. Plumpere Täuschungsmanöver fanden bei der Aufklärung über die Inhalte des zu schließenden Arbeitsvertrags statt, welche mit dem Erlass des Queenslander Pacific Island Labourers Act (1880) vorgeschrieben wurde. Laut einem Bericht des Stellvertretenden Britischen Hochkommissars für den Westpazifik, Hugh Hastings Romilly, konnten: Ebenso häufig hielt man Insulaner über die Entfernung ihres Arbeitsorts zur Heimatinsel im Dunkeln. Täuschungen über Arbeitsbedingungen und -zeiten am Zielort waren üblich. Für sich genommen sind die dortigen Verhältnisse aber kein Aspekt des blackbirding, sondern des umfassenden Systems der indentured labour. Auch jene Pazifikinsulaner trafen sie an, die ihren Arbeitsvertrag bewusst und freiwillig eingegangen waren. Fragen nach mangelhaften hygienischen Bedingungen während der Schiffstransporte und hoher Sterblichkeit bei den Plantagenaufenthalten behandelt die Forschung ebenso getrennt von blackbirding in Einzeluntersuchungen. Beginn Im Zuge des Abolitionismus kam es in nahezu allen Küstenregionen des Stillen Ozeans, besonders den britischen Kolonien dieser Gebiete, zu einer Verknappung an Hilfskräften für ungelernte und schwere körperliche Tätigkeit. In den australischen Kolonien verschärfte die Abschaffung der Strafgefangenschaft (1850–1868), einer weiteren Quelle für billige Arbeitskräfte, die Lage zusätzlich. Während des Amerikanischen Bürgerkriegs (1861–1865) verknappte sich weltweit die Verfügbarkeit von Baumwolle. Britische Kaufleute begrüßten neue und regelmäßige Rohstoffquellen, die von Importen aus Amerika unabhängig machen konnten. Ein Anbau in der Kolonie Queensland (Australien) ohne billige Arbeitskräfte wurde jedoch als nicht profitabel angesehen. Walfängerbesatzungen mit ihren durch den Niedergang der Walfangindustrie freigesetzten Schiffen, australische Bankrotteure und Flüchtlinge des Amerikanischen Bürgerkriegs, die auf Pazifikinseln Zuflucht genommen hatten, fanden in der Anwerbung solcher Kräfte ein lukratives Betätigungsfeld. Der Unternehmer und Politiker Benjamin Boyd unternahm von 1847 bis 1849 die ersten Versuche, Hilfskräfte für Australien zu rekrutieren. Mit den Schiffen Portenia und Velocity führte er knapp 200 Einwohner der Loyalitäts- und der Gilbertinseln ein, die bei der Schafschur auf Farmen in New South Wales arbeiten sollten. Die Aktion schlug fehl, da es zwischen den Insulanern als Billigkonkurrenz und dem vorhandenen Personal zu Anfeindungen kam. Menschenrechtler sehen bereits in dieser Aktion die Anfänge eines Sklavenhandels in der Südsee, weil die Insulaner nicht persönlich angeworben, sondern durch Vereinbarungen mit den Inselherrschern verpflichtet wurden. Einen offiziellen Beginn der Einfuhr von Pazifikinsulanern in die Kolonie Queensland markiert die Vereinbarung des Abgeordneten und Händlers Captain Robert Towns. Er beauftragte 1863 den vormaligen Sandelholzhändler Henry Ross Lewin auf Tanna, Bewohner der Neuen Hebriden und Loyalitätsinseln als Arbeiter für seine Baumwollplantagen in Townsvale anzuwerben (heute: Veresdale und Gleneagle, beide Queensland). Hierfür wurde der Schoner Don Juan umgerüstet und am 29. Juli 1863 von Brisbane ausgesandt. Towns Instruktionen an den Kapitän zeigen allerdings, dass er sich gegen blackbirding verwehrte: Auf der Rückreise verstarb einer der rekrutierten Insulaner; er wurde auf Mud Island (Moreton Bay) beerdigt. Die übrigen 67, mit denen Brisbane am 17. August 1863 erreicht wurde, gelten historisch als erste pazifische Kontraktarbeiter (indentured labourers) in Queensland. Indizien, dass es trotz Towns Anweisungen zu Gewaltanwendungen kam, finden sich zufolge Edward W. Docker allein in einem Bericht Captain William Blakes, HMS Falcon. Ihm habe 1867 ein Insulaner von Épi (Neue Hebriden) ausgesagt: 1864 fand mit der Uncle Tom ein erster Rücktransport von Pazifikinsulanern statt, die ihren Arbeitsvertrag mit Towns erfüllt hatten. Parallel zur Uncle Tom wurde für weitere Rekrutierungen die Black Dog eingesetzt, ein ex-opium runner. Im selben Jahr begann Fidschi mit Rekrutierungen auf den Gilbertinseln. Von Südamerika kommend, hatte die Ellen Elizabeth die Inselgruppe schon im Vorjahr erreicht. Unter Kommando eines Kapitän Muller, der Arbeiter für Peru beschaffen sollte, hatte es mit an Sicherheit grenzender Wahrscheinlichkeit erste Ausschreitungen, Täuschungsmanöver und Entführungen gegeben. Deutscherseits wurden 1864 erstmals dreißig Insulaner für eine zwölfmonatige Kontraktarbeit auf den Plantagen des Handelshauses Joh. Ces. Godeffroy & Sohn (Samoainseln) rekrutiert. Sie stammten von Rarotonga (Cookinseln). Über die Methoden ihrer Anwerbung ist nichts bekannt. Ausdehnung Zwischen den 1860er und 1940er Jahren belief sich – Schätzungen zufolge – die Zahl der Vertragsarbeiter aus den Inselvölkern des Südpazifiks auf fast eine Million. Zudem verpflichteten Arbeitgeber der Region etwa 600.000 asiatische Kontraktarbeiter. Zwischen 1884 und 1940 wurden insgesamt bis zu 380.000 Arbeiter nach Deutsch-Neuguinea beziehungsweise dem unter australischer Kontrolle stehenden Territorium Neuguinea, sowie 280.000 nach Britisch-Neuguinea verbracht. Auf den Plantagen der Salomoninseln arbeiteten zwischen 1913 und 1940 etwa 38.000 Menschen. Rekrutierungen fanden hauptsächlich in Melanesien, aber auch in Mikronesien auf den West- und Zentralkarolinen statt. Anwerbungen für Südamerika oder Hawaii konzentrierten sich auf Polynesien. Gemieden wurden bereits missionierte Inseln, wenn auch Ausnahmefälle bekannt sind. Queensland Zwischen 1863 und 1906 kamen insgesamt 64.000 südpazifische Insulaner zur indentured labour (Kontraktarbeit) nach Queensland. Die Gesamtzahl aller blackbirding-Opfer, die in die Kolonie deportiert und dort angelandet wurden, beläuft sich laut einer Untersuchung von Kay Saunders auf an die 1.000. Clive Moore, Historiker an der University of Queensland in Brisbane, schätzte, dass 15 bis 20 Prozent der anfänglichen Diaspora in Queensland entführt worden waren. Die Australian Human Rights Commission nimmt an, dass insgesamt ein Drittel gekidnappt oder durch Betrügerei nach Australien gelockt wurde. Fidschiinseln Nach Fidschi wurden zwischen 1877 und 1911 etwa 16.000 Pazifikinsulaner von anderen Atollen und Inselgruppen verbracht. Frühere Transporte sind dokumentiert, jedoch nicht ausreichend statistisch erfasst und publiziert. Beispielsweise erwähnt ein Bericht des neuseeländischen Gouverneurs George Ferguson Bowen, dass schon 1860 die meisten Schiffe, die Fidschi von Neuseeland kommend anliefen, für den Transport von sogenannten Arbeitsimmigranten gechartert worden seien. Über den Bestimmungsort dieser Fahrten lässt sich nur selten Klarheit gewinnen. Gewaltsame Zusammenstöße mit Insulanern im Kontraktarbeiterhandel der Fidschiinseln gab es besonders ab 1882 bei Rekrutierungen auf Neubritannien, den Duke-of-York-Inseln und Neuirland. Erste Vorschläge zur gesetzlichen Eindämmung des blackbirding erwiesen sich hier als zwecklos. So hielt 1871 der britische Konsul in Levuka, Edward March, seinen eigenen Reformentwurf für undurchführbar. Nach Verabschiedung entsprechender Bestimmungen in Queensland diente der Hafen von Levuka auch zur Verschleierung eines von Australien aus betriebenen blackbirding. Um die Beschränkungen des Queenslander Polynesian Labourers Act (1868) zu umgehen, wurde es üblich, mit kleiner Fracht nach Levuka zu segeln, sein Schiff heimlich umzubenennen und beim ansässigen britischen Konsul neu zu registrieren. Das bedeutete praktische Vorteile, denn die Bestimmungen Fidschis für den Arbeiterhandel waren laxer als diejenigen Queenslands. Bei nun folgenden Rekrutierungen handelte es sich rechtlich aber trotzdem um blackbirding (offiziell: kidnapping), weil die heimliche Umbenennung eines Schiffes illegal war. Die im tatsächlichen Heimathafen ausgestellte Lizenz für den Arbeiterhandel verlor ihre Gültigkeit, eine neu in Levuka erworbene hatte keinen Bestand. Parallel zu Insulanern des Südpazifik transportierte man von 1879 bis 1916 bis zu 60.000 indische Arbeiter zur Kontraktarbeit nach Fidschi. Samoainseln Arbeitertransporte aus dem Pazifik auf die Inseln Samoas sind quantitativ nur lückenhaft erfasst. Als gesichert kann gelten, dass zwischen 1874 und 1877 jährlich etwa 200 und zwischen 1878 und 1881 jährlich etwa 475 Gilbertinsulaner für Arbeiten auf den Plantagen von John. Ces. Godeffroy & Sohn herangezogen wurden. Die Deutsche Handels- und Plantagengesellschaft der Südsee-Inseln zu Hamburg (DHPG), Nachfolgerin des Godeffroyschen Faktorei- und Plantagenbetriebes, führte zwischen 1885 und 1913 aus dem Schutzgebiet der Neuguinea-Kompagnie beziehungsweise dem späteren Deutsch-Neuguinea rund 5.800 Insulaner als Kontraktarbeiter ein. Statistisch nicht dokumentierte Rekrutierungen für die DHPG fanden unter anderem im britischen Teil der Salomoninseln und auf den Shortlandinseln statt. Schätzungen zur Gesamtzahl der zwischen 1884 und 1940 nach Deutsch-/Westsamoa gebrachten Arbeiter belaufen sich auf 12.000. Zum blackbirding im von Samoa geführten Arbeiterhandel zeichnen Quellen des 19. Jahrhunderts ein insgesamt negatives Bild. Der australische Politikwissenschaftler und Historiker Stewart Firth hält das deutsche System der Kontraktarbeit dem britischen für allgemein unterlegen. Der Schriftsteller Jakob Anderhandt verweist auf James T. Proctor, einen der brutalsten und unter Insulanern am meisten gefürchteten Anwerber, der bei der Deutschen Handels- und Plantagengesellschaft angestellt war. Der Südseekaufmann Eduard Hernsheim erwähnt in seinen Lebenserinnerungen, die DHPG habe durch Lobbyarbeit in Deutschland die Kontraktarbeiterbeschaffung zur „Lebensfrage“ erklärt. Der deutsche Konsul auf Samoa sei deshalb geneigt gewesen, bei Unregelmäßigkeiten im Arbeiterverkehr „nicht allzu strenge“ vorzugehen. Dagegen betonte seinerzeit Oskar Stübel als deutscher Generalkonsul für die Südsee, dass bis 1883 ein blackbirding („Ausschreitungen“) von Bord deutscher Schiffe in der Südsee nicht habe nachgewiesen werden können. Die meisten deutschen Kapitäne im Gewerbe seien „seit Jahren“ mit dem Arbeitergeschäft vertraut gewesen und hätten dem Konsulat in Apia „persönliche Garantie“ für ein gesetzliches Vorgehen gegeben. Erst eine spätere Entscheidung deutscher Handelsgesellschaften auf Samoa, die Arbeiterrekrutierung auszulagern und an vertraglich angestellte Anwerber zu übertragen, führte für die Historikerin Sylvia Masterman zum Verfall dieser einwandfreien Praxis. Peru Nach Abschaffung der Sklaverei in Peru (1854) waren billige Arbeitskräfte für die Bewirtschaftung der eigenen Plantagen und den Guanoabbau auf den Chinchainseln nicht leicht zu bekommen. Zwischen 1862 und 1863 verbrachten peruanische und chilenische Blackbirder 3.630 vorwiegend polynesische Insulaner in den Hafen von Callao. 1864 operierten sie bis in die Seegebiete westlich von Tahiti. Verlässliche Einzelangaben über abtransportierte Bewohner existieren lediglich für die Osterinsel. Von ihr wurden zwischen 1400 und 1500 Rapanui (oder 34 % der geschätzten Bevölkerung) an Bord genommen. Bei ungefähr 550 handelte es sich um Opfer von blackbirding. Im ungewohnten Klima Perus starb ein erheblicher Teil an Infektionskrankheiten. Der französische Geschäftsträger in Lima veranlasste daraufhin das diplomatische Corps zu einer Note an den Premierminister, in der man gegen die Arbeitereinfuhren protestierte. Auf internationalen Druck repatriierte das Land fünfzehn Überlebende auf die Osterinsel, wo sie jedoch die Pocken einschleppten. An der Epidemie verstarb bis 1864 der größte Teil der Einwohner, die dort verblieben waren. Oʻahu Ab 1859 fanden in geringerem Umfang Arbeitertransporte im Pazifik für einen Einsatz auf den Zuckerrohrplantagen von Oʻahu (Königreich Hawaiʻi) statt. In den Jahren 1877 bis 1887 wurden etwa 2.400 Insulaner, vorwiegend Polynesier, hierher verbracht. Gewaltsame Konflikte zwischen Mannschaften hawaiischer Arbeiterschiffe und zu rekrutierenden Insulanern waren zwar allgemein üblich, zufolge der Historikerin Judith Bennett aber weniger schwerwiegend als im Kontraktarbeiterhandel von Queensland und Fidschi. Einen Hauptgrund sieht Bennett in der Anwesenheit hawaiischer Missionare in den Anwerbegebieten, wo die Geistlichen die Arbeiterrekrutierungen kritisch überwacht, wenn nicht missbilligt hätten. Ein anderer Grund sei die Furcht der hawaiischen Regierung vor einer Kritik Großbritanniens und Frankreichs gewesen. Ebenso habe die Rekrutierung über eine von der Regierung initiierte Bezuschussung positiv beeinflusst werden können. Andere Kontraktarbeiter auf Hawaii stammten aus China (ab 1852), Japan (ab 1868), Portugal (ab 1878), Skandinavien (1880–1881) und Deutschland (1880–1897). 1946 endete hier offiziell die Anwerbung von Arbeitskräften. Statistiken Gesicherte quantitative Aussagen über Transporte zum Zweck der Arbeitsverpflichtung sind wegen der lückenhaften Quellenlage kaum möglich. Des Weiteren gab es neben offiziellen Fahrten im Südpazifik, einschließlich bekannt gewordener blackbirding-Fälle, einen nennenswerten Arbeiterschmuggel. Im Fall von Queensland existieren hierzu nicht einmal Schätzungen. Offizielle Aufzeichnungen über Arbeitsverpflichtungen begannen hier erst 1863. Zu Rekrutierungen von Pazifikinsulanern für Fischerei- und Schiffsdienste im Stillen Ozean gibt es mangels praktischer Möglichkeiten einer Erhebung im 19. Jahrhundert gar keine Quellen. Eine gewisse Aussagekraft besitzen tabellarische Aufstellungen über entsprechende Lizenzen von europäischen Schiffseigentümern oder -führern, die Lists of Vessels licensed … (Labour to be employed amongst Islands). Eine der frühesten Aufstellungen umfasst den Berichtszeitraum von 1876 bis 1881. Humanitäre Proteste Spätestens die drastischen Ausfälle bei Rekrutierungen für Peru lenkten die Aufmerksamkeit humanitärer Organisationen auf den pazifischen Arbeiterhandel. Eine Triebkraft für Missionare im Stillen Ozean, über unlautere Praktiken von Schiffskapitänen und -mannschaften bei der Anwerbung zu berichten, bildete laut der Historikerin Jane Samson auch ein verdeckter Wettbewerb zwischen Missionsgesellschaften und Schiffsbesatzungen um reise- und arbeitswillige Ozeanier. Insgesamt prägte sich eine misstrauische Haltung. Eine frühe Serie von Protestschreiben, die Vertreter verschiedener Missionsgesellschaften bei den Regierungen der australischen Kolonien einreichten, stellte pauschalisierend fest, dass Arbeiterrekrutierung im Pazifik: Die Ermordung des neuseeländischen Bischofs John Coleridge Patteson durch Einwohner Nukapus (September 1871) polarisierte die Debatte noch weiter. Hintergrund war, dass Teile der australbritischen und neuseeländischen Öffentlichkeit das Ereignis für einen Racheakt gegen eine Entführung von fünf jungen Männern Nukapus durch Blackbirder hielten. Statt zu einer sachlich geführten Auseinandersetzung kam es nun dazu, dass: Angehörige der Royal Navy, die ebenfalls publizistisch tätig waren, nutzten dies für eigene Zwecke. Sie nahmen die öffentliche Empörung als Sprungbrett, um englischen Kriegsschiffen als Polizeimacht im Südpazifik erweiterte Befugnisse zu verschaffen. Kritische Positionen der jüngeren Forschung gehen davon aus, dass besonders Captain George Palmer von dem Gedanken, bei Arbeiterrekrutierung im Südpazifik handele es sich grundsätzlich und ausnahmslos um Sklavenhandel, „besessen“ gewesen sei. In seinem Buch Kidnapping in the South Seas (1871) habe er absichtlich besonders „haarsträubende“ (übertriebene) Aussagen von Missionaren angeführt und vielem, von dem er lediglich aus zweiter Hand wusste, den „Anstrich des Selbsterlebten“ gegeben, um die Eindämmung der Arbeiterrekrutierung fordern zu können. Damit habe sich Palmer in eine Tradition öffentlich wirksamer Marinekommandanten eingereiht, die einerseits der Idee des unschuldigen, naiven und wehrlosen Pazifikinsulaners verhaftet gewesen seien, andererseits derjenigen des verrohten, moralisch minderwertigen und skrupellosen Europäers in der Südsee. Rückblickend handele es sich beide Male um Klischees, die einseitig und falsch gewesen seien. Gesetzliche Maßnahmen 1824 wurde Sklavenhandel auf See britischerseits zur Piraterie erklärt. Bis zum Erlass neuer, angepasster Gesetze bildete diese Regelung den einzigen Rechtsrahmen, in dem die Royal Navy – seit den 1860er Jahren mit sechs Schiffen im Hafen von Sydney vertreten – gegen blackbirding in pazifischen Gewässern vorgehen konnte. Auch eine nachträgliche Rechtfertigung der Regressmaßnahmen vor Gericht hing davon ab, wie britische Kommandanten den von ihnen festgestellten Tatbestand des blackbirding (im damaligen britischen Recht: kidnapping) in Begriffen des Sklavenhandels interpretieren und als Verstoß gegen die Slave Trade Legislation auslegen konnten. In dieser besonderen Rechtswirklichkeit liegt eine der Wurzeln für die historische Verquickung von blackbirding und Sklaverei. Rechtstheoretisch hielt es in den 1860er Jahren bloß eine Minderheit von Experten für möglich, Sklavenhandelsgesetze auf Fälle von blackbirding anzuwenden. Eine wirksame Verurteilung durch ein australbritisches Gericht wegen eines Verstoßes gegen solche Gesetze hätte ferner das Vorhandensein von Sklaverei in der Kolonie (oder ihrem Umfeld) eingestanden und damit die Kolonialregierung selbst in ein schiefes Licht vor London gerückt. Insbesondere die Legislative Queenslands sah sich vor diesem Hintergrund in einer Lage, in der sie unabhängig vom Londoner Parlament einen Sonderweg wählen musste. Nach einer Beschwerde der französischen Regierung wegen Raubzügen von Queenslander Anwerbern auf Neukaledonien und den Loyalitätsinseln erließ Queensland im März 1868 ein erstes Kolonialgesetz (Colonial Law) zur Regulierung, nicht aber Beschränkung des Handels mit pazifischen Kontraktarbeitern. Wichtigste Gründe für den Act to Regulate and Control the Introduction and Treatment of Polynesian Laborers waren laut Gesetzestext: „… the prevention of abuses …“ („… die Verhinderung von Misshandlungen …“) von Pazifikinsulanern, doch genauso: „… securing to the employer the due fulfilment by the immigrant of his agreement …“ („… die ordnungsgemäße Erfüllung der Vereinbarung durch den Immigranten für dessen Arbeitgeber zu sichern …“). Eine Handhabe, Unregelmäßigkeiten bei der Rekrutierung strafrechtlich zu ahnden, ergab sich erst 1872 mit dem Pacific Islanders Protection Act, der in London verabschiedet wurde. Im Vorfeld dieses imperialen Gesetzes (Imperial Law, gültig im gesamten Britischen Imperium beziehungsweise für alle britischen Staatsbürger) hatte vor allem Bischof John Coleridge Patteson noch einmal klargestellt, dass Anwerber und Kapitäne auf Arbeiterschiffen „im Geiste von Sklavenhändlern“ operierten, wenn sie nicht einmal ein halbes Dutzend Wörter der Inseldialekte verstanden und es deshalb bei Rekrutierungen notwendig zu Missverständnissen und eskalierenden Konflikten kam. Die Empörung über den gewaltsamen Tod Pattesons führte schließlich zu einer öffentlichen Ansprache des neuseeländischen Premierministers William Fox, in der dieser rechtliche Schritte Londons wünschte. Den Argumenten des ermordeten Pattesons folgend, beschrieb Queen Victoria in ihrer Thronrede 1872 das neue Gesetz als Maßnahme: Gleichzeitig mit dem Gesetzeserlass wurde der Bau von fünf kleineren Kriegsschonern bewilligt, die der Australia Station zugeschlagen und zur Überwachung der Arbeiterrekrutierung im Südpazifik eingesetzt wurden. Doch gelang es praktisch gesehen während der nächsten acht Jahre dennoch nicht, Fälle von blackbirding bzw. kidnapping einzudämmen. John Crawford Wilson, neuer Commodore der Australia Station in Sydney, merkte 1880 in einem durch die Regierung von New South Wales veröffentlichten Bericht an: Auch schlage in der Rechtswirklichkeit die Überwachung der Anti-kidnapping-Gesetze durch Regierungsagenten an Bord von Arbeiterschiffen fehl. Ebenso wie Kapitäne und Schiffsmannschaften seien die meisten dieser Agenten „unfähig“, sich mit Insulanern in deren Dialekten zu verständigen. Bei der Erläuterung von Arbeitsverträgen sei man in hohem Maße auf örtliche Dolmetscher angewiesen; diese aber erhielten für jeden rekrutierten Insulaner eine Provision und nähmen es mit der Wahrheit nicht besonders genau. Weiterhin bekannt werdende Ausschreitungen bei der Arbeiterrekrutierung, insbesondere auf den Inseln nördlich Neuguineas, führten im Januar 1885 zur Einberufung einer Royal Commission (Königlichen Kommission). An deren Ermittlungen schloss sich im Juni 1885 ein vorzeitiger Rücktransport von 404 pazifischen Arbeitsverpflichteten in Queensland, die laut Befinden der Kommission über ihre Arbeitsbedingungen und ihren Arbeitsort nicht hinreichend aufgeklärt worden waren. Zwei Monate darauf erging der Beschluss der Regierung unter Sir Samuel Griffith, die Einfuhr von pazifischen Kontraktarbeitern zum Jahresende 1890 einzustellen. 1892 folgte kurzzeitig eine Wiederaufnahme, die sich jedoch politisch und öffentlich als nicht haltbar erwies. Schlussphase Die endgültige Einstellung der Transporte von Pazifikinsulanern zwecks Bereitstellung von Arbeitskräften beruht auf einer Vielzahl von Gründen. Spektakuläre und gerichtlich verhandelte blackbirding-Fälle führten ab 1871 zu einem Reputationsverlust, weshalb sich auch das umgreifende System der indentured labour mit Widerstand auseinanderzusetzen hatte. Im Fall von Queensland wurden die arbeitenden Insulaner als unerwünschte Konkurrenz wahrgenommen und von der weißaustralischen Bevölkerung stigmatisiert. Durch die Wirtschaftskrise (1890) und den Einbruch der Zuckerindustrie (1892) verstärkte sich diese Entwicklung. Nach Eintritt Queenslands in die neue australische Staatengemeinschaft wurde im selben Jahr der Pacific Island Labourers Act (1901) erlassen, demzufolge Arbeitskräfte von den Pazifikinseln Australien bis zum 31. Dezember 1906 verlassen mussten. Insulaner, die vor dem 1. September 1879 auf den Kontinent gekommen waren, sowie solche, die auf Schiffen beschäftigt wurden, fielen nicht unter dieses Gesetz. Zur Zahlung noch ausstehender Löhne und zur Finanzierung von Rücktransporten nach abgelaufener Vertragszeit wurde der Pacific Islanders’ Fund begründet. Regierungsseitig wurden jedoch Mittel aus dem Fonds veruntreut. Mit ihnen bezahlte man einerseits den australischen Verwaltungsapparat um das System der indentured labour, andererseits die Deportation von Pazifikinsulanern gemäß dem Pacific Labourers Act (1901) und der neuen White Australia Policy. Die Deportationen fanden 1906 ihren Abschluss. Nur wenige Pazifikinsulaner verblieben in Australien. Nachfahren von Betroffenen schätzten im Jahr 2013, dass die veruntreuten Mittel inzwischen auf einen Betrag von 30 Millionen Australische Dollar angelaufen waren (damals etwa 19,5 Millionen Euro). Auf Fidschi begann ab Mai 1879 eine alternative Einfuhr von Arbeitskräften aus Indien. Die Rekrutierung melanesischer Arbeiter ging demgegenüber zurück und wurde 1911 ganz eingestellt. In Kaiser-Wilhelmsland und dem Bismarckarchipel nahm man von der Arbeiterbeschaffung zwar erst allmählich, dafür aber prinzipiell und auf politischer Ebene Abstand. In den Jahren 1911–1913 erließ der Gouverneur für Deutsch-Neuguinea, Albert Hahl, erste Verordnungen, mit denen Rekrutierungen auf kleineren Inseln verboten wurden. Hierfür riskierte Hahl einen Interessenskonflikt mit ansässigen Pflanzern und Unternehmern. Zudem setzte sich Hahl für die Abschaffung von Privilegien der Deutschen Handels- und Plantagengesellschaft (DHPG) bei der Arbeiterrekrutierung für Deutsch-Samoa ein. Mit dieser Initiative hatte er jedoch keinen Erfolg. Auf Deutsch-Samoa führte schließlich der Beginn des Ersten Weltkriegs und der Verlust Deutsch-Neuguineas als Kolonialgebiet zum Ende melanesischer Kontraktarbeit. Begriffsgeschichte Englisch Der Begriff geht auf blackbird zurück, im britischen Englisch die Bezeichnung für Amsel oder Schwarzdrossel (Turdus merula). Zwar liegt eine Übertragung der Farbe des Gefieders auf die Hautfarbe von Schwarzafrikanern oder Aborigines nahe, aber wie sich daraus blackbirding entwickelt hat, ist unbelegt. Als Zwischenglied gilt das blackbird shooting, die Menschenjagd im 19. Jahrhundert auf Mitglieder der australischen Urbevölkerung durch frühe europäische Siedler. Besonders die Konnotation, es habe sich dabei um eine Art „Sport“ („sporting activity“) gehandelt, sei in ähnlicher Weise in das blackbird catching eingeflossen. 1836 zitiert die New Yorker Wochenzeitung The Emancipator, die Sklaverei publizistisch bekämpfte, blackbirding als Begriff. In den 1860er Jahren werden die Belege für den Bereich des Atlantiks dichter. Das Oberste Gericht der USA bestätigte 1864 einen Schuldspruch, weil die Bark Sarah 1861 einer Zeugenaussage zufolge zum black-birding von New York nach Westafrika fahren wollte. In einem Abenteuerroman des englischen Autors Henry Robert Addison von 1864 rettet ein Schiff beim „‚blackbirding‘“ vor der Küste Westafrikas den Protagonisten nach einem Schiffbruch. 1873 verfasste der englische Theaterschriftsteller Colin Henry Hazlewood das „romantische Drama“ Blackbirding, or, the filibusters of South America. Seit den 1870er Jahren tritt der Begriff besonders für Australien und für die Südsee auf. Ein früher Eintrag in ein Wörterbuch ist die Aufnahme in das englische Slang dictionary 1870, wo blackbird-catching mit Sklavenhandel erklärt ist. Der Auflage von 1873 zufolge wird das Wort bereits „heutzutage überwiegend für den polynesischen Kuli-Handel“ verwendet. Eine frühe Erwähnung von blackbirding mit Bezug zur pazifischen Inselwelt findet sich auch in der Narrative of the Voyage of the Brig Carl (1871). Hier wird bereits zwischen verschiedenen Methoden der Arbeitskräfterekrutierung unterschieden – solchen, die „just and useful“ („gerecht und nützlich“) gewesen seien, solchen „of suspicious character“ („von fragwürdiger Art“) und schließlich solchen, bei denen es sich letztlich um „robbery and murder“ („Raub und Mord“) gehandelt habe. Auf die Tätigkeit als solche sei in dieser Frühzeit aber immer, und zwar unabhängig von der Methode, der Begriff des black-birding oder blackbird catching (sinngemäß: das „Einfangen von schwarzen Vögeln“) angewendet worden. Auch neuere Wörterbucheinträge zeigen ein Spektrum an Bedeutungen. Das australische Macquarie Dictionary von 2009 sieht im blackbirding: Das Oxford Dictionary of English von 2005 definiert den blackbird historisch als: Das Historical Dictionary of Oceania aus dem Jahr 1981 beschreibt die Praktiken verallgemeinernd unter labour trade (Arbeitskräftehandel). Dieser sei: Die Online-Ausgabe der Encyclopædia Britannica bezeichnet blackbirding als: Von englischsprachigen Fachbuchautoren, etwa dem Historiker Gerald Horne oder dem Arbeitsforscher Edward D. Beechert, wie auch von der Australian Human Rights Commission, wird blackbirding häufiger als Synonym für Sklavenhandel im Gebiet des Pazifik gebraucht. Die begriffliche Nähe spiegelt sich auch in Titeln populärer Bücher zum Thema, so dem 1935 erschienenen Slavers of the South Seas des australischen Publizisten Thomas Dunbabin. Deutsch Ein zum Transport der Arbeitskräfte benutztes Schiff wird in der deutschen wie in der englischen Literatur als „Blackbirder“ bezeichnet. Als deutsches Äquivalent verwendete der Kolonialschriftsteller Stefan von Kotze den Ausdruck „Schwarzdroßler“. Der Schifffahrtshistoriker und Kapitän Heinz Burmester sprach von „Blackbirdern“ auch als Personen, die am Gewerbe („illegal recruiting“) beteiligt waren. Ihm zufolge war für die Tätigkeit auf deutschen Schiffen das Wort „Küstern“ in Gebrauch. Der Schriftsteller Jakob Anderhandt bezeichnet ebenso die beteiligten Personen als „Schwarzdroßler“ und bezieht sich dabei auf die englische Ursprungsbezeichnung black bird catcher. In der neueren deutschen Fachliteratur wird blackbirding indirekt definiert. Der Ethnologe Hermann Mückler sieht in dem Phänomen eine „gewaltsame […] Entführung von vor allem melanesischen Pazifikinsulanern auf Zuckerrohrplantagen in Queensland“ und versteht die Grenzen zwischen „Kontraktarbeit“ (indentured labour) und Sklavenhandel als „fließend“. Doch hält Mückler zugleich eine Sicht auf das System der indentured labour als bloß zwangsweiser Rekrutierung für einseitig und relativierungsbedürftig: „Es gab durchaus auch Insulaner, die sich freiwillig auf dieses Abenteuer einließen, obwohl sie natürlich nicht wissen konnten, welche Strapazen sie damit auf sich nahmen.“ In einer Biographie über den Südseekaufmann Eduard Hernsheim arbeitet Jakob Anderhandt heraus, dass schon Deutsche des 19. Jahrhunderts die Praktiken des blackbirdings als „reine[n] Sclavenhandel“ verstehen konnten. Für Hernsheim seien sie Auswüchse des von Queensland betriebenen Arbeiterhandels gewesen, welche sich „ohne Wissen und gegen die Gesetze der australischen Colonialregierungen“ gebildet hatten. Bewertung als Sklaverei Die Frage, ob Pazifikinsulaner als Arbeitskräfte für Plantagen hauptsächlich ordnungsgemäß rekrutiert oder aber gekidnappt, das heißt Opfer von blackbirding wurden, bietet bis heute Anlass zu Diskussionen. Gesichert ist, dass kidnapping / blackbirding in den ersten zehn bis fünfzehn Jahren des Kontraktarbeiterhandels mit großer Häufigkeit vorkam. Inwieweit es sich bei dem gesamten System der indentured labour (Arbeitsverpflichtung) um Sklaverei handelte, wird in Australien noch immer debattiert. Bereits der zeitgenössische Anthropologe Nikolai Nikolajewitsch Miklucho-Maklai bezeichnete den gesamten Arbeiterhandel als Sklavenhandel und die Arbeitsverpflichtungen als Sklaverei. Der Arbeitgeber, anders als der Besitzer eines Sklaven, hätte kein wirtschaftliches Interesse an einer über die Verpflichtung hinausgehenden Einsatzfähigkeit seines Vertragspartners. Er zwinge den Beschäftigten zur Verausgabung, schenke seiner Ernährung nur wenig Aufmerksamkeit und kümmere sich im Krankheitsfall kaum um ihn. Darum bringe Kontraktarbeit für die Verpflichteten sogar größere Nachteile mit sich als eine Versklavung. Hingegen verwehrte sich der deutsche Generalkonsul für die Südsee, Oscar Stübel, Arbeiterhandel als „verstecken Sklavenhandel“ zu bezeichnen. Der entscheidende Unterschied liege darin, dass „die Arbeiter nach Ablauf der Kontraktzeit unentgeltlich zurückbefördert“ würden, und ihre Verwendung während der Kontraktzeit „auf das bestmöglichste kontrolirt“ werde. Auch verschlechtere sich die Lage des Kontraktarbeiters durch den Arbeitsaufenthalt nicht, sondern wende sich zum Besseren wegen der Möglichkeit, „Elemente der Civilisation“ in sich aufzunehmen. In jüngerer Zeit vertrat der Historiker Clive Moore die Ansicht, dass Sklaverei sich über Besitz, Kauf, Verkauf und fehlende Löhne definiert. Im System der indentured labour seien demgegenüber Verträge abgeschlossen und die Arbeitsleistung bezahlt worden. Als weiteres Indiz für die Richtigkeit seiner These sieht Moore den Umstand, dass viele Insulaner sich nach ihrer Heimkehr für einen erneuten Arbeitseinsatz entschieden. Sklaverei sei ein Begriff, mit dem die Pazifikinsulaner emotional die damaligen Vorgänge und herrschenden Gefühle beschrieben. Sachlich treffe er jedoch nicht zu. Trotzdem sei das System der indentured labour im Ganzen ausbeuterisch motiviert gewesen. Die von ihm Betroffenen hätten unter sklavenähnlichen und rassenverachtenden Bedingungen gelebt. Wie schwierig es für Zeitgenossen war, an Fakten über das System zu gelangen, beschrieb der Wissenschaftler und Forschungsreisende Benedict Friedländer im Jahr 1899: „Die Interessierten sagen, daß alles in bester Ordnung sei; die Neider der Pflanzer aber erzählen Schauergeschichten. Uninteressierte, die zugleich Sachkenner wären, gibt es kaum, und der vorsichtige Berichterstatter muß es mit einem ignoramus bewenden lassen.“ Inwieweit bei Rekrutierungen der freie Wille eines Insulaners beeinträchtigt oder körperlicher Zwang ausgeübt wurde, lässt sich auch rückblickend nur vergleichsweise selten entscheiden. Unter anderem hängt dies damit zusammen, dass die Macht der Regierungsagenten an Bord der Arbeiterschiffe, die über die Einhaltung der Anti-kidnapping-Gesetze wachen sollten, eng begrenzt war. Kleinere Zuwiderhandlungen konnte man vor Gericht kaum beweisen. Agenten, die deswegen mit Vergeltungsmaßnahmen drohten, machten sich vor Mannschaft und Kapitän – oder später im Prozess – lächerlich. Sie unterließen darum oft solche Schritte. Entsprechende Quellen spiegeln die historische Wirklichkeit also unvollständig wieder und zeichnen ein zu positives Bild. Auch hatten die Agenten selbst ein vitales Interesse daran, derjenigen Kolonie, für die sie arbeiteten, möglichst viele Arbeitskräfte zuzuführen. Versuche der Bewältigung In Australien verbliebene Pazifikinsulaner wurden in den 1970er Jahren politisch aktiv und erreichten 1994 ihre Anerkennung als nationale Minderheit. 2013 gehörten dieser Gruppe etwa 40.000 Personen an. Für erlittenes Unrecht wie blackbirding, veruntreute finanzielle Mittel und Deportationen in Verfolgung der White Australia Policy erwarten ihre Vertreter eine Kompensation und erhoffen eine offizielle Entschuldigung der australischen Regierung. In ihren Ansichten werden sie von den Regierungen der Salomonen und Vanuatus unterstützt. Australien ist solchen Wünschen und Forderungen bisher nicht gefolgt. Die UNESCO nominierte 2008 den Themenkreis Pacific Slave Route im Rahmen ihres Slave Route Project zur Aufnahme in das Weltdokumentenerbe. Siehe auch Schanghaien Literatur Jakob Anderhandt: De facto der reine Sclavenhandel und Couragierte Männer. In: ders.: Eduard Hernsheim, die Südsee und viel Geld. Biografie in zwei Bänden. MV-Wissenschaft, Münster 2012, hier: Band 2, S. 75–130. Edward W. Docker: The Blackbirders. A Brutal Story of the Kanaka Slave-Trade. Angus & Robertson, London 1981, ISBN 0-207-14069-3. Thomas Dunbabin: Slavers of the South Seas. Angus & Robertson, Sydney 1935. Stewart G. Firth: German Recruitment and Employment of Labourers in the Western Pacific before the First World War. (Thesis submitted for the degree of D. Phil., Oxford 1973.) British Library Document Supply Centre, Wetherby. Henry Evans Maude: Slavers in paradise. The Peruvian slave trade in Polynesia, 1862–1864. Stanford University Press, Stanford 1981, ISBN 0-8047-1106-2. Reid Mortensen: Slaving in Australian Courts: Blackbirding Cases, 1869–1871. In: Journal of South Pacific Law, vol. 4 (2000), keine Paginierung, core.ac.uk (PDF; 264 kB) Hermann Mückler: Blackbirding. In: ders.: Kolonialismus in Ozeanien. Facultas, Wien 2012, S. 140. Jane Samson: Imperial Benevolence: The Royal Navy and the South Pacific Labour Trade 1867–1872. In: The Great Circle, vol. 18, no. 1 (1996), S. 14–29. Deryck Scarr: Recruits and Recruiters: A Portrait of the Pacific Islands Labour Trade. In: The Journal of Pacific History, vol. 2, 1967, S. 5–24. Weblinks „Blackbirding“ – The Slave System’s Just-as-Evil Twin? In: Undercover Reporting, Textsammlung, New York University Polynesian Laborers Act, 1868, (PDF) auch zitiert als Polynesian Labourers Act Pacific Islanders Protection Act, 1872, Digitalisat (PDF; 834 kB) Pacific Islanders Protection Act, Novelle 1875 (PDF) qut.edu.au Ian Christopher Campbell: A history of the Pacific Islands. 1989, books.google.de Einzelnachweise Kolonialgeschichte Australiens Geschichte (Queensland) Torres-Strait-Inseln Geschichte der Aborigines Melanesien Salomon-Inseln Neuguinea Geschichte Neukaledoniens Sklaverei Handelsgeschichte Migrationsgeschichte Migrationspolitik (Australien)
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https://de.wikipedia.org/wiki/Heinrich%20Heine
Heinrich Heine
Christian Johann Heinrich Heine (* 13. Dezember 1797 als Harry Heine in Düsseldorf, Herzogtum Berg; † 17. Februar 1856 in Paris) war einer der bedeutendsten deutschen Dichter, Schriftsteller und Journalisten des 19. Jahrhunderts. Heinrich Heine gilt als einer der letzten Vertreter und zugleich als Überwinder der Romantik. Er machte die Alltagssprache lyrikfähig, erhob das Feuilleton und den Reisebericht zur Kunstform und verlieh der deutschen Literatur eine zuvor nicht gekannte, elegante Leichtigkeit. Die Werke kaum eines anderen Dichters deutscher Sprache wurden bis heute so häufig übersetzt und vertont. Als kritischer, politisch engagierter Journalist, Essayist, Satiriker und Polemiker war Heine ebenso bewundert wie gefürchtet. Im Deutschen Bund mit Publikationsverboten belegt, verbrachte er seine zweite Lebenshälfte im Pariser Exil. Antisemiten und Nationalisten feindeten Heine wegen seiner jüdischen Herkunft und seiner politischen Haltung über den Tod hinaus an. Die Außenseiterrolle prägte sein Leben, sein Werk und dessen Rezeptionsgeschichte. Leben und Werk Herkunft, Jugend und Lehrjahre Heines Geburtsort ist also bekannt, über sein genaues Geburtsdatum herrscht dagegen bis heute Unklarheit. Alle zeitgenössischen Akten, die darüber Auskunft geben könnten, sind im Laufe der letzten 200 Jahre verloren gegangen. Heine selbst bezeichnete sich scherzhaft als „ersten Mann des Jahrhunderts“, da er in der Neujahrsnacht 1800 geboren sei. Gelegentlich gab er auch 1799 als Geburtsjahr an. In der Heine-Forschung gilt heute der 13. Dezember 1797 als wahrscheinlichstes Geburtsdatum. Im Februar 1798 trug der bergische Landesrabbiner Löb Scheuer ihn – möglicherweise anlässlich seiner Beschneidung – als „Hery Heine“ in das Register der jüdischen Gemeinde Düsseldorf ein. Die Familie Heine ist seit dem 17. Jahrhundert in Bückeburg nachgewiesen. Harry Heine – so sein Geburtsname – war das älteste von vier Kindern des Tuchhändlers Samson Heine und dessen Frau Betty (eigentlich Peira), geborene van Geldern. Sie war eine Tochter des angesehenen Arztes Gottschalk van Geldern, der bis 1795 der Judenschaft in Jülich-Berg vorgestanden hatte, sowie die Urenkelin des kurfürstlichen Hofkammeragenten Joseph Jacob van Geldern, in dessen Wohnhaus zu Beginn des 18. Jahrhunderts die erste Synagoge Düsseldorfs eingerichtet worden war. Über die Familie seiner Mutter war Heine ein Cousin dritten Grades von Karl Marx, mit dem er sich später anfreundete. Seine Geschwister waren Charlotte (* 18. Oktober 1800 in Düsseldorf; † 14. Oktober 1899 in Hamburg), Gustav (* ca. 1803 in Düsseldorf; † 15. November 1886 in Wien), der spätere Baron Heine-Geldern und Herausgeber des Wiener Fremden-Blatts, sowie Maximilian (* ca. 1804; † 1879), später Arzt in Sankt Petersburg. Sie alle wuchsen in einem vom Geist der Haskala – der jüdischen Aufklärung – geprägten Elternhaus auf, das weitgehend assimiliert war. Ab 1803 besuchte Harry Heine die israelitische Privatschule von Hein Hertz Rintelsohn. Als die kurpfälzisch-bayerische Regierung, der das Herzogtum Berg und dessen Hauptstadt Düsseldorf unterstanden, 1804 auch jüdischen Kindern den Besuch christlicher Schulen erlaubte, wechselte er auf die städtische Grundschule, die heutige Max-Schule in der Citadellstraße, und 1807 in die Vorbereitungsklasse des Düsseldorfer Lyzeums, des heutigen Görres-Gymnasiums, das im Sinne der Spätaufklärung wirkte. Das Lyzeum, das von katholischen Ordensgeistlichen geleitet wurde, besuchte er seit 1810. Er und sein Bruder waren dort für lange Zeit die einzigen jüdischen Schüler. Im Jahr 1814 verließ Heine das Lyzeum ohne Abgangszeugnis, da er sich, der Familientradition folgend, an einer Handelsschule auf einen kaufmännischen Beruf vorbereiten sollte. Infolge der Französischen Revolution fielen Heines Kindheit und Jugend in eine Zeit großer Veränderungen. 1811 erlebte der 13-Jährige den Einzug Napoleons I. in Düsseldorf. Maximilian Joseph von Bayern hatte die Souveränität über das Herzogtum Berg 1806 an den Kaiser der Franzosen abgetreten. In manchen biografischen Schriften findet sich die unbegründete Annahme, Heine hätte aus diesem Grund Anspruch auf die französische Staatsbürgerschaft erheben können. Entgegen späteren Behauptungen des antisemitischen Historikers Heinrich von Treitschke hat er dies nie getan. Als Großherzogtum Berg wurde seine Heimat von 1806 bis 1808 von Napoleons Schwager Joachim Murat und von 1808 bis 1813 von Napoleon selbst regiert. Als Gliedstaat des Rheinbunds stand das Land unter starkem französischem Einfluss. Heine verehrte den Kaiser zeitlebens wegen der Einführung des Code civil, der 1804 in Kraft getreten war und Juden und Nicht-Juden gesetzlich gleichgestellt hatte. Nach dem Ende der Franzosenzeit erlebte Heine die politische und territoriale Neuordnung des Kontinents unter dem restaurativen Metternichschen System, das als Inbegriff von Verfolgung und Unterdrückung von Demokratie, Presse-, Meinungs- und Versammlungsfreiheit galt. In den Jahren 1815 und 1816 arbeitete Heine als Volontär zunächst bei dem Frankfurter Bankier Rindskopff. Damals lernte er in der Frankfurter Judengasse das bedrückende und ihm bis dahin fremde Ghettodasein vieler ärmerer Juden kennen. Heine und sein Vater besuchten damals auch die Frankfurter Freimaurerloge Zur aufgehenden Morgenröte. Unter den Freimaurern erfuhren sie die gesellschaftliche Anerkennung, die ihnen als Juden ansonsten oft verwehrt blieb. Viele Jahre später, 1844, wurde Heine Mitglied der Loge Les Trinosophes in Paris. 1816 wechselte er ins Bankhaus seines wohlhabenden Onkels Salomon Heine in Hamburg. Dieser war, im Gegensatz zu seinem Bruder Samson, geschäftlich höchst erfolgreich und mehrfacher Millionär. Bis zu seinem Tod im Jahr 1844 unterstützte Salomon seinen Neffen finanziell, obwohl er wenig Verständnis für dessen literarische Interessen hatte. Überliefert ist sein Ausspruch: „Hätt’ er gelernt was Rechtes, müsst er nicht schreiben Bücher.“ Schon während seiner Schulzeit auf dem Lyzeum hatte Harry Heine erste lyrische Versuche unternommen. Seit 1815 schrieb er regelmäßig, und 1817 wurden in der Zeitschrift Hamburgs Wächter erstmals Gedichte von ihm veröffentlicht. Dennoch fühlte sich Heine in Hamburg nicht wohl. In Briefen an seinen Düsseldorfer Schulfreund Christian Sethe bezeichnete er die Stadt als „Schacherstadt“ und „verludertes Kaufmannsnest“, in dem es „Huren genug, aber keine Musen“ gebe. Nach der Literaturwissenschaftlerin Anna Danneck zeigte sich bereits hier, in der als materialistisch empfundenen Hamburger Umgebung, Heines Selbstverständnis als rebellischer Dichter. Da Heine weder Neigung noch Talent für Geldgeschäfte mitbrachte, richtete sein Onkel ihm schließlich 1818 ein Tuchgeschäft ein. Aber „Harry Heine & Comp.“ musste bereits 1819 Konkurs anmelden. Der Inhaber hatte sich schon damals lieber der Dichtkunst gewidmet. Dem Familienfrieden abträglich war auch Harrys unglückliche Liebe zu seiner Cousine Amalie (1800–1838). Die unerwiderte Zuneigung verarbeitete er später in romantischen Liebesgedichten im Buch der Lieder. Die bedrückende Atmosphäre im Haus des Onkels, in dem er sich zunehmend unwillkommen fühlte, beschrieb er in dem Gedicht Affrontenburg. Studium in Bonn, Göttingen und Berlin Wahrscheinlich haben die Zwistigkeiten in der Familie Salomon Heine schließlich davon überzeugt, dem Drängen des Neffen nachzugeben und ihm ein Studium fernab von Hamburg zu ermöglichen. 1819 nahm Heine das Studium der Rechts- und Kameralwissenschaft auf, obwohl ihn beide Fächer wenig interessierten. Zunächst schrieb er sich in die Rheinische Friedrich-Wilhelms-Universität Bonn ein und wurde Mitglied der Burschenschaft Allemannia, die unter dem Tarnnamen Allgemeinheit auftrat. Heine belegte in Bonn nur eine einzige juristische Vorlesung, dagegen hörte er im Wintersemester 1819/20 die Vorlesung zur Geschichte der deutschen Sprache und Poesie von August Wilhelm Schlegel. Der Mitbegründer der Romantik übte einen starken literarischen Einfluss auf den jungen Heine aus, was diesen aber nicht daran hinderte, sich in späteren Werken spöttisch über Schlegel zu äußern. Das Gleiche widerfuhr einem weiteren seiner Bonner Lehrer, Ernst Moritz Arndt, dessen nationalistische Ansichten Heine in späteren Gedichten und Prosatexten mehrfach aufs Korn nahm. In seiner Bonner Zeit übersetzte Heine Werke des romantischen englischen Dichters Lord Byron ins Deutsche. Im Wintersemester 1820/21 ging er an die Georg-August-Universität Göttingen, die er als äußerst rückständig und geistig wenig anregend empfand. Positiv bewertete er lediglich die Vorlesung des Historikers Georg Friedrich Sartorius über deutsche Geschichte. Noch Jahre später beschrieb er die Universitätsstadt in Die Harzreise voller Sarkasmus und Ironie: Bereits wenige Wochen nach seiner Ankunft musste Heine die Hochschule wieder verlassen. Der Universitätsleitung war zu Ohren gekommen, dass er seinen Kommilitonen Wilhelm Wibel wegen einer Beleidigung zum Duell gefordert hatte. Wibel als Beleidiger wurde daraufhin relegiert, während Heine das consilium abeundi erhielt. Nachdem Heine sich in einem Bordell eine Geschlechtskrankheit zugezogen hatte, schloss ihn wenig später auch die Burschenschaft, der er in Bonn beigetreten war, wegen „Vergehens gegen die Keuschheit“ aus. Klaus Oldenhage sieht den Ausschluss eher als Folge der antisemitischen Beschlüsse des Dresdner Burschentages von 1820. Heine wechselte an die Berliner Universität, wo er von 1821 bis 1823 studierte und u. a. Vorlesungen von Georg Wilhelm Friedrich Hegel hörte. Dessen Philosophie prägte das Geschichtsverständnis und die Kunsttheorie Heines. Wie die Junghegelianer wandelte er aber die konservativen Elemente des Hegelschen Denkens „in sozialen und religiösen Radikalismus“ um. Dazu passt eine häufig nacherzählte Anekdote Heines über seinen Philosophielehrer: „Als ich einst unmuthig war über das Wort: ‚Alles, was ist, ist vernünftig‘, lächelte er sonderbar und bemerkte: Es könnte auch heißen ‚Alles, was vernünftig ist, muß seyn‘. Er sah sich hastig um, beruhigte sich aber bald, denn nur Heinrich Beer hatte das Wort gehört.“ Bald fand Heine Kontakt zu den literarischen Zirkeln Berlins und war regelmäßiger Gast im Salon Elise von Hohenhausens sowie im sogenannten Zweiten Salon Rahel Varnhagens. Rahel und ihr Mann Karl August Varnhagen von Ense blieben Heine freundschaftlich verbunden und förderten seine Karriere, indem sie seine frühen Werke positiv besprachen und ihm weitere Kontakte vermittelten, beispielsweise zu Varnhagens Schwester Rosa Maria Assing, deren Salon in Hamburg er frequentierte. Varnhagen von Ense stand bis zu Heines Tod in einem regen Briefwechsel mit ihm. Während seiner Berliner Zeit debütierte Heine als Buchautor. Anfang 1822 erschienen in der Maurerschen Buchhandlung seine Gedichte, 1823 im Verlag Dümmler die Tragödien, nebst einem lyrischen Intermezzo. Die Druckfahnen ließ er von dem jungen Handelsgehilfen und späteren Zeitschriftenredakteur Joseph Lehmann durchsehen und korrigieren, der auch einige Parodien auf Heines Lyrik verfasste. Seinen Tragödien Almansor und William Ratcliff hatte Heine zunächst einen hohen Stellenwert zugemessen, sie blieben jedoch erfolglos. Die Uraufführung des Almansor musste 1823 in Braunschweig wegen Publikumsprotesten abgebrochen werden, der Ratcliff kam zu seinen Lebzeiten überhaupt nicht auf eine Bühne. In den Jahren 1822 bis 1824 befasste sich Heine literarisch erstmals intensiv mit dem Judentum: Er war in Berlin aktives Mitglied im Verein für Cultur und Wissenschaft der Juden, verkehrte u. a. mit Leopold Zunz, einem der Begründer der Wissenschaft des Judentums, und nahm 1824 die Arbeit an dem Fragment gebliebenen Roman Der Rabbi von Bacherach auf. Auf einer Reise nach Posen, die er 1822 von Berlin aus unternahm, begegnete er erstmals dem Chassidismus, der ihn zwar faszinierte, mit dem er sich jedoch nicht identifizieren konnte. Im Frühjahr 1823, zwei Jahre vor seinem Übertritt zum Christentum, schrieb er in einem Brief an seinen Freund Immanuel Wohlwill: Nach der Taufe rückten jüdische Themen im Werk Heines zwar in den Hintergrund. Sie beschäftigten ihn aber ein Leben lang und traten vor allem in seinem Spätwerk wieder verstärkt zutage, etwa in den Hebräischen Melodien, dem Dritten Buch des Romanzero. Promotion, Taufe und Platen-Affäre Im Jahr 1824 kehrte Heine nach Göttingen zurück, wo er Mitglied des landsmannschaftlichen Corps Guestphalia wurde. Im Mai des folgenden Jahres legte er sein Examen ab und wurde im Juli 1825 zum Doktor der Rechte promoviert. Um seine Anstellungschancen als Jurist zu erhöhen, ließ Heine sich im Juni 1825, gleich nach dem bestandenen Examen, in Heiligenstadt evangelisch-lutherisch taufen und nahm die Vornamen Christian Johann Heinrich an. Von da an nannte er sich Heinrich Heine. Zunächst versuchte er, die Konversion zum Christentum geheim zu halten: So wurde er nicht in der Kirche getauft, sondern in der Wohnung des Pfarrers mit dem Taufpaten als einzigem Zeugen. Religiös völlig indifferent, sah er in der Taufe „nichts als eine bloße Nützlichkeitstatsache“ und im Taufschein nur das „Entre Billet zur Europäischen Kultur“. Seine Pläne, sich in Hamburg als Anwalt niederzulassen, scheiterten aber noch Ende desselben Jahres. Und er musste feststellen, dass viele Träger dieser Kultur auch einen getauften Juden wie ihn nicht als ihresgleichen akzeptierten. Heine war allerdings nicht bereit, Zurücksetzungen und Kränkungen unwidersprochen hinzunehmen. Dies zeigte sich deutlich in der so genannten Platen-Affäre: Aus einem literarischen Streit mit dem Dichter August Graf von Platen entwickelte sich eine persönliche Auseinandersetzung, in deren Folge Heine wegen seiner jüdischen Herkunft angegriffen wurde. Dies sollte das Heine-Bild in nationalistischen und antisemitischen Kreisen bis in die jüngste Gegenwart prägen. Heine hatte 1827 im Anhang des zweiten Teils seiner „Reisebilder“ einige Epigramme seines Freundes Karl Immermann zitiert, in denen dieser sich über einige Autoren, darunter Platen, lustig machte, weil sie versuchten, Goethes Verse aus „West-östlicher Divan“ nachzuahmen. Während andere die Kritik ignorierten, reagierte Platen mit einem 1829 veröffentlichten Lustspiel über Immermann, in dem er Heine als „Petrark des Laubhüttenfestes“ und „des sterblichen Geschlechts der Menschen Allerunverschämtester“ bezeichnete und ihm „Synagogenstolz“ vorwarf. Mit dem Immermann in den Mund gelegten Satz „… doch möcht’ ich nicht sein Liebchen sein […] Denn seine Küsse sondern ab Knoblauchsgeruch“ berührte Platen selbst das Thema gleichgeschlechtlicher Liebe, das ihm zum Verhängnis werden sollte. Heine wertete Platens Äußerungen als Teil einer Kampagne, die seine Bewerbung um eine Professur an der Münchener Universität hintertreiben sollte. Der Schlag erfolgte in literarischer Form im dritten Teil der Reisebilder: In Die Bäder von Lucca kritisierte Heine Platens Dichtung als steril und führte dies auf die Homosexualität des Grafen zurück, die er damit publik machte. Er bezeichnete ihn als warmen Freund und schrieb, der Graf sei mehr ein Mann von Steiß als ein Mann von Kopf. Der Streit schadete schließlich beiden Schriftstellern erheblich. Platen, der sich gesellschaftlich unmöglich gemacht sah, blieb im freiwilligen Exil in Italien. Heine wiederum fand wenig Verständnis und kaum öffentliche Unterstützung für sein Vorgehen. Ohne Anlass und Umstände der Affäre zu erwähnen, warfen Kritiker ihm wegen seiner Äußerungen bis in die jüngste Vergangenheit immer wieder „Charakterlosigkeit“ vor. Andere, wie der zeitgenössische Literaturkritiker Karl Herloßsohn, gestanden Heine dagegen zu, er habe Platen lediglich mit gleicher Münze heimgezahlt. Heine machte die judenfeindlichen Angriffe Platens und anderer dafür verantwortlich, dass König Ludwig I. von Bayern ihm die schon sicher geglaubte Professur nicht verlieh. Dafür bedachte er später auch den Monarchen mit einer ganzen Reihe spöttischer Verse, etwa in Lobgesänge auf König Ludwig: Die erhofften Folgen der Taufe waren ausgeblieben, und Heine bedauerte seinen Übertritt zum Christentum später mehrfach ausdrücklich. Seinem Freund Moses Moser schrieb er im Januar 1826: Und von der Nordsee schrieb er ihm im August 1826: Für Klaus Briegleb ist dieses Zitat ein Schlüsselbeleg für seine These, dass Heine als genuin jüdischer Schriftsteller in der Diaspora zu verstehen sei, ja als ein „neuzeitlicher Marrane“, d. h. als ein „Getaufter, der im Herzen jüdisch bleibt.“ An der Leitfigur des „ewigen Juden“ hat Briegleb „seine umfassende Deutung von Denk- und Schreibweise des exilierten Heine festgemacht“. Brieglebs These stieß in der Fachwelt auf Widerspruch. Gleichwohl betonen fast alle Biografen, wenn auch weniger zugespitzt als Briegleb, die Bedeutung der jüdischen Herkunft Heines und der ihm verweigerten Gleichstellung für Heines Leben und Dichtung. Insbesondere der Literaturkritiker Marcel Reich-Ranicki vertrat die Ansicht, Heines Emigration nach Paris sei weniger politisch als vielmehr durch seine Ausgrenzung aus der deutschen Gesellschaft motiviert gewesen. In Frankreich habe Heine als Deutscher und damit als Ausländer gegolten, in Deutschland dagegen immer als Jude und damit als Ausgestoßener. Mit der Platen-Affäre war Heines letzter Versuch gescheitert, als Jurist eine Anstellung in einem der deutschen Staaten zu erhalten. Er entschloss sich daher, für damalige Verhältnisse eher ungewöhnlich, seinen Lebensunterhalt als freischaffender Schriftsteller zu verdienen. Erste literarische Erfolge Seine ersten Gedichte (Ein Traum, gar seltsam sowie Mit Rosen, Zypressen und Flittergold) veröffentlichte Heine bereits 1816 in der Zeitschrift Hamburgs Wächter. Sie erschienen unter dem Pseudonym Sy. Freudhold Riesenharf, einem Anagramm von Harry Heine, Dusseldorff. Nachdem der Verlag F.A. Brockhaus 1821 die Veröffentlichung seines ersten Lyrikbandes abgelehnt hatte, publizierte er die Gedichte von H. Heine 1822 bei der Maurerschen Buchhandlung in Berlin. Der schmale Band umfasste 58 eigene Werke, darunter später so bekannte wie Die Grenadiere und Belsatzar, sowie vier Übersetzungen von Gedichten Lord Byrons. Im Jahr 1823 folgten die Tragödien, nebst einem Lyrischen Intermezzo, die u. a. den 1821 entstandenen Almansor enthielten. Darin befasste sich Heine erstmals ausführlich mit der islamischen Kultur des maurischen Andalusien, die er in zahlreichen Gedichten immer wieder gefeiert und deren Untergang er betrauert hat. Das Stück spielt kurz nach dem Fall von Granada und behandelt die Lage der verbliebenen Muslime, der Morisken, die unter der Regierung der Katholischen Könige ihre Religion nicht mehr ausüben durften. Im Almansor findet sich Heines berühmtes, gegen Bücherverbrennungen gerichtetes Zitat, das sich auf die Vernichtung des Korans und anderer Werke der arabischen Literatur im Spanien der frühen Neuzeit bezieht. Das war ein Vorspiel nur, dort wo man Bücher verbrennt, verbrennt man auch am Ende Menschen. Im Jahr 1824 erschien die Sammlung Dreiunddreißig Gedichte, darunter Heines in Deutschland bekanntestes Werk: Die Loreley, in der Zeitschrift Der Gesellschafter oder Blätter für Geist und Herz. Im selben Jahr besuchte er während einer Harzreise den von ihm hoch verehrten Johann Wolfgang von Goethe in Weimar. Bereits zwei Jahre zuvor hatte er ihm seinen ersten Gedichtband mit einer überschwänglichen Widmung zugesandt, ohne dass Goethe darauf geantwortet hatte. „Für beide war dieses Zusammentreffen unerquicklich“, schreibt sein Biograf Joseph A. Kruse. Im Gegensatz zu seinem Naturell zeigte Heine sich befangen, und Goethe habe ihn nach seiner Ansicht „ungebührlich kalt“ empfangen. In vielen Lebensbeschreibungen Heines wird geschildert, er habe auf die Frage Goethes nach seiner gegenwärtigen Arbeit geantwortet: „ein Faust“. Daraufhin habe Goethe ihn ungnädig verabschiedet. Max Brod zieht diese Anekdote in Zweifel, da sie allein durch Heines „unzuverlässigen Bruder Max“ überliefert sei. In den Briefen Heines über das Treffen ist von dergleichen keine Rede. Im Jahr 1826 veröffentlichte Heine den Reisebericht Die Harzreise, der sein erster großer Publikumserfolg wurde. Mit seinen Natur- und Landschaftbeschreibungen, eingestreuten Gedichten, erzählten Träumen und häufigen Anspielungen auf Märchen und Sagen ist dieser Bericht von allen seinen Reisebildern am stärksten romantischen Mustern verpflichtet. Im selben Jahr begann Heines lebenslange Geschäftsbeziehung zu Julius Campe in Hamburg, in dessen Verlag Heines Werke von da an erschienen. So brachte Hoffmann und Campe im Oktober 1827 den Lyrikband Buch der Lieder heraus, eine Gesamtausgabe der bis dahin veröffentlichten Lyrik Heines. In ihm kehrt das Grundmotiv der unglücklichen, unerfüllten Liebe nach Heines eigenem Eingeständnis auf geradezu monotone Weise wieder. Die Publikation begründete Heines Ruhm und ist bis heute populär. Der romantische, oft volksliedhafte Ton dieser und späterer Gedichte, die unter anderem Robert Schumann in seinem Werk Dichterliebe vertont hat, traf den Nerv nicht nur seiner Zeit. Heine sah sich selbst als „entlaufenen Romantiker“. An seinen Studienfreund Karl August Varnhagen von Ense schrieb er aus Paris: „Das tausendjährige Reich der Romantik hat ein Ende, und ich selbst war sein letzter und abgedankter Fabelkönig.“ Den romantischen Ton überwand Heine, indem er ihn ironisch unterlief und die Stilmittel des romantischen Gedichts auch für Verse politischen Inhalts nutzte. Hier ein Beispiel für die ironische Brechung, in dem er sich über sentimental-romantische Naturergriffenheit lustig macht: Heine selbst erlebte das Meer zum ersten Mal in den Jahren 1827 und 1828 auf Reisen nach England und Italien. Seine Eindrücke schilderte er in weiteren Reisebildern, die er zwischen 1826 und 1831 in insgesamt vier Bänden veröffentlichte. Dazu gehören der Zyklus Nordsee sowie die Werke Die Bäder von Lucca und Ideen. Das Buch Le Grand, letzteres ein Bekenntnis zu Napoleon und den Errungenschaften der Französischen Revolution. Heines Napoleon-Verehrung war gleichwohl nicht unkritisch, in den Reisebildern heißt es: Er erwies sich als witziger und sarkastischer Kommentator, wenn er während seiner Italienreise nach Genua beispielsweise schreibt: Seine Reisebilder verweisen zwar vielfach auf Vorbilder wie Laurence Sternes Sentimental Journey through France and Italy oder Goethes Italienische Reise, setzten sich von der üblichen Reiseliteratur durch „dezidierte Subjektivierung und Politisierung der Perspektive“ bewusst ab. Zentrale Bedeutung erhielten die Reisebilder für eine ganze Generation liberaler deutscher Intellektueller, insbesondere für die Autoren des Jungen Deutschlands, die „Heines Vorbild sowohl inhaltlich wie formal aufgriffen“. Gegen Ende seines Lebens erinnerte er sich, dass sie „wie ein Gewitter einschlug<en> in die Zeit der Fäulniß und Trauer“. Die Zeit der Restauration war u. a. geprägt von den Karlsbader Beschlüssen von 1819. Die mit ihnen eingeführte Zensur im Deutschen Bund, der auch alle Veröffentlichungen Heines unterworfen waren, verstand er satirisch zu unterlaufen, wie 1827 im Buch Le Grand mit dem folgenden, vorgeblich zensierten Text:  Die deutschen Censoren ——  ——  ——  —— ——  ——  ——  ——  ——  ——  ——  ——  ——  —— ——  ——  ——  ——  ——  ——  ——  ——  ——  —— ——  ——  ——  ——  ——  ——  ——  ——  ——  —— ——  ——  ——  ——  ——  ——  ——  ——  ——  —— ——  ——  ——  ——  ——  ——  ——  ——  ——  —— ——  ——  ——  ——  ——   Dummköpfe  ——  —— ——  ——  ——  ——  ——  ——  ——  ——  ——  —— ——  ——  ——  ——  ——  ——  ——  ——  ——  —— ——  ——  ——  ——  ——  ——  ——  ——  ——  —— ——  ——  ——  ——  —— Ab November 1827, als er Redakteur der Neuen allgemeinen politischen Annalen in München wurde, geriet Heine nach Georg Lukács in einen „ständigen Guerillakampf mit der Zensur um die große Öffentlichkeit“. Seit dieser Zeit wurde er allmählich als großes literarisches Talent wahrgenommen, und sein Ruhm verbreitete sich in Deutschland und Europa. Exil in Paris Während eines Erholungsaufenthalts auf Helgoland im Sommer 1830 erfuhr Heine vom Beginn der Julirevolution, die er enthusiastisch begrüßte. In seinen Briefen aus Helgoland, die erst 1840 als zweites Buch seiner Börne-Denkschrift veröffentlicht wurden, heißt es unter dem 10. August 1830: Wegen seiner jüdischen Herkunft und seiner politischen Ansichten zunehmend angefeindet – vor allem in Preußen – und der Zensur in Deutschland überdrüssig, übersiedelte Heine 1831 nach Paris. Von einem Exil im strengen Sinn kann zu dieser Zeit noch nicht gesprochen werden, erst die späteren Publikationverbote 1833 und 1835 machten es dazu. In Paris begann seine zweite Lebens- und Schaffensphase. Paris habe für ihn eine „ähnlich lebensauffrischende Bedeutung“ gehabt wie „für Goethe die Flucht nach Italien“, urteilt sein Biograph Max Brod. Auch Georg Lukács wertet die Übersiedlung nach der Julirevolution als eminent bedeutsam für Heines Biografie: sie machte „aus ihm einen revolutionären Publizisten von europäischem Format und europäischer Bedeutung“. Während der 25 Jahre in Paris bezog er fünfzehnmal neue Appartements, wobei Montmartre sein Lebensmittelpunkt blieb. Im Oktober 1832 schrieb Heine in einem Brief an den Komponisten Ferdinand Hiller: Seine erste Arbeit aus Frankreich war ein Bericht über die Gemäldeausstellung im Pariser Salon von 1831 für die deutsche Zeitschrift Morgenblatt für gebildete Stände. Darin besprach er u. a. das im Jahr zuvor entstandene Gemälde Die Freiheit führt das Volk von Eugène Delacroix. Die französische Hauptstadt inspirierte Heine zu einer wahren Flut von Essays, politischen Artikeln, Polemiken, Denkschriften, Gedichten und Prosawerken. Doch zeit seines Lebens sehnte er sich nach Deutschland, wie sein Gedicht In der Fremde belegt: Er sollte dieses Vaterland nur noch zweimal wiedersehen, blieb aber in ständigem Kontakt mit den Verhältnissen dort. Indem er versuchte, den Deutschen Frankreich und den Franzosen Deutschland näher zu bringen, gelangen ihm Analysen von nahezu prophetischer Qualität. Früher als die meisten seiner Zeitgenossen erkannte Heine den zerstörerischen Zug im deutschen Nationalismus, der sich – anders als der französische – zusehends von den Ideen der Demokratie und der Volkssouveränität entfernte. Der Dichter spürte in ihm vielmehr einen untergründigen Hass auf alles Fremde, wie er in dem Gedicht Diesseits und jenseits des Rheins schrieb (Anhang zum Romanzero): Aber wir verstehen uns bass, Wir Germanen auf den Hass. Aus Gemütes Tiefen quillt er, Deutscher Hass! Doch riesig schwillt er, Und mit seinem Gifte füllt er Schier das Heidelberger Faß. Während er das französische Publikum mit der deutschen Romantik und der deutschen Philosophie vertraut machte, versuchte Heine, seinen deutschen Lesern die französische Kultur näherzubringen und dem in Deutschland verbreiteten Franzosenhass entgegenzuwirken. Er nahm zunehmend die Rolle eines geistigen Vermittlers zwischen beiden Ländern ein. Obwohl er sich dabei mitunter nationaler Stereotypen bediente, trug er durchaus zu einem differenzierten Bild des jeweils anderen Landes bei. Er schrieb für die beiden wichtigsten publizistischen Organe beider Länder: die Augsburger Allgemeine Zeitung und die (noch heute verlegte) Revue des Deux Mondes. Seit 1832 war er als Pariser Korrespondent der Allgemeinen Zeitung tätig. Gegründet von Johann Friedrich Cotta, dem bedeutendsten Verleger der Weimarer Klassik, war sie zu dieser Zeit die meistgelesene deutschsprachige Tageszeitung. In ihr stellte Heine seine Position erstmals auch in einem gesamteuropäischen Rahmen dar. So verfasste er für die Allgemeine Zeitung eine Artikelserie, die sein Hamburger Verleger Julius Campe im Dezember 1832 unter dem Titel Französische Zustände in Buchform herausgab. Sie gilt als Meilenstein der deutschen Literatur- und Pressegeschichte, da Heine mit ihr formal und inhaltlich den modernen, politischen Journalismus begründete, eine Geschichtsschreibung der Gegenwart, deren Stil das deutsche Feuilleton bis heute prägt. Die Artikel, die ganz den freiheitlichen Geist der Julirevolution atmeten, wurden als politische Sensation empfunden. Cottas Blatt druckte die Berichte zwar anonym, aber allen politisch Interessierten war klar, wer ihr Autor war. So begeistert die Leserschaft, so empört war die Obrigkeit über die Artikel. Als Folge der Pariser Julirevolution von 1830 hatte sich nämlich in Deutschland die nationalliberale, demokratische Opposition formiert, die immer lauter nach Verfassungen in den Ländern des Deutschen Bundes verlangte. Der österreichische Staatskanzler Metternich ließ bei Cotta intervenieren, sodass die Allgemeine Zeitung die Artikelserie einstellte und das von Heine gelieferte Kapitel IX nicht mehr abdruckte. Auch Julius Campe legte gegen Heines Willen das Manuskript von Französische Zustände der Zensurbehörde vor. Heine beherrschte das Französische so gut, dass er sich an den Diskussionen in den Pariser Salons beteiligen konnte, aber nicht gut genug, um in dieser Sprache auch anspruchsvolle Texte zu verfassen. Deshalb schrieb er auch seine in Frankreich publizierten Texte weiterhin in Deutsch und ließ sie übersetzen. Publikationsverbote in Deutschland Zensur und Polizei im Deutschen Bund reagierten auf Französische Zustände mit Verboten, Hausdurchsuchungen, Beschlagnahmungen und Verhören. Vor allem Heines Vorrede zur deutschen Buchausgabe erregte den Unwillen der Behörden. Campe druckte sie daraufhin nicht ab, eine Entscheidung, die sein Verhältnis zu Heine stark belastete und diesen veranlasste, in Paris eine unzensierte Separatausgabe der Vorrede herauszugeben. Auch Campe brachte daraufhin einen Sonderdruck, der aber wieder eingestampft werden musste. 2010 veröffentlichte der Verlag Hoffmann und Campe eine Faksimile-Edition der Handschrift „Französische Zustände“, deren Original bis dahin als verschollen galt. In der Folge wurden Heines Werke – auch alle zukünftigen – 1833 zunächst in Preußen und 1835, auf Beschluss des Frankfurter Bundestages, in allen Mitgliedsstaaten des Deutschen Bundes verboten. Das gleiche Schicksal traf die Dichter des Jungen Deutschlands. Im Beschluss des Bundestages hieß es, die Mitglieder dieser Gruppe zielten darauf ab, . Am 16. April 1844 erließ das Königreich Preußen Grenzhaftbefehle gegen Marx, Heine und andere Mitarbeiter sozialistischer Periodika für den Fall, dass sie preußischen Boden betreten sollten; im Dezember 1844 wurden gegen sie Ausweisungsbefehle vom französischen Außenminister François Guizot erlassen. Vor der Ausweisung schützte Heine der Umstand, dass er im damals von Frankreich besetzten Rheinland geboren worden war. Paris wurde nun endgültig zu Heines Exil. Die Publikationsverbote in Deutschland beraubten Heine eines Teils seiner Erwerbsquellen. Damit rechtfertigte er später die zeitweilige Annahme einer Staatspension von Seiten der französischen Regierung. Die Zahlungen, die sich insgesamt auf 37.400 Francs beliefen, wurden ihm knapp acht Jahre lang gewährt und nach der Februarrevolution 1848 gestrichen. Freundschaften und Ehe Heine genoss das Leben in der französischen Hauptstadt und trat mit den dort lebenden Größen des europäischen Kulturlebens in Kontakt, unter anderen mit Hector Berlioz, Ludwig Börne, Frédéric Chopin, George Sand, Alexandre Dumas und Alexander von Humboldt. Mit der Zeit wurde es selbstverständlich, dass deutsche Künstler von Rang, die sich in Paris aufhielten, Heine besuchten. Zu ihnen gehörten Schriftsteller wie Franz Grillparzer, Friedrich Hebbel und Georg Herwegh, auch Komponisten wie Richard Wagner, der während seines zweijährigen Paris-Aufenthalts Umgang mit Heine pflegte. Unter den Landsleuten, die seine Bekanntschaft suchten, befanden sich auch etliche Spione Metternichs, deren Geheimberichte 1912 publik gemacht wurden. Eine Zeitlang verkehrte Heine auch mit utopischen Sozialisten wie Prosper Enfantin, einem Schüler Saint-Simons. Heines Hoffnung, in dessen quasireligiöser Bewegung ein „neues Evangelium“, ein „drittes Testament“ zu finden, hatte zu seinem Entschluss beigetragen, nach Paris überzusiedeln. Nach anfänglicher Faszination wandte er sich bald von den Saint-Simonisten ab, auch deshalb, weil sie von ihm verlangten, sein Künstlertum in ihren Dienst zu stellen. 1835, als das Scheitern der Bewegung offenkundig geworden war, schrieb Heine: Im Jahr 1833 lernte Heine die damals 18-jährige Schuhverkäuferin Augustine Crescence Mirat (1815–1883) kennen, die er Mathilde nannte. Wahrscheinlich seit Oktober 1834 lebte er mit ihr zusammen, heiratete sie aber erst sieben Jahre später. Die Ehe sollte kinderlos bleiben. Mathilde hatte seit 1830 als sogenannte Grisette in Paris gelebt, das heißt: als alleinstehende, berufstätige, junge Frau, die nach den Maßstäben der Zeit nicht als „ehrbar“ galt. Sie war attraktiv, hatte große dunkle Augen, dunkelbraunes Haar, ein volles Gesicht und eine viel bewunderte Figur. Charakteristisch war ihre hohe „Grasmückenstimme“, die auf viele einen infantilen Eindruck machte, auf Heine aber wohl faszinierend wirkte. Er scheint sich spontan in Mathilde verliebt zu haben. Viele seiner Freunde dagegen, unter ihnen Marx und Engels, lehnten seine Verbindung mit der einfachen und lebenslustigen Frau ab. Heine aber scheint sie auch deshalb geliebt zu haben, weil sie ihm ein Kontrastprogramm zu seiner intellektuellen Umgebung bot. Zu Beginn ihrer Beziehung hatte er versucht, der Bildung seiner vom Lande stammenden Freundin ein wenig aufzuhelfen. Auf sein Betreiben lernte sie lesen und schreiben, und er finanzierte mehrere Aufenthalte in Bildungsanstalten für junge Frauen. Ihr gemeinsames Leben verlief mitunter turbulent: Heftigen Ehekrächen, oft ausgelöst durch Mathildes freigiebigen Umgang mit Geld, folgte die Versöhnung meist auf dem Fuß. Neben liebevollen Schilderungen seiner Frau finden sich bei Heine auch boshafte Verse, wie die aus dem Gedicht Celimene: Deine Nücken, deine Tücken, Hab ich freylich still ertragen Andre Leut' an meinem Platze Hätten längst dich todt geschlagen. Heine schätzte sie, obwohl – oder gerade weil – Mathilde kein Deutsch sprach und deshalb auch keine wirkliche Vorstellung von seiner Bedeutung als Dichter besaß. Überliefert ist ihr Ausspruch: Gerade diese Unkenntnis deutete Heine als Zeichen dafür, dass Mathilde ihn als Menschen und nicht als prominenten Dichter liebte. Seine jüdische Herkunft hat Heine ihr zeitlebens verschwiegen. Die Eheschließung fand am 31. August 1841 in Paris, in der Kirche St-Sulpice statt, auf Mathildes Wunsch nach katholischem Ritus. Der Grund für die Hochzeit war eine Duellforderung, die sich aus einem zunächst rein literarischen Streit ergeben hatte. Romantische Schule und Kontroverse mit Ludwig Börne Wichtige Werke jener Jahre waren Die romantische Schule (1836), das Romanfragment Der Rabbi von Bacherach (1840) und die Denkschrift Ludwig Börne (1840). Die Romantische Schule fasste Zeitschriftenartikel zusammen, die 1833 unter dem Titel Zur Geschichte der neueren schönen Literatur in Deutschland erschienen waren. Darin wollte Heine den Franzosen ein aktuelleres und realistischeres Bild der deutschen romantischen Literatur vermitteln, als es das einflussreiche Werk De l’Allemagne von Madame de Staël aus dem Jahr 1813 gezeichnet hatte. Während er die Romantiker wegen ihrer Hinwendung zum katholischen Mittelalter und zu einem engen, franzosenfeindlichen, von oben verordneten Patriotismus scharf kritisierte, stellte er Goethe voller Hochachtung neben Homer und Shakespeare. Gleichwohl warf er auch seiner Dichtung Wirklichkeitsferne vor. In einem Brief an Varnhagen hatte er schon 1830 die „Kunstbehaglichkeit des großen Zeitablehnungsgenies, der sich selbst letzter Zweck ist“, kritisch kommentiert. Zentrale Aussage der Schrift ist, dass nicht nur die romantische Schule, sondern mit Goethes Tod auch die von ihm geprägte „Kunstperiode“ zu Ende gegangen sei. Eine neue literarische Schule blende die gesellschaftliche Realität nicht länger aus und stehe für die Einheit von Wort und Tat. Damit waren das Junge Deutschland und sein Vorläufer Jean Paul gemeint, die eine solche Programmatik vertraten. Er selbst sah sich zugleich als letzten Dichter der alten lyrischen Schule und Eröffner der „neuen Schule“, der „modernen deutschen Lyrik“. Insbesondere bekannte sich Heine in der Romantischen Schule zu Gotthold Ephraim Lessing, den er als Geistesverwandten und als „Champion der Geistesfreiheit und Bekämpfer der klerikalen Intoleranz“ sah, ganz im Sinne des Ideals des Jungen Deutschland. Er sei derjenige Schriftsteller, den er „in der ganzen Literaturgeschichte […] am meisten liebe“. Bereits ein Jahr vor dem Erscheinen der Romantischen Schule hatte Heine in Zur Geschichte der Religion und Philosophie in Deutschland festgestellt, „was die Zeit fühlt und denkt und bedarf und will“ sei „der Stoff der modernen Literatur“. Mit der Börne-Denkschrift, dem Literaturwissenschaftler Gerhard Höhn zufolge „eines der am kunstreichsten gearbeiteten Werke Heines“, antwortete der Autor auf die Briefe aus Paris (1830–1833) seines 1837 verstorbenen, einstigen Freundes. In ihnen hatte Börne „Heines Integrität radikal infrage gestellt“, ihn der „Charakterschwäche“ und des „käuflichen Opportunismus“ bezichtigt und ihm vorgeworfen, die Ziele der Revolution verraten zu haben. Ähnlich wie im Streit mit von Platen spielten auch in der Auseinandersetzung mit dem radikal-republikanischen Publizisten Ludwig Börne, der zu seiner Zeit bekannter war als Heine, persönliche Animositäten eine Rolle. Die wahren Ursachen waren wohl grundsätzlicher Natur: In Heines dualistischer Perspektive handelte es sich um den Zweikampf zwischen „jüdischem Spiritualismus“, den er Börne unterstellte, und der „hellenistischen Lebensherrlichkeit“, die er, in der Nachfolge Goethes, für sich in Anspruch nahm. Insofern geriet ihm das Börne-Porträt zugleich zu einem Selbstporträt über sein Selbstverständnis als Dichter und Intellektueller. Während seines gesamten Schaffens war Heine um ein überparteiliches Künstlertum bemüht. Er verstand sich als freier, unabhängiger Dichter und Journalist und sah sich zeit seines Lebens keiner politischen Strömung verpflichtet. Von Ludwig Börne grenzte er sich zunächst noch auf eine Weise ab, die dieser als wohlwollend empfinden konnte: Wenn es aber um Kunst und Dichtung ging, räumte Heine der Qualität eines Werks immer einen höheren Rang ein als der Intention oder der Gesinnung des Autors. Börne erschien diese Haltung opportunistisch. Er warf Heine mehrfach Gesinnungsmangel vor und forderte, ein Dichter habe im Freiheitskampf klar Position zu beziehen. Mit dem Streit darüber, ob und wieweit ein Schriftsteller parteilich sein dürfe, nahmen Heine und Börne spätere Debatten über politische Moral in der Literatur vorweg. Ähnliche Auseinandersetzungen gab es im 20. Jahrhundert beispielsweise zwischen Heinrich und Thomas Mann, Gottfried Benn und Johannes R. Becher, Georg Lukács und Theodor W. Adorno, Jean-Paul Sartre und Claude Simon. Daher hält Hans Magnus Enzensberger den Streit zwischen Heine und Börne für die . Die Denkschrift erschien erst 1840, drei Jahre nach Börnes Tod, unter dem missverständlichen, von Heine nicht autorisierten Titel Heinrich Heine über Ludwig Börne und enthielt Spötteleien über das Dreiecksverhältnis zwischen Börne, seiner Freundin Jeanette Wohl und deren Ehemann, dem Frankfurter Kaufmann Salomon Strauß. Dies wurde Heine selbst von ansonsten wohlwollenden Lesern übel genommen. So schrieb der frühere Jungdeutsche Karl Gutzkow in einer Besprechung des Buches (1840), es zeige Heine „vollkommen in seiner moralischen Auflösung“. Der junge Friedrich Engels bezeichnete das Werk als „das Nichtswürdigste, was jemals in deutscher Sprache geschrieben wurde“. Strauß wiederum, der sich durch die Veröffentlichung bloßgestellt fühlte, behauptete später, er habe den Dichter wegen seiner Äußerungen öffentlich geohrfeigt. Daraufhin forderte Heine ihn zu einem Pistolenduell auf. Bevor es dazu kam, heiratete er 1841 Mathilde, die er für den Fall seines Todes materiell versorgt wissen wollte. Bei dem Schusswechsel wurde Heine aber nur leicht an der Hüfte verletzt. Strauß blieb gänzlich unversehrt. Deutschlandreisen und Erbschaftsstreit Im Jahr 1844 erschien Heines zweiter Lyrikband, Neue Gedichte. Dessen erste Teile (Neuer Frühling und Verschiedene) hingen entstehungsgeschichtlich und inhaltlich noch mit dem Buch der Lieder zusammen. Es sind „Nachklänge der frühen Lyrik“, wenngleich die „für die deutsche Lyrik ungewöhnlich offen sinnliche Erotik“ der Verschiedenen bei Kritik und Publikum Anstoß erregten. Andere Teile, wie Deutschland. Ein Wintermärchen, das erst später als Separatdruck erschien, und die Zeitgedichte veranlassten die preußischen Behörden unmittelbar nach Veröffentlichung zur Beschlagnahme und zum Verbot, obwohl die Bedenken des Verlegers bereits verhindert hatten, einige besonders scharfe politische Gedichte, darunter das Weberlied, aufzunehmen. Gerhard Höhn hat auf die „verborgene Grundstruktur“ der einzelnen Teile des Bandes hingewiesen: „Liebe und Leiden werden in den vier Teilen auf vier verschiedene Weisen behandelt […]. So dominiert in Neuer Frühling scheiternde Liebe, in Verschiedene desillusionäres Leiden am rein körperlichen Liebesgenuß, in Romanzen trügerische Liebe und im Schluß der Zeitgedichte die leidende Liebe zum gewandelten, deutschen Vaterland.“ Den Abschluss der Neuen Gedichte bilden die 1843 entstandenen Nachtgedanken mit dem oft zitierten Eingangsvers Denk ich an Deutschland in der Nacht, Dann bin ich um den Schlaf gebracht, Ich kann nicht mehr die Augen schließen, Und meine heißen Thränen fließen. Das Gedicht endet mit den Zeilen: Gottlob! durch meine Fenster bricht Französisch heit’res Tageslicht; Es kommt mein Weib, schön wie der Morgen, Und lächelt fort die deutschen Sorgen. Die „deutschen Sorgen“ Heines betrafen nicht nur die politischen Zustände jenseits des Rheins, sondern auch seine mittlerweile verwitwete, allein lebende Mutter, deren Wohnung dem großen Hamburger Stadtbrand von 1842 zum Opfer gefallen war. Nicht zuletzt um sie wiederzusehen und ihr seine Frau vorzustellen, unternahm er 1843 und 1844 seine zwei letzten Reisen nach Deutschland. In Hamburg traf er seinen Verleger Campe und zum letzten Mal seinen Onkel Salomon Heine. Mit den Versen über das Israelitische Krankenhaus in Hamburg, das Salomon gestiftet hatte, setzte Heine seinem langjährigen Förderer ein literarisches Denkmal. Darin heißt es Als Salomon noch im Dezember 1844 starb, brach zwischen seinem Sohn Carl und seinem Neffen Heinrich Heine ein mehr als zwei Jahre andauernder Erbschaftsstreit aus. Carl stellte nach dem Tod seines Vaters die Zahlung einer Jahresrente ein, die Salomon Heine seinem Neffen 1838 bewilligt, deren Fortzahlung er aber nicht testamentarisch verfügt hatte. Heinrich Heine, der sich von seinem Cousin gedemütigt fühlte, setzte im weiteren Verlauf des Streits auch publizistische Mittel ein und übte öffentlich Druck auf Carl aus. Dieser stimmte im Februar 1847 schließlich einer Weiterzahlung der Rente zu, unter der Bedingung, dass Heinrich Heine nichts mehr ohne seine Zustimmung über die Familie veröffentlichen durfte. Angesichts der Krankheit Heinrich Heines in seinen letzten Lebensjahren zeigte sich Carl Heine großzügig und erhöhte die Rente. Der Streit entsprang der steten Sorge Heines um seine eigene finanzielle Absicherung und um die seiner Frau. Dabei war er nicht nur ein künstlerisch, sondern auch ökonomisch sehr erfolgreicher Schriftsteller: Er verdiente in seiner besten Pariser Zeit bis zu 34.700 Francs jährlich, was einer aktuellen Kaufkraft (2007) von weit über 200.000 Euro entsprochen hätte. Ein Teil dieses Einkommens verdankte er der erwähnten französischen Staatsrente, die jedoch nach der Februarrevolution 1848 gestrichen wurde. Heine empfand seine finanzielle Lage dennoch immer als unsicher und stellte sie öffentlich meist schlechter dar, als sie in Wirklichkeit war. In den späten Jahren ging es ihm vor allem darum, seine Frau materiell abzusichern. Mathilde erwies sich allerdings nach Heines Tod selbst als äußerst geschäftstüchtig und verhandelte mit Campe sehr erfolgreich über die weitere Verwertung der Werke ihres Mannes. Heine und der Sozialismus Mitte der 1840er Jahre entstanden Heines große Versepen Atta Troll. Ein Sommernachtstraum (1843), das auf seine Pyrenäenreise 1841 zurückgeht, und – angeregt durch seine Deutschlandreise von 1843 – Deutschland. Ein Wintermärchen (1844). Die Titel beider Werke spielen auf Stücke William Shakespeares an, auf Ein Sommernachtstraum und Das Wintermärchen. Dies verweist nach Gerhard Höhn auf ihre „antithetische Zusammengehörigkeit“. In Form eines Tierepos ironisiert Atta Troll die zeitgenössische Tendenzliteratur und preist die Autonomie der Kunst: Bereits 1837 hatte Heine in einem Theater-Brief an einen Freund bekannt: „Ich bin für die Autonomie der Kunst; weder der Religion, noch der Politik soll sie als Magd dienen, sie ist sich selber letzter Zweck, wie die Welt selbst.“ Gleichwohl legte er wenig später mit Deutschland. Ein Wintermärchen eine unverhohlen engagierte Dichtung vor, in der er äußerst bissig die staatlichen, kirchlichen und gesellschaftlichen Verhältnisse in Deutschland kritisierte. So schildert er in den Eingangsversen eine Szene gleich nach dem Grenzübertritt, in der ein Mädchen „mit wahrem Gefühle und falscher Stimme“ eine fromme Weise zur Harfe singt: In diesen Versen klingen Ideen von Karl Marx an, den er in jenen Jahren kennengelernt hatte und mit dem ihn eine enge Freundschaft verband. Marx übernahm von ihm die Metapher für die Religion als geistiges Opium aus der Börne-Denkschrift und spickte seine Beiträge für die Neue Rheinische Zeitung in den Revolutionsjahren 1848/49 häufig mit Heine-Zitaten. In seinem Hauptwerk Das Kapital hob Marx die „Courage meines Freundes H. Heine“ hervor. Georg Lukács zufolge ist Heine zu der Zeit „dem revolutionären Standpunkt von Marx und Engels näher als sonst irgendein Zeitgenosse“. Schon seit Beginn der 1840er Jahre hatte sich Heines Ton zusehends radikalisiert. Er gehörte zu den ersten deutschen Dichtern, die die Folgen der einsetzenden Industriellen Revolution zur Kenntnis nahmen und das Elend der neu entstandenen Arbeiterklasse in ihren Werken aufgriffen. Beispielhaft dafür ist sein Gedicht Die schlesischen Weber, das auch als Weberlied bekannt wurde, vom Juni 1844. Es war von dem Weberaufstand inspiriert, der im selben Monat in den schlesischen Ortschaften Peterswaldau und Langenbielau begann. Der „dreifache Fluch“ bezieht sich auf den Schlachtruf der Preußen von 1813: „Mit Gott für König und Vaterland!“ Vermittelt von Karl Marx, erschien das Gedicht am 10. Juli 1844 unter dem Titel Die armen Weber in der Wochenzeitung Vorwärts!. Es wurde in einer Auflage von 50.000 Stück als Flugblatt in den Aufstandsgebieten verteilt. Der preußische Innenminister Adolf Heinrich von Arnim-Boitzenburg bezeichnete das Werk in einem Bericht an König Friedrich Wilhelm IV. als . Das Königlich Preußische Kammergericht ordnete ein Verbot des Gedichts an. Ein Rezitator, der es dennoch gewagt hatte, es öffentlich vorzutragen, wurde 1846 in Preußen zu einer Gefängnisstrafe verurteilt. Friedrich Engels, der Heine im August 1844 in Paris kennengelernt hatte und ihn als den „hervorragendsten unter allen lebenden deutschen Dichtern“ bezeichnete, übersetzte das Weberlied ins Englische und publizierte es im Dezember desselben Jahres in der Zeitung „The New Moral World“. Neben Heines Mitarbeit am Vorwärts!, der eine Reihe von Heines Zeitgedichten veröffentlichte, schrieb Heine auch für die von Marx und Arnold Ruge herausgegebenen Deutsch-Französischen Jahrbücher, von denen allerdings nur ein Doppelheft erschien. Beide Publikationen wurden vom preußischen Innenministerium verboten und die Inhaftierung ihrer Mitarbeiter beim Überschreiten der Grenze angeordnet. Im Dezember 1844 besuchte ein junger Student Heine in Paris: Ferdinand Lassalle, der spätere Begründer der deutschen Sozialdemokratie. Der energiegeladene Linkshegelianer imponierte dem Dichter ungemein wegen seiner Kampfansage an den Kapitalismus als „organisierten Räuberzustand“. Enthusiastisch schrieb Heine an Lassalles Vater: „In diesem neunzehnjährigen Jüngling sehe ich den Messias unseres Jahrhunderts.“ Darüber hinaus pflegte Heine seit Beginn seiner Pariser Zeit Kontakte zu Vertretern des Saint-Simonismus, einer frühen sozialistischen Strömung. Besonders mit Pierre Leroux, der zum gemeinsamen engeren Bekanntenkreis George Sands gehörte, kam es zum intellektuellen Austausch über dessen Sozialphilosophie und die revolutionäre Rolle der deutschen Philosophie, namentlich der Hegelschen. In einem Porträt für eine deutsche Zeitung bezeichnete er ihn als „den ersten Kirchenvater des Communismus“. Als eine führende Persönlichkeit des Sozialismus und möglichen Wegbereiter der künftigen Revolution würdigte Heine Louis Blanc, an dessen Schrift L’organisation du Travail er die „glühende Phantasie für die Leiden des Volkes“ und zugleich die „Vorliebe für Ordnung[,] jene gründliche Abneigung gegen Anarchie“ hervorhob. Trotz seiner freundschaftlichen Beziehungen zu Marx und Engels hatte er ein ambivalentes Verhältnis zur marxistischen Philosophie. Heine erkannte die Not der entstehenden Arbeiterklasse und unterstützte ihre Anliegen. Zugleich fürchtete er, dass der Materialismus und die Radikalität der kommunistischen Idee vieles von dem vernichten würden, was er an der europäischen Kultur liebte und bewunderte. Motive seines „libertären und hedonistischen Sozialismus“ finden sich auch im Vorwort zur französischen Ausgabe von „Lutezia“, das Heine im Jahr vor seinem Tod schrieb: Die gescheiterte Revolution Der liberal-konstitutionellen Bewegung nahestehend, verfolgte Heine die europäischen Revolutionen von 1848/49 mit gemischten Gefühlen. Mit den politischen Verhältnissen, wie sie die Julirevolution von 1830 in Frankreich geschaffen hatte, war er weitgehend einverstanden. Er hatte daher auch kein Problem damit, die Rente des französischen Staates zu akzeptieren. Die Pariser Februarrevolution und ihre Auswirkungen sah er mit wachsender Skepsis. Seiner Mutter schrieb er im März 1848: „Du hast keinen Begriff davon, welche Misère jetzt hier herrscht. Die ganze Welt wird frey und bankrott.“ In einem Brief an Julius Campe vom 9. Juli 1848 charakterisierte er die „Zeitereignisse“ als „Universalanarchie, Weltkuddelmuddel, sichtbar gewordener Gotteswahnsinn“. Auch aus dem so genannten „Waterloo-Fragment“ von 1854, dessen Druck Campe ablehnte, geht Heines kritische Haltung zur Februarrevolution hervor. In den Staaten des Deutschen Bundes ging es den Revolutionären aber darum, einen demokratisch verfassten Nationalstaat, wie Heine ihn in Frankreich bereits realisiert sah, überhaupt erst zu schaffen. Dieses Ziel, das Heine unterstützte, verfolgten zunächst auch die Liberalen während der Märzrevolution. Da die Verfechter einer republikanisch-demokratischen Staatsform sowohl in den neu besetzten Kammerparlamenten als auch in der Frankfurter Nationalversammlung eine parlamentarische Minderheit bildeten, wandte sich Heine von der Entwicklung in Deutschland enttäuscht ab. Im Versuch des ersten gesamtdeutschen Parlaments, eine Monarchie unter einem erblichen Kaisertum zu schaffen, sah er politisch untaugliche, romantische Träumereien von einer Wiederbelebung des 1806 untergegangenen Heiligen Römischen Reichs. In dem Gedicht Michel nach dem März schrieb er: Die Farben Schwarz-Rot-Gold waren in Heines Augen ein rückwärtsgewandtes Symbol, die Farben der deutschen Burschenschafter, denen er „Teutomanie“ und „Phrasenpatriotismus“ vorwarf. Kritikern dieser Haltung hatte er bereits 1844 im Vorwort zu „Deutschland. Ein Wintermärchen“ geantwortet: Die erste Phase der Revolution scheiterte, als Preußens König Friedrich Wilhelm IV. im Frühjahr 1849 die erbliche Kaiserwürde ablehnte, die ihm eine von der Nationalversammlung entsandte Kaiserdeputation angetragen hatte. Als Reaktion darauf entstand insbesondere in West- und Südwestdeutschland eine neue demokratische Aufstandsbewegung, die die Fürsten zur Annahme der Paulskirchenverfassung zwingen wollte. Bis Ende Juli 1849 schlugen vor allem preußische Truppen diese letzte Welle der Revolution nieder, zuletzt im Großherzogtum Baden. Resigniert kommentierte Heine die Vorgänge in seinem Gedicht Im Oktober 1849: Christian Liedtke, Archivar am Heinrich-Heine-Institut, wertet dieses Gedicht als „beispielhaft für seine [Heines] gesamte politische Lyrik im Nachmärz“, die er mit einem Wort von Klaus Briegleb als eine „Poesie der Besiegten“ charakterisiert. Das Scheitern der deutschen Revolution führte Heine nach Walter Grab auf subjektive Faktoren zurück, nämlich die „Dummheit, Feigheit und politischen Mittelmäßigkeit ihrer intellektuellen Wortführer“. Ihnen sei es nicht gelungen, ihre politischen Forderungen mit den „sozialen Anliegen der Massen des Kleinbürgertums, der Bauern, Handwerker und Arbeiter zu verknüpfen“ wie es noch die Jakobiner im „Großen Wohlfahrtsausschuss“ 1793 vermocht hätten. Die eigentliche deutsche Revolution stand für Heine noch aus, aber er war sicher, dass sie eines Tages kommen würde. Denn er war grundsätzlich der Auffassung, dass jedes Wissen und jede Erkenntnis irgendwann zur Tat werde. In Caput VI des „Wintermärchens“ kleidet er diese Überzeugung in das Bild der geheimnisvollen, dunklen Gestalt, die ihm überall hin folgt und sich ihm schließlich zu erkennen gibt: Ich bin dein Liktor, und ich geh Beständig mit dem blanken Richtbeile hinter dir – ich bin Die Tat von deinem Gedanken. In Bezug auf eine kommende deutsche Revolution hatte Heine diesem Gedanken, nach dem jede große Idee sich irgendwann in der Wirklichkeit manifestiert, schon 1834 in diesen später vielzitierten Sätzen Ausdruck verliehen: Dieser Text war auf die deutschen „Naturphilosophen“ gemünzt, wie Heine gegenüber seinen französischen Lesern Denker wie Kant, Fichte oder Hegel bezeichnete. Im 20. Jahrhundert wurde diese Passage aus den unterschiedlichsten Perspektiven heraus als Prophezeiung verstanden. Die einen sahen im „deutschen Donner“ den Sieg des Marxismus vorhergesagt, die anderen betrachteten den Text als Warnung vor den Gewaltzexzessen des Nationalsozialismus. Matratzengruft Als Heine im Mai 1848 zum letzten Mal alleine das Haus verließ, erlitt er einen Zusammenbruch – nach eigener Darstellung im Louvre vor der Venus von Milo. Fast vollständig gelähmt, sollte er die acht verbleibenden Jahre bis zu seinem Tod bettlägerig in der von ihm so bezeichneten „Matratzengruft“ verbringen. Bereits 1832 hatten sich erste Symptome der Krankheit – Lähmungserscheinungen, Kopfschmerzattacken und Sehschwächen – gezeigt. Seit 1845 hatte sich das Nervenleiden in mehreren Schüben dramatisch verschlechtert. 1846 war er sogar vorzeitig für tot erklärt worden. Aufenthalte in Kurorten, etwa 1846 in Barèges in den Pyrenäen oder 1847 auf dem Lande bei Montmorency, brachten keine merkliche Linderung mehr. Dazu kamen die Belastungen des jahrelangen Erbschaftsstreits mit seinem Hamburger Cousin Carl Heine, der erst Anfang 1847 beigelegt wurde. Heines Gesundheit war zu diesem Zeitpunkt bereits weitgehend zerrüttet. Friedrich Engels berichtete im Januar 1848, noch vor dem endgültigen Zusammenbruch: Seinem Bruder Maximilian schrieb Heine am 12. September 1848: „So viel ist gewiß, daß ich in den letzten 3 Monaten mehr Qualen erduldet als jemals die spanische Inquisition ersinnen konnte.“ Heines Krankheit Heine selbst war überzeugt, an Syphilis erkrankt zu sein, und viele der bekanntgewordenen Symptome deuten tatsächlich auf einen syphilitischen Charakter seines Leidens hin. So spricht etwa der Neurologe Roland Schiffter von einer „Neurosyphilis in Form der chronischen Meningitis“. Zahlreiche Biographen übernahmen Heines Selbstdiagnose, die aber bis heute immer wieder in Frage gestellt wird. Gegen eine syphilitische Erkrankung spricht beispielsweise, dass Heines geistige Schaffenskraft in den qualvollen Jahren des Krankenlagers nicht nachließ. Nach einer eingehenden Untersuchung aller zeitgenössischen Dokumente zu Heines Krankengeschichte in den 1990er Jahren wurden die wichtigsten Symptome einer komplexen, tuberkulösen Erkrankung zugeordnet. Eine weitere Untersuchung von Haaren des Dichters im Jahr 1997 legte dagegen eine chronische Bleivergiftung nahe. Andere Vermutungen gehen dahin, dass es sich bei Heines Krankheit womöglich um amyotrophe Lateralsklerose oder um multiple Sklerose gehandelt haben könnte. Ein erblicher Charakter seines Leidens wird ebenfalls diskutiert, da auch Heines Vater an einer Erkrankung des zentralen Nervensystems gelitten hatte. Da Heine kaum noch selbst schreiben konnte, diktierte er seine Verse und Schriften meist einem Sekretär oder überließ diesem seine eigenhändigen Entwürfe zur Reinschrift. Das Korrekturlesen von Druckvorlagen gab er bis zuletzt nicht aus der Hand, obwohl dies für den nahezu Erblindeten eine zusätzliche Belastung darstellte. Heine und die Religion Trotz seiner Sympathien für die Religion seiner Vorfahren und deren Kultur war Heinrich Heine nie ein frommer Jude. Sein Übertritt zum protestantischen Christentum wiederum erfolgte aus rein pragmatischen Gründen. Grundsätzlich skeptisch gegenüber religiösen Gefühlen und Überzeugungen, schreckte ihn aber auch der radikale Materialismus der Kommunisten ab und er bekannte sich nie zum Atheismus. Dass religiöse Sinnfragen, etwa die nach dem Bösen, ihn bewegten, er sich aber gleichwohl bewusst war, dass es auf diese Fragen keine letztgültigen Antworten gab, zeigt sein spätes Gedicht Zum Lazarus Aus dem Nachwort zu seinem kurz zuvor erschienenen Spätwerk „Romanzero“ von September 1851 geht hervor, dass Heine in den Jahren vor seinem Tod zu einer milderen Beurteilung der Religion gelangte: Genährt werden solche Gerüchte bis heute durch christliche Autoren unterschiedlicher Couleur. Sie schreiben Heine ein Gedicht zu (Zerschlagen ist die alte Leier am Felsen, welcher Christus heißt), das sie als Beleg für seine vollkommene Hinwendung zum Christentum werten. Die Heine-Forschung hat diese Zuschreibung mit Verweisen auf Inhalt und Stil des Gedichtes stets abgelehnt. Der Potsdamer Religionswissenschaftler Nathanael Riemer konnte 2017 nachweisen, dass das Gedicht auf den Pfarrer und „Märzrevolutionär“ Bernhard Martin Giese (1816–1873) zurückgeht. Wie Heine tatsächlich über die organisierte Religion dachte, zeigt ein Auszug aus seinem Testament vom 13. November 1851. Darin bekannte er sich zum Glauben an einen persönlichen Gott, ohne sich einer der christlichen Kirchen oder dem Judentum wieder anzunähern. Dort heißt es: Spätwerk und Tod Als letzte größere Arbeit vor seinem Zusammenbruch vollendete Heine Ende 1846 das Tanzpoem Der Doktor Faust. Das Ballett, das der Londoner Operndirektor Benjamin Lumley bei ihm in Auftrag gegeben hatte, wurde jedoch nicht aufgeführt. Bemerkenswert an dem Libretto ist, dass Heine den Teufel als weibliche Mephistophela anlegte und dass sein Faust, im Gegensatz zu dem des bewunderten Goethe, nicht gerettet, sondern erbarmungslos gerichtet wird. Selbst unter den schwierigen Bedingungen seiner Krankheit schuf und veröffentlichte Heine noch eine Reihe bedeutender Werke, die er u. a. seinem Sekretär Karl Hillebrand diktierte. Auch Hillebrands Freund Wilhelm Liebknecht, später einer der Gründer der SPD, übernahm kurzzeitig Lektoratsarbeiten für Heine. Zu den Werken aus der Matratzengruft gehören drei Bände Vermischte Schriften von 1854. Sie enthielten unter anderem die Geständnisse, in der Heine versucht, seine Position in der deutschen Literaturgeschichte und seine Haltung zur Religion zu bestimmen, ferner die Gedichte. 1853 und 1854 sowie Lutezia, laut Untertitel eine Auswahl von „Berichten über Kunst, Politik und Volksleben“. Heine hatte diese Berichte ursprünglich zwischen 1840 und 1846 für die Augsburger Allgemeine Zeitung verfasst, die sie aber wegen der Zensur oft nur in gekürzter oder verstümmelter Form hatte drucken können. In Lutezia – der Titel ist der lateinische Name von Paris – erschienen sie nun in der Originalversion. In ihnen spiegelte sich auch Heines Bemühen, das Phänomen Napoleon zu „historisieren“. Anlässlich der Überführung seiner „sterblichen Überreste“ von St-Helena nach Paris, um im Invalidendom ihre Ruhestätte zu finden, schrieb er: Heines bekanntestes Spätwerk ist der 1851 erschienene dritte Gedichtband Romanzero, der aus drei Teilen besteht. Insbesondere im mittleren Teil, in den Lamentazionen, thematisierte Heine das Leiden jener Jahre, in denen er auf „den Scherbenhaufen seines Lebens“ zurückblickte. Im Lazarus-Zyklus findet die „Leidensthematik ihren subjektivsten und radikalsten Ausdruck“. Im Schlussgedicht des zweiten Buches, Enfant Perdu, zog er die Bilanz seines politischen Lebens: Verlor’ner Posten in dem Freyheitskriege, Hielt ich seit dreyzig Jahren treulich aus. Ich kämpfte ohne Hoffnung, daß ich siege. Ich wußte, nie komm’ ich gesund nach Haus. […] Ein Posten ist vakant! – Die Wunden klaffen – Der eine fällt, die anderen rücken nach – Doch fall’ ich unbesiegt, und meine Waffen Sind nicht gebrochen –. Nur mein Herze brach. Im letzten Teil, in den Hebräischen Melodien, verwob Heine die „Leiden in der Matratzengruft mit dem jahrtausendealten Judenschmerz im Exil“, wobei er sich mit Dichtern identifizierte, „die mehr Fremdlinge auf dieser Welt sind“ und „die ihr Dichtertum mit Tod und Erniedrigung bezahlt haben“. Trotz seines Leidens kamen Heine Humor und Leidenschaft nicht abhanden. Die letzten Monate seines Lebens erleichterten ihm die Besuche seiner Verehrerin Elise Krinitz, die er – nach der Fliege (frz. mouche) in ihrem Briefsiegel – zärtlich „Mouche“ nannte. Die 31-jährige gebürtige Deutsche war als Adoptivkind nach Paris gekommen und verdiente ihren Lebensunterhalt mit „Klavierstunden und deutschem Sprachunterricht“. Später wurde sie unter den Pseudonymen Camille und Camilla Selden selbst Schriftstellerin. Heine machte die Freundin zu seiner „angebeteten Lotosblume“ und „holdseligen Bisamkatze“. Auch Elise Krinitz liebte den todkranken, fast blinden Mann aufrichtig, war er doch einst der „Lieblingsdichter ihrer jungen Jahre“ gewesen. Wegen Heines Hinfälligkeit konnte sich diese Leidenschaft jedoch nur auf geistiger Ebene entfalten. Er kommentierte dies selbstironisch in den Versen Worte! Worte! keine Thaten! niemals Fleisch, geliebte Puppe. Immer Geist und keinen Braten, Keine Knödel in der Suppe! Dass er sogar über den Tod noch scherzen konnte – und sich seines Rangs in der deutschen Literatur vollauf bewusst war –, zeigt sein Gedicht Der Scheidende: Erstorben ist in meiner Brust Jedwede weltlich eitle Lust, Schier ist mir auch erstorben drin Der Haß des Schlechten, sogar der Sinn Für eigne wie für fremde Not – Und in mir lebt nur noch der Tod! Der Vorhang fällt, das Stück ist aus, Und gähnend wandelt jetzt nach Haus Mein liebes deutsches Publikum, Die guten Leutchen sind nicht dumm, Das speist jetzt ganz vergnügt zu Nacht, Und trinkt sein Schöppchen, singt und lacht – Er hatte recht, der edle Heros, Der weiland sprach im Buch Homeros’: Der kleinste lebendige Philister Zu Stukkert am Neckar, viel glücklicher ist er Als ich, der Pelide, der tote Held, Der Schattenfürst in der Unterwelt. Am 17. Februar 1856 starb Heinrich Heine in Paris im Alter von 58 Jahren. Sein Freund, der Philologe Frédéric Baudry, überlieferte laut dem Tagebuch der Brüder Edmond und Jules de Goncourt die letzten, an Mathilde gerichteten Worte des Dichters. Als Heine gehört habe, dass sie neben seinem Sterbebett betete, Gott möge ihm verzeihen, habe er sie unterbrochen: „N’en doute pas, ma chère, il me pardonnera; c’est son métier!“ – „Zweifle nicht daran, meine Liebe, er wird mir verzeihen. Das ist sein Geschäft!“ Drei Tage nach seinem Tod wurde Heine auf dem Friedhof Montmartre beerdigt. Nach seinem ausdrücklichen Willen fand Mathilde, die er als seine Universalerbin eingesetzt hatte, nach ihrem Tod 27 Jahre später ihre letzte Ruhe in derselben Grabstätte. Das im Jahr 1901 erstellte Grabmal ziert eine von dem dänischen Bildhauer Louis Hasselriis stammende Marmorbüste Heines und sein Gedicht Wo?. Bedeutung und Nachleben Aufgrund seiner Eigenständigkeit sowie seiner formalen und inhaltlichen Breite lässt sich Heines Werk keiner eindeutigen literarischen Strömung zuordnen. Heine geht aus der Romantik hervor, überwindet aber bald deren Ton und Thematik – auch in der Lyrik. Sein Biograf Joseph Anton Kruse sieht in seinem Werk Elemente der Aufklärung, der Weimarer Klassik, des Realismus und des Symbolismus. Heine als „Zeitschriftsteller“ Heine gilt vor allem als politisch kritischer Autor des Vormärz. Mit den Schriftstellern des Jungen Deutschland, denen er zugerechnet wurde, verband ihn das Streben nach politischer Veränderung hin zu mehr Demokratie in ganz Europa, speziell in Deutschland. Dass er sich die Verwirklichung der Demokratie auch in einer konstitutionellen Monarchie wie der des Bürgerkönigs Louis-Philippe vorstellen konnte, brachte ihm Kritik von Seiten überzeugter Republikaner ein. Heines Distanzierung von der „Tendenzliteratur“, die er mit „gereimten Zeitungsartikeln“ verglich, erfolgte hingegen weniger aus politischen als aus ästhetischen Motiven. Persönlich stand Heine Karl Marx und Friedrich Engels nahe, ohne deren politische Philosophie völlig zu teilen. Für Jürgen Habermas war Heine der „erste große Zeitschriftsteller“ im Zeitalter der entstehenden Massenpresse. Er folgte damit Gerhard Höhns Hinweis auf einen neuen Dichtertyp, der in der Übergangszeit von der feudalen Ständegesellschaft zur bürgerlichen Klassengesellschaft erscheint: den „Zeitschriftsteller“, der „bereits alle wesentlichen Züge des kritischen, modernen Intellektuellen in sich vereinigt“ und dessen wichtigste Publikationsorgane Zeitungen und Zeitschriften sind. Bezeichnenderweise ist der Zyklus politischer Gedichte in Heines zweitem Lyrikband mit „Zeitgedichte“ überschrieben. Habermas nennt Heine auch einen „Protointellektuellen“. Er habe noch kein Intellektueller im Sinne der Dreyfuß-Partei von 1898 sein können, weil er von der politischen Meinungsbildung in den deutschen Bundesstaaten auf doppelte Weise ferngehalten wurde: „physisch durch sein Exil und geistig durch die Zensur“. Darin widerspricht ihm Höhn, der die Geburt des modernen Intellektuellen in das Paris des Jahres 1832 verlegt, in dem Heines erste große politische Artikelserie „Französische Zustände“ entstand. Karl Kraus dagegen beurteilte Heines angebliche Rolle als Begründer des deutschsprachigen Feuilletonismus äußerst kritisch. Er habe „die Franzosenkrankheit“ eingeschleppt und bezichtigte ihn dabei, „der deutschen Sprache so sehr das Mieder gelockert“, dass „heute alle Kommis an ihren Brüsten fingern können“. Dass Kraus' Invektiven nicht frei von antisemitischen Untertönen sind, belegt der Literaturwissenschaftler Paul Peters in seiner Schrift Die Wunde Heine mit zahlreichen Wendungen. Als politischer Schriftsteller war Heine laut Klaus Briegleb „den Liberalen und frühen Sozialisten in der Mitte des 19. Jahrhunderts […] nicht weniger verdächtig […] als den Pfaffen und Aristokraten und ihren Vasallen“. Heine griff tatsächliche oder vermeintliche Gegner ebenso hart an, wie er selbst angegriffen wurde, und schreckte vor keiner Polemik zurück. Nach seinem Tod nahm die Schärfe der Auseinandersetzungen um ihn eher noch zu – und hielt mehr als ein Jahrhundert an. Denkmäler und Denkmalsstreit Symptomatisch für den zwiespältigen Umgang mit Heines Erbe war der 100 Jahre währende Streit um würdige Denkmäler für den Dichter in Deutschland. Dieser Streit veranlasste Kurt Tucholsky 1929 zu der Äußerung: Seit 1887 gab es Bemühungen, dem Dichter zur Feier seines bevorstehenden 100. Geburtstags ein Denkmal in seiner Geburtsstadt Düsseldorf zu setzen. Die öffentliche Wahrnehmung Heines wurde damals jedoch zunehmend durch nationalistische und antisemitische Geisteswissenschaftler geprägt. So bezeichnete der politisch einflussreiche Göttinger Orientalist Paul de Lagarde Heinrich Heine 1887 als „eines der widerlichsten Subjekte, das je die Erde gedrückt hat.“ Und der völkische Literaturkritiker Adolf Bartels denunzierte die Düsseldorfer Denkmalspläne nachträglich in seinem 1906 veröffentlichten, berühmt-berüchtigten Aufsatz „Heinrich Heine. Auch ein Denkmal“ als „Kotau vor dem Judentum“ und Heine selbst als „Decadence-Juden“. Angesichts ähnlicher Anfeindungen hatte der Düsseldorfer Stadtrat bereits 1893 seine Zustimmung zur Aufstellung des Denkmals zurückgezogen, das der Bildhauer Ernst Herter geschaffen hatte. Die Darstellung der Loreley wurde schließlich von Deutsch-Amerikanern für den New Yorker Stadtteil Bronx erworben. Sie steht heute im Joyce-Kilmer-Park in der Nähe des Yankee-Stadions und ist als „Lorelei Fountain“ bekannt. In Düsseldorf brachte man später eine Gedenkplakette an Heines Geburtshaus an, die allerdings 1940 abmontiert und für Kriegszwecke eingeschmolzen wurde. Ein zweiter, 1931 unternommener Anlauf zu einem Düsseldorfer Heine-Denkmal scheiterte zwei Jahre später an der nationalsozialistischen Machtübernahme. Die bereits fertige, allegorische Skulptur „Aufsteigender Jüngling“ von Georg Kolbe wurde ohne erkennbaren Bezug zu Heine zunächst in einem Museum und nach dem Krieg im Düsseldorfer Ehrenhof aufgestellt. Erst seit 2002 weist eine Sockel-Inschrift auf Heine hin. 1953 wurde auf dem Napoleonsberg im Düsseldorfer Hofgarten eine Heine-Gedenkstätte mit einer Skulptur von Aristide Maillol errichtet. Offiziell ehrte Heines Geburtsstadt den Dichter erst 1981 mit einem Denkmal, fast 100 Jahre nach den ersten Bemühungen darum, und erneut kam es darüber zum Streit. Die Heinrich-Heine-Denkmal-Gesellschaft befürwortete die Ausführung eines Entwurfs, den Arno Breker bereits für den Wettbewerb des Jahres 1931 angefertigt hatte. Breker, der einer der führenden Bildhauer in der Zeit des Nationalsozialismus gewesen war, schuf eine idealisierte, sitzende Figur, die den Dichter als jungen, lesenden Mann darstellt. Der Düsseldorfer Kulturdezernent lehnte diese Skulptur jedoch ab. Später wurde sie auf der Insel Norderney aufgestellt. Verwirklicht wurde schließlich der Entwurf des Bildhauers Bert Gerresheim. Das Heine-Denkmal auf dem Düsseldorfer Schwanenmarkt ist eine unkonventionelle Bronzeplastik und nach den Worten ihres Schöpfers eine „Vexierlandschaft“. Die zerteilte Totenmaske steht für die Zerrissenheit des Heines, die er in seinen Werken mehrfach beklagt hat. Die Skulptur wurde 1978 entworfen und 1981, an Heines 125. Todestag enthüllt. Ähnlich wie in Düsseldorf verlief der Denkmalsstreit in Hamburg. Die österreichische Kaiserin Elisabeth, die Heine verehrte und die erste Düsseldorfer Denkmalsinitiative unterstützt hatte, beabsichtigte, der Hansestadt eine Statue des sitzenden Heine zu schenken. Auf ein geeignetes Gipsmodell war sie bereits 1873 auf der Weltausstellung in Wien aufmerksam geworden. Es handelte sich um einen Entwurf des dänischen Bildhauers Louis Hasselriis, der später auch Heines Grabbüste anfertigen sollte. Hamburg lehnte das Geschenk jedoch ab. Daher gab die Kaiserin 1890 die Ausführung des Modells in Marmor privat in Auftrag. Das von Hasselriis geschaffene Denkmal wurde nach seiner Vollendung im September 1891 im Park ihres Schlosses Achilleion auf der Insel Korfu aufgestellt. Nach dem Tod Elisabeths 1898 verkauften ihre Erben das Achilleion dem deutschen Kaiser. Wilhelm II., der Heine als „Schmutzfinken im deutschen Dichterwald“ bezeichnete, ließ die Marmorskulptur 1909 entfernen und dem Hamburger Verleger Heinrich Julius Campe übergeben, dem Sohn Julius Campes. Dieser bot sie ein zweites Mal dem Hamburger Senat an, der das Geschenk aber erneut und mit dem Hinweis auf Heines angeblich „vaterlandsfeindliche Haltung“ ablehnte. Auch in diesem Fall hatte es wieder eine öffentliche Debatte gegeben, an der sich Adolf Bartels mit antisemitischer Polemik beteiligte. Das Denkmal wurde schließlich auf dem Privatgelände des Hoffmann und Campe Verlags an der Mönckebergstraße errichtet und erst 1927 in Altona öffentlich aufgestellt. Um es vor der Zerstörung durch die Nationalsozialisten zu schützen, ließ die Tochter Campes es 1934 abbauen und 1939 zu ihrem Wohnort, der südfranzösischen Hafenstadt Toulon, verschiffen. Während der deutschen Besetzung Frankreichs versteckt, fand das weitgereiste Denkmal 1956 seinen endgültigen Platz im botanischen Garten Toulons. Vor wenigen Jahren scheiterte eine Initiative des Schauspielers Christian Quadflieg, die Skulptur nach Hamburg zurückzubringen. Ein öffentliches Heine-Denkmal erhielt Hamburg erst 1926, als im Winterhuder Stadtpark eine Statue enthüllt wurde, die der Bildhauer Hugo Lederer 1911 angefertigt hatte. Dieses Denkmal wurde von den Nationalsozialisten bereits 1933 wieder beseitigt und im Zweiten Weltkrieg eingeschmolzen. Seit 1982 steht auf dem Rathausmarkt eine neue Heine-Statue des Bildhauers Waldemar Otto. Auf eine Privatinitiative geht das wahrscheinlich erste Heine-Denkmal zurück, das in Deutschland aufgestellt wurde: 1893 ließ Baronin Selma von der Heydt auf der Friedensaue in Küllenhahn (heute zu Wuppertal gehörig) einen etwa zwei Meter hohen Pyramidenstumpf errichten, in den drei Schrifttafeln eingelassen waren. Ein zugehöriger Fahnenmast war bereits 1906 verschwunden, der Rest wurde in der Zeit des Nationalsozialismus von der Hitlerjugend zerstört. 1958 stiftete die Stadt Wuppertal ein neues Heinrich-Heine-Denkmal im Von-der-Heydt-Park. Der Bildhauer Harald Schmahl nutzte dazu drei Muschelquader aus den Trümmern des Barmer Rathauses. Die erste Stadt Preußens, die ein Heine-Denkmal erhielt, war Halle. Der sozialdemokratische Heine-Bund ließ 1912 im Trothaer Schlösschen eine Büste des Dichters aufstellen, die jedoch 1933 von Nationalsozialisten zerstört wurde. Im Jahr 1956 wurde ein Felsen am Ufer der Saale nach Heine benannt. Dort, im Ortsteil Reideburg und seit 1997 auch am einstigen Standort der Büste erinnern Gedenktafeln an den Dichter. Seit 2002 befindet sich auf dem Universitätsplatz von Halle ein neues Heine-Denkmal. Das älteste noch existierende Heine-Denkmal in Deutschland und zugleich das erste, das von der öffentlichen Hand errichtet wurde, steht in Frankfurt am Main. Es handelt sich um die allegorische Skulptur eines schreitenden Jünglings und einer sitzenden jungen Frau, die 1913 im Auftrag der Stadt von Georg Kolbe geschaffen wurde. Kolbe erhielt 20 Jahre später auch den Auftrag für das Heine-Denkmal im Düsseldorfer Ehrenhof. Das Frankfurter Denkmal wurde in der Nacht vom 26. auf den 27. April 1933 von NS-Anhängern von seinem Sockel gestürzt. Anschließend wurde es im Keller des Städel-Museums eingelagert. Dort blieb es während der gesamten Zeit des Nationalsozialismus unter dem unverfänglichen Namen „Frühlingslied“ versteckt. So überstand es als einziges deutsches Heine-Denkmal die Hitler-Diktatur und den Zweiten Weltkrieg. Es steht heute wieder in den Frankfurter Wallanlagen. Bert Gerresheim, der Schöpfer des Düsseldorfer Denkmals von 1981, gestaltete auch die Marmorbüste Heinrich Heines, die am 28. Juli 2010 in der von König Ludwig I. von Bayern gestifteten Walhalla aufgestellt wurde. Der Düsseldorfer Freundeskreis Heinrich Heine hatte sich zehn Jahre lang dafür eingesetzt. 2006 stimmte die bayerische Staatsregierung der Aufnahme Heines in die „Ruhmeshalle“ zu, die er selbst einst als marmorne Schädelstätte verspottet hatte. Im Münchener Finanzgarten gibt es einen von Toni Stadler geschaffenen Heinrich-Heine-Brunnen in Form einer kleinen Grotte. Kontroverse Rezeption bis in die Nachkriegszeit Kaum ein anderer deutscher Dichter löste bei seinen Zeitgenossen wie bei der Nachwelt derart heftige Kontroversen aus wie Heine. Laut Klaus Theodor Kleinknecht war das Repertoire der Heine-Kritiker bereits seit seiner Pariser Zeit ausgebildet: „Heine der Jude, der Franzosenfreund, der Vaterlandsverächter, der Lügner, der Charakterlose, der Verführer der Jugend, der irreligiöse Materialist, aber auch: der Nur-Dichter, der Nur-Ästhet, der mit der Revolution nur Spielende, alles dies ist schon formuliert, ebenso wie die Einsicht, daß Heine generell jedem Versuch, ihn auf eine Position festzulegen, sich entziehe.“ Während Friedrich Nietzsche die Vollkommenheit von Heines Lyrik pries und in ihm den „ersten Artisten der deutschen Sprache“ sah, glaubte der deutschnationale, antisemitische Historiker Heinrich von Treitschke Heines „jüdischen Verstand“ folgendermaßen charakterisieren zu können: „Geistreich ohne Tiefe, witzig ohne Überzeugung, selbstisch, lüstern, verlogen und doch zuweilen unwiderstehlich liebenswürdig, war er auch als Dichter charakterlos und darum merkwürdig ungleich in seinem Schaffen“ – „ein Dichter, der Schönheit ebenso mächtig wie der Niedertracht.“ Aus wiederum ganz anderen Gründen kritisierte Karl Kraus den Dichter in seiner Schrift Heine und die Folgen von 1910. Kraus betrachtete ihn als Urheber des von ihm erbittert bekämpften Feuilletonismus: „Ohne Heine kein Feuilleton. Das ist die Franzosenkrankheit, die er uns eingeschleppt hat.“ Wie kaum ein anderes Pamphlet hat das von Kraus dazu beigetragen „einer Generation von deutschjüdischen Intellektuellen […] Heine abspenstig zu machen“. Denn sie nahmen, wie Elias Canetti aus eigener Erfahrung schrieb, „keinen der Autoren je in die Hand, die von Kraus verdammt worden waren“. Zu denen, die im Bann des Krausschen Verdikts vornehmlich Heines Lyrik abschätzig bewerteten, gehörten die aus jüdischen Familien kommenden Friedrich Gundolf, Rudolf Borchardt, Walter Benjamin und Theodor W. Adorno. In seinem Rundfunkvortrag zum 100. Todestag Heines schied der Philosoph und Soziologe Adorno immerhin den Prosaschriftsteller als einen Stilisten von Rang vom Lyriker, dem er eine „dichterische Technik der Reproduktion“ und die Nähe zu „Ware und Tausch“ unterstellte. In seiner Gedenkrede sprach Adorno von der „Wunde Heine“, die für die spätere Wirkungsgeschichte „zur geflügelten Signatur“ wurde. In der Zeit des Nationalsozialismus wurde das Werk des 80 Jahre zuvor verstorbenen Dichters unterdrückt und 1940 auch offiziell verboten. Entgegen landläufiger Meinung fielen Heines Werke nicht der Bücherverbrennung von 1933 zum Opfer. Auch für die Behauptung des Germanisten Walter A. Berendsohn, Heines Loreley-Lied sei in Lesebüchern der NS-Zeit mit der Angabe „Verfasser unbekannt“ erschienen, fehlt jeder Beleg. Dass die äußerst umfangreiche Sammlung aus Einzeldokumenten, Handschriften und Büchern Heines in der Landes- und Stadtbibliothek Düsseldorf Diktatur und Krieg überstand, ist vor allem dem damaligen Bibliotheksleiter Hermann Reuter (1880–1970) zu verdanken. Er wusste von der Freundschaft Heines mit Prinz Alexander zu Sayn-Wittgenstein-Hohenstein (1801–1874), der im April 1820 ebenfalls an der Universität Bonn studiert hatte. Im Herbst 1943 ließ Reuter mit Zustimmung von Alexanders Enkel, Fürst August zu Sayn-Wittgenstein-Hohenstein (1868–1948), den gesamten Bestand in die Kapelle von Schloss Wittgenstein bei Laasphe auslagern. Dort überstand er die Kriegswirren und den Zusammenbruch unbeschadet. Im Februar 1947 ließ die britische Militärregierung die in 40 Bücherkisten untergebrachte Sammlung wieder zurück nach Düsseldorf transportieren. Selbst nach 1945 wurde Heines Werk in Deutschland lange Zeit zwiespältig beurteilt und war Gegenstand vielfältiger Kontroversen, nicht zuletzt aufgrund der deutschen Teilung. Während Heine in der Bundesrepublik Deutschland der Adenauerzeit eher zurückhaltend und allenfalls als romantischer Lyriker rezipiert wurde, integrierte die DDR ihn frühzeitig in ihr „Erbe“-Konzept und bemühte sich um die Popularisierung seines Werks. Dabei standen vor allem Deutschland. Ein Wintermärchen und Heines Kontakt mit Karl Marx im Mittelpunkt des Interesses. Der erste internationale wissenschaftliche Heine-Kongress wurde im Gedenkjahr 1956 in Weimar veranstaltet, im selben Jahr erschien erstmals die fünfbändige Werkausgabe in der Bibliothek deutscher Klassiker (durch die Bände Lutetia 1960 und Briefe 1969 ergänzt) zuerst im Volksverlag Weimar, dann im Aufbau-Verlag (18. Auflage 1990). Eine Mitte der 1950er Jahre von Weimar initiierte gesamtdeutsche, historisch-kritische Gesamtausgabe (Säkularausgabe) kam aufgrund der Verzögerungstaktik der bundesrepublikanischen Seite nicht zustande. Der DDR-Germanist Hans Kaufmann legte 1967 die bis dahin bedeutendste Heine-Monografie der Nachkriegszeit vor. Anlässlich von Heines 100. Todestag wurde 1956 in Düsseldorf die Heinrich-Heine-Gesellschaft gegründet, doch erst in den 1960er-Jahren nahm auch in der Bundesrepublik das Interesse an dem Dichter spürbar zu. Seine Geburtsstadt benannte 1963 die Heinrich-Heine-Allee nach ihm und etablierte sich als Zentrum der westdeutschen Heine-Forschung. Aus dem Heine-Archiv entwickelte sich schrittweise das Heinrich-Heine-Institut mit Archiv, Bibliothek und Museum. Seit 1962 erscheint regelmäßig das Heine-Jahrbuch, das zum internationalen Forum der Heine-Forschung avancierte. Darüber hinaus verleiht die Stadt Düsseldorf seit 1972 den Heinrich-Heine-Preis. Dennoch hielt ein lokaler Professoren-Streit um Heine an: Dreimal – 1972, 1973 und 1982 – lehnte es der Satzungskonvent der Universität Düsseldorf ab, die Hochschule nach dem bedeutendsten Dichter zu benennen, den die Stadt hervorgebracht hat. Erst seit 1988, nach einer rund 20 Jahre währenden Auseinandersetzung, heißt die Hochschule offiziell Heinrich-Heine-Universität. Das Heine-Bild seit den 1970er Jahren Abgesehen von offiziellen Ehrungen erfuhr der politische Schriftsteller Heinrich Heine – forciert durch die Studentenbewegung von 1968 – ein zunehmendes Interesse bei Nachwuchswissenschaftlern und politisch engagierten Lesern. Dass die Bundesrepublik in Sachen Heine-Rezeption mit der DDR gleichgezogen hatte, zeigte sich 1972, im 175. Geburtsjahr des Dichters, als in den zwei deutschen Staaten konkurrierende Heine-Kongresse (in Düsseldorf und in Weimar) stattfanden. Wegen der deutsch-deutschen Konkurrenz erschienen auch die ersten Bände zweier groß angelegter historisch-kritischer Werkausgaben fast gleichzeitig: die der Düsseldorfer Heine-Ausgabe und der Heine-Säkularausgabe in Weimar. Nach der Konsolidierung der Heine-Renaissance in den 1970er Jahren nahm die ideologisch geprägte Auseinandersetzung um den Dichter in den 1980er Jahren spürbar ab und wich schließlich einer Kanonisierung. Gerhard Höhn, der Herausgeber des Heine-Handbuches, stellte für diesen Zeitpunkt einen Gesinnungswandel fest: „Der Kämpfer für Freiheit und Fortschritt wird heute nicht mehr verleumdet, sondern überall gefeiert und geehrt.“ Dies zeigte sich nicht nur in der Benennung der Düsseldorfer Universität, sondern auch der zahlreicher deutscher Schulen nach Heinrich Heine. Ebenso erinnern etliche „Heinrich-Heine-Straßen“ und „Heinrich-Heine-Alleen“ sowie einer der ersten Intercity-Express-Züge (ICE 4) an den Dichter. Vor allem aber fand seit dieser Zeit Heines Werk vermehrt Aufnahme in die Lehr- und Lektürepläne von Schulen und Universitäten, was auch eine deutliche Zunahme didaktisch orientierter Heine-Literatur zur Folge hatte. Die Fachwissenschaft dagegen wandte sich bisher vernachlässigten Schwerpunkten zu, beispielsweise dem späten Heine. Ihren vorläufigen Höhepunkt fand die Heine-Renaissance mit zahlreichen Veranstaltungen anlässlich seines 200. Geburtstages im Jahr 1997. Ungeachtet des weltanschaulichen Streits und fachwissenschaftlicher Paradigmenwechsel erfreut sich besonders Heines Lyrik ungebrochener Popularität, zumal sich seine romantischen, oft volksliedartigen Gedichte – allen voran das Buch der Lieder – sehr gut vertonen lassen. Im Theater ist Heine mit eigenen Dramen wenig präsent, aber Tankred Dorst machte den Dichter im Heine-Jahr 1997 selbst zum Gegenstand eines Stückes: „Harrys Kopf“. Rezeption durch deutsche Schriftsteller und Journalisten Im Jahr 1861 veröffentlichte der Schriftsteller Friedrich Arnold Steinmann mehrere Bände angeblicher Nachträge zu Heinrich Heine’s Werken, die sich durchweg als Fälschungen von seiner Hand herausstellten. Der Streit um die Frage der Echtheit veranlasste Heines Verleger Campe dazu, eine zuverlässige Gesamtausgabe von Heines Texten herauszugeben. Zahlreiche deutsche Schriftsteller des 19. und 20. Jahrhunderts griffen Heines Werke auf, darunter die großen Erzähler Theodor Fontane und Thomas Mann. Wie Heine wagten Bertolt Brecht und Kurt Tucholsky die Gratwanderung zwischen Poesie und Politik. In der Tradition des Dichters stehen auch die Heine-Preisträger Wolf Biermann, Hans Magnus Enzensberger und Robert Gernhardt. Biermann etwa widmete seinem Vorbild 1979 das Lied Auf dem Friedhof am Montmartre. Darin heißt es in typisch heinescher Diktion: Unter weißem Marmor frieren Im Exil seine Gebeine Mit ihm liegt da Frau Mathilde Und so friert er nicht alleine. Gernhardt parodierte in seinem Gedichtband Klappaltar von 1997 Heines Stil und das Loreley-Gedicht, um auf die Ablehnung hinzuweisen, die das Werk des Dichters in deutschen Schulen bis ins 20. Jahrhundert erfahren hat. Nach dem Eingangsvers nennt er die Vorurteile, die seine Generation, beeinflusst von Karl Kraus, seit „Urschülerzeiten“ gegen Heine gehegt hatte. Er schließt: Der Heine scheint’s nicht zu bringen, Hat sich da der Schüler gesagt. Das hat mit seinem Singen Der Studienrat Kraus gemacht. Heines Prosa-Stil prägt den deutschsprachigen Journalismus, insbesondere das Feuilleton, bis in die Gegenwart. Viele von ihm geprägte Begriffe gingen auch in die deutsche Alltagssprache ein, so das Wort „Fiasko“, das er dem Französischen entnahm, oder die Metapher „Vorschusslorbeeren“, die er in dem gegen Graf Platen gerichteten Gedicht Plateniden verwendet. Heine-Rezeption weltweit Stieß Heine in Deutschland lange Zeit wegen seiner jüdischen Herkunft auf breite Ablehnung, ist er in Israel bis heute wegen seiner Abwendung vom Judentum umstritten. So kam es in Tel Aviv zu einer Debatte zwischen säkularen und orthodoxen Juden um die Benennung einer Straße nach Heine. Während die einen in ihm eine der bedeutendsten Gestalten des Judentums sehen, verurteilen die anderen seine Konversion zum Christentum als unverzeihlich. Schließlich wurde eine Straße in einem abgelegenen Industriegebiet nach ihm benannt, statt, wie von den Verfechtern der Ehrung vorgeschlagen, eine Straße in der Nähe der Universität. Die Tel Aviver Wochenzeitung Ha’ir spottete damals über die „Exilierung der Heine-Straße“, in der sich das Leben des Dichters symbolisch widerspiegele. Mittlerweile wurden weitere Straßen in Jerusalem und Haifa nach Heine benannt, und eine Heine-Gesellschaft ist auch in Israel aktiv. Wesentlich geradliniger verlief die Aufnahme von Heines Werk in der übrigen Welt. Heine war einer der ersten deutschen Autoren, deren Werke in allen Weltsprachen zu lesen waren. So erklärt sich der Einfluss, den er auf andere Nationalliteraturen hatte. Bereits im 19. Jahrhundert wurden Lyriker wie der spanische Romantiker Gustavo Adolfo Bécquer von Heine beeinflusst. Auf besonders große Anerkennung trifft Heine auch in Frankreich, England, den Vereinigten Staaten von Amerika, in Osteuropa und Asien. In Japan brachte der Literaturwissenschaftler Onoe Saishū 1901 eine erste Auswahl von Gedichten Heines heraus. Ihr folgte 1919 eine weitere, maßgebliche Übersetzung durch den Germanisten Shungetsu Ikuta (1892–1930). Die Auswahl des konservativen Onoe prägte über Jahrzehnte die Wahrnehmung Heines in Japan als eines romantischen Liebesdichters. Erst seit Ende der 1920er Jahre wurde Heine verstärkt auch als eminent politischer Autor wahrgenommen. Der Anstoß dafür kam von Schriftstellern und Literaturwissenschaftlern wie dem Heine-Biographen Shigeharu Nakano, die gegen die zunehmend autoritäre Politik ihres Landes opponierten. 2017 wurden zwei Essays Adornos über Heine ins Japanische übersetzt. Heine und die Musik Heinrich Heine spielte selbst kein Musikinstrument und war auch in musiktheoretischen Fragen ein Laie. Da es nach seinem künstlerischen Verständnis aber keine strikten Grenzen zwischen verschiedenen Kunstformen gab, kommentierte er als Journalist – etwa in der Augsburger Allgemeinen Zeitung – immer wieder auch musikalische Aufführungen und Werke seiner Zeit, darunter auch solche von internationalen Größen wie Giacomo Meyerbeer, Franz Liszt, Robert Schumann oder Richard Wagner. Auch in seine Lyrik floss sein Interesse an der Musik ein, etwa in das spöttische Gedicht Zur Teleologie: Ohren gab uns Gott die beiden, Um von Mozart, Gluck und Hayden Meisterstücke anzuhören – Gäb es nur Tonkunst-Kolik Und Hämorrhoidal-Musik Von dem großen Meyerbeer, Schon ein Ohr hinlänglich wär! Trotz seiner fehlenden theoretischen Kenntnisse auf dem Gebiet der Musik legten viele zeitgenössische Komponisten und Interpreten Wert auf seine Meinung, wahrscheinlich weil sie ihm als Lyriker eine gewisse Kompetenz in musikalischen Fragen zugestanden. Dennoch wäre es nicht korrekt, Heine als Musikkritiker zu bezeichnen. Er war sich seiner begrenzten Fähigkeiten auf diesem Gebiet bewusst und schrieb stets als Feuilletonist, der sich der Thematik eines Stücks subjektiv und intuitiv näherte. Von größerer Bedeutung als Heines Äußerungen über die Musik ist die musikalische Bearbeitung vieler seiner Werke durch Komponisten. Dies geschah erstmals im Jahr 1825 mit seinem Gedicht Gekommen ist der Maie, das Carl Friedrich Curschmann zu einem Lied verarbeitete. In seinem Werk Heine in der Musik. Bibliographie der Heine-Vertonungen listet Günter Metzner alle vertonten Werke des Dichters in chronologischer Reihenfolge auf. Für das Jahr 1840 verzeichnet er 14 Musiker, die 71 Stücke zu Werken von Heine komponierten. Vier Jahre später waren es bereits mehr als 50 Komponisten und 159 Werke. Der Grund für diesen rapiden Anstieg dürfte die Veröffentlichung des Lyrikbandes „Neue Gedichte“ bei Campe gewesen sein. Ihren Höhepunkt erreichte die Zahl der Heine-Vertonungen fast 30 Jahre nach dem Tod des Dichters, im Jahr 1884 – mit insgesamt 1093 Stücken von 538 Musikern und Komponisten. Nie zuvor und nie wieder danach wurden mehr Werke eines einzigen Dichters in einem Jahr zur Grundlage musikalischer Kompositionen. Insgesamt zählt Metzners Bibliografie 6.833 Heine-Vertonungen, darunter Werke von Franz Schubert, Robert und Clara Schumann, Johannes Brahms, Felix Mendelssohn Bartholdy, Franz Liszt, Richard Wagner, Pjotr Iljitsch Tschaikowski, Alexander Borodin, Wendelin Weißheimer, Alma Mahler-Werfel und Charles Ives. Unter anderem gehören Schumanns Liederkreis (op. 24) und Dichterliebe (op. 48) sowie Franz Schuberts Schwanengesang (D 957) zum regelmäßigen Repertoire von Konzerthäusern auf der ganzen Welt. Die populärste Heine-Vertonung in Deutschland dürfte Friedrich Silchers Lied Die Lorelei sein, gefolgt von Du bist wie eine Blume, das, ebenfalls aus der romantischen Periode, über dreihundert Komponisten zur Vertonung reizte. Wie Schumann, so vertonte auch Richard Wagner, der mit Heine in Paris freundschaftlich verkehrte, das Napoleon verherrlichende Gedicht Die Grenadiere, allerdings in französischer Übersetzung. Darüber hinaus wurde Wagner von Heine zu zwei Opern inspiriert: Eine Erzählung in Heines Aus den Memoiren des Herren von Schnabelewopski lieferte die Vorlage zu Der Fliegende Holländer und das episch-balladeske Gedicht über die Tannhäuser-Legende aus den Neuen Gedichten verarbeitete der Komponist in Tannhäuser und der Sängerkrieg auf der Wartburg. All das hielt Wagner später nicht davon ab, Heine in seinem antisemitischen Pamphlet Das Judenthum in der Musik anzugreifen. Nach Meinung des Musiktheoretikers und -kritikers Theodor W. Adorno ist die Geschichte des deutschen Kunstliedes undenkbar ohne Heine. Ihm zufolge wäre die „selbstvergessene Melancholie“ der Schumannschen Kompositionen ohne die spätromantischen Texte Heines nicht möglich gewesen. Heines Bedeutung für das musikalische Schaffen hielt bis zum Ersten Weltkrieg an. Danach ließ der zunehmende Antisemitismus den „Heine-Boom“ weitgehend abflauen, bis er in der Zeit des Nationalsozialismus in Deutschland ganz zum Erliegen kam. Noch 1972 erfuhr die Schlager- und Chansonsängerin Katja Ebstein herbe Kritik von konservativer Seite, nachdem sie eine LP mit Liedern von Heinrich Heine veröffentlicht hatte. Heute greifen Musiker und Komponisten Heines Werk erneut auf, darunter auch Opernkomponisten wie Günter Bialas, dessen Oper Aus der Matratzengruft 1992 uraufgeführt wurde. Zitate über Heine Aussagen von Zeitgenossen und Nachgeborenen über Heinrich Heine zeigen, wie sehr er über seinen Tod hinaus polarisiert hat und wie stark die Rezeption seines Werkes vom jeweiligen Zeitgeist geprägt war. Werke (Auswahl) Originalausgaben Nach Erscheinungsjahr in Buchform 1821: Gedichte. Maurerische Verlagsbuchhandlung, Berlin. 1822: Briefe aus Berlin. Anonym im Verlag des Rheinisch-Westfälischen Anzeigers, Hamm. 1823: Tragödien nebst einem lyrischen Intermezzo (darin William Ratcliff, Almansor und Lyrisches Intermezzo), „Ferd. Dümmlersche Verlagsbuchhandlung“, Berlin. 1824: Dreiunddreißig Gedichte 1826: Reisebilder. Erster Teil (darin Die Harzreise, Die Heimkehr, Die Nordsee. Erste Abteilung sowie verschiedene Gedichte; ) 1827: Buch der Lieder () 1827: Reisebilder. Zweiter Teil (darin Die Nordsee. Zweite und dritte Abteilung, Ideen. Das Buch Le Grand und Briefe aus Berlin; ) 1830: Reisebilder. Dritter Teil (darin Die Reise von München nach Genua und Die Bäder von Lucca; ) 1831: Einleitung zu Kahldorf über den Adel sowie Reisebilder. Vierter Teil (darin Die Stadt Lucca und Englische Fragmente; ) 1832: Französische Zustände 1834: Der Salon. Erster Teil (darin Französische Maler, Aus den Memoiren des Herren von Schnabelewopski sowie verschiedene Gedichte) 1835: Der Salon. Zweiter Teil (darin Zur Geschichte der Religion und Philosophie in Deutschland und der Gedichtzyklus Neuer Frühling) 1836: Der Salon. Dritter Teil (darin Florentinische Nächte und Elementargeister) 1836: Die romantische Schule 1837: Über den Denunzianten. Eine Vorrede zum dritten Teil des Salons. Einleitung zu Don Quixote sowie Der Salon. Dritter Teil 1838: Der Schwabenspiegel 1839: Shakespeares Mädchen und Frauen sowie Schriftstellernöten 1840: Ludwig Börne. Eine Denkschrift sowie Der Salon. Vierter Teil (darin Der Rabbi von Bacherach, Über die französische Bühne und verschiedene Gedichte) 1844: Neue Gedichte (Titelblatt in der Wikiversity), teils darin, daneben auch separat erschien das satirische Versepos Deutschland. Ein Wintermärchen () 1847: Atta Troll – Ein Sommernachtstraum 1851: Romanzero und Der Doktor Faust. Ein Tanzpoem 1854: Vermischte Schriften (drei Bände, darin Geständnisse, Die Götter im Exil, Die Göttin Diana, Ludwig Marcus, Gedichte 1853 und 1854, Lutetia. Erster Teil und Lutetia. Zweiter Teil) Aus dem Nachlass 1857: Tragödien 1869: Letzte Gedichte und Gedanken 1884: Memoiren (1854–1855 geschrieben) 1892: Heinrich Heines Familienleben. 122 Familienbriefe des Dichters und 4 Bilder. (Digitale Rekonstruktion: UB Bielefeld) Gesamtausgaben Heinrich Heine’s sämmtliche Werke. 9 Doppelbände. Hoffmann und Campe, Hamburg 1867. Digitalisat Sämmtliche Werke. Rechtmäßige Original-Ausgabe. Hrsg. von Adolf Strodtmann. 21 Bände und 2 Supplementbände. Hoffmann und Campe, Hamburg 1861–1884. Heinrich-Heine-Säkularausgabe (HSA). Werke, Briefwechsel, Lebenszeugnisse. Hrsg. von Nationale Forschungs- und Gedenkstätten der klassischen deutschen Literatur in Weimar / Centre National de la Recherche Scientifique in PariS. 53 Bände, Akademie Verlag, Berlin 1970 ff. Die Briefausgaben sind online zugängig im Heinrich-Heine-Portal Düsseldorfer Heine-Ausgabe (DHA): Heinrich Heine. Historisch-kritische Gesamtausgabe der Werke. Hrsg. von Manfred Windfuhr. 16 Bände, Hoffmann & Campe, Hamburg 1973–1997. Online zugängig im Heinrich-Heine-Portal Klaus Briegleb (Hrsg.): Heinrich Heine. Sämtliche Schriften. 6 Bände. Hanser, München 1968–1976, ISBN 978-3-446-10726-7. Taschenbuch-Ausgabe: dtv, München 2005, ISBN 3-423-59074-2. Hans Kaufmann: Heinrich Heine. Werke und Briefe in zehn Bänden. 2. Auflage. Aufbau-Verlag, Berlin/Weimar 1972. Sämtliche Werke in 4 Bänden. 4. Auflage. Artemis & Winkler, München 2006, ISBN 978-3-538-05107-2. Lizenzausgabe für die Wissenschaftliche Buchgesellschaft, Darmstadt 1992–1994. Neuere Ausgaben (Auswahl) Poesiealbum 3. Verlag Neues Leben, Berlin 1967. Die Prosa nimmt mich auf in ihre weiten Arme. Verrisse und Visionen. Hanser, München 1997, ISBN 3-446-19117-8. Buch der Lieder. Reclam, Stuttgart 1998, ISBN 3-15-002231-2. Ludwig Börne und Heinrich Heine. Ein deutsches Zerwürfnis. Bearb. v. Hans Magnus Enzensberger. Greno, Nördlingen 1986 (Die Andere Bibliothek). Aus den Memoiren des Herrn von Schnabelewopski, Manesse Verlag, Zürich 2001, ISBN 3-7175-4008-4. Auf Flügeln des Gesanges. Sämtliche Gedichte. Artemis & Winkler, Düsseldorf 2003, ISBN 3-538-06958-1. Sämtliche Gedichte in zeitlicher Folge in einem Band. 4. Auflage. Insel, Frankfurt am Main 2006, ISBN 3-458-33663-X. Denn das Meer ist meine Seele. Reisebilder, Prosa und Dramen. Artemis & Winkler, Düsseldorf 2003, ISBN 3-538-06959-X. Die romantische Schule. Reclam, Stuttgart 2002, ISBN 3-15-009831-9. Die Worte und die Küsse sind wunderbar vermischt... Ein Heine–Lesebuch, Hrsg.: Bernd Kortländer, unter Mitarbeit von Martin und Ulrike Hollender, Philipp Reclam jun., Stuttgart, ISBN 3-15-010578-1 Mit scharfer Zunge. 999 Aperçus und Bonmots (ausgewählt von Jan-Christoph Hauschild), dtv, München 2005, ISBN 3-423-13392-9. Confessio Judaica. Bekenntnis zum Judentum. Melzer, Neu-Isenburg 2006, ISBN 3-937389-97-0. Der Gott unserer Väter. Über Juden und Judentum. Klartext, Essen 2006, ISBN 3-89861-674-6. Ludwig Börne. Eine Denkschrift. WFB, Bad Schwartau 2006, ISBN 3-930730-44-8. „… und grüssen sie mir die Welt“. Ein Leben in Briefen. Hoffmann und Campe, Hamburg 2005, ISBN 3-455-09512-7. Wilma Ruth Albrecht: Harry Heine. Shaker, Aachen 2007, ISBN 978-3-8322-6062-0. Mein Leben. Autobiographische Texte. (ausgewählt von J. A. Kruse), Insel, Frankfurt am Main 2005, ISBN 3-458-34854-9. Französische Zustände: Artikel IX vom 25. Juni 1832. Urfassung. Faksimile-Edition der Handschrift. 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Digitalisat der ULB Bonn Nachgelesene Gedichte 1812–1827 Gedichte auf zgedichte.de Werke von Heinrich Heine als gemeinfreie und kostenlose Hörbücher bei LibriVox Dichterkrieg Platen/Heine Über Heine Heinrich-Heine-Gesellschaft e. V. Heine-Haus Heinrich-Heine-Institut Düsseldorf Beiträge zu Heine – Aus Politik und Zeitgeschichte, 2006, 3 darin Klaus Briegleb: Heines Umgang mit Judenhass als Fortführung eines biblischen Programms. „Heine und die Deutschen“ – O-Ton und Textfassung des Vortrages von Christian Liedtke vom 13. August 2006 im Rahmen der Nibelungenfestspiele in Worms Gerd Heinemann: Die Beziehungen des jungen Heine zu Zeitschriften im Rheinland und in Westfalen. LWL, Historische Kommission, 34, 1, 2013 Anmerkungen Texte von Heinrich Heine werden – sofern nicht anders angegeben – nach der Düsseldorfer Heine-Ausgabe (DHA) für die Werke und nach der Heine-Säkularausgabe (HSA) für die Briefe zitiert. Über das Heinrich-Heine-Portal (siehe Weblinks) stehen die Texte beider Ausgaben inzwischen digitalisiert (mit Suchfunktion) zur Verfügung. Autor Lyrik Literatur (Deutsch) Literatur (19. Jahrhundert) Dichterjurist Freimaurer (19. Jahrhundert) Freimaurer (Deutschland) Freimaurer (Frankreich) Corpsstudent (19. Jahrhundert) Burschenschafter (19. Jahrhundert) Literatur des Vormärz Walhalla Schriftsteller (Düsseldorf) Schriftsteller (Paris) Journalist (Deutschland) Heinrich Person als Namensgeber für einen Merkurkrater Namensgeber für ein Schiff Namensgeber für eine Universität Deutscher Emigrant in Frankreich Deutscher Preuße Geboren 1797 Gestorben 1856 Mann
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https://de.wikipedia.org/wiki/Numerische%20lineare%20Algebra
Numerische lineare Algebra
Die numerische lineare Algebra ist ein zentrales Teilgebiet der numerischen Mathematik. Sie beschäftigt sich mit der Entwicklung und der Analyse von Rechenverfahren (Algorithmen) für Problemstellungen der linearen Algebra, insbesondere der Lösung von linearen Gleichungssystemen und Eigenwertproblemen. Solche Probleme spielen in allen Natur- und Ingenieurwissenschaften, aber auch in der Ökonometrie und in der Statistik eine große Rolle. Die Algorithmen der numerischen linearen Algebra lassen sich grob in zwei Gruppen einteilen: in die direkten Verfahren, die theoretisch nach endlich vielen Rechenschritten die exakte Lösung eines Problems liefern, und in die iterativen Verfahren, bei denen die exakte Lösung schrittweise immer genauer angenähert wird. Da aber auch die direkten Verfahren wegen der beim Rechnen mit endlicher Genauigkeit entstehenden Rundungsfehler nur Näherungen für die exakte Lösung liefern, ist diese Unterscheidung nur für die Entwicklung und Untersuchung der Verfahren selbst von Bedeutung; für den praktischen Einsatz spielt sie keine große Rolle. Historisch gehen die ersten systematischen Verfahren aus beiden Gruppen – das direkte gaußsche Eliminationsverfahren und das iterative Gauß-Seidel-Verfahren – auf Carl Friedrich Gauß zurück. Beispiele für bedeutende Verfahren des 20. Jahrhunderts, die zahlreiche Verbesserungen und Weiterentwicklungen zur Folge hatten, sind das Zerlegungsverfahren von André-Louis Cholesky, das QR-Verfahren für Eigenwertprobleme von John G. F. Francis und Wera Nikolajewna Kublanowskaja sowie das CG-Verfahren von Eduard Stiefel und Magnus Hestenes als erster Vertreter der wichtigen Krylow-Unterraum-Verfahren. Einführung in die Problemstellungen Ein – auch historisch gesehen – zentraler Anfangspunkt der elementaren linearen Algebra sind lineare Gleichungssysteme. Wir betrachten Gleichungen der Gestalt für Unbekannte . Die Koeffizienten und sind gegebene Zahlen; die gesuchten Werte für sollen so bestimmt werden, dass alle Gleichungen erfüllt werden. Die Koeffizienten lassen sich zu einer Matrix zusammenfassen; die Zahlen und die Unbekannten bilden Spaltenvektoren und . Auf diese Weise ergibt sich die Matrix-Vektor-Darstellung eines linearen Gleichungssystems: Gesucht ist ein Vektor , der bei der Matrix-Vektor-Multiplikation mit der gegebenen Matrix den gegebenen Vektor ergibt. Als Teilgebiet der Numerik betrachtet auch die numerische lineare Algebra nur sogenannte korrekt gestellte Probleme, also insbesondere nur solche Probleme, die eine Lösung besitzen und bei denen die Lösung eindeutig bestimmt ist. Insbesondere wird im Folgenden stets angenommen, dass die Matrix regulär ist, also eine Inverse besitzt. Dann gibt es für jede rechte Seite eine eindeutig bestimmte Lösung des linearen Gleichungssystems, die formal als angegeben werden kann. Viele wichtige Anwendungen führen allerdings auf lineare Gleichungssysteme mit mehr Gleichungen als Unbekannten. In der Matrix-Vektor-Darstellung hat in diesem Fall die Matrix mehr Zeilen als Spalten. Solche überbestimmten Systeme haben im Allgemeinen keine Lösung. Man behilft sich deshalb damit, den Vektor so zu wählen, dass die Differenz , das Residuum, in einem noch festzulegenden Sinn „möglichst klein“ wird. Beim mit Abstand wichtigsten Fall, dem sogenannten linearen Ausgleichsproblem, wird dazu die Methode der kleinsten Quadrate verwendet: Hierbei wird so gewählt, dass die Quadratsumme minimal wird, wobei die Komponenten des Differenzvektors bezeichnen. Mithilfe der euklidischen Norm lässt sich das auch so schreiben: Man wähle so, dass minimal wird. Neben den linearen Gleichungen sind die Eigenwertprobleme ein weiteres zentrales Thema der linearen Algebra. Gegeben ist hierbei eine Matrix mit Zeilen und Spalten; gesucht sind Zahlen und Vektoren , sodass die Gleichung erfüllt ist. Man nennt dann einen Eigenvektor von zum Eigenwert . Das Problem, alle Eigenwerte und Eigenvektoren einer Matrix zu bestimmen, ist gleichbedeutend damit sie zu diagonalisieren. Das bedeutet: Man finde eine reguläre Matrix und eine Diagonalmatrix mit . Die Diagonaleinträge von sind dann die Eigenwerte von und die Spalten von die zugehörigen Eigenvektoren. Diese Probleme treten in allen Natur- und Ingenieurwissenschaften auf. Sie spielen aber auch in den Wirtschaftswissenschaften sowie in der Statistik – und damit in allen Gebieten, die sich statistischer Methoden bedienen – eine große Rolle. Lineare Gleichungssysteme beschreiben beispielsweise Modelle in der Statik, elektrische Netzwerke oder volkswirtschaftliche Verflechtungen. So scheinbar unterschiedliche Aufgabenstellungen wie die Stabilitätsuntersuchung dynamischer Systeme, Resonanzphänomene bei Schwingungen, die Bestimmung eines PageRanks oder die Hauptkomponentenanalyse in der Statistik führen alle auf Eigenwertprobleme. Lineare Gleichungen entstehen auch durch Linearisierung und Diskretisierung innerhalb anderer numerischer Verfahren. So lassen sich beispielsweise zahlreiche Modelle in Naturwissenschaft und Technik durch partielle Differentialgleichungen beschreiben. Ihre numerische Lösung durch Differenzen- oder Finite-Elemente-Verfahren führt auf Systeme mit sehr vielen Unbekannten. In diesem Übersichtsartikel wird der Einfachheit halber angenommen, dass alle gegebenen Matrizen und Vektoren reell sind, das heißt, dass alle ihre Einträge reelle Zahlen sind. Meist lassen sich die angesprochenen Verfahren direkt auf komplexe Zahlen verallgemeinern; an die Stelle der orthogonalen Matrizen tritt dann beispielsweise ihr komplexes Pendant, die unitären Matrizen. Mitunter ist es auch vorteilhaft, ein gegebenes komplexes Problem – etwa durch Betrachtung von Real- und Imaginärteil – auf ein reelles zurückzuführen. Zusatzüberlegungen treten allerdings bei Eigenwertproblemen mit nichtsymmetrischen reellen Matrizen auf, denn diese können auch nichtreelle Eigenwerte und Eigenvektoren haben. Geschichte Die Anfänge: Gauß und Jacobi Bereits seit der Antike sind Lösungen konkreter Problemstellungen überliefert, die aus heutiger Sicht als lineare Gleichungssysteme angesehen werden können. Die Neun Kapitel der Rechenkunst, in denen der Stand der chinesischen Mathematik des 1. Jahrhunderts n. Chr. zusammengefasst ist, enthielten dabei bereits tabellarische Rechenvorschriften, die Eliminationsverfahren in Matrixdarstellung entsprachen. Die systematische Untersuchung linearer Gleichungssysteme setzte gegen Ende des 17. Jahrhunderts mit ihrer Formulierung mithilfe allgemeiner Koeffizienten ein. Nach Vorarbeiten von Gottfried Wilhelm Leibniz und Colin Maclaurin veröffentlichte Gabriel Cramer 1750 eine explizite Lösungsformel für beliebig viele Unbekannte mithilfe von Determinanten. Mit dieser cramerschen Regel war das Problem theoretisch vollständig gelöst, auch in Hinblick auf Existenz und Eindeutigkeit von Lösungen. Für deren praktische Berechnung erwies sich die Formel jedoch als völlig ungeeignet, weil der Rechenaufwand dabei mit der Anzahl der Unbekannten astronomisch schnell anwächst (siehe auch Cramersche Regel#Rechenaufwand). Die erste Verwendung und Beschreibung systematischer Rechenverfahren für lineare Gleichungen geht auf Carl Friedrich Gauß (1777–1855) zurück. Zu Beginn des 19. Jahrhunderts waren die Bestimmung der Bahndaten astronomischer Objekte und die Landesvermessung durch Triangulation die wichtigsten Anwendungsaufgaben der mathematischen Praxis. 1801 erregte Gauß großes Aufsehen, als es ihm gelang, die Bahn des neu entdeckten Kleinplaneten Ceres aus wenigen Beobachtungen so genau zu bestimmen, dass Ceres Ende des Jahres wiedergefunden werden konnte. Für das zugehörige überbestimmte Gleichungssystem verwendete er die von ihm entdeckte Methode der kleinsten Quadrate. Das von ihm zur Berechnung der Lösung eingesetzte Eliminationsverfahren beschrieb Gauß systematisch ab 1809 im Rahmen der Bahnbestimmung des Asteroiden Pallas, allerdings noch direkt angewendet auf Quadratsummen. Auch das erste Iterationsverfahren zur Lösung linearer Gleichungssysteme – das Gauß-Seidel-Verfahren – stammt von Gauß. In einem Brief an Christian Ludwig Gerling berichtete er 1823 von einem neuen einfachen Verfahren, mit dem die Lösung Schritt für Schritt immer besser angenähert werden könne. Gauß, der inzwischen mit der Triangulation des Königreichs Hannover beschäftigt war, schreibt darin, er rechne fast jeden Abend noch einen Iterationsschritt; das sei eine angenehme Abwechslung zur einförmigen Aufnahme der Messdaten. Das Verfahren sei so wenig anfällig für Fehler, dass es sich sogar „halb im Schlaf“ ausführen lasse. 1845 veröffentlichte Carl Gustav Jacob Jacobi ein anderes, ähnliches Iterationsverfahren, das Jacobi-Verfahren. Als Philipp Ludwig von Seidel, ein Schüler Jacobis, 1874 ein System mit 72 Unbekannten lösen musste, entwickelte er eine modifizierte, verbesserte Version dieser Methode. Wie sich im Nachhinein herausstellte, ist dieses Verfahren äquivalent zum Iterationsverfahren von Gauß, von dem Seidel jedoch vermutlich nichts wusste. Jacobi veröffentlichte 1846 auch ein iteratives Verfahren zur Transformation von Matrizen, das sich zur Lösung des Eigenwertproblems für symmetrische Matrizen eignet und heute ebenfalls als Jacobi-Verfahren bezeichnet wird. Er selbst verwendete es jedoch nur als Vorbereitungsschritt, um die Diagonaleinträge der Matrix stärker dominant zu machen. 20. Jahrhundert Im Jahr 1923 wurde ein von André-Louis Cholesky entwickeltes Verfahren veröffentlicht, das bestimmte lineare Gleichungssysteme löst, indem die Koeffizientenmatrix in ein Produkt zweier einfacherer Matrizen zerlegt wird, die Cholesky-Zerlegung. Auch das gaußsche Eliminationsverfahren stellte sich im Nachhinein als ein Spezialfall solcher Matrixzerlegungsverfahren heraus. Algorithmen aus dieser Verfahrensgruppe sind auch heute noch die Standardverfahren zur Lösung mäßig großer Systeme. Ab Ende der 1920er Jahre kamen auch neue Ideen zur iterativen Lösung von Eigenwertproblemen auf, beginnend 1929 mit der Vorstellung der Potenzmethode durch Richard von Mises. Wie auch bei der Weiterentwicklung zur inversen Iteration durch Helmut Wielandt 1944, können mit diesen einfachen Vektoriterationsverfahren immer nur Eigenvektoren zu einem einzelnen Eigenwert berechnet werden. Eine vollständige Lösung des Eigenwertproblems für beliebige Matrizen blieb aufwändig. Der Durchbruch kam hier 1961–1962 mit der Entwicklung des QR-Verfahrens durch den britischen Informatiker John G. F. Francis und unabhängig davon durch die russische Mathematikerin Wera Nikolajewna Kublanowskaja. Während Kublanowskaja in ihrer Arbeit von Anfang an ein tiefes Verständnis der Konvergenzeigenschaften der Methode aufzeigte, arbeitete Francis vor allem an Implementierungsdetails, die das Verfahren schnell und stabil machten. Das QR-Verfahren ist bis heute das Standardverfahren zur Berechnung aller Eigenwerte und Eigenvektoren nicht allzu großer Matrizen. Die Lösung linearer Gleichungssysteme mit sehr großen Matrizen, wie sie bei der Diskretisierung von partiellen Differentialgleichungen auftreten, blieb weiterhin schwierig. Diese Matrizen haben nur relativ wenige Einträge, die ungleich null sind, und es ist von entscheidender Bedeutung, dass ein numerisches Verfahren diese Eigenschaft ausnutzt. Ein neuer Ansatz dazu, der sich als Startpunkt zahlreicher Weiterentwicklungen herausstellen sollte, war das 1952 von Eduard Stiefel und Magnus Hestenes entwickelte CG-Verfahren. Dabei wird das lineare Gleichungssystem in dem Spezialfall, dass die Matrix symmetrisch und zusätzlich positiv definit ist, durch ein äquivalentes Optimierungsproblem ersetzt. Als noch fruchtbarer erwies sich ein anderer Zugang zum CG-Verfahren, der gleichzeitig von Cornelius Lanczos entdeckt wurde: Die durch das CG-Verfahren berechneten Näherungen befinden sich in einer aufsteigenden Kette von Unterräumen, den Krylow-Räumen. Trotz der Entdeckung dieser Zusammenhänge dauerte es relativ lange, bis konkrete Verallgemeinerungen des CG-Verfahrens entwickelt wurden. Das 1974 von Roger Fletcher veröffentlichte BiCG-Verfahren ist zwar theoretisch für beliebige Matrizen anwendbar, erwies sich jedoch in der Praxis in vielen Fällen als instabil. Das 1975 erschienene MINRES-Verfahren ist ein Krylow-Unterraum-Verfahren, für das die Matrix zwar symmetrisch sein muss, aber nicht unbedingt positiv definit wie beim CG-Verfahren. In der Folgezeit wurden zahlreiche Weiterentwicklungen untersucht, insbesondere Stabilisierungsversuche für das BiCG-Verfahren. Ein Beispiel für ein weit verbreitetes Krylow-Unterraum-Verfahren für beliebige lineare Gleichungssysteme ist eine Verallgemeinerung des MINRES-Verfahrens, das 1986 von Yousef Saad und Martin H. Schultz vorgestellte GMRES-Verfahren. Weitere Verfahren verwenden Synthesen aus Ideen der BiCG-Gruppe und GMRES, so das QMR-Verfahren (Roland W. Freund und Noel M. Nachtigal, 1991) sowie das TFQMR-Verfahren (Freund, 1993). Von Anfang an wurden Krylow-Unterraum-Verfahren auch zur Berechnung von Eigenwerten verwendet, Ausgangspunkte waren hier ein Verfahren von Lanczos 1950 und das Arnoldi-Verfahren von Walter Edwin Arnoldi 1951. Grundprinzipien Ausnutzung von Strukturen Modelle und Fragestellungen in Wissenschaft und Technik können auf Probleme der linearen Algebra mit Millionen von Gleichungen führen. Die Einträge einer Matrix mit einer Million Zeilen und Spalten benötigen im double-precision-Format 8 Terabyte Speicherplatz. Das zeigt, dass bereits die Bereitstellung der Daten eines Problems, geschweige denn seine Lösung, eine Herausforderung darstellen, wenn nicht auch seine spezielle Struktur berücksichtigt wird. Glücklicherweise führen viele wichtige Anwendungen – wie beispielsweise die Diskretisierung partieller Differentialgleichungen mit der Finite-Elemente-Methode – zwar auf sehr viele Gleichungen, in jeder einzelnen Gleichung kommen jedoch nur relativ wenige Unbekannte vor. Für die zugehörige Matrix bedeutet das, dass es in jeder Zeile nur wenige Einträge ungleich null gibt, die Matrix ist, wie man sagt, dünnbesetzt. Es gibt zahlreiche Methoden, um solche Matrizen effizient abzuspeichern und ihre Struktur auszunutzen. Verfahren, in denen Matrizen nur in Matrix-Vektor-Produkten vorkommen, sind für dünnbesetzte Probleme besonders gut geeignet, da dabei alle Multiplikationen und Additionen mit null nicht explizit ausgeführt werden müssen. Algorithmen, bei denen die Matrix selbst umgeformt wird, sind hingegen meist nur schwierig zu implementieren, da dann die Dünnbesetztheit im Allgemeinen verloren geht. Allgemein hat die Besetzungsstruktur, also die Anzahl und die Position der Matrixeinträge ungleich null, einen sehr großen Einfluss auf die theoretischen und numerischen Eigenschaften eines Problems. Das wird am Extremfall von Diagonalmatrizen, also Matrizen, die nur auf der Hauptdiagonale Einträge ungleich null haben, besonders deutlich. Ein lineares Gleichungssystem mit einer Diagonalmatrix kann einfach gelöst werden, indem die Einträge auf der rechten Seite durch die Diagonalelemente dividiert werden, also mittels Divisionen. Auch lineare Ausgleichsprobleme und Eigenwertprobleme sind für Diagonalmatrizen trivial. Die Eigenwerte einer Diagonalmatrix sind ihre Diagonalelemente und die zugehörigen Eigenvektoren die Standardbasisvektoren . Ein weiterer wichtiger Spezialfall sind die Dreiecksmatrizen, bei denen alle Einträge oberhalb oder unterhalb der Hauptdiagonale null sind. Gleichungssysteme mit solchen Matrizen können durch Vorwärts- bzw. Rückwärtseinsetzen einfach von oben nach unten bzw. von unten nach oben der Reihe nach aufgelöst werden. Die Eigenwerte von Dreiecksmatrizen sind wiederum trivialerweise die Einträge auf der Hauptdiagonale; zugehörige Eigenvektoren können ebenfalls durch Vorwärts- oder Rückwärtseinsetzen bestimmt werden. Ein weiterer häufiger Spezialfall dünnbesetzter Matrizen sind die Bandmatrizen: Hier sind nur die Hauptdiagonale und einige benachbarte Nebendiagonalen mit Einträgen ungleich null besetzt. Eine Abschwächung der oberen Dreiecksmatrizen sind die oberen Hessenbergmatrizen, bei den auch die Nebendiagonale unter der Hauptdiagonale besetzt ist. Eigenwertprobleme lassen sich mit relativ geringem Aufwand in äquivalente Probleme für Hessenberg- oder Tridiagonalmatrizen transformieren. Aber nicht nur die Besetzungsstruktur, sondern auch andere Matrixeigenschaften spielen für die Entwicklung und Analyse numerischer Verfahren eine wichtige Rolle. Viele Anwendungen führen auf Probleme mit symmetrischen Matrizen. Insbesondere die Eigenwertprobleme sind deutlich einfacher zu handhaben, wenn die gegebene Matrix symmetrisch ist, aber auch bei linearen Gleichungssystemen reduziert sich in diesem Fall der Lösungsaufwand im Allgemeinen um etwa die Hälfte. Weitere Beispiele für Typen von Matrizen, für die spezialisierte Algorithmen existieren, sind die Vandermonde-Matrizen, die Toeplitz-Matrizen und die zirkulanten Matrizen. Fehleranalyse: Vektor- und Matrixnormen Als Maße für die „Größe“ eines Vektors werden in der Mathematik unterschiedliche Vektornormen verwendet. Am bekanntesten und verbreitetsten ist die euklidische Norm , also die Wurzel aus der Summe der Quadrate aller Vektorkomponenten. Bei der bekannten geometrischen Veranschaulichung von Vektoren als Pfeile im zwei- oder dreidimensionalen Raum entspricht dies gerade der Pfeillänge. Je nach untersuchter Fragestellung können jedoch auch andere Vektornormen wie etwa die Maximumsnorm oder die 1-Norm geeigneter sein. Sind Vektoren, wobei als eine Näherung für aufgefasst werden soll, so lässt sich mithilfe einer Vektornorm die Genauigkeit dieser Näherung quantifizieren. Die Norm des Differenzvektors wird als (normweiser) absoluter Fehler bezeichnet. Betrachtet man den absoluten Fehler im Verhältnis zur Norm des „exakten“ Vektors erhält man den (normweisen) relativen Fehler . Da der relative Fehler nicht durch die Skalierung von und beeinflusst wird, ist dieser das Standardmaß für den Unterschied der beiden Vektoren und wird oft auch vereinfacht nur als „Fehler“ bezeichnet. Auch die „Größe“ von Matrizen wird mit Normen gemessen, den Matrixnormen. Für die Wahl einer Matrixnorm ist es wesentlich, dass sie zur verwendeten Vektornorm „passt“, insbesondere soll die Ungleichung für alle erfüllt sein. Definiert man für eine gegebene Vektornorm als die kleinste Zahl , sodass für alle gilt, dann erhält man die sogenannte natürliche Matrixnorm. Für jede Vektornorm gibt es also eine davon induzierte natürliche Matrixnorm: Für die euklidische Norm ist das die Spektralnorm , für die Maximumsnorm ist es die Zeilensummennorm und für die 1-Norm die Spaltensummennorm . Analog zu Vektoren kann mithilfe einer Matrixnorm der relative Fehler bei einer Näherung einer Matrix durch eine Matrix quantifiziert werden. Kondition und Stabilität Bei Problemen aus der Praxis sind gegebene Größen meist mit Fehlern behaftet, den Datenfehlern. Zum Beispiel kann bei einem linearen Gleichungssystem die gegebene rechte Seite aus einer Messung stammen und daher eine Messabweichung aufweisen. Aber auch bei theoretisch beliebig genau bekannten Größen lassen sich Rundungsfehler bei ihrer Darstellung im Computer als Gleitkommazahlen nicht vermeiden. Es muss also davon ausgegangen werden, dass anstelle des exakten Systems in Wirklichkeit ein System mit einer gestörten rechten Seite und dementsprechend einer „falschen“ Lösung vorliegt. Die grundlegende Frage ist nun, wie stark sich Störungen der gegebenen Größen auf Störungen der gesuchten Größen auswirken. Wenn der relative Fehler der Lösung nicht wesentlich größer ist als die relativen Fehler der Eingangsgrößen, spricht man von einem gut konditionierten, anderenfalls von einem schlecht konditionierten Problem. Für das Beispiel linearer Gleichungssysteme lässt sich hierzu die Abschätzung beweisen. Das Problem ist also gut konditioniert, wenn , das Produkt der Norm der Koeffizientenmatrix und der Norm ihrer Inversen, klein ist. Diese wichtige Kenngröße heißt Konditionszahl der Matrix und wird mit bezeichnet. In realen Problemen wird meist nicht nur, wie hier dargestellt, die rechte Seite fehlerbehaftet sein, sondern auch die Matrix . Dann gilt eine ähnliche, kompliziertere Abschätzung, in der aber ebenfalls die wesentliche Kennzahl zur Bestimmung der Kondition des Problems bei kleinen Datenfehlern ist. Die Definition der Konditionszahl lässt sich auf nicht quadratische Matrizen verallgemeinern und spielt dann auch eine wesentliche Rolle bei der Analyse linearer Ausgleichsprobleme. Wie gut ein solches Problem konditioniert ist, hängt allerdings nicht nur wie bei linearen Gleichungssystemen von der Konditionszahl der Koeffizientenmatrix ab, sondern auch von der rechten Seite , genauer vom Winkel zwischen den Vektoren und . Nach dem Satz von Bauer-Fike lässt sich auch die Kondition des Eigenwertproblems mit Konditionszahlen beschreiben. Hier ist es jedoch nicht die Zahl , mit der sich Störungen der Eigenwerte abschätzen lassen, sondern , die Konditionszahl der Matrix , die via diagonalisiert. Während die Kondition eine Eigenschaft des zu lösenden Problems ist, ist Stabilität eine Eigenschaft des dafür verwendeten Verfahrens. Ein numerischer Algorithmus liefert – auch bei exakt gedachten Eingangsdaten – im Allgemeinen nicht die exakte Lösung des Problems. Zum Beispiel muss ein iteratives Verfahren, das eine wahre Lösung schrittweise immer genauer annähert, nach endlich vielen Schritten mit der bis dahin erreichten Näherungslösung abbrechen. Aber auch bei direkten Verfahren, die theoretisch in endlich vielen Rechenschritten die exakte Lösung ergeben, kommt es bei der Umsetzung auf dem Computer bei jeder Rechenoperation zu Rundungsfehlern. In der numerischen Mathematik werden zwei unterschiedliche Stabilitätsbegriffe verwendet, die Vorwärtsstabilität und Rückwärtsstabilität. Sei dazu allgemein eine Eingabegröße eines Problems und seine exakte Lösung, aufgefasst als Wert einer Funktion angewendet auf . Auch wenn man die Eingabegröße als exakt vorgegeben betrachtet, wird die Berechnung mit einem Algorithmus ein anderes, „falsches“ Ergebnis liefern, aufgefasst als Wert einer anderen, „falschen“ Funktion ebenfalls angewendet auf . Ein Algorithmus heißt vorwärtsstabil, wenn sich nicht wesentlich stärker von unterscheidet, als es aufgrund der Fehler in der Eingangsgröße und der Kondition des Problems sowieso zu erwarten wäre. Mit einer formalen Definition dieses Begriffs erhält man zwar ein naheliegendes und relativ anschauliches Maß für die Stabilität, aber bei komplizierten Algorithmen ist es oft schwierig, ihre Vorwärtsstabilität zu untersuchen. Daher wird im Allgemeinen nach einer Idee von James H. Wilkinson zunächst eine sogenannte Rückwärtsanalyse betrachtet: Dazu wird ein bestimmt mit , das heißt: Der durch das Verfahren berechnete „falsche“ Wert wird aufgefasst als „richtiger“ Wert, der aber mit einem anderen Wert der Eingabegröße berechnet wurde. Ein Algorithmus heißt rückwärtsstabil, wenn sich nicht wesentlich stärker von unterscheidet, als es aufgrund der Fehler in dieser Eingangsgröße sowieso zu erwarten wäre. Es lässt sich beweisen, dass ein rückwärtsstabiler Algorithmus auch vorwärtsstabil ist. Orthogonalität und orthogonale Matrizen Wie die lineare Algebra zeigt, besteht ein enger Zusammenhang zwischen Matrizen und Basen des Vektorraums . Sind linear unabhängige Vektoren im gegeben, so sind diese eine Basis des Raums und jeder andere Vektor kann eindeutig als Linearkombination der Basisvektoren dargestellt werden. Ein Basiswechsel entspricht dabei der Multiplikation gegebener Vektoren und Matrizen mit einer Transformationsmatrix. Einen wichtigen Spezialfall bilden die Orthonormalbasen. Hierbei sind die Basisvektoren paarweise orthogonal zueinander („stehen senkrecht aufeinander“) und sind zudem alle auf euklidische Länge 1 normiert, so wie die Standardbasis im dreidimensionalen Raum. Fasst man die Basisvektoren spaltenweise zu einer Matrix zusammen, so erhält man im Fall einer Orthonormalbasis eine sogenannte orthogonale Matrix. Orthonormalbasen und orthogonale Matrizen besitzen zahlreiche bemerkenswerte Eigenschaften, auf denen die wichtigsten Verfahren der modernen numerischen linearen Algebra basieren. Die Tatsache, dass bei einer orthogonalen Matrix die Spalten eine Orthonormalbasis bilden, lässt sich in Matrixschreibweise durch die Gleichung ausdrücken, wobei die transponierte Matrix und die Einheitsmatrix bezeichnen. Das zeigt wiederum, dass eine orthogonale Matrix regulär ist und ihre Inverse gleich ihrer Transponierten ist: . Die Lösung eines linearen Gleichungssystems lässt sich daher sehr einfach bestimmen, es gilt . Eine andere grundlegende Eigenschaft ist es, dass eine Multiplikation eines Vektors mit einer orthogonalen Matrix seine euklidische Norm unverändert lässt . Damit folgt für die Spektralnorm und für die Konditionszahl ebenfalls , denn ist ebenfalls eine orthogonale Matrix. Multiplikationen mit orthogonalen Matrizen bewirken also keine Vergrößerung des relativen Fehlers. Orthogonale Matrizen spielen auch eine wichtige Rolle in der Theorie und der numerischen Behandlung von Eigenwertproblemen. Nach der einfachsten Version des Spektralsatzes lassen sich symmetrische Matrizen orthogonal diagonalisieren. Damit ist gemeint: Zu einer Matrix , für die gilt, existiert eine orthogonale Matrix und eine Diagonalmatrix mit . Auf der Diagonale von stehen die Eigenwerte von und die Spalten von bilden eine Orthonormalbasis aus Eigenvektoren. Insbesondere ist nach dem oben erwähnten Satz von Bauer-Fike das Eigenwertproblem für symmetrische Matrizen stets gut konditioniert. Mit der sogenannten schurschen Normalform existiert eine Verallgemeinerung dieser orthogonalen Transformation für nichtsymmetrische Matrizen. Es gibt zwei spezielle, leicht handhabbare Arten orthogonaler Matrizen, die in zahllosen konkreten Verfahren der numerischen linearen Algebra zum Einsatz kommen: die Householder-Matrizen und die Givens-Rotationen. Householder-Matrizen haben die Gestalt mit einem Vektor mit . Geometrisch beschreiben sie Spiegelungen des -dimensionalen Raums an der -dimensionalen Hyperebene durch den Nullpunkt, die orthogonal zu ist. Ihre wesentliche Eigenschaft ist die folgende: Zu einem gegebenen Vektor lässt sich leicht ein Vektor bestimmen, sodass die zugehörige Householder-Matrix den Vektor auf ein Vielfaches von transformiert: mit . Dieses transformiert also alle Einträge von bis auf den ersten zu null. Wendet man auf diese Weise geeignete Householder-Transformationen Spalte für Spalte nacheinander auf eine Matrix an, so können alle Einträge von unterhalb der Hauptdiagonale zu null transformiert werden. Givens-Rotationen sind spezielle Drehungen des , die eine zweidimensionale Ebene drehen und die anderen Dimensionen fest lassen. Die Transformation eines Vektors mit einer Givens-Rotation verändert daher nur zwei Einträge von . Durch geeignete Wahl des Drehwinkels kann dabei einer der beiden Einträge auf null gesetzt wird. Während Householder-Transformationen, angewendet auf Matrizen, ganze Teilspalten transformieren, können Givens-Rotationen dazu verwendet werden, gezielt einzelne Matrixeinträge zu ändern. Householder-Transformationen und Givens-Rotationen können also dazu benutzt werden, eine gegebene Matrix auf eine obere Dreiecksmatrix zu transformieren, oder anders ausgedrückt, eine QR-Zerlegung in eine orthogonale Matrix und eine obere Dreiecksmatrix zu berechnen. Die QR-Zerlegung ist ein wichtiges und vielseitiges Werkzeug, das in zahlreichen Verfahren aus allen Bereichen der numerischen linearen Algebra zum Einsatz kommt. Ähnlichkeitstransformationen In der linearen Algebra wird zur Untersuchung des Eigenwertproblems einer Matrix mit Zeilen und Spalten das charakteristische Polynom verwendet, ein Polynom vom Grad . Die Eigenwerte von sind genau die Nullstellen von . Mit dem Fundamentalsatz der Algebra ergibt sich daraus direkt, dass genau Eigenwerte besitzt, wenn sie mit ihrer Vielfachheit gezählt werden. Allerdings können diese Eigenwerte, auch bei reellen Matrizen, komplexe Zahlen sein. Ist jedoch eine reelle symmetrische Matrix, dann sind ihre Eigenwerte alle reell. Das charakteristische Polynom hat zwar eine große theoretische Bedeutung für das Eigenwertproblem, zur numerischen Berechnung ist es jedoch nicht geeignet. Das liegt vor allem daran, dass das Problem, aus gegebenen Koeffizienten die Nullstellen des zugehörigen Polynoms zu berechnen, im Allgemeinen sehr schlecht konditioniert ist: Kleine Störungen wie Rundungsfehler an Koeffizienten eines Polynoms können zu einer starken Verschiebung seiner Nullstellen führen. Damit würde ein gegebenenfalls gut konditioniertes Problem – die Berechnung der Eigenwerte – durch ein zwar mathematisch äquivalentes, aber schlecht konditioniertes Problem – die Berechnung der Nullstellen des charakteristischen Polynoms – ersetzt. Viele numerische Verfahren zur Berechnung von Eigenwerten und Eigenvektoren beruhen daher auf einer anderen Grundidee, den Ähnlichkeitstransformationen: Zwei quadratische Matrizen und werden ähnlich genannt, wenn es eine reguläre Matrix mit gibt. Es kann gezeigt werden, dass zueinander ähnliche Matrizen die gleichen Eigenwerte haben, bei einer Ähnlichkeitstransformation der Matrix auf die Matrix ändern sich also die gesuchten Eigenwerte nicht. Auch die zugehörigen Eigenvektoren lassen sich leicht ineinander umrechnen: Ist ein Eigenvektor von , dann ist ein Eigenvektor von zum gleichen Eigenwert. Das führt zu Grundideen, die in zahlreichen Algorithmen zum Einsatz kommen. Die Matrix wird durch Ähnlichkeitstransformation in eine Matrix überführt, für die das Eigenwertproblem effizienter zu lösen ist, oder es wird eine Folge von Ähnlichkeitstransformationen konstruiert, bei denen sich die Matrix einer Diagonal- oder Dreiecksmatrix immer weiter annähert. Aus den oben genannten Gründen werden dabei für die Transformationsmatrizen meist orthogonale Matrizen verwendet. Verfahren und Verfahrensklassen Gaußsches Eliminationsverfahren Das klassische Eliminationsverfahren von Gauß zur Lösung linearer Gleichungssysteme ist ein Ausgangspunkt und Vergleichsmaßstab für weiterentwickelte Verfahren. Es wird aber auch immer noch als einfaches und zuverlässiges Verfahren – insbesondere in seiner Modifikation als LR-Zerlegung (siehe unten) – für nicht zu große, gut konditionierte Systeme in der Praxis verbreitet eingesetzt. Das Verfahren eliminiert systematisch Variablen aus den gegebenen Gleichungen, indem geeignete Vielfache einer Gleichung von einer anderen Gleichung subtrahiert werden, bis ein System in Stufenform entsteht, das der Reihe nach von unten nach oben aufgelöst werden kann. Numerische Überlegungen kommen ins Spiel, wenn die Stabilität des Verfahrens betrachtet wird. Soll mit dem -ten Diagonalelement der Matrix ein Element in derselben Spalte eliminiert werden, dann muss mit dem Quotienten das -fache der -ten Zeile von der -Zeile subtrahiert werden. Dazu muss zumindest gelten, was sich durch geeignete Zeilenvertauschungen für eine reguläre Matrix stets erreichen lässt. Aber mehr noch: Ist sehr klein im Vergleich zu , dann ergäbe sich ein sehr großer Betrag von . In den nachfolgenden Schritten bestünde dann die Gefahr von Stellenauslöschungen durch Subtraktionen großer Zahlen und das Verfahren wäre instabil. Daher ist es wichtig, durch Zeilenvertauschungen, sogenannte Pivotisierung, dafür zu sorgen, dass die Beträge möglichst klein bleiben. Faktorisierungsverfahren Die wichtigsten direkten Verfahren zur Lösung linearer Gleichungssysteme lassen sich als Faktorisierungsverfahren darstellen. Deren Grundidee ist es, die Koeffizientenmatrix des Systems in ein Produkt aus zwei oder mehr Matrizen zu zerlegen, allgemein etwa . Das lineare Gleichungssystem lautet damit und wird in zwei Schritten gelöst: Zuerst wird die Lösung des Systems berechnet und anschließend die Lösung des Systems . Es gilt dann , also ist die Lösung des ursprünglichen Problems. Auf den ersten Blick scheint dabei nur die Aufgabe, ein lineares Gleichungssystem zu lösen, durch die Aufgabe, zwei lineare Gleichungssysteme zu lösen, ersetzt zu werden. Die Idee dahinter ist es jedoch, die Faktoren und so zu wählen, dass die beiden Teilsysteme wesentlich einfacher zu lösen sind als das Ausgangssystem. Ein offensichtlicher Vorteil der Verfahrensklasse ergibt sich im Fall, dass mehrere lineare Gleichungssysteme mit derselben Koeffizientenmatrix , aber unterschiedlichen rechten Seiten gelöst werden sollen: Die Faktorisierung von , im Allgemeinen der aufwändigste Verfahrensschritt, muss dann nur einmal berechnet werden. LR-Zerlegung Das gaußsche Eliminationsverfahren kann als Faktorisierungsverfahren aufgefasst werden. Trägt man die Koeffizienten für in eine Matrix ein, ergibt sich ohne Zeilenvertauschungen mit einer unteren Dreiecksmatrix und einer oberen Dreiecksmatrix . Zusätzlich ist unipotent, das heißt alle Einträge auf der Hauptdiagonale von sind gleich 1. Wie gesehen müssen im Allgemeinen bei der Gauß-Elimination Zeilen von vertauscht werden. Das lässt sich formal mit Hilfe einer Permutationsmatrix darstellen, indem anstelle von die zeilenpermutierte Matrix faktorisiert wird: . Nach dem Grundprinzip der Faktorisierungsverfahren werden zur Lösung von also zunächst wie beschrieben die Dreiecksmatrizen und sowie gegebenenfalls die zugehörige Permutation bestimmt. In nächsten Schritt wird mit der zeilenpermutierten rechten Seite durch Vorwärtseinsetzen und schließlich durch Rückwärtseinsetzen gelöst. Die LR-Zerlegung und damit das gaußsche Eliminationsverfahren ist mit geeigneter Pivotisierung „fast immer stabil“, das heißt in den meisten praktischen Anwendungsaufgaben tritt keine große Fehlerverstärkung auf. Es lassen sich jedoch pathologische Beispiele angeben, bei denen die Verfahrensfehler exponentiell mit der Anzahl der Unbekannten anwachsen. Cholesky-Zerlegung Die Cholesky-Zerlegung ist wie die LR-Zerlegung eine Faktorisierung der Matrix in zwei Dreiecksmatrizen für den in vielen Anwendungen auftretenden Fall, dass symmetrisch und positiv definit ist, also erfüllt und nur positive Eigenwerte besitzt. Unter diesen Voraussetzungen gibt es eine untere Dreiecksmatrix mit . Ein allgemeiner Ansatz für die Matrixeinträge von führt auf ein explizites Verfahren, mit dem diese spaltenweise oder zeilenweise nacheinander berechnet werden können, das Cholesky-Verfahren. Durch diese Ausnutzung der Symmetrie von reduziert sich der Rechenaufwand gegenüber der LR-Zerlegung auf etwa die Hälfte. Symmetrische und positiv definite Koeffizientenmatrizen treten klassisch bei der Formulierung der sogenannten Normalgleichungen zur Lösung linearer Ausgleichsprobleme auf. Man kann zeigen, dass das Problem, zu minimieren, äquivalent damit ist, das lineare Gleichungssystem zu lösen. Die Koeffizientenmatrix dieser Normalgleichungen ist symmetrisch und, wenn die Spalten von linear unabhängig sind, auch positiv definit. Es kann also mit dem Cholesky-Verfahren gelöst werden. Dieses Vorgehen empfiehlt sich jedoch nur für gut konditionierte Probleme mit wenigen Unbekannten. Im Allgemeinen ist nämlich das System der Normalgleichungen deutlich schlechter konditioniert als das ursprünglich gegebene lineare Ausgleichsproblem. Es ist dann besser, nicht den Umweg über die Normalgleichungen zu gehen, sondern direkt eine QR-Zerlegung von zu verwenden. QR-Zerlegung Das lineare Gleichungssystem kann nach der Berechnung einer QR-Zerlegung direkt nach dem allgemeinen Prinzip der Faktorisierungsverfahren gelöst werden; es ist nur noch mit durch Rückwärtseinsetzen zu bestimmen. Aufgrund der guten Kondition orthogonaler Matrizen treten dabei die möglichen Instabilitäten der LR-Zerlegung nicht ein. Allerdings ist der Rechenaufwand im Allgemeinen etwa doppelt so groß, sodass unter Umständen eine Abwägung der Verfahren getroffen werden muss. Die QR-Zerlegung ist auch das gängige Verfahren zur Lösung nicht zu großer, gut konditionierter linearer Ausgleichsprobleme. Für das Problem Minimiere gilt mit und . Dabei wurde verwendet, dass orthogonal ist, also die euklidische Norm erhält, und dass gilt. Der letzte Ausdruck lässt sich einfach durch Rückwärtseinsetzen der ersten Zeilen von minimieren. Fixpunktiteration mit Splitting-Verfahren Eine völlig andere Idee, um zu lösen, besteht darin, einen Startvektor zu wählen und daraus schrittweise , immer neue Näherungen an die gesuchte Lösung zu berechnen. Im Fall der Konvergenz der Folge gegen wird dann diese Iteration nach einer geeigneten Anzahl von Schritten mit einer ausreichend genauen Näherung für abgebrochen. Die einfachsten und wichtigsten Verfahren dieser Art verwenden eine Iteration der Gestalt mit einer geeigneten Matrix und einem geeigneten Vektor . Es lässt sich beweisen, dass solche Verfahren genau dann konvergieren, wenn alle Eigenwerte von einen Betrag echt kleiner als 1 haben. In diesem Fall konvergieren die Iterierten gegen eine Lösung der Gleichung , also gegen einen Fixpunkt der Iterationsfunktion . Ein systematisches Vorgehen bei der Suche nach geeigneten Algorithmen dieser Gestalt ermöglicht die Idee der Splitting-Verfahren. Dabei wird die Matrix in eine Summe zerlegt mit einer leicht zu invertierenden Matrix und dem Rest . Durch Einsetzen und Umstellen ergibt sich damit aus die Fixpunktgleichung . Mit und erhält man so ein Iterationsverfahren der Gestalt , das im Falle der Konvergenz die Lösung von liefert. Die Konvergenzgeschwindigkeit ist umso größer, je kleiner der betragsgrößte Eigenwert der Iterationsmatrix ist. Dieser lässt sich auch durch beliebige Matrixnormen von abschätzen. Als klassische Beispiele für Splitting-Verfahren verwendet das Jacobi-Verfahren für die Diagonalmatrix mit der Hauptdiagonale von , das Gauß-Seidel-Verfahren den unteren Dreiecksanteil von . Zur Konvergenzbeschleunigung der Fixpunktverfahren lässt sich die Idee der Relaxation nutzen. Denkt man sich die Iteration in der Form mit der Korrektur im -ten Schritt dargestellt, geht man mit einem geeignet gewählten Relaxationsparameter zu über. Zum Beispiel erhält man auf diese Weise aus dem Gauß-Seidel-Verfahren das SOR-Verfahren. Jacobi-Verfahren zur Eigenwertberechnung Ein einfaches, aber zuverlässiges iteratives Verfahren zur Lösung des Eigenwertproblems für symmetrische Matrizen ist das Jacobi-Verfahren. Es erzeugt durch sukzessive Ähnlichkeitstransformationen mit Givens-Rotationen eine Folge von symmetrischen Matrizen, die alle ähnlich zu der gegebenen symmetrischen Matrix sind und gegen eine Diagonalmatrix konvergieren. Bricht man das Verfahren nach einer geeigneten Anzahl von Schritten ab, erhält man deshalb mit den Diagonaleinträgen von Näherungen für die gesuchten Eigenwerte von . In jedem Schritt wird die Givens-Rotation, in diesem Zusammenhang auch als Jacobi-Rotation bezeichnet, so gewählt, dass der Eintrag an der Matrixposition und der symmetrisch dazu liegende bei zu null transformiert werden. Dabei ist jedoch zu beachten, dass bei dieser Transformation die ganze -te und -te Zeile sowie die ganze -te und -te Spalte der Matrix geändert wird. Deshalb werden die in einem Schritt erzeugten Nullen im Allgemeinen in den folgenden Schritten wieder zunichtegemacht. Dennoch konvergieren bei geeigneter Wahl der Positionen für die Jacobi-Rotationen alle Nichtdiagonalelemente gegen null. Das klassische Jacobi-Verfahren wählt dazu in jedem Iterationsschritt diejenige Position , an der sich das Nichtdiagonalelement mit dem größten Absolutbetrag befindet. Bei einer Handrechnung war diese Position normalerweise schnell zu erkennen, bei der Umsetzung als Computerprogramm ist der Aufwand für die Suche danach im Vergleich zu den übrigen Rechenoperationen jedoch erheblich. Daher wird heute meist das zyklische Jacobi-Verfahren verwendet. Dabei werden die Positionen in einer vorher fest gewählten Reihenfolge zyklisch durchlaufen, etwa einfach spaltenweise. Es lässt sich beweisen, dass sowohl das klassische als auch das zyklische Jacobi-Verfahren stets konvergieren. Im Vergleich zu moderneren Algorithmen ist die Konvergenz allerdings relativ langsam. Für dünnbesetzte Matrizen ist das Jacobi-Verfahren nicht geeignet, da im Laufe der Iteration die Matrix mit immer mehr Nichtnulleinträgen aufgefüllt wird. Vektoriteration Eine einfache Ausgangsidee zur Berechnung von Eigenvektoren einer Matrix ist die Potenzmethode. Ein Startvektor wird iterativ immer wieder mit multipliziert oder, ausgedrückt mit der -ten Matrixpotenz, es wird berechnet. Dahinter steckt die geometrische Anschauung, dass der Vektor durch in jedem Schritt am stärksten in die Richtung des Eigenvektors mit dem größten Eigenwert gestreckt wird. In dieser einfachen Form ist die Vektoriteration jedoch für die Praxis ungeeignet, da im Allgemeinen die Einträge von schnell sehr klein oder sehr groß werden. Daher wird der Vektor in jedem Schritt zusätzlich zur Multiplikation mit noch mit einer Vektornorm auf normiert. Man kann dann unter gewissen Voraussetzungen an die Lage der Eigenwerte beweisen, dass dieses Verfahren bis auf möglicherweise einen skalaren Vorfaktor tatsächlich gegen einen Eigenvektor zum betragsgrößten Eigenwert konvergiert. Wendet man diese Idee formal auf die inverse Matrix an, so erhält man einen Eigenvektor zum betragskleinsten Eigenwert von . Hierzu wird freilich nicht die Inverse selbst berechnet, sondern es wird in jedem Schritt das lineare Gleichungssystem gelöst. Eine weitere Verallgemeinerung der Idee erhält man mithilfe eines sogenannten Shiftparameters . Ein Eigenvektor von zu dem am nächsten bei liegenden Eigenwert ist nämlich auch ein Eigenvektor zum betragskleinsten Eigenwert der „geshifteten“ Matrix . Mit der zugehörigen Iteration und Normierung von in jedem Schritt ergibt sich das Verfahren der inversen Vektoriteration. Vektoriterationsverfahren berechnen also zunächst einen bestimmten Eigenvektor von , der zugehörige Eigenwert kann mithilfe des Rayleigh-Quotienten erhalten werden. Sie sind offenbar dann gut geeignet, wenn – wie häufig in bestimmten Anwendungsfällen – nur der größte, nur der kleinste oder allgemeiner nur ein einzelner Eigenwert mitsamt seinem Eigenvektor gesucht ist. QR-Verfahren Das QR-Verfahren ist zurzeit der wichtigste Algorithmus zu Berechnung aller Eigenwerte und Eigenvektoren von nicht zu großen vollbesetzten Matrizen . Es ist ein Iterationsverfahren, das in jedem Schritt eine QR-Zerlegung verwendet, um durch wiederholte Ähnlichkeitstransformationen eine Matrixfolge zu erzeugen, die schnell gegen eine obere Dreiecksmatrix konvergiert. Startend mit der Ausgangsmatrix wird in seiner Grundidee im -ten Schritt die Matrix QR-zerlegt, , und anschließend werden die beiden Faktoren in umgekehrter Reihenfolge wieder zusammenmultipliziert: , um die neue Näherungsmatrix zu erhalten. Wegen ergibt sich und daraus ; es handelt sich bei dieser Umformung also tatsächlich um eine Ähnlichkeitstransformation mit einer orthogonalen Matrix. Wie eine genauere Analyse zeigt, besteht ein enger Zusammenhang zur Potenzmethode: Die QR-Iteration lässt sich auffassen als eine Potenzmethode, die simultan auf alle Vektoren einer Orthonormalbasis angewendet wird; durch die QR-Zerlegung in jedem Schritt wird dabei sichergestellt, dass diese Vektoren im Laufe der Iteration auch numerisch stabil orthonormiert bleiben (siehe auch Unterraumiteration). Aus dieser Darstellung ergibt sich auch ein Beweis, dass das Verfahren unter geringen Voraussetzungen an gegen eine obere Dreiecksmatrix konvergiert. In dieser einfachen Form ist das QR-Verfahren aus zwei Gründen noch nicht für die Praxis geeignet. Zum einen ist der Rechenaufwand für die QR-Zerlegung, die in jedem Schritt bestimmt werden muss, sehr groß. Zum anderen findet die Konvergenz im Allgemeinen nur langsam statt, es müssen also viele Schritte durchgeführt werden, um eine gewünschte Genauigkeit zu erhalten. Dem ersten Punkt lässt dich dadurch begegnen, dass in einem Vorbereitungsschritt die Matrix durch Ähnlichkeitstransformationen auf Hessenberg-Gestalt gebracht wird. Das lässt sich durch Transformationen mit geeigneten Householder-Matrizen erreichen. Da eine Hessenberg-Matrix nur noch Nichtnulleinträge unter der Hauptdiagonale hat, lässt sie sich schnell mit den entsprechenden Givens-Rotationen QR-zerlegen. Wie sich leicht zeigen lässt, erhält ein Schritt des QR-Verfahrens Symmetrie und Hessenberg-Gestalt. Da eine symmetrische Hessenberg-Matrix eine Tridiagonalmatrix ist, vereinfacht sich das Verfahren im symmetrischen Fall nochmals erheblich. Die Konvergenzgeschwindigkeit kann ähnlich wie bei der inversen Vektoriteration deutlich erhöht werden, wenn in jedem Schritt anstelle der Matrix die Matrix mit einem geschickt gewählten Shiftparameter transformiert wird. Für die Wahl von , der Wert sollte eine Näherung an einen Eigenwert von sein, existieren verschiedene sogenannte Shiftstrategien. Mit einer Variante des QR-Verfahrens kann auch die sogenannte Singulärwertzerlegung einer Matrix berechnet werden. Diese Verallgemeinerung der Diagonalisierung auf beliebige – sogar nicht quadratische – Matrizen wird in einigen Anwendungen, wie etwa in der Bildkompression, direkt verwendet. Mithilfe der Singulärwertzerlegung können auch große, schlecht konditionierte lineare Ausgleichsprobleme gelöst werden. Krylow-Unterraum-Verfahren Die Krylow-Unterraum-Verfahren mit ihren zahlreichen Varianten und Spezialisierungen sind die wichtigste Verfahrensgruppe zur Lösung sowohl von linearen Gleichungssystemen als auch von Eigenwertproblemen, wenn die gegebene Matrix sehr groß und dünnbesetzt ist. Der historisch erste Algorithmus aus dieser Gruppe ist das Verfahren der konjugierten Gradienten, kurz CG-Verfahren (von ) zur Lösung linearer Gleichungssysteme mit symmetrischen und positiv definiten Koeffizientenmatrizen. CG-Verfahren Der fruchtbare Zusammenhang des CG-Verfahrens mit Krylow-Unterräumen wurde erst später erkannt, seine Grundidee ist eine andere: Es löst anstelle des Gleichungssystems ein dazu äquivalentes Optimierungsproblem. Ist nämlich symmetrisch und positiv definit, so ist die Lösung von die eindeutig bestimmte Minimalstelle der Funktion . Damit stehen grundsätzlich alle numerischen Verfahren zur Lösung von Optimierungsproblemen auch für das lineare Gleichungssystem zur Verfügung, insbesondere die sogenannten Abstiegsverfahren. Das sind iterative Verfahren, die ausgehend von der aktuellen Näherung im -ten Schritt entlang einer geeigneten Suchrichtung das eindimensionale Optimierungsproblem „Suche , sodass minimal wird.“ lösen. Die dabei gefundene Stelle wird die neue Näherung für den nächsten Schritt. Eine zunächst naheliegende Wahl für die Suchrichtung ist die Richtung des steilsten Abstiegs, was auf das Gradientenverfahren zur Bestimmung der Minimalstelle führt. Allerdings zeigt sich, dass die so berechneten Näherungen sich im Allgemeinen nur sehr langsam und in einem „Zickzackkurs“ der wahren Lösung annähern. Wesentlich besser geeignet sind Suchrichtungen, die die spezielle Gestalt der zu minimierenden Funktion berücksichtigen. Die Niveaumengen von sind -dimensionale Ellipsoide (im anschaulichen, zweidimensionalen Fall Ellipsen), daher ist es günstig, die Suchrichtungen zueinander konjugiert zu wählen (im Anschauungsfall entspricht das den konjugierten Durchmessern). Dabei heißen zwei Richtungen und konjugiert, wenn gilt. Das CG-Verfahren wählt daher für die erste Suchrichtung die Richtung des steilsten Abstiegs, aber die folgenden so, dass alle Suchrichtungen zueinander konjugiert sind. Es lässt sich zeigen, dass dann nach Abstiegen die wahre Lösung erreicht wird. Meist ist aber eine ausreichend genaue Näherungslösung schon nach deutlich weniger Schritten erreicht und das Verfahren kann vorzeitig abgebrochen werden. Vom CG-Verfahren zu den Krylow-Unterraum-Verfahren In den Rechenschritten des CG-Verfahrens geht die Matrix nur in der Form von Matrix-Vektor-Produkten ein. Sie selbst wird nicht zerlegt oder umgeformt – ein großer Vorteil, wenn sie dünnbesetzt ist. Nimmt man zur Vereinfachung (aber ohne Beschränkung der Allgemeinheit) an, dass als Startvektor der Nullvektor gewählt wird, so zeigt eine genauere Analyse, dass jede Näherung eine Linearkombination der Vektoren ist, also aus wiederholten Multiplikationen der rechten Seite mit aufgebaut wird. Anders ausgedrückt: Jedes liegt in einem Krylow-Unterraum . Diese Eigenschaft ist das Kennzeichen der Krylow-Unterraum-Verfahren: Sie erzeugen iterativ für Näherungen mit . Dabei wird zusätzlich so gewählt, dass das Residuum in einem noch festzulegenden Sinne möglichst klein ist. Beim CG-Verfahren ist die Bedingung nicht unbedingt naheliegend, aber für die spezielle Struktur des Problems gut geeignet: Mit der durch gewichteten Vektornorm ist in jedem Schritt minimal. Der Nachteil liegt dabei darin, dass dies nur funktioniert, wenn tatsächlich symmetrisch und positiv definit ist, anderenfalls ist gar keine Norm. Im Allgemeinen werden die Zusatzbedingungen, die Krylow-Unterraum-Verfahren an die Wahl von stellen, als sogenannte Projektionsbedingung formuliert. Man verlangt dabei, dass das Residuum orthogonal zu allen Vektoren aus einem -dimensionalen Unterraum ist, in Symbolen . Die sind normalerweise selbst Krylow-Unterräume, im einfachsten Fall, wie auch beim CG-Verfahren, zum Beispiel . Für die konkrete Berechnung der Näherungen werden sukzessive Orthonormalbasen der beteiligten Krylow-Unterräume aufgebaut. Das bekannte Gram-Schmidt-Verfahren zur Orthonormalisierung ist in seiner Standardform leider numerisch instabil. Es lässt sich jedoch mit einer kleinen Modifikation stabilisieren. Weitere Krylow-Unterraum-Verfahren Aus den genannten Grundideen ergeben sich zahlreiche Variationen, Anpassungen und Verbesserungen innerhalb dieser Verfahrensklasse, von denen nur einige exemplarisch genannt werden sollen. Eine direkte Verallgemeinerung des CG-Verfahrens ist das BiCG-Verfahren. Es hebt die Einschränkung auf symmetrische Matrizen dadurch auf, dass es zusätzlich zu dem mit gebildeten Krylow-Unterräumen, auch die zur transponierten Matrix gehörigen verwendet. Eine Optimierung, die die zusätzlichen Multiplikationen mit vermeidet, ist das CGS-Verfahren. Beide Verfahrenstypen sind in vielen praktischen Fällen instabil, bilden aber die Grundlage für verschiedene Stabilisierungsversuche, etwa in der Gruppe der BiCGSTAB-Verfahren. Wichtige und im Allgemeinen stabile Verfahren sind GMRES und seine Spezialisierung für symmetrische Matrizen, MINRES. Sie setzen direkt bei den Residuen an und bestimmen im Krylow-Unterraum so, dass minimal ist. Weitere Verbesserungen dieses Grundprinzips sind etwa das QMR- und das TFQMR-Verfahren. Krylow-Unterraum-Verfahren können nicht nur für sehr große dünnbesetzte lineare Gleichungssysteme verwendet werden, sondern auch zur Lösung ebensolcher Eigenwertprobleme – ein weiterer Grund für ihre große Bedeutung in der modernen numerischen linearen Algebra. Natürlich kann in Eigenwertproblemen nicht mit gestartet werden ( ist ja per Definition kein Eigenvektor). Es werden hier die Näherungen und zugehörige so bestimmt, dass mit gilt. Dieses Vorgehen führt auf ein nur -dimensionales Eigenwertproblem, das sich für kleine leicht lösen lässt und Näherungen an einige Eigenwerte von liefert. Der zugehörige Grundalgorithmus ist das Arnoldi-Verfahren. Wie stets bei Eigenwertproblemen ergeben sich für symmetrische Matrizen deutliche Vereinfachungen; diese führen auf das Lanczos-Verfahren. Literatur Lehrbücher Zur Geschichte Weblinks Einzelnachweise Teilgebiet der Mathematik
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https://de.wikipedia.org/wiki/Massaker%20von%20Kamenez-Podolsk
Massaker von Kamenez-Podolsk
Beim Massaker von Kamenez-Podolsk ermordeten Angehörige des deutschen Polizeibataillons 320 und Mitglieder eines „Sonderaktionsstabes“ des Höheren SS- und Polizeiführers (HSSPF) Russland-Süd, SS-Obergruppenführer Friedrich Jeckeln, Ende August 1941 in der Nähe der westukrainischen Stadt Kamenez-Podolsk rund 23.600 Juden. Zuvor hatte das mit dem nationalsozialistischen Deutschen Reich verbündete Ungarn einen Großteil der Opfer in das nach dem Überfall auf die Sowjetunion von der Wehrmacht eroberte sowjetische Staatsgebiet deportiert. Das Massaker war die bis dahin größte Mordaktion des Holocaust. Es fand gut einen Monat vor den Massenerschießungen von Babyn Jar bei Kiew statt und gilt als ein entscheidender Schritt von der selektiven Mordpolitik zur angestrebten vollständigen Auslöschung des Judentums. Kontext Antisemitismus im expandierenden Ungarn Die ungarischen Regierungen unter Béla Imrédy und Pál Teleki erließen ab 1938 eine Reihe sogenannter Judengesetze und verschärften auf diese Weise den auch in Ungarn verbreiteten Antisemitismus der Zwischenkriegszeit. Diese auf rassistischen Annahmen basierenden gesetzlichen Bestimmungen schränkten die wirtschaftlichen und beruflichen Freiheiten sowie das Wahlrecht der Juden ein. Zugleich stellten diese Gesetze die ungarische Staatsbürgerschaft Tausender ungarischer Juden in Frage. Im April 1941 verabschiedete das ungarische Parlament schließlich ein Gesetz, das Eheschließungen und außerehelichen Geschlechtsverkehr zwischen Nicht-Juden und Juden verbot – es trat im August 1941 in Kraft. Da es Ungarn gelang, die 1920 im Vertrag von Trianon festgelegte territoriale Nachkriegsordnung zu revidieren, betraf die Diskriminierung immer mehr Menschen. Unterstützt durch das Deutsche Reich und das faschistische Italien erreichte die ungarische Außenpolitik Anfang November 1938 mit dem Ersten Wiener Schiedsspruch zunächst, dass Gebiete mit ungarischer Bevölkerungsmehrheit in der Südslowakei sowie in der westlichen Karpatenukraine (Karpato-Ruthenien) von der Tschechoslowakei abgetrennt und Ungarn zugesprochen wurden. Rund 67.000 Juden lebten in diesen Gebieten. Weitere rund 78.000 Juden gerieten unter ungarische Herrschaft, nachdem ungarische Truppen im März 1939 nach der sogenannten Zerschlagung der Rest-Tschechei mit Billigung Adolf Hitlers die bis 1918 zu Österreich-Ungarn gehörenden Teile der Karpatenukraine besetzten. Der Zweite Wiener Schiedsspruch vom 30. August 1940 zwang schließlich Rumänien, das nördliche Siebenbürgen, wo etwa 164.000 Juden lebten, an Ungarn abzutreten. Zudem flohen zwischen 1939 und 1941 10.000 bis 20.000 beziehungsweise 15.000 bis 35.000 Juden aus Deutschland, Österreich, den vormaligen tschechischen Gebieten und aus Polen nach Ungarn. Einige dieser Flüchtlinge hatten durch die Behörden das Aufenthaltsrecht erhalten, weitere galten offiziell als Transitflüchtlinge auf dem Weg nach Palästina. Etliche Flüchtlinge verbargen ihre Identität durch falsche Papiere, andere wiederum wurden in Internierungslagern der ungarischen Fremdenpolizei – der Nationalen Zentralbehörde zur Überwachung von Ausländern (Külföldieket Ellenőrző Országos Központi Hatóság, KEOKH) – festgehalten. Obgleich die Anzahl dieser jüdischen Flüchtlinge kaum ins Gewicht fiel, verstärkte sie die antisemitischen Tendenzen innerhalb des ungarischen Verwaltungsapparates. 1941 lebten gemäß einer Volkszählung insgesamt rund 825.000 Juden in Ungarn. Deportation „fremder“ Juden Am 20. November 1940 war Ungarn dem Dreimächtepakt beigetreten. Bereits im April 1941 hatte es sich als Bündnispartner des Deutschen Reiches am Balkanfeldzug beteiligt; im Juni 1941 nahm Ungarn schließlich an der Seite Deutschlands am Überfall auf die Sowjetunion teil. Drei ungarische Divisionen beteiligten sich an der Eroberung von Gebieten der Ukrainischen Sozialistischen Sowjetrepublik. Ungarische Truppen verfügten durch diesen Vormarsch zeitweilig über die militärische Hoheitsgewalt in einem beträchtlichen ukrainischen Gebiet nordöstlich Ungarns. In dieser Situation planten Ödön Martinidesz und Árkád Kiss, zwei antisemitische KEOKH-Führungskräfte, unerwünschte, „fremde“ Juden in den neuen, „befreiten“ Gebieten anzusiedeln. Miklós Kozma, ein früherer ungarischer Innen- und Verteidigungsminister und 1941 Regierungsbevollmächtigter in Karpato-Ruthenien, griff diesen Plan auf und erreichte dafür vom Reichsverweser Miklós Horthy, dem ungarischen Staatsoberhaupt, die Zustimmung. Das Kabinett unter Ministerpräsident László Bárdossy beschloss am 12. Juli 1941, diesen Plan umzusetzen. Ausführungsbestimmungen sahen vor, „die kürzlich eingesickerten polnischen und russischen Juden in möglichst großer Zahl und so schnell wie möglich“ zu deportieren. Die beschönigend „Repatriierung“ genannte Maßnahme sollte sich insbesondere auf Karpato-Ruthenien konzentrieren. Abschiebungsziel der von der Fremdenpolizei und örtlichen Behörden erfassten Juden war Ost-Galizien. Den Auftrag zur Durchführung des Deportationsplans erhielt Miklós Kozma. Er ließ die Juden wie im Deportationsplan vorgesehen zunächst nach Kőrösmező, einem Ort an der ungarisch-ukrainischen Grenze, bringen. Sie durften nur die nötigsten Dinge, Verpflegung für drei Tage und maximal 30 Pengő mitnehmen. Um ihre Sorgen zu zerstreuen, wurde ihnen suggeriert, sie könnten die Wohnungen jener Juden übernehmen, die nach dem Überfall der Deutschen mit den sowjetischen Truppen ostwärts geflohen waren. Die Deportationen, die in Ungarn zum Teil bereits vor dem 12. Juli 1941 praktisch umgesetzt wurden, betrafen neben Flüchtlingen vielfach auch Juden, die schon lange in Ungarn lebten – nicht nur in Karpato-Ruthenien, sondern beispielsweise auch in Siebenbürgen, am Balaton oder im Komitat Pest-Pilis-Solt-Kiskun. Auch Roma wurden Opfer solcher Deportationen. Vom Sammelpunkt Kőrösmező wurden die Juden täglich in Gruppen von rund 1000 Personen nach Kolomyja in Süd-Galizien transportiert, das sich noch unter ungarischer Militärhoheit befand. Bis zum 10. August 1941 sammelten sich dort rund 14.000 Juden, bis Ende August erhöhte sich diese Zahl um weitere 4000. Im gleichen Zeitraum trieben ungarische Einheiten die Ankömmlinge in Gruppen zu je 300 bis 400 Personen von Kolomyja aus über den Dnister in eine von deutschem Militär verwaltete Gegend und untersagten ihnen unter Androhung von Waffengewalt die Rückkehr nach Ungarn. Ukrainische Milizen beraubten die Deportierten vielfach ihrer letzten Wertsachen. Die Vertriebenen sollten sich nach Kamenez-Podolsk, Butschatsch, Tschortkiw oder Stanislawiw wenden. Die meisten aus Ungarn vertriebenen Juden sammelten sich in Kamenez-Podolsk (Süd-Podolien). Dort hatten 1939 knapp 14.000 Juden gelebt (gut 38 Prozent der Bevölkerung), von denen seit 22. Juni 1941 etwa 4000 bis 5000 vor den Deutschen weiter ostwärts flohen. Aus Ungarn und dem ungarisch besetzten Teil Südgaliziens vertriebene Juden erhöhten den jüdischen Anteil der Einwohnerzahl jedoch wieder. Daher fanden die deutschen und ungarischen Truppen bei ihrer Ankunft in der Stadt am 11. Juli 1941 dort etwa 12.000 bis 14.000 Juden vor. Diese Zahl verdoppelte sich durch den weiteren Zustrom bis Ende August 1941 auf rund 26.000. Verabredung der Massenexekution Die Deutschen waren auf den Zustrom der nach Südgalizien deportierten Juden nicht vorbereitet. Die für die „Judenfrage“ zuständige Abteilung VII der regional verantwortlichen Wehrmachtsfeldkommandantur 183 betonte bereits am 31. Juli und erneut Mitte August 1941, die Juden könnten nicht ernährt werden und es bestehe Seuchengefahr; ihre Rückführung nach Ungarn sei daher erforderlich. Ernährungsprobleme der Zivilbevölkerung hatte die Wehrmachtsführung jedoch in den Kriegsplanungen einkalkuliert (→ Hungerplan). Sie sorgte sich eher um die Sicherheit der ausgedehnten Nachschubwege, auch für die schon anvisierte Schlacht um Kiew. Wehrmachtsoffiziere hielten die Sicherheitslage im rückwärtigen Heeresgebiet unter anderem deswegen für prekär, weil mit dem Polizeibataillon 320 in Podolien und Wolhynien für mehrere Wochen nur eine einzige Polizeieinheit zur Verfügung stand. Hinzu kam, dass zum 1. September 1941 das Reichskommissariat Ukraine eingerichtet sein sollte und die Militärverwaltung das nach ihren Vorstellungen geordnete Gebiet dann an die zivilen Stellen übergeben wollte. Der ranghöchste Polizeifunktionär vor Ort, der Höhere SS- und Polizeiführer Russland-Süd Friedrich Jeckeln, formulierte angesichts dieser Lage den Gedanken, man könne die Juden ermorden. Er ließ am 25. August 1941 auf einer Konferenz im Hauptquartier des Generalquartiermeisters im Oberkommando des Heeres, Eduard Wagner, ausrichten, dass er handeln werde: Die Konferenz fand Klaus-Michael Mallmann zufolge wahrscheinlich in Bartenstein statt, nicht wie früher angenommen in Winniza. Die Teilnehmer blieben trotz der deutlichen Ankündigung ungerührt und erörterten das Vorhaben nicht weiter. Laut Konferenzprotokoll verabredeten folgende Personen das Massaker: Hans Georg Schmidt von Altenstadt als Leiter der Abteilung Kriegsverwaltung beim Generalquartiermeister Justus Danckwerts als Leiter der Abteilung V „Verwaltung“ der Abteilung Kriegsverwaltung beim Generalquartiermeister und politischer Berater von Hans Georg Schmidt von Altenstadt Walter Labs als Vertreter des Reichsministeriums für die besetzten Ostgebiete (RMfdbO). Otto Bräutigam als Vertreter des RMfdbO Paul Dargel als Vertreter von Erich Koch, designierter Reichskommissar im Reichskommissariat Ukraine „Major Wagner“ Ernst-Anton von Krosigk als Chef des Stabes von Karl von Roques, dem Befehlshaber des Rückwärtigen Heeresgebietes Süd. Als weitere mögliche Teilnehmer gelten zudem: Eduard Wagner, Generalquartiermeister Ernst von Krause als Chef des Stabes des Wehrmachtbefehlshabers Ukraine Weitere, namentlich nicht genannte Mitarbeiter des Generalquartiermeisters. Jeckeln konnte den Massenmord auch deswegen vorschlagen, weil er wusste, dass die führenden Militärs in der Heeresgruppe Süd „samt und sonders bekennende Antisemiten“ waren. Das rassistische Schlagwort vom „jüdischen Bolschewismus“ war bei ihnen fest verankert. Juden galten als Träger der bolschewistischen Ideologie und darum als Sicherheitsrisiko und Feinde. Karl von Roques, Befehlshaber des Rückwärtigen Heeresgebietes Süd, dem Jeckeln zugeordnet war, bildete hier keine Ausnahme. Zu Jeckeln hatte er offenbar ein harmonisches Verhältnis. Unstimmigkeiten oder ernsthafte Auseinandersetzungen zwischen den beiden sind nicht bekannt. Berichte der Abteilung Ic („Feindaufklärung und Abwehr; geistige Betreuung“) des Befehlshabers im rückwärtigen Heeresgebiet Süd betonten ihre reibungslose Zusammenarbeit. Jeckeln selbst war ein radikaler Antisemit. Sein Wille, immer größere Gruppen von Juden unterschiedslos umzubringen, mag durch einen Wettbewerb um hohe Mordquoten angestachelt worden sein. Die britische Abwehr schlussfolgerte jedenfalls aus dekodierten Funksprüchen mit Angaben über Opferzahlen: „Die Führer der drei Gebiete [die HSSPF] wetteifern anscheinend um die ‚besten‘ Ergebnisse.“ Erich von dem Bach-Zelewski, der HSSPF Russland-Mitte, hatte aufgrund des deutlich rascheren Vormarsches der Heeresgruppe Mitte weitaus höhere Zahlen melden können als Jeckeln. Hinzu kam, dass Heinrich Himmler mit den Leistungen Jeckelns unzufrieden war. Der Reichsführer SS reagierte ungehalten auf den schleppenden Eingang von Jeckelns Einsatzmeldungen. Himmlers Adjutant Werner Grothmann mahnte am 11. August beim HSSPF Russland-Süd einen umgehenden Lagebericht sowie eine Darlegung der durchgeführten und der für die nächsten Tage geplanten Maßnahmen an. Bereits am 12. August 1941 stellte sich Jeckeln bei Himmler ein und rapportierte. Himmler zeigte sich dabei „sehr ungehalten“ über Jeckelns Vorgehen, das immer noch zu wünschen übrig lasse. Anfänge des Holocaust in der Ukraine Wehrmacht, SS und Ordnungspolizei verfügten bis Ende August 1941 bei der Ermordung von Juden in der Ukraine bereits über einige Erfahrung. Auch hier galten der Kommissarbefehl und die Vorgabe, die Juden unter den sowjetischen Funktionären zu liquidieren. Bereits nach wenigen Kriegstagen erweiterten die Täter den Kreis der Mordopfer unter den sowjetischen Juden und gingen mehr und mehr dazu über, nur noch jene Juden zu schonen, deren Ausbildung ihnen nützlich schien, wie Ärzte, Handwerker oder Facharbeiter. Den Kommandoführern der Einsatzgruppe C wurde in den ersten Augustwochen mitgeteilt, dass von jetzt an grundsätzlich auch Frauen und Kinder zu erschießen seien. In der Ukraine fanden zwischen dem 22. Juni und dem 25. August 1941 viele Massenerschießungen von Juden statt. Dreistellige, teilweise auch niedrige vierstellige Opferzahlen erreichten solche Massenverbrechen unter anderem in Czernowitz, Dobromyl, Dubno, Kowel, Lemberg, Ljuboml, Luzk, Riwne, Schepetiwka, Schytomyr, Sokal, Solotschiw und Tarnopol. Konkrete Tatumstände Tatzeit, Tatort, Technik Die Angaben zur Tatzeit sind nicht einheitlich. Die entsprechenden Meldungen über die Zahl der Opfer sind von Jeckeln jeweils am frühen Vormittag des 27., 28. und 29. August 1941 abgesetzt worden. Nach Klaus Mallmann beziehen sie sich darum höchstwahrscheinlich immer auf den Vortag. Einige Historiker folgen ihm hier. Andere notieren, die Tat sei am 27. und 28. August, vom 27. bis zum 29. August beziehungsweise vom 28. bis 31. August 1941 begangen worden. Den Juden wurde mitgeteilt, dass sie die Stadt zu räumen hätten und umgesiedelt würden. In langen Marschkolonnen wurden sie aus der Stadt hinausgeführt. Ziel war eine von Bombentrichtern gezeichnete, hügelige Fläche außerhalb der Stadt, anscheinend einige Kilometer nördlich und nahe einem ehemaligen Munitionsdepot der Roten Armee gelegen. Ordnungspolizisten bildeten am Tatort ein Spalier, durch das die Opfer laufen mussten. Wertsachen waren abzugeben. Einige Juden wurden genötigt, sich zu entkleiden. Anschließend mussten sie in die Krater und vorab ausgehobenen Gräben hinab, um sich auf den Boden oder auf die Leichen derer zu legen, die vor ihnen umgebracht worden waren. Ihre Exekution erfolgte per Kopfschuss aus Maschinenpistolen. Einige Opfer wurden im Stehen erschossen. Viele wurden noch lebend begraben. Tatnahe Täter Jeckeln war während der Erschießungen anwesend und beobachtete das Geschehen von einer Anhöhe aus. Er befehligte die Schützen und soll die Erschießung der Juden vor Ort mit einer Rede gerechtfertigt haben. Zu den Tätern gehörten enge Mitarbeiter Jeckelns, die er in seinen Meldungen über die Opferzahlen als „Sonderaktionsstab“ oder „Einsatzgruppe der Stabskompanie“ bezeichnete. Dazu gehörten zum einen die Mitglieder seiner Leibgarde, mit denen er großenteils schon seit Jahren zusammenarbeitete, zum anderen rund 50 bis 60 Mitglieder seines Stabes aus SS und Polizei mit verschiedenen Offiziers- und Mannschaftsdienstgraden. Sie bildeten damals noch keine feste Stabskompanie, sondern wurden von Jeckeln fallweise für „Judenaktionen“ zusammengestellt. Möglicherweise wirkte außerdem ein Wachzug des HSSPF an den Erschießungen mit, der aus dem zum Polizeiregiment Süd gehörenden Reserve-Polizeibataillon 45 stammte und vielfach an Ermordungen von Juden teilnahm. Täter kamen auch aus dem Polizeibataillon 320, das im Februar 1941 in Berlin-Spandau aufgestellt worden war. Es umfasste drei Kompanien, den Bataillonsstab sowie eine Kraftfahrstaffel. Berufspolizisten besetzten die Schaltstellen des Bataillons; Freiwillige, zumeist im Alter von ungefähr 30 Jahren, bildeten die Mannschaften. Nach dem deutschen Überfall auf die Sowjetunion war es Ende Juni 1941 zunächst ins polnische Jasło, von dort aus Mitte August über Przemyśl, Lemberg und Tarnopol nach Proskurow verlegt worden. Hier wurde es Jeckeln als Einheit „zur besonderen Verwendung“ unterstellt. Angehörige der 1. Kompanie unter Hauptmann Alfred Weber und der 2. Kompanie unter Hauptmann Hans Wiemer führten die Juden aus Kamenez-Podolsk zum Erschießungsort. Dort übernahmen sie Absperraufgaben. Die 3. Kompanie unter Hauptmann Heinrich Scharwey erreichte den Tatort am 28. August 1941, auch ihre Mitglieder nahmen an Absperrungen und Erschießungen teil. Nach späteren Ermittlungsergebnissen gehörten rund 30 Männer der SS und des SD sowie 12 Angehörige des Polizeibataillons 320 aus allen drei Kompanien zu den Schützen. Ein Angehöriger der 3. Kompanie des Polizeibataillons 320 berief sich auf die Haager Landkriegsordnung und ließ sich von der Aktion durch Scharwey befreien. Einige Historiker nehmen an, dass sich auch Ungarn und Ukrainer an den Erschießungen beteiligten. Andere bezweifeln zumindest die Beteiligung ungarischer Soldaten. Auch die Teilnahme ukrainischer Milizen an den Erschießungen gilt als unwahrscheinlich, da deutsche Täter später keine entsprechenden Aussagen machten. Opfer Das Massaker von Kamenez-Podolsk war laut der von Jeckeln am 30. August 1941 genannten Opferzahl von 23.600 der bis dahin größte nationalsozialistische Massenmord an sowjetischen Juden seit Kriegsbeginn. Er betraf zudem erstmals unterschiedslos alle Juden einer Region, ohne Rücksicht auf ihr Alter und Geschlecht, nicht nur bestimmte politische Funktionsträger. Die Täter erschossen nicht nur die etwa 14.000 bis 16.000 zuvor aus Ungarn deportierten Juden, sondern auch etwa 8000 bis 9000 (zwei Drittel) der jüdischen Bürger von Kamenez-Podolsk und einigen umliegenden Ortschaften. 4800 bis 5000 Juden überlebten die Tage des Massakers. Sie wurden ghettoisiert. Als das Ghetto zwischen August und November 1942 aufgelöst wurde, wurden seine Bewohner ebenfalls ermordet. Mitwisser und Zeugen Wehrmachtsoffiziere aus dem Stab von Karl von Roques sahen auf Einladung Jeckelns beim Massaker zu. Ernst-Anton von Krosigk informierte das Kommando der Heeresgruppe Süd am 2. September 1941 über die Zahl der Ermordeten. Debatten oder Proteste vermerkt das entsprechende Protokoll nicht. Der britische Geheimdienst, der den deutschen Polizeifunk abhörte, erfuhr dadurch offenbar ebenfalls über dieses Massaker und seine Ausmaße. Mitarbeiter der Außerordentlichen Staatlichen Kommission der Sowjetunion (auch Schwernik-Kommission genannt), die ab Ende 1942 die Verbrechen der „deutsch-faschistischen Eindringlinge und ihrer Komplizen“ erfassten und untersuchten, befragten Zeugen des Massakers und protokollierten ihre Aussagen dazu. Nur wenige Juden überlebten trotz Tatortnähe das Massaker, darunter Lajos Stern, ein Schwager von Joel Brand. Er floh zurück nach Ungarn und wurde dort Mitglied einer Delegation des Wohlfahrtsbüros der ungarischen Juden (Magyar Izraeliták Pártfogó Irodája – MIPI), die Ferenc Keresztes-Fischer, den damaligen Innenminister Ungarns, detailliert über das Massaker informierte. Bina Tenenblat wurde als jüdisches Kind Augenzeuge des Massakers und berichtete Jahrzehnte später in einem Interview davon. Gyula Spitz, ein ungarischer Jude aus Budapest, der in der ungarischen Armee als Kraftfahrer diente und zeitweise in Kamenez-Podolsk stationiert war, konnte das Massaker heimlich während einer Fahrt durch die Stadt fotografieren. Die Aufnahmen befinden sich heute im Besitz des United States Holocaust Memorial Museum. Ein weiterer Fahrer der ungarischen Armee jüdischer Herkunft, Gabor Mermelstein, wurde ebenfalls Augenzeuge der Erschießungen und berichtete darüber. Verwischen der Spuren Bei der von SS-Standartenführer Paul Blobel geleiteten „Sonderaktion 1005“ zur Vertuschung des Holocausts wurden seit Mitte August 1943 in der Ukraine Massengräber jüdischer Opfer ausgehoben. Das Sonderkommando 1005 A traf im Februar 1944 in Kamenez-Podolsk ein, um dort die Exhumierung und Verbrennung von Leichen durchzuführen. Für diese Arbeiten blieb wenig Zeit; die Eroberung des Gebietes durch die Rote Armee am 26. März 1944 setzte allen Vertuschungsversuchen ein Ende. Folgen Zeitgenössische Reaktionen Der ungarische Innenminister Keresztes-Fischer war durch Berichte über die Massenerschießungen in Kamenez-Podolsk schockiert. Seine Intervention bei der ungarischen Fremdenpolizei führte zum Stopp weiterer, bereits angelaufener Deportationen. Ungarische Liberale unterstützten seine ablehnende Haltung. Scharfe Kritik an den Deportationen übten vor allem Endre Bajcsy-Zsilinszky, Margit Slachta sowie der rechtsliberale Anwalt und Politiker Károly Rassay. Die politisch reglementierte Presse Ungarns schwieg sich über das Massaker aus. Nach kurzer Zeit versuchte die ungarische Regierung, die Deportationen wieder aufzunehmen. Im November 1941 musste Premier Bárdossy dem ungarischen Parlament jedoch mitteilen, dass das Deutsche Reich davor gewarnt habe, solche Abschiebungen fortzusetzen. Gegen einen nochmaligen Abschiebeversuch ungarischer Stellen Ende 1942 intervenierte Himmler persönlich, sodass weitere Vertreibungen unterblieben. Die Londoner Zeitung The Jewish Chronicle berichtete am 24. Oktober 1941 auf ihrer Titelseite unter der Schlagzeile Ghastly Pogroms in Ukraine („Grauenhafte Pogrome in der Ukraine“) über die Massenmorde in Kamenez-Podolsk. Der Bericht bezog sich dazu auf Aussagen ungarischer Offiziere über die Ermordung von 15.000 Juden, die zuvor aus Ungarn nach Galizien deportiert worden seien. Die Redaktion kommentierte den Bericht nicht, möglicherweise weil die Meldungen unbestätigt waren. Am 26. Oktober 1941 berichtete die New York Times über ein Massaker „deutscher Soldaten“ und „ukrainischer Banditen“ an galizischen Juden und jüdischen Deportierten aus Ungarn mit 8000 bis 15.000 Opfern. In Briefen aus Galizien an Empfänger in Ungarn sei von diesem Verbrechen berichtet worden, ebenso durch ungarische Offiziere, die Augenzeugen gewesen seien. Der Bericht nannte die Region Kamenez-Podolsk als Tatort sowie den 27. und 28. August als Tatzeit. Anfang Januar 1942 ging der sowjetische Außenminister Wjatscheslaw Molotow in einer Note, über die die sowjetische Presse berichtete, unter anderem auf das Massaker von Kamenez-Podolsk ein. Die Informationen seien zwar bruchstückhaft, dennoch handele es sich bei den Opfern dort und in weiteren ukrainischen Städten überwiegend um wehrlose jüdische Angehörige der Arbeiterklasse. Hier – wie häufig in der gesamten Kriegszeit – vermieden es die sowjetischen Politiker und Medienberichte, die Bedeutung des Vernichtungsantisemitismus zu unterstreichen, dessen Opfer die europäischen Juden wurden. Stattdessen propagierten sie, die Leidtragenden der deutschen Vernichtungspolitik seien die slawischen Völker. Strafverfolgung Bei Kriegsende geriet Jeckeln in Gefangenschaft der Roten Armee und wurde zusammen mit anderen hochrangigen Offizieren in Riga vor ein sowjetisches Kriegsgericht gestellt. Im Wesentlichen ging es in diesem Prozess um Verbrechen im Reichskommissariat Ostland, einem weiteren Wirkungsfeld Jeckelns. In den vorherigen Vernehmungen hatte er bereits seine Verantwortung für die Ermordung Hunderttausender Juden in der Ukraine gestanden. Am 3. Februar 1946 wurde Jeckeln zusammen mit den anderen Angeklagten zum Tode verurteilt und im Beisein von mehreren Tausend Soldaten und Zivilisten noch am selben Tag in Riga gehängt. Im Nachkriegsungarn führten Volkstribunale Gerichtsverfahren gegen jene, die in den vorangegangenen Jahren politisch motivierte Verbrechen begangen hatten. Der erste wichtige Prozess begann am 29. Oktober 1945. Angeklagt war Ex-Premier Bárdossy, in dessen Amtszeit Ungarn an der Seite des Deutschen Reiches die Sowjetunion überfallen hatte. Die Anklage warf ihm auch die Verantwortung für das Massaker von Kamenez-Podolsk vor. Am 3. November 1945 erging das Todesurteil. Ein Revisionsverfahren und ein Gnadengesuch wurden abgelehnt, Bárdossy wurde am 10. Januar 1946 durch ein Erschießungskommando hingerichtet. Ámon Pásztóy leitete bis zum 1. Juli 1941 die ungarische Fremdenpolizei. Anschließend fungierte er als Abteilungsleiter im Bereich Innere Sicherheit Sektion VII des Innenministeriums. In diesen Funktionen hatte er die administrativen Vorbereitungen der Deportation „fremder“ Juden vorangetrieben. Im Sommer 1945 wurde er verhaftet und im Januar 1946 aus unbekannten Gründen entlassen. 24 Monate später wurde er erneut inhaftiert. Ein Volkstribunal verurteilte ihn wegen des Massakers von Kamenez-Podolsk zum Tod durch den Strang. Das Urteil, das von der zuständigen Revisionsinstanz zuvor bestätigt wurde, wurde am 10. August 1949 vollstreckt. Sándor Siménfalvy, ein weiterer ranghoher Funktionär der Fremdenpolizei, wurde 1945 verhaftet. Ein Gericht verurteilte ihn aufgrund seiner Rolle bei den Deportationen zu fünf Jahren Haft. Mitglieder des Polizeibataillons 320 waren an der Ermordung von 66.719 Juden beteiligt, leisteten Hilfsdienste bei Erschießungen oder wirkten an der Verbringung von Juden in Vernichtungslager mit. Beamte der Zentralstelle im Lande Nordrhein-Westfalen für die Bearbeitung von nationalsozialistischen Massenverbrechen bei der Staatsanwaltschaft Dortmund ermittelten ab 1961 gegen sie und vernahmen etwa 131 davon, vor allem wegen der Massenerschießungen in der Ukraine von 1941. Im Mittelpunkt der staatsanwaltlichen Nachforschungen stand Hans Wiemer, seinerzeit Chef der 2. Kompanie. Heinrich Scharwey, vormals Hauptmann der 3. Kompanie, nahm sich während der Ermittlungen das Leben. Er hatte die Massenmorde Ende August 1941 vor seiner Kompanie in einer politischen Ansprache gerechtfertigt. Die Dortmunder Ermittler kamen jedoch zu dem Ergebnis, dass das Bataillon bei den Erschießungen im Wesentlichen nur Absperrdienste übernommen habe. Beamte der Zentralen Stelle der Landesjustizverwaltungen zur Aufklärung nationalsozialistischer Verbrechen in Ludwigsburg widersprachen nachdrücklich, konnten sich aber nicht durchsetzen. Die Dortmunder Staatsanwaltschaft stellte Anfang 1962 ihre Ermittlungen gegen 362 frühere Angehörige des Bataillons und der mit ihm verbundenen, sogenannten Ostlandkompanie ein. Gegen 30 Beschuldigte setzte sie die Ermittlungen fort, legte den Schwerpunkt der Ermittlungsarbeit jedoch auf die Tätigkeiten des SD. Auch diese Ermittlungen wurden im Dezember 1962 mit der Begründung eingestellt, es habe Befehlsnotstand geherrscht. Trotz Einwänden der Zentralstelle Ludwigsburg schloss sich die Generalstaatsanwaltschaft Hamm den Dortmunder Beschlüssen an. Diese Entscheidung bewegte sich im Rahmen des in Westdeutschland Üblichen, denn zu Gerichtsverfahren gegen Angehörige von Polizeibataillonen kam es nur in seltenen Fällen. Gegen Mitglieder aus Jeckelns Stab wurde ebenfalls ermittelt, ohne dass es zu einer Anklage kam. Gedenken Nach Ende des Zweiten Weltkriegs versuchten die verbliebenen Juden von Kamenez-Podolsk mehrfach, an die im Holocaust Ermordeten zu erinnern. Eine für den fünften Jahrestag des Massakers im August 1946 geplante Gedenkveranstaltung verboten die sowjetischen Behörden. Im Juli 1948 wandten sich örtliche Juden erfolglos mit einer Petition an Nikolai Schwernik und Nikita Chruschtschow, damals Vorsitzender des Ministerrats der Ukrainischen Sowjetrepublik, um der ermordeten Juden öffentlich gedenken zu dürfen. Trotz dieser Rückschläge gelang es den Juden von Kamenez-Podolsk, in der Stadt und am Exekutionsort Denkmale zu errichten. Ein Gedenkstein befindet sich überdies im Holocaust Memorial Park von Brooklyn, New York City. Forschung Deutungen in Spezialuntersuchungen Das Massaker von Kamenez-Podolsk blieb jahrzehntelang von der Forschung unbeachtet. Erst 1973 veröffentlichte der amerikanische Historiker Randolph L. Braham dazu eine Abhandlung in den Yad Vashem Studies. Sie ist nahezu unverändert in sein 1981 erschienenes zweibändiges Werk über die Vernichtung der Juden Ungarns eingegangen. Braham betrachtet das Geschehen als Vorspiel des Holocaust in Ungarn ab 1944. Sein Kollege Klaus-Michael Mallmann veröffentlichte 2001 im Jahrbuch für Antisemitismusforschung einen Aufsatz zu den Geschehnissen von Kamenez-Podolsk. Darin hält er das Massaker für einen „qualitativen Sprung“ des nationalsozialistischen Judenmords. Erstmals seien in wenigen Tagen an einem Ort Juden in fünfstelliger Zahl ermordet worden, ohne Rücksicht auf Geschlecht, Alter und politische Präferenzen. Mallmann arbeitet ferner heraus, wer die Täter von Kamenez-Podolsk waren. Diese Täterschaft war zuvor vielfach fälschlich anderen Einheiten zugewiesen worden, beispielsweise der Einsatzgruppe C oder der Einsatzgruppe D. Zugleich betont er die Offenheit der Situation. Die Gestaltungsmöglichkeiten der deutschen Akteure vor Ort seien ganz unterschiedlich genutzt worden. Auffällig sei, dass die Einsatzgruppe D – vor ähnlichen Problemen stehend, weil Rumänien Tausende von Juden aus der Bukowina und aus Bessarabien über den Dnister ins deutsche Besatzungsgebiet deportiert hatte – ganz anders agierte. Sie trieb 27.500 dieser Juden wieder zurück; 1265 Juden wurden dabei erschossen. Nach Mallmann zeige das Massaker außerdem, dass der Weg zur totalen Vernichtung beschritten wurde, obwohl „(noch) kein umfassender ‚Führerbefehl‘ zur unterschiedslosen Tötung aller Juden existierte.“ Lokale Akteure hätten die Initiative ergriffen, hätten improvisiert und experimentiert, um einen bis dahin beispiellosen Vorgang ins Werk zu setzen. Es reiche nicht aus, bei der Suche nach den Gründen für die Vernichtungspolitik allein nach Berlin zu schauen. Der Blick müsse sich auch auf die Vorgänge im Osten des von den Deutschen beherrschten Raums richten und damit im Ganzen ein „System komplexer Interdependenz“ fokussieren. Timothy Snyder erläutert unter anderem am Beispiel des Massakers von Kamenez-Podolsk die besondere Gefährdung von Juden, die vor ihrer Vernichtung nicht nur diskriminiert, sondern vom NS-Staat, seinen Vasallenstaaten oder Bündnispartnern zu Staatenlosen erklärt wurden. Ferner hebt er hervor, dass die hohe Opferzahl es rechtfertigte, von einer industriellen Tötung zu sprechen. Zudem sei es Jeckeln gelungen, bei den Mordtaten die gemeinsame Täterschaft von SS, regulären Polizeitruppen und Wehrmacht zu etablieren, ein „Triumvirat“, das während des gesamten Krieges halten sollte. Das Massaker in Überblicksdarstellungen zum Holocaust In Übersichtsdarstellungen zum Holocaust wird das Massaker zwar regelmäßig, jedoch oft nur am Rande erwähnt, so 1961 mit nur einem kurzen Satz von Raul Hilberg. Peter Longerich stellte 1998 fest, das Massaker sei aus Mangel an Quellen bislang noch nicht angemessen dargestellt worden. Er interpretiert die Massenerschießung in Kamenez-Podolsk als den „Übergang zu einer Politik flächendeckender, systematischer Vernichtung der jüdischen Bevölkerung.“ Die neue Erfahrung, Zehntausende Opfer binnen weniger Tage beseitigen zu können, dürfte für die weitere Planung der systematischen „Endlösung“ in den besetzten Gebieten mitentscheidend gewesen sein. Saul Friedländer streift das Ereignis mit zwei längeren Sätzen. Christopher Browning und Jürgen Matthäus erwähnen das Massaker in ihrer Studie zur Genese des Holocaust ebenfalls; die „Schwelle zum Genozid“ sei mit dieser Tat „überschritten“ worden. Wolfgang Benz geht in seiner Einführung zum Holocaust nicht auf das Ereignis ein, genauso wenig Frank McDonough und John Cochrane. In der sechsbändigen Aufsatzsammlung Holocaust. Critical Concepts in Historical Studies wird auf das Massaker mit einem Nebensatz hingewiesen. Im Aufsatzband The Routledge History of the Holocaust erstreckt sich die Darstellung des Massakers sowie der Vorgeschichte dagegen über eine halbe Seite. Dieter Pohl spricht das Thema in seiner Einführung zum Holocaust kurz an und nennt es das „größte […] Massaker dieser Zeit“. In einer weiteren einführenden Darstellung zur nationalsozialistischen Praxis der Verfolgungen und Massenmorde handelt er das Massenverbrechen von Kamenez-Podolsk breiter ab. Er bezeichnete es als den „Wendepunkt in der ‚Endlösung‘“. Es habe Dimensionen wie das von Babyn Jar, das einen Monat später stattfand. Verhältnis von Wehrmacht, SS und Polizei Klaus-Michael Mallmann betont die besondere Rolle, die dem HSSPF Russland-Süd, Friedrich Jeckeln, zukam. In Abstimmung und mit Billigung der führenden Wehrmachtsoffiziere habe er seinen groß dimensionierten Plan zur Ermordung der Juden in Kamenez-Podolsk umgesetzt. Die Aktion in Kamenez-Podolsk sei keineswegs hinter dem Rücken der regionalen Befehlshaber der Wehrmacht, sondern vor ihren Augen durchgeführt worden. Das Verhältnis der bewaffneten Machtorgane spielt auch bei anderen Autoren eine Rolle. Dieter Pohl unterstellt ähnlich wie Mallmann ein Einvernehmen von Wehrmachtsführung und SS. Andrej Angrick betont hingegen, die Initiative zu diesem Verbrechen sei von der Wehrmacht ausgegangen. Jeckeln und seine Untergebenen seien „Erfüllungsgehilfen“ des Heeres gewesen. Ähnlich sieht es Yitzhak Arad: „Die deutsche Militärverwaltung entschied, die aus Ungarn deportierten Juden zu liquidieren.“ In einer Analyse der neu gefassten Wehrmachtsausstellung meldet der Politikwissenschaftler und Historiker Klaus Hesse Zweifel an der These an, die Sitzung vom 25. August 1941 sei eine entscheidende Besprechung im Vorwege des Massakers gewesen. Entsprechende Formulierungen in der Wehrmachtsausstellung seien von einem „konspirativen Duktus“ geprägt. Es sei ferner eine Überinterpretation des Sitzungsprotokolls, wenn Ausstellungstexte „‚die Wehrmacht‘ als aktiv verantwortlich für das Massaker von Kamenez-Podolsk“ belasten würden oder andeuteten, das Militär habe das Massaker gebilligt. Allein „die völlige Passivität der Wehrmachtsvertreter gegenüber dem Schicksal der jüdischen Opfer“ sei aus dem Protokoll ableitbar. Jörn Hasenclever nimmt eine vermittelnde Position ein: „Ob es Jeckeln war, der v. Roques den Mord vorschlug oder umgekehrt, lässt sich nicht mehr nachvollziehen.“ Bert Hoppe und Hildrun Glass vertreten die Ansicht, die Initiative für das Massaker sei von der örtlichen Feldkommandantur sowie Jeckeln ausgegangen. Anhang Literatur Spezialdarstellungen Randolph L. Braham: The Kamenets Podolsk and Délvidék Massacres: Prelude to the Holocaust in Hungary. In: Livia Rothkirchen (Hrsg.): Yad Vashem Studies. Nr. 9, Yad Vashem, Jerusalem 1973, , S. 133–156 (englisch). Randolph L. Braham: Kamenez-Podolski. In: Israel Gutman, Eberhard Jäckel, Peter Longerich (Hrsg.): Enzyklopädie des Holocaust. Die Verfolgung und Ermordung der europäischen Juden. Piper, München & Zürich 1998, ISBN 3-492-22700-7, Band 2, S. 731–732. Klaus-Michael Mallmann: Der qualitative Sprung im Vernichtungsprozeß. Das Massaker von Kamenez-Podolsk Ende August 1941. In: Jahrbuch für Antisemitismusforschung. Band 10, Campus, Frankfurt am Main 2001, S. 239–264 . Weiterführende Literatur Andrej Angrick: Zur Rolle der Militärverwaltung bei der Ermordung der sowjetischen Juden. In: Babette Quinkert (Hrsg.): „Wir sind die Herren dieses Landes“. Ursachen, Verlauf und Folgen des deutschen Überfalls auf die Sowjetunion. VSA, Hamburg 2002, ISBN 3-87975-876-X, S. 104–123. Andrej Angrick: Besatzungspolitik und Massenmord. Die Einsatzgruppe D in der südlichen Sowjetunion 1941–1943. Hamburger Edition, Hamburg 2003, ISBN 3-930908-91-3. Yitzhak Arad: The Holocaust in the Soviet Union, University of Nebraska Press, Lincoln, NE / Yad Vashem, Jerusalem 2009, ISBN 978-0-8032-2059-1. G. H. Bennett: Exploring the World of the Second and Third Tier Men in the Holocaust: The Interrogation of Friedrich Jeckeln: Engineer and Executioner. In: Liverpool Law Review. Vol. 32 (2011), S. 1–18. Randolph L. Braham: The politics of genocide. The Holocaust in Hungary. An abbreviated version of the definitive work on the destruction of Hungarian Jewry. 2 Bände, Columbia University Press, New York 1981, ISBN 0-231-05208-1. Wolfgang Curilla: Die deutsche Ordnungspolizei und der Holocaust im Baltikum und in Weißrussland 1941–1944. Schöningh, Paderborn 2006, ISBN 3-506-71787-1. Judit Fejes: On the History of the Mass Deportations from Carpatho-Ruthenia in 1941. In: Randolph L. Braham und Attila Pók (Hrsg.): The Holocaust in Hungary: Fifty Years Later; Columbia University Press, New York, NY 1997, S. 305–321. Christian Gerlach, Götz Aly: Das letzte Kapitel. Der Mord an den ungarischen Juden 1944–1945, Fischer Taschenbuch 15772, Frankfurt am Main 2004, ISBN 3-596-15772-2. Hamburger Institut für Sozialforschung (Hrsg.): Verbrechen der Wehrmacht. Dimensionen des Vernichtungskrieges 1941–1944. Ausstellungskatalog, Hamburger Edition, Hamburg 2002, ISBN 3-930908-74-3. Jörn Hasenclever: Wehrmacht und Besatzungspolitik in der Sowjetunion. Die Befehlshaber der rückwärtigen Heeresgebiete 1941–1943 (= Krieg in der Geschichte, Band 48), Schöningh, Paderborn u. a. 2010, ISBN 978-3-506-76709-7 (Dissertation Universität Münster 2007, 613 Seiten, unter dem Titel: Gescheitertes Provisorium). Johannes Hürter: Hitlers Heerführer. Die deutschen Oberbefehlshaber im Krieg gegen die Sowjetunion 1941/42. 2. Auflage. Oldenbourg, München 2007, ISBN 978-3-486-58341-0 (Habilitationsschrift Universität Mainz 2006, 719 Seiten). Stefan Klemp: „Nicht ermittelt“. Polizeibataillone und die Nachkriegsjustiz. Ein Handbuch (= Geschichtsort Villa ten Hompel Münster: Schriften, Band 5). Klartext, Essen 2005, ISBN 3-89861-381-X. Klaus-Michael Mallmann, Volker Rieß, Wolfram Pyta (Hrsg.): Deutscher Osten 1939–1945. Der Weltanschauungskrieg in Photos und Texten, Wissenschaftliche Buchgesellschaft, Darmstadt 2003, ISBN 3-534-16023-1. Dieter Pohl: Schauplatz Ukraine. Der Massenmord an den Juden im Militärverwaltungsgebiet und im Reichskommissariat 1941–1943. In: Christian Hartmann, Johannes Hürter, Peter Lieb, Dieter Pohl: Der deutsche Krieg im Osten 1941–1944. Facetten einer Grenzüberschreitung, Oldenbourg, München 2009, ISBN 978-3-486-59138-5, S. 155–199 (Erstmals in: Norbert Frei, Sybille Steinbacher, Bernd C. Wagner (Hrsg.): Ausbeutung, Vernichtung, Öffentlichkeit. Neue Studien zur nationalsozialistischen Lagerpolitik, Oldenbourg, München 2000, ISBN 3-598-24033-3, S. 135–173.) Dieter Pohl: Die Herrschaft der Wehrmacht. Deutsche Militärbesatzung und einheimische Bevölkerung in der Sowjetunion 1941–1944. Oldenbourg, München 2008, ISBN 978-3-486-58065-5; Fischer Taschenbuch 18858, Frankfurt am Main 2011, ISBN 978-3-596-18858-1. Die Verfolgung und Ermordung der europäischen Juden durch das nationalsozialistische Deutschland 1933–1945. (Quellensammlung), Band 15: Ungarn 1944–1945, bearbeitet von Regina Fritz, De Gruyter/Oldenbourg, München 2021, ISBN 978-3-11-036502-3. Weblinks Massimo Arico: (Abruf: 14. August 2011). Informationen über die jüdische Gemeinde von Kamenez-Podolsk sowie über das Massaker von August 1941 auf der Website von Yad Vashem (Abruf: 10. August 2011). Fotos und Beschreibung des Massakers auf der Website von Yad Vashem. Abgerufen am 13. Januar 2019. Fotos des Massakers von Gyula Spitz im Archiv des United States Holocaust Memorial Museum (Abruf: 22. April 2017). Einzelnachweise Kamenez-Podolsk NS-Kriegsverbrechen Kamjanez-Podilskyj Einsatzgruppen der Sicherheitspolizei und des SD Holocaust in der Ukraine Ungarn im Zweiten Weltkrieg Konflikt 1941 Kamenez-Podolsk
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https://de.wikipedia.org/wiki/The%20Concert%20in%20Central%20Park
The Concert in Central Park
The Concert in Central Park (englisch für ‚Das Konzert im Central Park‘) war ein Konzert des US-amerikanischen Folk-Rock-Duos Simon & Garfunkel am 19. September 1981 im New Yorker Central Park. Es diente als Beitrag der beiden Musiker zur Sanierung des heruntergekommenen Stadtparks im Zentrum Manhattans. Zu dem Benefizkonzert kamen bei freiem Eintritt mehr als eine halbe Million Zuschauer. Es markierte gleichzeitig die vorübergehende Wiedervereinigung von Paul Simon und Art Garfunkel nach mehrjähriger Trennung. The Concert in Central Park ist zugleich der Titel des Livealbums von diesem Konzert, das im Folgejahr veröffentlicht wurde. Es wurde von der Musikkritik gelobt und war kommerziell erfolgreich: In den USA erreichte es den sechsten Platz der Albumcharts und wurde mit Doppel-Platin ausgezeichnet, in Deutschland waren es Hitparadenposition drei und eine Goldene Schallplatte. Videoaufzeichnungen des Konzerts liefen im US-amerikanischen Fernsehen und waren später auf dem Heimvideomarkt erhältlich. Idee und Vorbereitungen Hintergrund Mit der wirtschaftlichen Rezession der 1970er Jahre war der Central Park, die „grüne Lunge“ New Yorks, in einen schlechten Zustand geraten: Wegen Geldmangels nur noch spärlich gepflegt, waren die Anlagen des ehemaligen Vorzeigeobjekts teils verfallen, von Müll überhäuft oder durch Vandalismus zerstört. Weil der Park außerdem kaum noch überwacht wurde, stieg dort die Kriminalitätsrate stark an. Der Drogenhandel florierte, und aufgrund der hohen Zahl an Gewaltverbrechen galten Spaziergänge im Park als unsicher. Anfang der 1980er Jahre fehlten der Stadt die finanziellen Mittel, den Park zu sanieren – allein hierfür waren knapp drei Millionen US-Dollar nötig – und dauerhaft zu unterhalten, sodass sogar seine Schließung in Betracht gezogen wurde. Um die Finanzierung des Parks zu sichern, wurde die Central Park Conservancy gegründet, eine private Initiative, die sich um Spenden für den Park bemühte. Vermögende Privatleute spendeten Geld, und Künstler setzten sich für den Erhalt der Anlage ein. Ein Konzert für den Park Zu dieser Zeit entwickelten Gordon Davis, der als Parks Commissioner bei der Stadtverwaltung New Yorks für die städtischen Grünflächen zuständig war, und Ron Delsener, einer der einflussreichsten Konzertveranstalter der Stadt, die Idee, die Restaurierung des Central Parks mit einem kostenlosen Open-Air-Konzert im Park finanziell zu unterstützen. Der Eintritt sollte frei sein, der Verkauf von T-Shirts und anderen Merchandisingartikeln des italienischen Sportmodebekleiders Hirsch sollte rund hunderttausend Dollar für den Park einbringen. Weitere Einnahmen waren aus dem Verkauf der Fernseh- und Videorechte zu erwarten. Dass dieses Konzept erfolgreich sein konnte, zeigten zwei Konzerte von Elton John und James Taylor, die Warren Hirsh von Fiorucci and Hirsh Enterprises in den Jahren davor im Central Park veranstaltet hatte. Nachdem Davis das Projekt seitens der Stadt hatte genehmigen lassen, handelte Delsener mit dem Fernsehsender HBO einen Vertrag aus, der lediglich von der Frage abhängig war, wer auf der Bühne stehen sollte. Im Sommer 1981 rief Delsener bei Paul Simon an und unterbreitete ihm den Plan. Simon war von der Idee angetan, hatte aber Bedenken: Sein letztes Projekt, der autobiografische Film One-Trick Pony, bei dem er Regie geführt, die Hauptrolle gespielt und den Soundtrack geschrieben hatte, war weit hinter seinen Erwartungen zurückgeblieben. Simons Selbstvertrauen war angeschlagen, er war wegen depressiver Verstimmungen in psychiatrischer Behandlung. Er machte seine Zustimmung davon abhängig, ob es gelingen würde, seinen ehemaligen Partner Art Garfunkel zur Teilnahme zu bewegen. Als Simon & Garfunkel hatten sich die beiden in den 1960er Jahren zu einer der erfolgreichsten Folk-Rock-Gruppen entwickelt. Kurz nach der Veröffentlichung ihres fünften Studioalbums Bridge over Troubled Water, das als künstlerischer Höhepunkt des Duos gilt und 1970 für zehn Wochen ununterbrochen an der Spitze der US-Albumcharts stand, gaben sie ihre Trennung bekannt. Sie hatten sich künstlerisch auseinandergelebt und kamen auch auf persönlicher Ebene nicht mehr gut miteinander aus. In den folgenden elf Jahren verfolgten beide Solokarrieren und arbeiteten nur punktuell an Einzelprojekten zusammen. Gelegentliche, kurze Gastauftritte Garfunkels in den Konzerten von Simon waren jedoch immer erfolgreich. Diesmal sollte Garfunkels Beteiligung größer ausfallen. Simon nahm telefonisch Kontakt mit Garfunkel auf, der gerade Urlaub in der Schweiz machte. Garfunkel war begeistert und kehrte sofort in die USA zurück. Aus Sicht der Veranstalter waren Simon und Garfunkel Wunschkandidaten. Nicht nur, dass die Zusammenarbeit der beiden versprach, eine der größten Konzertveranstaltungen in der Geschichte des Central Parks, wenn nicht ganz New Yorks, zu werden – Paul Simon und Art Garfunkel galten der Stadt als besonders verbunden. Beide waren in Forest Hills, einem Stadtteil des New Yorker Bezirks Queens, aufgewachsen und zur Schule gegangen. Anders als viele andere Künstler, so Musikkritiker Stephen Holden, hatten sie ihrer Heimatstadt nicht den Rücken gekehrt, kaum dass sie Millionäre geworden waren. Sie hatten immer wieder Inspiration aus der kulturellen Vielfalt und den typischen Eigenarten New Yorks gewonnen und diese Einflüsse in ihren Liedern verarbeitet. Planungen und Proben Bis zu dem Auftritt blieben etwa drei Wochen Zeit, den Ablauf des Konzerts zu planen und dafür zu proben. Simon, der nach einer längeren Schreibblockade wieder Lieder verfasst hatte, unterbrach deren Studioaufnahmen für die Vorbereitungen. Er sah die Chance, eines der schon fertigen Lieder vor einem Live-Publikum zu testen. Ähnliche Intentionen hatte Garfunkel. Die Veröffentlichung seines Studioalbums Scissors Cut stand kurz bevor, daraus wollte er das Lied A Heart in New York spielen. Beim Entwurf des Bühnenprogramms merkten sie bald, dass das Konzept eines Paul-Simon-Konzerts mit Garfunkel in der Rolle eines Unterstützers nicht aufgehen würde. Weil etwa die Hälfte des Konzerts aus alten Simon-&-Garfunkel-Hits bestehen sollte, drohte Simons Soloteil eine ungewollte Wirkung: erklärte Garfunkel später. Deswegen entschieden sie sich letztlich dazu, die Veranstaltung als Simon-&-Garfunkel-Konzert mit Soloanteilen beider Musiker zu entwerfen. Während der Planungen kam es immer wieder zu Auseinandersetzungen, da sie gegensätzliche Vorstellungen davon hatten, wie der Abend zu gestalten sei. Garfunkel wollte das Konzert schlicht halten, wie die Liveauftritte des Duos Mitte der 1960er Jahre: nur die Stimmen der beiden Sänger, begleitet alleine von Simons Akustikgitarre. Allerdings unterschieden sich die geplanten Solonummern Simons stilistisch von den Liedern des Duos und waren nicht nur für eine Gitarre geschrieben. Still Crazy After All These Years war beispielsweise ein Klavierstück, Late in the Evening benötigte Bläser, verschiedene Lieder eine E-Gitarre. Außerdem litt Simon nach einer Verletzung unter einer Kalkablagerung in einem seiner Finger und sah sich außerstande, zwei Stunden lang Gitarre zu spielen. Garfunkel stimmte zunächst einem weiteren Gitarristen zur Unterstützung zu und gab schließlich ganz nach. Simon stellte eine elfköpfige Begleitband nach seinen Vorstellungen zusammen. Sie bestand vor allem aus Studiomusikern, von denen viele bereits an den Alben sowohl von Simon als auch von Garfunkel mitgewirkt hatten: David Brown (Gitarre), Pete Carr (Gitarre), Anthony Jackson (Bassgitarre), Rob Mounsey (Synthesizer), John Eckert (Trompete), John Gatchell (Trompete), Dave Tofani (Saxophon), Gerry Niewood (Saxophon), Grady Tate (Schlagzeug, Percussion), Steve Gadd (Schlagzeug, Percussion) und Richard Tee (Keyboard, Klavier). Die Arrangements für das Konzert wurden von Paul Simon und David Matthews geschrieben. Sie wichen teils erheblich von den Albumversionen ab, nicht nur durch die andere Besetzung. Beispielsweise sind die Latin-Elemente in Me and Julio Down by the Schoolyard in der Konzertfassung feiner herausgearbeitet und betont von einem Salsa-Break. Aus dem lebhaften Folk-Rock-Lied Kodachrome wurde eine härtere Rock-Nummer, die als Medley in den Chuck-Berry-Klassiker Maybellene übergeht. Und 50 Ways to Leave Your Lover, in der Studioversion von einem strengen, militärischen Rhythmus dominiert, wurde in eine swingende Latin-Melodie mit Blechbläsern gewandelt. Im Laufe der Proben, die in einem leerstehenden Theater in Manhattan stattfanden, wuchsen Garfunkels Sorgen. Während Simon schnell wieder zu den vertrauten Liedern fand, musste Garfunkel viel Neues lernen. Dies waren zum einen die Texte und Melodien von einigen Solostücken Simons, die für das Konzert zu Duetten umgeschrieben worden waren. Zum anderen hatte Simon im Laufe der Jahre viele der alten Songs überarbeitet, was für Garfunkel weitere Anpassungsarbeit bedeutete. Obwohl Garfunkel sich für Simons Lieder auf einen ungewohnten musikalischen Stil einlassen musste, fand er an manchen Liedern doch Gefallen und freute sich besonders auf die gemeinsame Version von Simons American Tune. Insgesamt waren die drei Wochen Vorbereitungszeit von Spannungen gekennzeichnet. Unter dem Zeitdruck traten altbekannte Differenzen zwischen den beiden Musikern wieder zu Tage. Paul Simon beschrieb später: Ankündigung Bis wenige Tage vor dem Konzert wurde geheim gehalten, dass Simon und Garfunkel wieder zusammen auf der Bühne stehen würden. Erst dann erschienen kurze Ankündigungen des gemeinsamen Auftritts in den einzelnen New Yorker Tageszeitungen. Obwohl diese Meldungen wie auch von Michael Doret gestaltete Plakate die Namen der beiden Musiker getrennt und inklusive ihrer Vornamen nannten und der Name „Simon & Garfunkel“ nicht fiel, wurde die Veranstaltung schnell als Wiedervereinigung des Duos gedeutet. Einzeln gaben Simon und Garfunkel Interviews, in denen sie darauf hinwiesen, dass eine weitere Zusammenarbeit nicht geplant sei. Das Konzert Ablauf Das Konzert fand am 19. September 1981, einem Samstag, auf dem Great Lawn (deutsch etwa: ‚Großer Rasen‘) statt, der zentralen Freifläche des Central Parks. Schon im Morgengrauen dieses Tages kamen die ersten Zuschauer, um sich einen guten Platz zu sichern. Viele brachten Proviant, Stühle oder Picknickdecken mit. Die Parkverwaltung hatte rund 300.000 Besucher erwartet. Obwohl im Laufe des Tages Regen einsetzte, der erst unmittelbar vor Beginn des Konzerts aufhörte, kamen letztlich über 500.000 Zuschauer zusammen, mehr als beispielsweise in Woodstock. Damit ist das Konzert eines der bestbesuchten aller Zeiten; laut MTV hatten bis 2011 nur sechs Konzerte mehr Besucher. Bei Anbruch der Dämmerung betraten die Begleitmusiker die Bühne. Das Bühnenbild erinnerte an eine städtische Dachlandschaft mit Wasserspeicher und Abluft-Auslässen, symbolisch für die Skyline New Yorks. Kurz darauf trat der New Yorker Bürgermeister Ed Koch ans Mikrofon und kündigte schlicht und knapp an: Unter dem Beifall des Publikums traten die beiden aus einer Seitentür des Bühnenaufbaus. Als sie die Bühnenmitte erreicht hatten, schauten sie einander kurz an und gaben sich die Hand. Dann eröffneten sie das Konzert mit dem Nummer-eins-Hit Mrs. Robinson von 1968. Nach dem zweiten Titel, Homeward Bound, hielt Simon eine kurze Ansprache, die er begann mit der Feststellung, es sei großartig, ein Konzert in seiner Nachbarschaft zu geben: Danach bedankte er sich bei der Polizei, der Feuerwehr, der Parkleitung und schließlich bei Ed Koch. Auf den Namen des Stadtoberhaupts, das mit der drohenden Parkschließung in Verbindung gebracht wurde, reagierte das Publikum mit Buhrufen. Erst als Simon fortfuhr, wurde der ironische Ton der Danksagung deutlich, und Applaus brandete auf. Insgesamt spielten Simon & Garfunkel zwanzig verschiedene Stücke: zehn ihrer gemeinsamen Lieder, acht von Simon, eines von Garfunkel sowie Wake Up Little Susie von den Everly Brothers. Beide Sänger boten je drei Lieder solo dar, darunter je ein neues. Bei Garfunkel waren dies die Simon-&-Garfunkel-Klassiker Bridge over Troubled Water und April Come She Will, außerdem A Heart in New York, geschrieben von Gallagher and Lyle, aus seinem im Monat zuvor erschienenen Album Scissors Cut. Simon trug aus seinem Album Still Crazy After All These Years von 1975 den Titelsong und die Nummer-Eins-Single 50 Ways to Leave Your Lover ohne Garfunkels Begleitung vor, zudem sein bislang unveröffentlichtes Lied The Late Great Johnny Ace, das erst 1983 auf seinem Soloalbum Hearts And Bones erschien. Bei diesem Stück wurde Simon kurz unterbrochen von einem Mann aus dem Publikum, der auf die Bühne rannte und ihm zurief: Der Sänger wich einen Schritt zurück, während Sicherheitskräfte den Störer ergriffen und wegtrugen, dann spielte Simon das Lied zu Ende. Der Zwischenfall löste Assoziationen zum Text des Stückes aus, in dem Simon die Tode von Johnny Ace, John F. Kennedy und John Lennon in Bezug zum Leben des Ich-Erzählers setzt. Nur wenige hundert Meter von der Bühne entfernt war Lennon etwa neun Monate zuvor von Mark David Chapman ermordet worden. Trotz dieser Zusammenhänge hatte Simon nach eigener Aussage in diesem Moment keine Angst verspürt. Er erklärte im Mai 1982 als Gast bei Late Night with David Letterman, es komme öfter vor, dass Fans zum Beispiel mit Blumen auf die Bühne springen. Auf ihn habe der Mann zwar eher berauscht gewirkt. Dennoch sei sein erster Gedanke gewesen, dass die Premiere des Liedes nun ruiniert sei. Im Laufe des Abends quittierte das Publikum einzelne Liedstellen, an denen die Texte Bezug auf die Stadt New York nahmen oder auf das Konzert passten, mit Szenenapplaus, beispielsweise eine Zeile aus Garfunkels Ode an seine Heimatstadt A Heart in New York, in der die Sicht eines Heimkommenden aus dem Flugzeug auf die Stadt beschrieben wird und die auch auf die Missstände im Central Park verweist: Ein anderes Beispiel stammt aus The Boxer. Eine Strophe, die in der Version des Albums Bridge over Troubled Water nicht enthalten ist, endet mit Worten, die in Verbindung zur langjährigen Trennung von Simon und Garfunkel gebracht wurden (obwohl sie bereits vor ihrer Trennung in verschiedenen Live-Aufnahmen zu hören waren): Nach diesem Lied bedankten sich Simon & Garfunkel beim Publikum und verließen die Bühne, kamen jedoch kurz darauf für eine Zugabe aus drei Liedern wieder. Sie spielten Old Friends / Bookends Theme, The 59th Street Bridge Song (Feelin’ Groovy) und als Schlussstück den Song, der ihnen zum Durchbruch verholfen hatte, The Sound of Silence. Zuvor sagte Simon, dass an dieser Stelle eigentlich ein Feuerwerk geplant war, aber nicht erlaubt wurde. Auf seine Aufforderung hielten viele Zuschauer brennende Feuerzeuge nach oben. Nachdem Simon & Garfunkel abermals die Bühne verlassen hatten, wiederholten sie schließlich als weitere Zugabe Late in the Evening, davor stellten sie kurz die Mitglieder der Begleitband vor. Titelliste Die nachstehende Liste gibt einen Überblick über die gespielten Stücke. Nach dem Liedtitel wird der ursprüngliche Interpret genannt. Soweit dahinter nicht in Klammern anders vermerkt, wurden alle Lieder von Paul Simon geschrieben. Die letzte Spalte nennt die Länge des Liedes in Minuten und Sekunden. Diese Angabe bezieht sich auf die Spieldauer des Titels auf dem Livealbum. Das Stück The Late Great Johnny Ace und die Reprise von Late in the Evening sind darauf nicht enthalten. Veröffentlichungen Etwa fünf Monate nach dem Konzert wurde es als Livealbum und als Filmmitschnitt veröffentlicht. Livealbum Für die Veröffentlichung als Musikalbum wurden die Audiomitschnitte nachbearbeitet, allerdings nicht bis an die Grenzen des Machbaren: Die Aufnahmen seien nicht hundertprozentig poliert, sondern hätten das Dröhnen und die Verschwommenheit von Rockmusik, die nicht über ein Mischpult, sondern über Lautsprecher aufgezeichnet worden sei, befand das Musikmagazin Rolling Stone. Zwei Stücke wurden aus der Albumversion gestrichen: The Late Great Johnny Ace, bei dem Paul Simon von einem Fan unterbrochen worden war, und die Wiederholung von Late in the Evening als Zugabe. In den internationalen Hitparaden war das Album sehr erfolgreich. In den USA erreichte es Platz sechs der Billboard 200 und wurde für 2 Millionen verkaufte Tonträger mit Doppel-Platin ausgezeichnet. In den deutschen Albumcharts stieg es bis auf den dritten Rang, für 250.000 verkaufte Einheiten erhielt es eine Goldene Schallplatte. In Österreich hatte es die höchste Chartsposition auf Rang fünf und erreichte dank 50.000 Verkäufen Platin-Status. Ohne sich in den Albumcharts zu positionieren, verkaufte es sich in der Schweiz über 100.000 Mal und wurde dafür mit Doppel-Platin geehrt. Die folgende Tabelle gibt eine Übersicht über die Charterfolge des Albums auf verschiedenen nationalen Märkten. Genannt werden die höchste erreichte Chartsposition, die Verweildauer in den Charts, gemessen in Wochen, sowie eine eventuell für Absatzzahlen vergebene Auszeichnung. Chartplatzierungen Auszeichnungen für Musikverkäufe Als Singleauskopplung aus dem Album erreichte Wake Up Little Susie im Mai 1982 Platz 27 der US-Singlecharts. Filmmitschnitt Für die spätere Veröffentlichung im Fernsehen und für den Heimvideomarkt wurde das Konzert filmisch aufgezeichnet. Regie führte Michael Lindsay-Hogg, ein Spezialist für Musikdokumentationen, der unter anderem für den Beatles-Film Let It Be verantwortlich war. Als Produzent stand ihm James Signorelli zur Seite. An den Kosten der Inszenierung und der Videoaufnahme des Auftritts beteiligte sich Paul Simon mit 750.000 Dollar aus eigener Tasche. Was HBO für die Fernseh- und Videorechte des Mitschnitts zahlte, wird unterschiedlich beziffert: Schätzungen belaufen sich beispielsweise auf eine Million Dollar, andere Quellen nennen mehr als drei Millionen. Die beiden aus dem Livealbum entfernten Stücke sind in dem Film enthalten, sodass seine Laufzeit mit 87 Minuten etwas über der 75-minütigen Spielzeit des Albums liegt. Der Film war erstmals wenige Tage nach der Veröffentlichung des Livealbums, am 21. Februar 1982, unter dem Titel Simon and Garfunkel: The Concert in Central Park im Programm von HBO zu sehen. Im deutschen Fernsehen zeigte das ZDF das Konzert zum ersten Mal. Am 27. Juni 1982 sahen rund 2,6 Millionen Zuschauer diese Sendung mit dem Titel Simon and Garfunkel – Ein Konzertereignis im Central Park. Spätere Ausstrahlungen variierten den Namen, beispielsweise strahlte 3sat das Konzert am 31. Dezember 2011 als Simon & Garfunkel: The Concert in Central Park – New York aus. Später wurde der Mitschnitt auf VHS und DVD veröffentlicht. Die DVD-Fassung enthält keine Extras. In den USA und Deutschland verkaufte sich der Film jeweils über 50.000-mal und wurde dafür mit Gold (in den USA) beziehungsweise Platin (in Deutschland) ausgezeichnet. In Australien erreichte die DVD neunfachen Platin-Status. Kritische Rezeption Das Konzert und die verschiedenen Aufzeichnungen wurden von den Kritikern positiv aufgenommen. In zwei Rezensionen – eine vom Tag nach der Veranstaltung in der New York Times bezogen auf das Konzert, die andere ein halbes Jahr später im Rolling Stone bezogen auf das Livealbum – lobte Stephen Holden den Auftritt. Simon und Garfunkel sei es gelungen, nach elf Jahren der Trennung nahtlos an ihren Klang von 1970 anzuknüpfen. Nach wie vor würden sich die beiden unterschiedlichen Künstler – der romantisch-süßliche Popmusiker Garfunkel und der düsterere, mehr dem Rock ’n’ Roll verschriebene Simon – perfekt ergänzen. Mehrere von Simons Liedern seien durch die Arrangements für das Konzert deutlich verbessert worden. Die handverlesene Begleitband gehöre zu „den besten Musikgruppen, die je auf einem Rockkonzert in New York zusammengespielt haben,“ so Holden weiter. Stellenweise, gerade bei Solostücken wie Still Crazy After All These Years, klinge Simons Stimme zwar auch nach der Abmischung für das Album etwas dünn, aber das sei „eigentlich erfrischend“. Simon & Garfunkel seien ein großes Risiko eingegangen, so viele akustiklastige Balladen in kühler Luft unter freiem Himmel zum Besten zu geben. Aber gerade die sanfteren Lieder hätten sie „mit großartigem Ausdruck und in nahezu perfekter Harmonie“ gespielt. Es sei, so das schlichte Resümee in der New York Times, ein wundervolles Konzert gewesen: Diese Bewertung kann exemplarisch für viele andere Kritiken stehen, die das Konzert durchweg wohlwollend beurteilten. Eine zeitnahe Rezension im Rolling Stone vom Oktober 1981 bezeichnete es als „eine der besten Darbietungen des Jahres“. Während Simon den ganzen Abend über stimmlich ausgezeichnet gewesen sei, habe Garfunkel zwar an manchen besonders hohen Stellen zurückhaltender gesungen als früher, dafür aber regelmäßig faszinierendere Harmonien gefunden. Das Konzert habe „eine andere Zeit eingefangen, zu der gut handgemachter, melodischer Pop noch Aussagen vermittelte, die weit über das Musikalische hinaus Themen wie Kultur und Musik abdeckten.“ Entsprechend befand das Musikmagazin Billboard im März 1982, das Livealbum fange mit seinen gediegenen Interpretationen der Klassiker des Duos die Vergangenheit herrlich ein. Auch spätere Besprechungen betonen diesen Aspekt, beispielsweise meinte die BBC 2004, das Konzert habe gezeigt, wie ein Jahrzehnt der Trennung die Chemie zwischen Simon und Garfunkel nicht beschädigt habe. Ein Autor der Rheinischen Post, der das Konzert besucht hatte, schilderte 25 Jahre nach der Veranstaltung: „[E]s war die schiere Wiederhörensfreude, es war Gedächtnisfeier und Auferstehung in einem.“ Der Artikel kommt zu dem Gesamturteil: „Das Konzert war einzigartig, die Anlage vortrefflich, die Stimmung glorios.“ Und Daily News urteilte 2008, nachdem Simon und Garfunkel elf Jahre entzweit waren, seien sie an diesem Abend und hätten . In der Rückschau wurde das Konzert vielfach als klassifiziert, beispielsweise durch die BBC oder die Deutsche Welle. Manche Kritiker bemängeln Einzelheiten des Konzerts. So hielt die zeitnahe Rolling-Stone-Kritik den Übergang von Kodachrome zu Maybellene für misslungen, weil keiner der beiden Sänger die Ausdruckskraft für die ausgemachte Rocknummer habe aufbringen können. Dies sei aber „der einzige Ausrutscher des Abends“ gewesen. Und Thomas Müller merkte für SWR3 an: „Keinen stört es, dass bei ‚Boxer‘ der Gesangseinsatz nicht auf den Punkt kommt oder nicht jeder Ton sitzt.“ Nachgeschichte Eine gemeinsame Tournee, kein gemeinsames Album Unmittelbar nach dem Konzert waren Simon und Garfunkel zunächst enttäuscht, wie sich Simon 1984 in einem Interview erinnerte. Garfunkel sei mit seinem Gesang unzufrieden gewesen und er selbst habe die Ausmaße der Veranstaltung anfangs nicht erfasst: Im November 1981 brachte Columbia das Kompilationsalbum The Simon and Garfunkel Collection heraus. Es enthielt die Studioaufnahmen von 17 Simon-&-Garfunkel-Hits, darunter bis auf April Come She Will alle Lieder des Duos, die auf dem Konzert gespielt worden waren. International sehr erfolgreich, erreichte es auch in Deutschland Platz zwei der Albumcharts. Nachdem sich das Livealbum und die Fernseh-Veröffentlichung des Konzerts ebenfalls als erfolgreich erwiesen hatten, gingen Simon & Garfunkel im Mai 1982 auf eine Welttournee mit Stationen in Japan, Deutschland, Dänemark, Schweden, der Schweiz, den Niederlanden, Irland, Frankreich, Großbritannien, Neuseeland, den USA und Kanada. Erster Halt in Europa war Offenbach am Main, wo sie am 28. Mai 1982 im Stadion am Bieberer Berg vor rund 40.000 Zuschauern ihr erstes Deutschlandkonzert überhaupt gaben; zwei weitere folgten am 30. Mai in Dortmund und am 1. Juni in Berlin. Der Auftritt ähnelte zu großen Teilen dem Central-Park-Konzert, einzig der Titel El Condor Pasa (If I Could) war hinzugekommen. Ein Autor der Frankfurter Rundschau meinte, Während der Tournee-Pausen waren sie für ein neues Simon-&-Garfunkel-Album im Studio, das vor allem auf den Arbeiten beruhte, die Simon zugunsten des Konzerts im Central Park unterbrochen hatte. Im Laufe der Konzertreise stellten sie erste fertige Lieder vor. Sie führten das Album-Projekt allerdings nicht zum Abschluss, weil die persönlichen Spannungen zwischen den beiden Künstlern wieder zunahmen. Streits häuften sich, zwischenzeitlich waren sie nicht einmal mehr bereit, gemeinsame Interviews zu geben. Nach dem Ende der Tournee setzten Simon und Garfunkel ihre Zusammenarbeit als Duo nicht fort. Über längere Zeit kamen sie allenfalls für einzelne Konzerte zusammen. Als Simon knapp zehn Jahre nach dem Concert in Central Park an gleicher Stelle erneut ein kostenloses Konzert gab, lehnte er Garfunkels Angebot teilzunehmen ab. 2003 waren sie erstmals wieder gemeinsam auf Tournee. Erhalt des Central Parks Simon & Garfunkels Concert in Central Park brachte rund 51.000 Dollar für den Central Park ein. Neben Simon & Garfunkel unterstützten ihn weitere Musiker mit Benefizkonzerten und erhöhten die Aufmerksamkeit für seine finanzielle Notlage. Diese konnte vor allem dank privater Geldgeber beseitigt werden. Im Lauf der 1980er Jahre wurde der Park umfassend instand gesetzt und gilt heute wieder als Sehenswürdigkeit. Spendengelder machen mittlerweile den Großteil seines Budgets aus. Noch heute finden dort regelmäßig Konzerte und andere Benefizveranstaltungen statt. Literatur Weblinks Zum Livealbum Zum Filmmitschnitt Einzelnachweise Simon & Garfunkel Historisches Konzert Musikalische Veranstaltung 1981 Veranstaltung in New York City Kultur (New York City) Simon-&-Garfunkel-Album Livealbum Videoalbum Album 1982 Album (Folk) Album (Rock) Mehrfach-Platin-Album (Schweiz) Mehrfach-Platin-Album (Vereinigte Staaten) Musikveranstaltung in den Vereinigten Staaten
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https://de.wikipedia.org/wiki/Ferkelskunk
Ferkelskunk
Der Ferkelskunk (Conepatus leuconotus) ist eine von vier Arten der Weißrüsselskunks innerhalb der als „Stinktiere“ bekannten Skunks. Er ist vom Süden der Vereinigten Staaten bis nach Mittelamerika verbreitet. Wie die meisten Skunks ist auch der Ferkelskunk ein Allesfresser, er ernährt sich jedoch zu einem sehr großen Anteil von Insekten und Insektenlarven. Aufgrund des relativ großen Verbreitungsgebietes sowie der Anpassungsfähigkeit an unterschiedliche Lebensräume wird der Ferkelskunk von der International Union for Conservation of Nature and Natural Resources (IUCN) als nicht gefährdet („least concern“) eingestuft. In Teilen seines Verbreitungsgebietes kommt es jedoch aufgrund von Lebensraumveränderungen und der Konkurrenz mit Wildschweinen und Streifenskunks zu deutlichen Bestandsrückgängen. Merkmale Allgemeine Merkmale Der Ferkelskunk erreicht eine Kopf-Rumpf-Länge von etwa 34 bis 51 und eine Schwanzlänge von 12 bis 41 Zentimetern, wobei die Weibchen etwa 10 Prozent kleiner sind als die Männchen. Das Gewicht liegt zwischen 1,1 und 4,5 Kilogramm. Damit ist der Ferkelskunk etwa gleich groß wie oder etwas größer als der Streifenskunk (Mephitis mephitis). Der Körper ist massig und schwerer gebaut als der anderer Skunk-Arten, der Schwanz in der Relation zum Körper vergleichsweise kurz. Von anderen Skunk-Arten kann der Ferkelskunk vor allem durch seine Fellfarbe unterschieden werden. Es ist schwarz mit einem einzelnen breiten weißen Streifen, der sich vom Kopf über die Schultern und den Rücken bis über den Schwanz zieht. Der Streifen beginnt mit einem keilförmigen Fleck auf dem Kopf und verbreitert sich nahe der Schultern auf etwa die halbe Rückenbreite. Von dort aus kann er sich weiter verbreitern und fast den gesamten Rücken einnehmen, er kann jedoch auf Rücken und Rumpf auch schmaler werden oder teilweise ganz fehlen. Im Nordwesten des Verbreitungsgebietes sind die Tiere häufig durch einen fast vollständigen weißen Rücken gekennzeichnet. Der Schwanz ist oben fast vollständig weiß, kann unten jedoch am Ansatz noch schwarze Anteile besitzen. Diese Färbung, bestehend aus einer schwarzen Grundfärbung mit einem einzigen breiten Streifen auf dem Rücken ist einzigartig unter den Skunks. Ferkelskunks sind zudem die einzigen Skunks ohne einen weißen Fleck oder Streifen zwischen den Augen, das Gesicht ist entsprechend vollständig schwarz. Die Schnauze ist vergleichsweise lang und der Nasenspiegel ist mit einer Breite von etwa 2 und einer Länge von 2 bis zu 6 Zentimeter relativ groß; beim Streifenskunk ist er etwa ein Drittel so breit. Er ist unbehaart und die Nase ähnelt in ihrer Form der eines kleinen Schweines, was zu der deutschen Namensgebung „Ferkelskunk“ sowie der englischsprachigen Benennung „hog-nosed skunk“ führte. Die Augen sind klein, die Ohren abgerundet und mit einer Länge von 0,8 bis 3,6 Zentimetern ebenfalls klein ausgebildet. Die Beine sind kurz und stämmig und enden in einem plantigraden Fuß, der die Ferkelskunks wie alle Skunks als Sohlengänger kennzeichnet. Die Hinterfüße mit einer Länge von 2,2 bis 9 Zentimetern sind breit und groß, die Sohle ist etwa bis zur Hälfte des Fußes unbehaart. Die Vorderfüße sind mit vergleichsweise langen Krallen versehen, die den Tieren das Graben und Klettern ermöglichen. Wie andere Skunks besitzt auch der Ferkelskunk gut ausgebildete Stinkdrüsen, die unterhalb der Schwanzbasis nahe dem Anus liegen. Sie enthalten ein übelriechendes Sekret, das zur Abwehr benutzt wird. Die Hauptbestandteile des Wehrsekrets sind 2-Buten-1-thiol (ein Thiol) und (E)-2-Butenylthioacetat (ein Thiolester). Hinzu kommen Phenyl-Methanthiol, 2-Methylchinolin, 2-Chinolin-Methanthiol und bis-(E)-2-Butenyl-Disulfid als Nebenbestandteile. Schädel- und Skelettmerkmale Der Schädel des Ferkelskunks ist allgemein flach, aber etwas höher als bei verwandten Arten, besonders im Bereich der Schläfenbeine (Ossa temporalia). Er hat eine Basallänge von 58 bis 85, durchschnittlich 73 Millimetern und eine maximale Breite im Bereich der Jochbögen von 36 bis 57, durchschnittlich 43 Millimetern. Er besitzt sehr groß ausgeschnittene Nasenlöcher, die Zwischenkieferknochen (Praemaxillare) sind auf einen schmalen und gebogenen Stab reduziert. Der knöcherne Gaumen endet hinter den oberen Backenzähnen. Die Nasenbeine und die Oberkieferknochen enden auf der gleichen Höhe und die postorbitale Einschnürung, eine Einschnürung hinter den Augen, ist nur schwach ausgebildet. Die Paukenblase ist nicht abgeflacht. Die Zahnreihe im Oberkiefer ist 19 bis 27, durchschnittlich 23 Millimeter lang. Der Skunk besitzt drei Schneidezähne (Incisivi), einen Eckzahn (Caninus), zwei Vorbackenzähne (Praemolares) und einen Backenzähne (Molares) in einer Oberkieferhälfte und drei Schneidezähne, einen Eckzahn, drei Vorbackenzähne und zwei Backenzähne in einer Unterkieferhälfte. Insgesamt besitzen die Tiere somit 32 Zähne. Genetik Der Ferkelskunk hat einen einfachen Chromosomensatz (n) von 23 und einen diploiden Chromosomensatz von 2n = 46, er besitzt also insgesamt 46 Chromosomen in jeder Zelle. Dabei sind 38 Chromosomen metazentrisch oder submetazentrisch und 6 Chromosomen akrozentrisch. Das X-Chromosom ist metazentrisch, das Y-Chromosom subtelozentrisch und sehr klein, es enthält viel verdichtetes Chromatin (Heterochromatin). Die C-Banden, die sich durch die Färbung der Chromosomen ergeben, liegen im Bereich der Centromere, bei den Chromosomen 16, 19 und dem Y-Chromosom existieren allerdings große pericentromere C-Banden. Für die mitochondriale DNA sowie dem Cytochrom-b-Bereich der Kern-DNA liegen Sequenzdaten vor, die für phylogenetische Analysen benutzt wurden und die Position des Ferkelskunks innerhalb der Skunks sowie die Monophylie der Skunks als Taxon belegen. Innerhalb der Art wurde über den Vergleich der bekannten Kern-DNA-Sequenzen eine genetische Divergenz der östlichen zu den westlichen Populationen des Ferkelskunks von 0,98 Prozent festgestellt. Verbreitung Das Verbreitungsgebiet des Ferkelskunks zieht sich von den südlichen Vereinigten Staaten über Mexiko bis nach Mittelamerika hin, wo er in Honduras, Guatemala und Costa Rica bis in das nördliche Nicaragua vorkommt. In den Vereinigten Staaten wurde die Art in den Bundesstaaten Colorado, Oklahoma, Texas, Arizona und New Mexico dokumentiert, in Mexiko in Zacatecas, Sinaloa, Sonora, Oaxaca, Coahuila, Colima, Veracruz und Michoacán. Innerhalb der Gattung der Weißrüsselskunks hat der Ferkelskunk damit das am weitesten im Norden liegende Verbreitungsgebiet und er ist die einzige Art, die in Mittelamerika und in den Vereinigten Staaten vorkommt. Die Art kommt in zahlreichen Lebensräumen vor, darunter in steinigen Trocken- und Berggebieten, Grasland, Canyons und Flussbetten, tropischen Bereichen und Küstengebieten. Sie fehlt in Wüstengebieten sowie im tropischen Regenwald. Vor allem in Mexiko wurde die Art in unterschiedlichsten Lebensräumen nachgewiesen, von Trockengebieten in nördlichen und östlichen Zacatecas bis hin zu tropischen Regionen, Bergwäldern und Küstenstreifen in San Luis Potosi, Akazienwäldern in Veracruz, Dornwäldern und Flussufern in Tamaulipas sowie Kiefer-Eichen-Wäldern in den San Carlos Mountains. Auch in Texas variieren die Lebensräume; die Tiere kommen in Buschland und natürlichem Grasland, das zum großen Teil zur Viehzucht genutzt wird, im Kleberg County sowie in dornbusch- und kakteendominierten Regionen im Süden von Texas vor. Die Höhenverbreitung kann bis etwa 2750 Meter in den Graham Mountains oder bis 3050 Meter in Mexiko reichen. Lebensweise Ferkelskunks leben als Einzelgänger, nur die Weibchen bleiben bis zum Spätsommer mit den Jungtieren zusammen. Sie sind nachtaktiv, besonders im Winter gehen sie jedoch auch tagsüber in warmen Tageszeiten auf Nahrungssuche. Die heißen Tage verbringen Ferkelskunks in unterirdisch angelegten Bauten, unter Gebüschen oder in Steinspalten. Ihre Brutbauten legen sie in hohlen Baumstämmen und Baumwurzeln, in Hohlräumen unter großen Felsen und in Steinhaufen an. Sie können jedoch auch in Höhlen, Minen oder in Nestern von Baumratten vorkommen. Dabei nutzen die Tiere sowohl verlassene Bauten anderer Tiere wie auch selbst angelegte. Innerhalb des Verbreitungsgebietes kommt der Ferkelskunk in weiten Teilen sympatrisch mit drei weiteren Skunk-Arten vor, dem Streifenskunk (Mephitis mephitis), dem Haubenskunk (Mephitis macroura) und regional dem Westlichen Fleckenskunk (Spilogale gracilis) oder dem Östlichen Fleckenskunk (Spilogale putorius). Diese Arten nutzen häufig die gleichen Bauten und andere Ressourcen, unterscheiden sich jedoch beispielsweise in der Nahrungszusammensetzung. Bei Bedrohung versucht der Ferkelskunk zu fliehen und sich zu verstecken. Dabei kann er auch die Offensive ergreifen und auf seinen Hinterbeinen stehend drohend einige Schritte auf den Angreifer zugehen. Bleibt das erfolglos, lässt er sich abrupt wieder auf seine Vorderbeine fallen und stößt einen lauten Zischlaut als Warnung aus. Danach zieht er seine Hinterbeine unter den Körper, wirft Dreck in Richtung des Angreifers, zeigt seine Zähne und tritt hart mit den Vorderbeinen auf den Boden. Dabei hebt er seinen Schwanz und legt ihn flach auf seinen Rücken. Wird er nun angegriffen, beißt er zu und besprüht den Angreifer mit dem stark übelriechenden Wehrsekret aus seinen Analdrüsen. Dieses kann er sowohl in einem gezielten Strahl als auch als Nebel versprühen, abhängig von der Position und Größe des Gegners. Bei der Flucht sucht der Skunk Deckung und zieht sich in dorniges Kakteengestrüpp zurück, zudem kann er auf Bäume klettern, um potenziellen Angreifern zu entkommen. Ernährung Ferkelskunks ernähren sich insbesondere von Insekten, wobei deren Anteil an der Nahrung bei dieser Art höher ist als bei allen anderen Arten der Skunks. Sie finden ihre Beutetiere, indem sie mit der Schnauze und den Vorderfüßen im Boden vor allem nach Larven graben. Als opportunistische Allesfresser können sich die Tiere jedoch mit wechselnden Anteilen von Früchten und anderen Pflanzenteilen oder kleinen Wirbeltieren ernähren, wenn nicht ausreichend Insekten vorhanden sind. Wasser nehmen die Skunks in der Regel über die Nahrung auf, insbesondere in Texas und Mexiko wurden Ferkelskunks nur sehr selten beim Trinken beobachtet. Fortpflanzung Die Paarungszeit des Ferkelskunks reicht vom späten Februar bis März, Ende März sind die meisten Weibchen trächtig. Die Tragzeit dauert etwa 60 Tage, so dass die Jungtiere im April bis Mai geboren werden. In Einzelfällen kann die Tragzeit variieren, so ist ein in Gefangenschaft gehaltenes Weibchen mit einer Tragzeit von mehr als 70 Tagen bekannt. Die Würfe bestehen aus einem bis fünf Jungtieren, in der Regel bringen die Weibchen zwei bis vier Jungtiere zur Welt. Die Weibchen besitzen für die Fütterung drei Zitzenpaare. Heranwachsende Jungtiere wurden von Juli bis Mitte August außerhalb des Baus beobachtet. Ab Ende August beginnen sie, sich zu verteilen. Das maximale Alter von Ferkelskunks in der Wildnis beträgt nicht mehr als drei bis vier Jahre, in Gefangenschaft können sie dagegen mehr als 14 Jahre alt werden. Fressfeinde und Parasiten Unter den Fressfeinden des Ferkelskunks spielen vor allem größere Raubtiere eine Rolle. Dabei handelt es sich insbesondere um Hunde wie Haushunde und Kojoten (Canis latrans), den Rotfuchs (Vulpes vulpes), den Graufuchs (Urocyon cinereoargenteus) und den Silberdachs (Taxidea taxus) sowie unter den Katzen um Puma (Puma concolor) und Rotluchs (Lynx rufus). Hinzu kommen Greifvögel wie Steinadler (Aquila chrysaetos) und Weißkopfseeadler (Haliaeetus leucocephalus) sowie Eulen wie der Virginia-Uhu (Bubo virginianus). Bei all diesen Beutegreifern handelt es sich um opportunistische Jäger, die Skunks neben zahlreichen anderen Tieren erbeuten, auf Skunks spezialisierte Fressfeinde gibt es nicht. Wie andere Raubtiere sind Ferkelskunks Träger und Wirte zahlreicher Parasiten, darunter Flöhe und Zecken als Ektoparasiten. Hinzu kommen Bandwürmer, von denen Arten der Gattungen Oochoristica und Mesocestoides sowie als Art Mathevotaenia mephitis nachgewiesen sind, Fadenwürmer wie Filaroides milksi, Filaria martis, Filaria taxidaea, Physaloptera maxillaris, Physaloptera rara und nicht näher bestimmte Gongylonema sowie Kratzwürmer wie Macracanthorhynchus ingens, Oncicola canis und Pachysentis canicola. Evolution und Systematik Fossilbefund und Evolution Die Radiation der Arten innerhalb der Weißrüsselskunks fand vor etwa 11,2 Millionen Jahren statt. Damit erfolgte eine Einwanderung auf den südamerikanischen Kontinent lange vor der Bildung der zentralamerikanischen Landbrücke vor etwa 3 Millionen Jahren. Die ältesten bekannten Fossilien der Weißrüsselskunks stammen von Conepatus sanmiguelensis aus dem frühen Pliozän Zentralmexikos vor etwa 3 bis 4 Millionen Jahren. In Südamerika ist die Gattung erstmals vor etwa 2,5 Millionen Jahren in Argentinien nachgewiesen. Fossile Überreste des Ferkelskunks wurden seit dem späten Pleistozän in Florida, New Mexico und Nuevo León, Mexiko, nachgewiesen. Systematik Der Ferkelskunk wird als eigenständige Art innerhalb der Gattung der Weißrüsselskunks (Conepatus) eingeordnet, die aus vier Arten besteht. Die wissenschaftliche Erstbeschreibung als Mephitis leuconota stammt von Martin Lichtenstein aus dem Jahr 1832 anhand eines Individuums vom Oberlauf des Rio Alvarado im mexikanischen Bundesstaat Veracruz. Lichtenstein, der spätere erste Direktor des Berliner Zoologischen Gartens, war zu diesem Zeitpunkt Professor auf dem Lehrstuhl für Zoologie an der Universität zu Berlin sowie Direktor des Zoologischen Museums in Berlin. Er stellte die Art gemeinsam mit einer weiteren, heute mit dem Ferkelskunk synonymisierten Art Mephitis mesoleuca sowie zahlreichen weiteren Tierarten in seiner Sammlung Darstellung neuer oder wenig bekannter Säugethiere in Abbildungen und Beschreibungen : von fünf und sechzig Arten auf funfzig colorirten Steindrucktafeln nach den Originalen des Zoologischen Museums der Universität zu Berlin vor, die in 10 Heften von 1827 and 1834 erschien und von Franz Krüger und F. A. Schmidt illustriert wurde. Die Gattung Conepatus wurde 1837 von John Edward Gray erstmals wissenschaftlich beschrieben, der als Typusart den ebenfalls von ihm in diesem Jahr erstbeschriebenen Patagonischen Skunk wählte und dieser Gattung 1865 auch den Ferkelskunk unter dem Synonym Conepatus nasutus zuordnete. Seit der Erstbeschreibung erfolgten zahlreiche weitere Artbeschreibungen, die heute als Synonyme des Ferkelskunks und seiner Unterarten betrachtet werden. Zudem wurde der Name Conepatus mapurito lange Zeit als gemeinsamer Name aller Weißrüsselskunks verwendet und somit auch der Ferkelskunk dieser Art zugeschlagen. Es werden drei Unterarten des Ferkelskunks unterschieden: Conepatus leuconotus leuconotus (Lichtenstein, 1832), Nominatform – Vereinigte Staaten (Texas, New Mexico, Arizona), Mexiko, Guatemala, Honduras, Nicaragua Conepatus leuconotus figginsi F. W. Miller, 1925 – Vereinigte Staaten: Colorado, Oklahoma Conepatus leuconotus telmalestes Bailey, 1905 – Vereinigte Staaten: südöstliches Texas (vermutlich ausgestorben) Innerhalb der Weißrüsselskunks stellt der Ferkelskunk die Schwesterart des Anden-Skunks (Conepatus chinga) dar, diesen beiden werden die verbleibenden Arten Patagonischer Skunk (Conepatus humboldtii) und Amazonas-Skunk (Conepatus semistriatus) als gemeinsames Taxon gegenübergestellt. In ihrer Gesamtheit stellen die Weißrüsselskunks die Schwestergruppe der in Nord- und Mittelamerika verbreiteten Gattungen der Streifenskunks (Mephitis) und Fleckenskunks (Spilogale) dar. Namensgebung Der Artname leuconotus leitet sich von den griechischen Wörtern leuco für weiß und nota oder notum für Rücken ab, bezieht sich also auf den weißen Rücken der Tiere. Der Gattungsname Conepatus ist von der spanischen Bezeichnung conepate oder conepatl für Skunks abgeleitet. Conepatl wiederum könnte sich aus dem Wort nepantla der aztekischen Sprache Nahuatl entwickelt haben, das einen unterirdischen Bau benennt. Gefährdung und Schutz Der Ferkelskunk wird von der International Union for Conservation of Nature and Natural Resources (IUCN) aufgrund des relativ großen Verbreitungsgebiets sowie der Anpassungsfähigkeit an unterschiedliche Lebensräume als nicht gefährdet („least concern“) eingestuft. Vor allem im Norden des Verbreitungsgebietes kam es jedoch in den letzten Jahrzehnten zu einem sehr starken Rückgang und in Texas ist die Art regional sehr selten geworden, sodass eine Neubewertung anhand aktueller Bestandszahlen notwendig ist. Historisch kam die Art wahrscheinlich in einem weit größeren Gebiet der südlichen USA vor. Ein starker Rückgang wurde besonders für den Süden von Texas verzeichnet, wo mit dem Aussterben einiger Populationen gerechnet wird. Nur sieben Prozent aller Museumsexemplare aus dieser Region stammen aus der Zeit nach 1950 und in weiten Teilen des Bundesstaates, in denen die Art früher häufig war wie im Rio Grande Valley, ist sie selten oder nicht mehr anzutreffen. Die Unterart C. l. telmalestes im östlichen Texas ist wahrscheinlich bereits ausgestorben, die letzten Funde stammen aus dem Jahr 1905. In Colorado wurde 1996 ein Fußabdruck gefunden, außerdem liegen zwei jüngere Schädelfunde von 1997 und 2000 vor; weitere Nachweise für ein Vorkommen der Art in Colorado fehlen und das jüngste vollständige Museumsexemplar stammt aus dem Jahr 1932. Über Totfunde („Roadkills“) konnten in den letzten Jahren allerdings einige Individuen in der Golfregion vom Süden Texas bis nach Mexiko nachgewiesen werden und eine genetische Untersuchung legt mehrere Populationen und ein häufigeres Vorkommen als angenommen nahe. Gefährdungen für die Art bestehen vor allem durch den starken Rückgang und die Fragmentierung geeigneter Lebensräume für die Art sowie die Konkurrenz mit sich ausbreitenden Beständen des Wildschweins (Sus scrofa) und des Streifenskunks (Mephitis mephitis). Hinzu kommen Verluste durch den Straßenverkehr und die Schädlingskontrolle durch Pestizide, die sowohl den Skunk direkt wie auch die von ihm als Nahrung benötigten Insekten betreffen. Im Norden des Verbreitungsgebietes wird das für diese Art notwendige Buschland zunehmend in landwirtschaftliche Flächen umgewandelt, so dass dort ein sehr starker Rückgang der Ferkelskunks verzeichnet wird. In Teilen des Verbreitungsgebietes, in denen auch der Streifenskunk vorkommt, kann es zu Verwechslungen bei der Jagd kommen. Streifenskunks sind häufig und werden als Pelztiere gejagt, auch in Gebieten, in denen beide Arten vorkommen. Die Art ist nicht durch den Endangered Species Act geschützt und in den amerikanischen Bundesstaaten variiert der Schutzstatus. So gilt der Ferkelskunk in Arizona als Raubtier und in Texas als Pelztier, in beiden Bundesstaaten kann er über das gesamte Jahr legal bejagt werden. In Colorado und New Mexico ist er dagegen nicht zur Jagd freigegeben und in Oklahoma steht er unter Artenschutz. Dabei wird die Art in Colorado als kritisch gefährdet und in New Mexico und Oklahoma als gefährdet eingeordnet, in Texas und in Oklahoma gelten die Bestände dagegen als sicher. Beim United States Forest Service wird der Ferkelskunk als gefährdet im gesamten US-amerikanischen Verbreitungsgebiet eingeschätzt. Belege Literatur J. W. Dragoo: American Hog-nosed Skunk Conepatus leuconotus. In: Don E. Wilson, Russell A. Mittermeier (Hrsg.): Handbook of the Mammals of the World. Volume 1: Carnivores. Lynx Edicions, Barcelona 2009, ISBN 978-84-96553-49-1, S. 555–556. Carron A. Meaney, Anne K. Ruggles, Gary P. Beauvais: American Hog-nosed Skunk (Conepatus leuconotus): A Technical Conservation Assessment. Erstellt im Auftrag des USDA Forest Service, Rocky Mountain Region, Species Conservation Project, Dezember 2006 (Volltext; PDF; 1,3 MB) Weblinks Skunks
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https://de.wikipedia.org/wiki/Spiropterakarzinom
Spiropterakarzinom
Das Spiropterakarzinom ([ʃpiˈrɔpterakarʦiˌnoːm], auch: [sp…]) oder Spiropterenkarzinom ist eine im Magen von mit Spiroptera infizierten Versuchsratten auftretende krankhafte Gewebevermehrung, die von ihrem Entdecker, dem dänischen Pathologen Johannes Fibiger, irrtümlich als Krebserkrankung interpretiert wurde. Damit schien bewiesen, dass Krebs eine Infektionskrankheit ist. Für diesen scheinbaren Nachweis erhielt Fibiger 1927 den Nobelpreis für Physiologie oder Medizin für das Jahr 1926. Der Irrtum stellte sich erst 1935 heraus. Das Spiropterakarzinom gilt seither als der am höchsten prämierte Wissenschaftsirrtum. Die Ursachen für diesen Irrtum waren im Wesentlichen methodische Fehler und Fibigers einseitige Interpretation der Versuchsdaten. Ungeachtet dessen hatte das Spiropterakarzinom einen großen Einfluss auf die experimentelle Krebsforschung, die dadurch neue Impulse erhielt und in der Folge einige herausragende Forschungsergebnisse generierte. 70 Jahre nach Fibigers vermeintlicher Entdeckung des Spiropterakarzinoms wurde bei Gastritis-Patienten das Bakterium Helicobacter pylori entdeckt, das weltweit für die meisten Fälle von Magenkrebs verantwortlich ist. Das onkologische Wissen zur Zeit Fibigers Zu Beginn des 20. Jahrhunderts waren Infektionskrankheiten wie beispielsweise Influenza, Lungenentzündung, Syphilis oder Tuberkulose die Haupttodesursachen der Bevölkerung der westlichen Welt. Schrittweise wurde entdeckt, welche Ursachen (Ätiologien) bei der Entstehung dieser Erkrankungen eine Rolle spielen. Zunächst wurden die Übertragungsmechanismen geklärt und mit der Entwicklung brauchbarer Lichtmikroskope wurden die bakteriellen Erreger identifiziert. Dies ermöglichte die Entwicklung erster potenter Wirkstoffe, wie beispielsweise 1909 das Salvarsan gegen die Syphilis durch Paul Ehrlich. Völlig anders war dagegen die Situation bei den Krebserkrankungen. Die Suche nach „dem Erreger“ verlief erfolglos. Zu Fibigers Zeit gab es drei rivalisierende Theorien zur Entstehung von Krebs, die in Fachkreisen lebhaft diskutiert wurden: Rudolf Virchows Reiztheorie besagt, dass unterschiedliche innere oder äußere schädliche Einflüsse (endogene oder exogene Noxen) zur Entartung der Zellen führen: Tumoren treten dort auf, wo chronische Reize auf Zellen und Gewebe wirken, schließlich aber unabhängig von der Wirkung des ursprünglichen Reizes weiterwachsen. Die Theorie der embryonalen Keimversprengung von Julius Friedrich Cohnheim und Hugo Ribbert, auch Cohnheim-Ribbertsche Theorie genannt, geht davon aus, dass Krebs embryonalen Ursprungs ist und durch in der Embryonalzeit versprengte undifferenzierte embryonale Zellen entsteht. Diese Zellen können unter bestimmten Bedingungen zu einem ungebremsten, entartenden Tumorwachstum führen. Diese Theorie erfährt in Form der Krebsstammzellen im 21. Jahrhundert eine gewisse Renaissance. Die Parasitentheorie dagegen macht Parasiten für die Entstehung von Krebs verantwortlich. Der Begriff „Parasit“ wird dabei sehr weitgreifend verwendet und umfasst auch andere Pathogene. Virchows Reiztheorie Eine Reihe von Indizien sprach für Virchows Reiztheorie. So stellte beispielsweise Percivall Pott bereits 1775 bei britischen Schornsteinfegern fest, dass der seinerzeit in dieser Berufsgruppe ausgesprochen häufige Hodenkrebs offensichtlich durch Ruß ausgelöst wurde, der sich in den Hautfalten des Hodensacks ablagerte. 1895 bemerkte Ludwig Rehn bei Chemiearbeitern, die in Kontakt mit Fuchsin kamen, eine Häufung von Blasenkrebs. Der Kangri-Krebs, der nur im Kaschmirtal auftritt, wurde 1881 erstmals beschrieben. Dieses Plattenepithelkarzinom entsteht aus einer chronischen Hautreizung (Erythema ab igne), die durch einen unter der Kleidung getragenen Heizofen (das Kangri) verursacht wird. Mit der Reiztheorie konnten zwar einige seltene, eher exotische Krebsarten erklärt werden; für die Ursache der häufigsten Krebserkrankungen, beispielsweise Brustkrebs, lieferte sie jedoch keine brauchbaren Lösungsansätze. Selbst Virchow schloss einen „Krebsbacillus“, den man eines Tages entdecken könnte, nicht aus: „Krebsüberimpfung“ Bei der experimentellen Erzeugung von Krebs bei Modellorganismen gab es einige Pionierarbeiten vor Fibiger. Der russische Tierarzt Mstislaw Alexandrowitsch Nowinski (1841–1914) transplantierte in der Zeit von 1875 bis 1876 bei Hunden maligne Tumoren auf Welpen, die dort anwuchsen, zum Teil metastasierten und wiederum auf andere Welpen transplantierbar waren. 1889 gelang dem deutschen Pathologen Arthur Nathan Hanau (1858–1900) in Zürich die Transplantation eines Epidermis-Karzinoms der Vulva bei Ratten auf andere Ratten, also eine homologe Tumorübertragung („Krebsüberimpfung“). Diese Versuchsergebnisse zeigten allerdings nur die Übertragbarkeit einer bereits bestehenden Erkrankung auf ein anderes Individuum. Einen Beitrag zur Klärung der Ursachen einer Krebserkrankung lieferten sie jedoch nicht. Die künstliche Erzeugung eines Krebstumors bei einem Versuchstier gelang erstmals 1915 – zwei Jahre nach der Veröffentlichung von Fibigers Arbeiten – dem Japaner Katsusaburō Yamagiwa (1863–1930) und seinem Assistenten Kōichi Ichikawa. Sie bepinselten über Jahre die Innenseiten der Ohren von Versuchskaninchen mit Teeröl. Nach etwa 250 Tagen entwickelten sich an den so behandelten Hautflächen Tumoren, Yamagiwas Arbeiten waren aus heutiger Sicht bahnbrechend und begründeten ein vollständig neues Arbeitsgebiet in der experimentellen Onkologie. womit die Forscher echte Krebswucherungen ausgelöst haben. Parasitentheorie Die Parasitentheorie hatte zu Fibigers Zeiten viele Anhänger. Bereits 1911 behauptete der Königsberger Kreisarzt Hans Abramowski, dass der Wurm Opisthorchis febriens ein Krebserreger sei, der durch den Verzehr von rohem oder ungenügend gekochtem Fisch auf den Menschen übertragen werde. Der Wurm, der bevorzugt Gallengänge und Bauchspeicheldrüse besiedle, könne durch chronische Entzündungen in diesen Organen Krebs auslösen. Der Leidener Professor Reinder Pieter van Calcar sah in Protozoen, die wiederum Nematoden besiedelten, die Ursache für die Entstehung von Krebs. Er selbst überimpfte Protozoen, die er aus Darmparasiten und Schaben isolierte, auf Hunde. In den Versuchstieren fand er dann infiltrativ wachsende und metastasierende „maligne Adenome“ und Karzinome. Die Ergebnisse aus den Teerbepinselungen, die eigentlich ein eindeutiges Indiz für Virchows Reiztheorie sind, wurden der Wirkung von Protozoen zugeschrieben. Van Calcar stellte in seinen Versuchen fest, dass die Tiere, die er durch besondere Schutzmaßnahmen vor dem Kontakt mit Protozoen geschützt hatte, seltener als die Vergleichsgruppe Karzinome bekamen. Genetische Veränderung durch Onkogene Heinrich Wilhelm Waldeyer legte bereits 1867 die Grundlagen für den heute noch gültigen Wissensstand der Krebserkrankungen. Er postulierte, dass Krebs durch eine induzierte Transformation von normalen in bösartige Zellen entsteht. Diese entarteten Zellen vermehren sich zunächst lokal, dringen in gesundes Gewebe ein (Infiltration) und breiten sich dann über das Lymph- oder Blutsystem aus (Metastasierung). Waldeyers Ausführungen waren jedoch rein deskriptiv und enthielten folglich keine Aussagen über die Mechanismen der Krebsentstehung. Hierzu lieferte Theodor Boveri 1914, also ein Jahr nach Fibigers erster Veröffentlichung zum Spiropterakarzinom, mit seinen noch heute gültigen Postulaten bahnbrechende Lösungsansätze. Boveri postulierte, dass Krebs sich aus einer einzigen Zelle entwickelt, deren genetische Information zuvor verändert wurde. Er vermutete als Ort der genetischen Information die Chromosomen. Tumoren sah er als Folge einer abnormalen Chromosomenkonstitution an. Für die Tumorentwicklung vermutete er eine Evolution der Tumorzellen hin zu zunehmender Bösartigkeit. Die Zellen würden dabei bestimmte Eigenschaften verlieren, so vor allem ihre Reaktionsfähigkeit auf Signale anderer Zellen. Dies führe zur Autonomie der Tumorzellen. Er vermutete zudem in den normalen Zellen Gene, die das Zellwachstum hemmen. Ein Verlust dieser Gene würde zur Transformation in eine Krebszelle führen. Boveri starb ein Jahr nach seiner Veröffentlichung und seine Postulate gerieten für lange Zeit in Vergessenheit. Das erste Onkogen entdeckte Francis Peyton Rous 1911. Mit einem zellfreien ultrafiltrierten Extrakt eines Muskeltumors (Sarkom) aus einem Huhn konnte er durch Injektion in andere Hühner bei diesen neue Tumoren erzeugen. Ein Bakterium oder gar ein mehrzelliger Parasit konnte als Erreger ausgeschlossen werden, da diese durch das Filter vollständig abgetrennt wurden. Rous vermutete in diesem Extrakt ein Virus. Über Viren, die man zu dieser Zeit nicht sichtbar machen konnte, wusste man nur sehr wenig. Später konnte man das Virus nachweisen und benannte es zu Rous’ Ehren Rous-Sarkom-Virus. Heute gilt das Onkogen des Rous-Sarkom-Virus als ein Beweis dafür, dass veränderte Gene die Ursache für Krebserkrankungen sein können. Fibigers Entdeckung Seit dem Jahr 1900 war Johannes Fibiger Professor und Direktor am Institut für Pathologische Anatomie der Universität Kopenhagen. 1907 fiel ihm bei histologischen Arbeiten an Mägen von wilden Wanderratten (Rattus norvegicus) und Hausratten (Rattus rattus) auf, dass viele der Tierkadaver im Vormagen eine epitheliale Hyperplasie mit Papillombildung aufwiesen. Diese Tumoren bildeten jedoch keine Metastasen und infiltrierten auch nicht das umgebende gesunde Gewebe. Andere Bereiche des Verdauungstraktes besiedelten diese Tumoren nicht. Zu seiner Überraschung fand er jedoch in einigen dieser Tumoren Fadenwürmer (Nematoden) und deren Eier. Der Fadenwurm wurde von Hjalmar Ditlevsen, einem Assistenten am zoologischen Museum der Universität Kopenhagen, als eine neue, der „Spiropteridengruppe“ angehörige Nematodenart bestimmt. In der nachfolgenden, eingehenden zoologischen Beschreibung erhielt der Fadenwurm den Artnamen Spiroptera neoplastica. Das Beiwort neoplastica wählten Fibiger und Ditlevsen wegen der vermeintlichen Wirkung des Fadenwurms, ‚Neoplasie‘ (von néos ‚neu‘ und plassein ‚formen‘, ‚bilden‘, neugriechisch: ), also Neubildung = Tumor. 1915 stellte der amerikanische Zoologe Brayton Howard Ransom fest, dass Spiroptera neoplastica definitiv zur Gattung der Gongylonema gehört. Er schlug deshalb vor, diese neuentdeckte Art künftig als Gongylonema neoplasticum zu bezeichnen. Ditlevsen stimmte Ransoms Vorschlag zu, und seither heißt diese Nematodenart, für die es bisher keinen deutschsprachigen Namen gibt, Gongylonema neoplasticum. Zur Zeit von Fibigers Entdeckung existieren zwar bereits Berichte von „Krebsbazillen“ und von verschiedenen Parasiten, die mit der Entstehung von Krebs in Verbindung gebracht wurden, aber experimentell gelang es noch keinem Forscher, künstlich und gezielt Krebstumoren bei Versuchstieren zu induzieren. Dies als Erster durchführen zu können, war die Antriebskraft für Fibigers weitere Arbeiten. Nach seinen ersten Sektionen untersuchte Fibiger über 1000 Mäuse- und Rattenmägen, fand aber in keinem Exemplar ein „Spiropterakarzinom“. Fibiger wollte seine Arbeiten auf diesem Gebiet schon einstellen, als er bei Ratten aus einer Kopenhagener Zuckerfabrik die gesuchten Tumoren und Nematoden fand. Er bemerkte in der Fabrik eine Vielzahl von Schaben, was ihn vermuten ließ, dass die Schaben Zwischenwirte für Gongylonema neoplasticum sind. In Laborversuchen identifizierte Fibiger tatsächlich die Amerikanische Großschabe (Periplaneta americana) und die Gemeine Küchenschabe (Blatta orientalis) als Zwischenwirte für Gongylonema neoplasticum. Es gelang ihm, Gongylonema neoplasticum auch auf die Deutsche Schabe (Blattella germanica) als Zwischenwirt zu übertragen. Die Nematode kam ursprünglich aus Südamerika und Westindien und wurde per Schiff mit ihrem Zwischenwirt und dem Zucker eingeschleppt. In seinen ersten Versuchen, mit Gongylonema neoplasticum künstlich Krebstumoren auszulösen, fütterte Fibiger sieben Laboratoriumsratten mit Amerikanischen Großschaben. Nach dem natürlichen Tod der Versuchstiere untersuchte er sie ausgiebig. Bei allen fand er im Vormagen die Nematoden. Bei einer Ratte sah er zugleich eine Epithelhyperplasie und bei den beiden längstlebenden Ratten außerdem eine starke Proliferation, Tiefenwachstum und Heterotopie des Epithels, verbunden mit Entzündungen und ausgeprägter Papillombildung. Er interpretierte dies als beginnende und wenig verbreitete Carcinombildung. Die Nematode konnte er auch auf Labormäuse, Meerschweinchen, Waldmäuse, Kaninchen, Eichhörnchen (Sciurus vulgaris), Braunbrustigel übertragen, jedoch bei keiner dieser Arten eine Karzinombildung feststellen. In einer größeren Versuchsreihe fütterte er 91 „bunte und weiße“ Ratten mit Küchenschaben. Die Küchenschaben hatte er zuvor mit Rattenkot, der Spiroptereneier enthielt, und Zuckerwasser ernährt, so dass sie als Zwischenwirt Spiroptera neoplastica aufnahmen. Die Ratten wurden nach ihrem natürlichen Tod untersucht. Bei 22 Tieren fand Fibiger papillomatöse Veränderungen im Vormagen und bei 12 dieser Tiere stellte er karzinomatöse Veränderungen fest. Die Inkubationszeit bestimmte er zu drei bis vier Monaten. Bei zwei Tieren fand er kleine Lungenmetastasen, die weder Nematoden noch deren Eier enthielten. Fibiger war der Meinung, dass die Tumoren durch ein Toxin der Nematoden erzeugt wurden. 1913 veröffentlichte er erstmals seine Ergebnisse. In diesem Artikel verwies er in der Einleitung auf Ergebnisse von Stephanos Kartulis, der bei Patienten mit Schistosomiasis (Bilharziose) gehäuft Blasenkrebs festgestellt hatte, der durch den Saugwurm Schistosoma haematobium verursacht wird. Fibigers Publikation sorgte in der Fachwelt für viel Aufsehen, da es ihm als erstem gelungen schien, experimentell einen bösartigen Tumor auszulösen. Für die Erforschung der Pathogenese von Krebs und zukünftige Behandlungen schienen sich völlig neue Möglichkeiten aufzutun. Kurz nach der Veröffentlichung erhielt Fibiger eine Vielzahl verschiedener Ehrungen. So wurde er beispielsweise Mitglied der hochangesehenen Schwedischen Medizinischen Gesellschaft (Svenska Läkaresällskapet). Die Dänische Medizinische Gesellschaft wählte ihn zu ihrem Präsidenten der Krebskommission. Zahlreiche Ehrendoktorwürden verschiedener namhafter Universitäten folgten. Später berichtete Fibiger von erfolgreichen subkutanen Transplantationen des Spiropterakarzinoms, beispielsweise über vier Generationen hinweg auf Mäuse. Fibigers Nominierungen zum Nobelpreis Zwischen 1922 und 1927 wurde Johannes Fibiger insgesamt sechzehnmal von verschiedenen Wissenschaftlern für den Nobelpreis in Physiologie oder Medizin nominiert. Seine Arbeit wurde deshalb mehrfach vom Nobelkomitee für Physiologie oder Medizin einer besonderen Überprüfung unterzogen. In den Jahren 1922 und 1923 urteilte das Komiteemitglied Gunnar Hedrén, dass Fibiger mit seiner Entdeckung nicht „den größten Nutzen für die Menschheit“ erbracht habe, wie dies nach dem Willen von Alfred Nobel für den Preis für Physiologie oder Medizin zu erfolgen habe. Er empfahl mit der Verleihung zu warten, bis ein endgültiges Urteil über die Preiswürdigkeit von Fibigers Entdeckung gefällt werden könne. 1926 erhielt Fibiger drei Nominierungen. Erneut wurde sein Werk, zusammen mit den Arbeiten von Katsusaburo Yamagiwa, der ebenfalls nominiert war, überprüft. Auch Félix Hubert d’Hérelle und Otto Warburg waren für den Nobelpreis 1926 nominiert. Das Nobelkomitee forderte zwei gesonderte Berichte über Fibigers und Yamagiwas Arbeiten an. Die beiden schwedischen Pathologen Folke Henschen und Hilding Bergstrand, beides Professoren am Karolinska-Institut, fertigten jeweils über jeden Kandidaten einen Bericht an. Henschen lobte das Werk Fibigers und dessen bedeutende Auswirkungen auf die gesamte Krebsforschung. Er zitierte dabei unter anderem den renommierten Krebsforscher Archibald Leitch mit den Worten: Henschen, der mit Fibiger persönlich befreundet war, war auch gegenüber Yamagiwas Entdeckung sehr positiv eingestellt. Yamagiwa wurde von Fibigers Arbeiten, die dieser zwei Jahre vor ihm veröffentlichte, inspiriert. Im Unterschied zu Fibiger hatte sich Yamagiwas Teerbepinselung mittlerweile als das Verfahren zur experimentellen Krebserzeugung in der Onkologie durchgesetzt. Sie war wesentlich einfacher in der Durchführung und lieferte reproduzierbare Ergebnisse. Die Teerbepinselung wurde weltweit in den Krebsforschungslaboratorien angewendet und ermöglichte so bereits einige neue Entdeckungen und Entwicklungen. Henschen kam zu dem Ergebnis, dass die experimentellen Karzinome des Nobelpreises würdig seien und schlug eine Preisteilung zwischen Fibiger (für die Entdeckung des experimentellen Spiropterakarzinoms) und Yamagiwa (für die Entdeckung des experimentellen Teerkarzinoms) vor. Bergstrand kam dagegen zu einem deutlich zurückhaltenderen Ergebnis. Er würdigte zwar die Arbeiten von Fibiger und Yamagiwa, sah in ihnen aber nur eine experimentelle Bestätigung klinischer Fakten, die schon lange bekannt waren. Als Beispiele nannte er die berufsbedingten Krebserkrankungen bei Schornsteinfegern und Radiologen. Außerdem hätten beide Entdeckungen keinerlei Beiträge zur Aufklärung der Genese maligner Tumoren geliefert. Wörtlich argumentierte er: Des Weiteren stellte Bergstrand die zukünftige Bedeutung beider Entdeckungen für die Krebsforschung in Frage. Er vertrat die Meinung, dass die Ergebnisse anderer Forscher, namentlich die Otto Warburgs, in der Zukunft eine größere Bedeutung erlangen würden. In seiner Zusammenfassung bezweifelte er, dass die Ergebnisse der beiden Nominierten eine große Bedeutung für die Lösung des Krebsrätsels haben würden. Beide Entdeckungen seien des Nobelpreises nicht würdig. In der Folge kam es zu einem Disput zwischen Henschen und Bergstrand. Dieser entstand, als Bergstrand dringend empfahl, dass Félix Hubert d’Hérelle den Preis bekommen solle. Henschen lehnte d’Hérelle als Preisträger ab, da er nicht alleine auf dem Gebiet arbeitete und ihm nicht alleine die Ehre der Entdeckung der Bakteriophagen zuteil kommen könne. Das Komitee forderte ein drittes Gutachten von John Sjöqvist an. Der bestätigte Henschens Einschätzung bezüglich d’Hérelles Werk. Bergstrands Ablehnung führte schließlich dazu, dass Henschen von seinem Vorschlag des geteilten Nobelpreises abging und nun für eine Preisvergabe alleine an Fibiger war. Das Nobelkomitee beschloss schließlich, den Nobelpreis für Physiologie oder Medizin 1926 nicht zu vergeben. 1927 gingen beim Karolinska-Institut sieben Nominierungen für Fibiger ein. Erneut wurde eine besondere Überprüfung angeordnet. Des Weiteren waren Otto Warburg, Julius Wagner-Jauregg und Charles Scott Sherrington nominiert. Das Komitee beauftragte erneut Henschen und Bergstrand einen Bericht anzufertigen; dieses Mal über Fibiger und Warburg, pro Gutachter ein Bericht. Auch in diesem Jahr gingen die Meinungen der beiden Gutachter im Fall von Fibiger weit auseinander. Bergstrand erkannte die Impulse und Inspiration von Fibigers Arbeiten für die Krebsforschung an, letztlich sei es aber nur ein Beweis für eine uralte Theorie. Er räumte des Weiteren ein, dass Yamagiwa durch Fibigers Arbeiten inspiriert wurde, es sich bei dessen Werk jedoch um eine völlig eigenständige Leistung handle. Erneut bezweifelte er die klinische Relevanz von Fibigers Entdeckung, die bisher keinerlei Beiträge für die Aufklärung der Ätiologie spontaner Tumoren beim Menschen geliefert habe. Henschen kam in seinem Bericht zu einem völlig anderen Ergebnis. Das abgelaufene Jahr habe seine Meinung über Fibigers Entdeckung weiter gefestigt. Auch die Anzahl der Nominierungsschreiben, die das Komitee in diesem Jahr von hochrangigen Wissenschaftlern erhalten habe, bestätige seine Meinung. Er hob den – auch von Bergstrand genannten – Impuls für die gesamte Krebsforschung hervor, den Fibiger mit seinem Werk ausgelöst hätte, gerade zu einer Zeit, als es in der Onkologie keine Fortschritte gegeben habe. Mit Fibiger habe eine neue Epoche der Krebsforschung begonnen. Im Fall von Otto Warburg kamen Bergstrand und Henschen dagegen zu dem gleichen Ergebnis. Warburg war für seine Hypothese, dass Krebszellen einen speziellen, anaeroben Stoffwechsel aufweisen, nominiert. Die beiden Gutachter bemängelten, dass die Faktenlage, auf der die Warburg-Hypothese aufbaue, nicht ausreichend sei. Warburgs Werk wurde von einem dritten Gutachter, Einar Hammarsten, Professor für Chemie und Pharmazie am Karolinska-Institut, beurteilt. Hammarsten war – im Gegensatz zu Bergstrand und Henschen – von der Bedeutung der Entdeckung Warburgs überzeugt. Mit diesen drei Gutachten kam das Komitee zu dem Ergebnis, dass sowohl Warburg, als auch Fibiger des Nobelpreises würdig seien. Einstimmig schlug es vor, den im Vorjahr nicht vergebenen Nobelpreis für Physiologie oder Medizin zur Hälfte an Warburg und Fibiger zu vergeben und den des Jahres 1927 an Julius Wagner-Jauregg „für die Entdeckung der therapeutischen Bedeutung der Malaria-Impfung bei der Behandlung der Progressiven Paralyse“. Die Nobelversammlung des Karolinska-Instituts lehnte jedoch den Vorschlag des Komitees ab und verfügte, dass Fibiger den Preis für das Jahr 1926 alleine erhalten solle. Die Gründe für diese Entscheidung sind bis heute nicht bekannt. Otto Warburg erhielt den Nobelpreis für Physiologie oder Medizin im Jahr 1931. Verleihung des Nobelpreises an Fibiger 1927 Johannes Fibiger erhielt den Nobelpreis dafür, dass es ihm als erstem gelungen sei, in einem kontrollierten Experiment reproduzierbar Krebs in einem Versuchstier zu erzeugen. Die Laudatio am 10. Dezember 1927 hielt Wilhelm Wernstedt (1872–1969), der Dekan des Karolinska-Instituts. Wernstedt sagte, dass man lange davon ausgegangen sei, dass es einen ursächlichen Zusammenhang zwischen Krebs und einer längeren mechanischen, thermischen, chemischen oder aktinischen Reizung des Gewebes gäbe. In einigen Fällen seien dies Berufskrankheiten. So seien die Krebserkrankungen bei Radiologen, Schornsteinfegern und Chemiearbeitern Beispiele für Krebsinfektionen, bei denen einige glaubten, dass sie durch Radioaktivität oder chemische Reizung hervorgerufen würden. Jedoch seien alle Versuche, diese Krebserkrankungen bei Versuchstieren auszulösen, gescheitert. Auch die Suche nach dem „Krebsbazillus“ als Ursache für die Krebserkrankungen sei erfolglos verlaufen. Würmer wären als mögliche Krebsverursacher ebenfalls in Betracht gekommen, doch die Verfechter dieser Theorie wären häufig als Phantasten betrachtet worden. Zu diesem Zeitpunkt, als es keine klare Vorstellung über die Ursache von Krebs gegeben hätte, sei es Fibiger 1913 als erstem gelungen, Krebs experimentell zu erzeugen. Erstmals wäre die experimentelle Transformation normaler Zellen in Krebszellen gelungen. In überzeugender Weise sei gezeigt worden, dass Krebs zwar nicht immer durch einen Wurm erzeugt wird, aber, dass der Krebs durch einen externen Stimulus hervorgerufen werden kann. Schon aus diesem Grund sei Fibigers Entdeckung von unschätzbarer Bedeutung. In seinen weiteren Ausführungen hob Wernstedt den Impuls von Fibigers Arbeiten hervor, den diese der gesamten Krebsforschung gegeben hätten. Für diese unsterblichen Forschungsarbeiten würde Johannes Fibiger an diesem Tag mit dem Nobelpreis für Medizin des Jahres 1926 ausgezeichnet (). Zwei Tage später hielt Fibiger seine Nobelpreis-Vorlesung am Karolinska-Institut in englischer Sprache. Zunächst reflektierte er die Arbeiten von Arthur Nathan Hanau und Henri Moreau über die Transplantation von Tumoren, sowie die drei zu dieser Zeit bedeutenden Theorien zur Entstehung von Krebs: Virchows Reiztheorie, Cohnheims Theorie der embryonalen Keimversprengung und die Theorie, die Krebs den Parasiten zuschreibt. Bis vor kurzem wären sämtliche Versuche, bei gesunden Versuchstieren Krebs durch chemische oder physikalische Reize oder durch Transplantation von embryonalem Gewebe und verschiedenste Mikroorganismen auszulösen, gescheitert. Er erwähnte kurz die Ergebnisse einer französischen Arbeitsgruppe, der es gelungen war, 1910 durch Röntgenstrahlung Krebstumoren zu erzeugen, sowie die Versuche von Peyton Rous mit den „unsichtbaren Viren“. Er erwähnte aber die Zweifel, die es immer noch gäbe, ob es sich bei den Gewebeneubildungen wirklich um „richtigen Krebs“ handle. Mit der Nematode Gongylonema neoplasticum sei die erste erfolgreiche Methode zur systematischen experimentellen Erzeugung von Krebs in Versuchstieren entwickelt worden. Nachfolgend berichtete Fibiger ausführlich über seine Forschungen zum Spiropterakarzinom. Danach ging er auf Krebserkrankungen beim Menschen ein, die durch Würmer, beispielsweise Pärchenegel, hervorgerufen werden. Gongylonema neoplasticum sei zwar bisher noch nie in einem Menschen gefunden worden, aber der verwandte Wurm Gongylonema pulchrum. Allerdings sei noch kein Fall von Krebs, der durch G. pulchrum ausgelöst wurde, bekannt. Überhaupt gäbe es bisher keinen Beweis dafür, dass Würmer eine bedeutende ätiologische Rolle bei der Pathologie von Krebs beim Menschen spielen würden. Auch könne aus seinen Forschungsergebnissen nicht abgeleitet werden, dass Krebs in der Regel durch Parasiten ausgelöst werde. Die Ergebnisse seiner Arbeiten am Spiropterakarzinom deutete er eher als Beleg für Virchows Reiztheorie. Er vermutete bei der kanzerogenen Wirkung bestimmter Würmer die Ausscheidung von krebserzeugenden Toxinen durch die Nematoden. Im weiteren Verlauf seiner Vorlesung ging Fibiger auf die Prädisposition bei Krebs ein. Das Alter sei ein wesentlicher Faktor für die Prädisposition von Krebs. Dies sei eine seit langem akzeptierte Doktrin für alle Arten von Krebserkrankungen. Die Ergebnisse seiner Versuche zum Spiropterakarzinom, aber auch andere Versuche zur Erzeugung von Krebs in Versuchstieren, beispielsweise durch Teerbepinselung, würden dieser Doktrin widersprechen. Junge Versuchstiere würden unter gleichen Versuchsbedingungen genauso oft und genauso schnell Tumoren entwickeln, wie alte Versuchstiere. Zum Abschluss seiner Vorlesung wiederholte er die Aussage, dass es immer noch keine überzeugenden Beweise für die mikrobielle Entstehung von Krebs beim Menschen gäbe, auch wenn neuere Forschungsergebnisse zeigen würden, dass Mikroparasiten und Viren Krebserkrankungen auslösen können. Nur wenige Wochen nach der Verleihung des Nobelpreises starb Johannes Fibiger am 30. Januar 1928 in Kopenhagen. Er erlag einem Rechtsherzversagen, nachdem multiple Phlebothrombosen zu einer massiven Lungenembolie geführt hatten. Zudem litt er an einem kolorektalen Karzinom und hatte deshalb ein Coecostoma. Widerlegung von Fibigers Ergebnissen 1918, also fünf Jahre nach der ersten Veröffentlichung zur künstlichen Erzeugung des Spiropterakarzinoms, wurden Fibigers histologische Befunde von Frederick D. Bullock und George L. Rohdenburg von der Columbia University angezweifelt. Sie kamen zu dem Ergebnis, dass es sich bei den zellulären Veränderungen nicht um Karzinome, sondern um eine Hypertrophie des Epithels der Magenschleimhaut handelt. Fibigers Reputation beendete die Kritik jedoch schnell. Zudem kamen andere prominente Histopathologen ebenfalls zu dem Schluss, dass es sich um Karzinome handle. Dabei ist zu berücksichtigen, dass zu dieser Zeit die histologischen Techniken noch in ihren Anfängen steckten und keinesfalls standardisiert waren. In den folgenden Jahren gelang es keinem anderen Krebsforscher, Fibigers Ergebnisse erfolgreich zu reproduzieren. Tumoren wurden nur ganz selten in den Versuchstieren gefunden. Die Gründe hierfür sind bis heute noch nicht endgültig geklärt, allerdings liegt eine Reihe von Indizien vor. Als gesichert gilt indes, dass es sich bei den von Fibiger beschriebenen „Krebstumoren“ nicht um bösartige Veränderungen handelte und die in den Tumoren gefundenen Nematoden nicht für die beobachteten gutartigen Zellwucherungen verantwortlich waren. Es sollte über 20 Jahre dauern, bis Fibigers Ergebnisse widerlegt wurden. Einer der Gründe hierfür ist, dass Fibigers Methode wegen ihrer Kompliziertheit von Krebsforschern kaum angewendet wurde. Das wesentlich einfacher durchzuführende Teerbepinseln von Yamagiwa lieferte deutlich reproduzierbarere Ergebnisse und war in der Fachwelt wesentlich populärer. 1935 veröffentlichte eine Arbeitsgruppe um den Onkologen Richard Douglas Passey (1888–1971) an der University of Leeds ihre Studienergebnisse zum Spiropterakarzinom. Passey und seine Kollegen stellten fest, dass die infizierten Versuchstiere keine Krebstumoren bildeten, wenn sie eine vollwertige Ernährung erhielten. Die Lungenmetastasen in Fibigers Versuchen wurden – so Passeys Hypothese – durch einen Mangel an Vitamin A ausgelöst. Auch beim Menschen ist bekannt, dass eine Hypovitaminose von Vitamin A die Bildung von Krebstumoren, speziell aus dem Epithel der Schleimhäute heraus, fördert. Passey vermutete, dass die Hypovitaminose bei Fibigers Tierversuchen die durch die Nematoden hervorgerufene Infektion verstärkt habe und die Reizung der Schleimhäute des Magens möglicherweise zu den beobachteten, vermeintlichen Karzinomen führte. Die von der Arbeitsgruppe veröffentlichten histologischen Aufnahmen der gutartigen Veränderungen weisen eine hohe Ähnlichkeit mit den Fotos Fibigers auf. 1952 wiederholten die beiden US-Amerikaner Claude R. Hitchcock und Elexious T. Bell an der University of Minnesota die Versuche von Fibiger. Sie modifizierten sie aber dahingehend, dass ein Teil der Versuchstiere mit ausreichend Vitamin A ernährt wurde, während der andere Teil mit diesem Vitamin unterversorgt war. Fibiger hatte seine Versuchstiere mit Weißbrot und Wasser ernährt. Aus Gesprächen mit mehreren Bäckern recherchierten Hitchcock und Bell, dass Fibigers Weißbrot mit sehr hoher Wahrscheinlichkeit weder Eier noch Milch enthielt, also weitgehend frei von Vitamin A war. Bei ihren Versuchstieren mit Vitamin-A-Mangel fanden sie im Magen, neben der Nematodeninfektion, die von Fibiger beschriebenen weitreichenden „kanzerösen“ Papillome. Sie identifizierten diese Veränderungen als gutartig. Beim Studium von Fibigers Mikrofotogrammen kamen sie zu dem Ergebnis, dass es sich dabei ebenfalls um gutartige Veränderungen handelte. Fibigers Fehler Kontrollierte Studien wurden zu der Zeit, als Fibiger seine Versuche durchführte, in der Krebsforschung kaum durchgeführt. Mit einer Vergleichsgruppe von Tieren, die unter identischen Bedingungen gehalten und statt mit infizierten Schaben mit nicht-infizierten Schaben gefüttert worden wären („Placebo-Gruppe“), wäre es mit hoher Wahrscheinlichkeit nicht zu einer Fehlinterpretation der Versuchsergebnisse gekommen. Fibiger selbst war paradoxerweise einer der ersten Wissenschaftler, der randomisierte kontrollierte Studien, beispielsweise bei seinen Diphtherie-Versuchen durchführte – allerdings nicht bei seinen Versuchen zum Spiropterakarzinom. Seine Versuchstiere waren im Wesentlichen wilde Ratten, die je nach Alter, vorheriger Lebensweise und Abstammung erhebliche unkontrollierte Schwankungen in jede Versuchsreihe brachten. Heute werden für wissenschaftliche Tierversuche speziell gezüchtete Tiere verwendet, die geringstmögliche Unterschiede aufweisen und gleichaltrig sind. Zu Fibigers Zeiten war die Notwendigkeit einer ausgewogenen Ernährung der Versuchstiere unbekannt, ebenso, dass ein Mangel an Vitamin A die Ausbildung spontaner Tumoren begünstigt. Rezeption und Nachwirkung Die mangelhafte Reproduzierbarkeit der experimentellen Krebsinduktion und die Fehler bei der Verleihung des Nobelpreises an Fibiger sorgten in den folgenden Jahren für eine erhebliche Verunsicherung des zuständigen Nobelkomitees. Es sollte 40 Jahre dauern, bis wieder einmal einem Onkologen der Preis zugesprochen wurde. Der hochbetagte Francis Peyton Rous erhielt ihn 1966 für „seine Entdeckungen auf dem Gebiet der tumorerzeugenden Viren“, die er bereits 1910 machte. In den 1950er Jahren wurde mit dem Speiseröhrenwurm (Spirocerca lupi) ein dem Gongylonema neoplasticum ähnlicher Parasit identifiziert, der bei Hunden nachweislich Speiseröhrenkrebs hervorrufen kann. Genau 70 Jahre nach Fibigers vermeintlicher Entdeckung des Spiropterakarzinoms entdeckten die beiden australischen Mediziner Barry Marshall und John Robin Warren 1983 bei Magenbiopsien von Gastritis-Patienten das Bakterium Helicobacter pylori. Sie stellten fest, dass dieses Bakterium für eine Reihe von Magenerkrankungen, insbesondere das Magenkarzinom, verantwortlich ist. Magenkrebserkrankungen sind nach Lungenkrebs die zweithäufigste krebsbedingte Todesursache, mit weltweit über 700.000 Todesfällen im Jahr. Marshall und Warren erhielten 2005 für ihre Arbeiten über H. pylori den Nobelpreis für Physiologie oder Medizin. Das heute wissenschaftlich akzeptierte Modell der Krebsentstehung basiert auf den Arbeiten von Theodor Boveri und Karl Heinrich Bauer. Diesen Ergebnissen zufolge ist Krebs eine genetische Erkrankung. Der Übergang von Körperzellen in Tumorzellen findet durch eine Genveränderung statt. Äußere Faktoren wie bestimmte Reize, beispielsweise durch ionisierende Strahlung, bestimmte Chemikalien, Viren, Bakterien oder chronische Entzündungsprozesse können den Übergang ermöglichen oder zumindest beschleunigen. Bauers Mutationstheorie konnte experimentell mit Hilfe der DNA-Analyse gegen Ende des 20. Jahrhunderts bestätigt werden. Die Parasitentheorie ist daher heute obsolet, auch wenn bestimmte Parasiten durch chronische Reizung bösartige Tumoren auslösen können. Die anerkannte Kausalkette ist in diesem Fall: Parasit → chronischer Reiz = chronische Entzündung → Genveränderung → Tumor und nicht Parasit → Tumor. Unabhängig von diesen Erkenntnissen werden auch heute noch in bestimmten alternativmedizinischen Kreisen andere Thesen zur Krebsentstehung vertreten. Beispielsweise verbreitet die russische Chemikerin Tamara Lebedewa seit Mitte der 1990er Jahre die Behauptung, dass alle Krebserkrankungen durch den Einzeller Trichomonas vaginalis ausgelöst werden. Auch die sogenannte Clark-Therapie basiert auf der Theorie, dass Krebs ausnahmslos durch Parasiten, insbesondere Egel, wie beispielsweise den Riesendarmegel, verursacht wird. Literatur Anita Kildebaek Nielsen, Eivind B. Thorling: Johannes Fibiger (physiology or medicine 1926) – Backing the wrong horse? In: Henry Nielsen, Keld Nielsen (Hrsg.): Neighbouring Nobel: The history of thirteen Danish Nobel prizes. Kapitel 14, Aarhus University Press, 2001, S. 461f. ISBN 87-7288-899-7. I. M. Modlin, M. Kidd, T. Hinoue: Of Fibiger and fables: a cautionary tale of cockroaches and Helicobacter pylori. In: Journal of clinical gastroenterology. Band 33, Nummer 3, September 2001, S. 177–179, . PMID 11500602. J. Clemmesen: Johannes Fibiger. Gongylonema and vitamin A in carcinogenesis. In: Acta pathologica et microbiologica Scandinavica. Supplement. Nummer 270, 1978, S. 1–13, PMID 362817. Göran Liljestrand: The prize in physiology or medicine. In: The Nobel foundation (Hrsg.): Nobel, the man and his prizes. 3. Auflage, Elsevier, 2007, ISBN 1-4067-4114-0, S. 139–277. J. C. Petithory, J. Théodoridès, L. Brumpt: A challenged Nobel Prize: Johannes Fibiger, 1926. In: Histoire des sciences médicales. Band 31, Nummer 1, 1997, S. 87–95, . PMID 11625107. (französisch) Fußnoten Einzelnachweise Tumor Medizingeschichte
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https://de.wikipedia.org/wiki/TK-Elevator-Testturm
TK-Elevator-Testturm
Der TK-Elevator-Testturm (Eigenschreibweise: TK Elevator Testturm Rottweil) in Rottweil ist ein 246 Meter hoher Aufzugstestturm für Express- und Hochgeschwindigkeitsaufzüge. Der 2014 bis 2017 von Thyssenkrupp Elevator errichtete Turm bietet mit 232 Metern die höchste Besucherplattform Deutschlands und ist der weltweit zweithöchste Testturm für Aufzugsanlagen. Mit den Tiefgeschossen, die als Testumgebung für die Aufzugschächte mitverwendet werden, hat der Schaft eine Gesamtlänge von 275,5 Metern. Der Turm hat zahlreiche Architektur-, Ingenieurs- und Designpreise gewonnen und bietet einige Alleinstellungsmerkmale. So ist er das weltweit erste Bauwerk, das durch ein Schwingungspendel im Inneren des Turmschafts in Schwingungen versetzt werden kann. Auf diese Art werden reale Windlasten simuliert. Der Schaft ist mit einer speziellen Glasfaser-Textilie entlang eines Wendelrohrs ummantelt, welche die eigentliche Außenform des Turms festlegt. Der Turm ist dadurch gleichzeitig das höchste textilverkleidete Gebäude der Welt. Geschichte Standortsuche Ursprünglich war geplant, den Turm im Industriegebiet Neckartal zu errichten. Doch es erwies sich aufgrund der Ergebnisse von geologischen Untersuchungen und Probebohrungen am 17. Juli 2013 als ungeeignet. Stattdessen schlug Thyssenkrupp am 11. September 2013 das Industriegebiet Berner Feld oberhalb des Tales als alternativen Standort vor, etwa eineinhalb Kilometer nördlich des Stadtzentrums von Rottweil. Der Produktionsstandort Neuhausen war aufgrund der Nähe zum Flughafen Stuttgart nicht als Standort möglich gewesen. Neben der nicht allzu großen Entfernung von rund 100 Kilometern vom Produktionsstandort sprachen die große Zahl an Studenten und Fachkräften in der Region und nicht zuletzt der Zuspruch der Stadt Rottweil für den gewählten Standort. Planungsverfahren Nach einer nichtöffentlichen Information des Gemeinderates am 24. April 2013 wurde einen Tag später die Öffentlichkeit über das Bauvorhaben informiert. Am 6. Mai 2013 wurde eine Bürgerversammlung abgehalten, zu der sich rund 420 Interessierte einfanden. In der Bevölkerung gab es im Vorfeld Diskussionen darüber, ob der markante Turm das historische Stadtbild Rottweils, einer der ältesten Städte Deutschlands, oder die Landschaft zwischen Schwarzwald und Schwäbischer Alb beeinträchtige. Letztlich stimmte der Stadtrat für das Bauprojekt, in der Hoffnung auf Touristen, die den örtlichen Einzelhandel, die Gastronomie und die Hotellerie beleben sollen. Am 25. September 2013 beantragte der Gemeinderat die Vorbereitung des Planverfahrens. Am letzten Septemberwochenende führte man auf dem Berner Feld einen sogenannten Ballontest aus. Man ließ einen Ballon exakt auf die Höhe der geplanten Bauwerkshöhe ansteigen, um anschaulich die Wirkung des Bauvorhabens zu illustrieren. Nach einer weiteren Bürgerversammlung beschloss am 23. Oktober der Gemeinderat, den Einstieg ins Planverfahren vorzunehmen, und gab schließlich am 11. Dezember desselben Jahres grünes Licht für den Grundstücksverkauf an Thyssenkrupp. Ebenfalls in der zweiten Jahreshälfte 2013 wurde mit dem Wettbewerb begonnen. Nach einem mehrstufigen Bieterverfahren fiel im März die Entscheidung über die beteiligten Firmen und Architekten. Das Gebäude ist ein Entwurf der Architekten Helmut Jahn und Werner Sobek, die ihren Entwurf am 11. April 2014 der Öffentlichkeit in Rottweil vorstellten. Als Generalunternehmer wurde das Stuttgarter Bauunternehmen Züblin bestimmt. Namensfindung Nach den ersten Ankündigungen des Bauvorhabens im April 2013 brachte der Rottweiler Oberbürgermeister Ralf Broß die Bezeichnung Powertower ins Gespräch. Der Architekt Helmut Jahn bezeichnete den Turm als Tower of light. Im Oktober 2014 startete eine Lokalzeitung eine Aktion, bei der Leser Namensvorschläge einreichen konnten. Parallel sammelte eine private Facebook-Seite Vorschläge für die Bezeichnung des Turms. Beide Aktionen waren für die tatsächliche Namensgebung irrelevant, da sie weder mit dem Bauherrn noch mit der Stadtverwaltung abgesprochen waren. Thyssenkrupp und die Stadt Rottweil bezeichneten das Bauwerk schlicht als Testturm oder Testturm Rottweil, auf Englisch Rottweil Test Tower. Seit 2017 nannte Thyssenkrupp den Turm thyssenkrupp Testturm. Durch die Abspaltung der Aufzugssparte von Thyssenkrupp und den neuen Namen TK Elevator trägt der Testturm seit 2021 den Namen TK Elevator Testturm. Bau Gründungsarbeiten und Schachtbau Der erste Spatenstich zur Gründung des Turmes erfolgte am 2. Oktober 2014. Den rund 30 Meter tiefen Schacht hat ein Bagger mit Schaufel und einem Abbauhammer immer tiefer gegraben. Der Baugrund besteht aus Lettenkeuper und einer darunterliegenden Schicht Muschelkalk. Aufgrund der guten Tragfähigkeit des Muschelkalks konnte auf eine Pfahlgründung verzichtet werden. Nach dem Aushub der Baugrube wurde am 16. Dezember 2014 die feierliche Grundsteinlegung begangen. Die Schachtwände wurden laufend mit Bewehrungsnetzen und Spritzbeton gesichert. Aufgrund der vorgegebenen Situation konnte keine Rampe für die Baugrube errichtet werden, so dass am Ende der Arbeiten der Bagger mit einem Autokran wieder aus der Grube gehievt wurde. Im Februar 2015 waren das Fundament und der 30 Meter tief in den Boden ragende Teil der Betonröhre fertiggestellt. Der Turm wurde mithilfe der sogenannten Gleitschalbauweise errichtet. Bei dieser werden Schalung und Arbeitsplattform langsam nach oben gezogen und die vertikale Struktur laufend betoniert. Der Turm ist auf diese Weise im Dreischichtbetrieb täglich um bis zu 5,6 Meter angewachsen. Der erste Gleitabschnitt begann am 10. März 2015 und erreichte nach neun Tagen die Oberfläche. Von da an mussten alle Schalungen abgenommen und für den zweiten Abschnitt neu montiert werden. Aufgrund eines sehr heißen Sommers im Jahr 2015 mit Temperaturen von anhaltend über 30 Grad Celsius musste eine Sprinkleranlage eingerichtet werden, welche die Bewehrungseisen auf der Arbeitsplattform abkühlte. Mit Hilfe eines eigens für das Bauvorhaben reservierten Silos im Zementwerk Dotternhausen konnte genug Beton vorrätig gehalten werden. Mit dieser Maßnahme konnte man die Arbeiten weiter aufrechterhalten und den Baustoff zwischen 21 und 24 Grad Celsius halten. Das Richtfest fand am 29. Juli 2015 statt. Innenausbau und Sockel Der Innenausbau des Turms, der auch die Zwischengeschosse umfasst, musste in einem zweiten separaten Bauabschnitt erstellt werden, da horizontale Teile mit der Gleitschalbauweise nicht realisierbar sind. Daher wurden die Geschossdecken später eingebaut; dafür wurde der erforderliche Beton von unten hochgepumpt. Ein Einbringen des Betons für die Zwischendecken von außen durch einen Kran wäre aufgrund der langen Hubwege und der engen Platzverhältnisse deutlich ineffizienter gewesen. Aufgrund von baulich notwendigen Aussparungen am Schaft gelangt als Nebeneffekt auf diese Weise Licht in die so entstandenen Flure. Nachdem sämtliche Innen- und Außenwände fertiggestellt waren, konnte das Pendel eingebaut werden und zum Schluss folgte das Sockelbauwerk. Dieser spezielle Bauablauf erforderte zusätzliche Nachweise. Die kritische Phase war die nach der Fertigstellung des Rohbaus einschließlich der Decken, aber vor Anschluss des Sockelbaus und vor Inbetriebnahme des Pendels. Dies aus dem Grund, weil der Turm lediglich im Baugrund eingespannt war und die auf die Struktur einwirkenden Windlasten ohne den Hebelarm des Sockelbaus weitergeleitet werden mussten. Es musste während dieser Phase sichergestellt sein, dass der Baugrund keine dauerhafte plastische Verformung erfährt. Rechnerisch konnte nachgewiesen werden, dass der Baugrund elastisch genug war, um den Sicherheitsanforderungen zu genügen. Installation der Membran Im Dezember 2016 wurde der Turm offiziell in Betrieb genommen, es fehlte zwar noch die Verkleidung, aber sowohl der Büro- wie Testbetrieb konnte beginnen. Wegen technischer Probleme mit der Verkleidung wurde die Aussichtsplattform erst am 7. Oktober 2017 offiziell eröffnet. Zur Montage der Stahl- und Membrankonstruktion wurde eine zweistöckige, 50 Tonnen schwere Montagefähre angebracht, welche an drei Triebstockschienen hochfuhr. Die verbaute Stahlmenge für die Fassadenkonstruktion betrug 300 Tonnen. Die Konstruktion wie auch die Kunststoffmembran wurde mit Hilfe von rund 30 Industriekletterern segmentweise im Zweischichtbetrieb angebracht. Zu diesem Zweck wurde abschnittsweise eine Schlittenkonstruktion wie eine Krause am Turmschaft montiert, von der aus die Kletterer von oben nach unten arbeiten konnten. Am 24. November 2017 konnte das letzte 22 × 12 Meter große Membranstück am Turmfuß angebracht werden. Das Investitionsvolumen betrug insgesamt 40 Millionen Euro. Am Bau beteiligt waren über den gesamten Zeitraum rund 150 Ingenieure und 160 Arbeiter auf der Baustelle. Seit Eröffnung Seit dem 13. Oktober 2017 ist die Plattform von freitags bis sonntags und an Feiertagen allgemein zugänglich. Am darauf folgenden Wochenende wurde der Turm mit einem Stadtfest feierlich eröffnet. Unter den Gästen befand sich auch der Ministerpräsident Winfried Kretschmann. Mit einem kulturellen und sozialen Rahmenprogramm unter dem Namen „Jahr der Türme – Gute Aussichten“ verwies die Stadt 2017 auf diverse andere, teilweise auch historische, Turmbauwerke und machte mit diesem Programm prominent auf die Eröffnung aufmerksam. Mitte Dezember 2017 wurden die letzten Baustellengerüste demontiert, der Bau galt damit offiziell als fertiggestellt. Seit seiner Eröffnung besitzt der Turm die höchste öffentlich zugängliche Aussichtsplattform Deutschlands und verwies damit den bisherigen Rekordhalter, die Besucherplattform des 337 Meter hohen Europaturms, auf den zweiten Platz. Auch europaweit gehört die Plattform zu den höchsten ihrer Art. Bis zur Eröffnung des zwei Meter höheren, ebenfalls von Thyssenkrupp gebauten Turms im März 2018 im chinesischen Zhongshan war der Rottweiler Turm auch der höchste Aufzugstestturm der Welt. Damit übertrumpfte der Turm in Rottweil den bisherigen Rekordhalter, den im April 2010 fertiggestellten Hitachi G1 Tower, welcher dem Unternehmen Hitachi als Aufzugstestturm dient. Am 31. Oktober 2018 wurde der Kran auf der Spitze mit einem Hubschrauber abtransportiert. Mit dem Eigentümerwechsel der Thyssenkrupp Elevator auf die Gesellschaft TK Elevator teilte am 25. Februar 2021 das Unternehmen mit, dass auch der Testturm künftig als TK-Elevator-Testturm bezeichnet wird. Beschreibung Lage und Umgebung Der Turm befindet sich 1,5 Kilometer nördlich der historischen Innenstadt Rottweils im von einer Neckarschleife eingegrenzten Gewerbegebiet Berner Feld auf einer kleinen Anhöhe auf rund Höhe. Nur wenige hundert Meter nördlich seines Standorts verläuft die Talbrücke Nordumgehung Rottweil der Bundesstraße 27, von der aus eine Abzweigung in das Gewerbegebiet führt. Der Turm ist von Norden her als markante Landmarke weithin sichtbar, zum Beispiel von der rund 30 Kilometer Luftlinie entfernten, nordöstlich liegenden Burg Hohenzollern. Von den drei übrigen Himmelsrichtungen aus gesehen steht der Turm in einer Senke, die vom Schwarzwald im Westen, der Baar im Süden und dem Großer Heuberg genannten Teil der Schwäbischen Alb im Osten begrenzt wird. Das Ortszentrum des Luftlinie elf Kilometer entfernten Ortes Gosheim liegt auf 850 Meter, also neun Meter höher als die Spitze des Turms (841 Meter). Nördlich des Testturms befinden sich öffentliche Parkplätze für die Besucher der Aussichtsplattform. Innerhalb des Gewerbegebietes befindet sich der Turm am westlichen Rand, zu dem eine Stichstraße führt, die mit einem Wendekreis endet. Von diesem zweigt ein asphaltierter Weg, der um den Turm herumführt, ab. Dieser ist jedoch nur für Betriebsangehörige und mit einer Schrankenanlage von der öffentlichen Straße getrennt. Der Eingangsbereich für den Publikumsverkehr befindet sich am nordöstlichen Teil des Schaftes am Einfahrtsbereich des privaten Grundstücks. Westlich befindet sich eine Anlieferrampe für Güterverkehr. Um den Turm gruppieren sich weitere Parkplätze, die für Mitarbeiter und Kunden reserviert sind. Das gesamte Areal des Turms umfasst eine Fläche von 10.000 Quadratmetern. Architektur und Bautechnik des Turms Allgemeiner Aufbau und technische Daten Das 246 Meter hohe Bauwerk ragt unterirdisch 29,5 Meter in die Tiefe, sodass der Betonschaft eine Länge von 275,5 Meter aufweist. Die Aufzugschächte ragen unterirdisch bis 14 Meter in den Fundamentschacht. Da im Kern zwölf Schächte verbaut sind, verlaufen insgesamt 2,1 Kilometer Teststrecke im Turm. Insgesamt stehen im Turmbauwerk auf 260 Höhenmeter Testschächte zur Verfügung. Da ein Teil der Aufzüge eine geringere Strecke zurücklegt, enden die entsprechenden Schächte bereits nach 115 Metern Höhe. Davon ist einer als Feuerwehraufzug konzipiert und einer dient als verglaster Panoramaaufzug für die Besucher der Aussichtsplattform. Die Treppenhäuser im Bauwerk haben insgesamt 1617 Stufen. In einem Abstand von etwa 10 Metern sind Decken aus Ortbeton eingezogen, die den Zugang zu den einzelnen Schächten ermöglichen. Die weitgespannten Halbkreisdecken sind bis zu 40 Zentimeter dick. Für den Bau des Turmes wurden insgesamt 15.300 Kubikmeter Beton, 200 Felsnägel und 2640 Tonnen Stahl verbaut. Die Masse des Bauwerks beträgt 40.000 Tonnen, was rund 30 % mehr ist als beim Berliner Fernsehturm. Werner Sobek war an diesem Bauwerk außer als Architekt auch als Tragwerks- und Fassadenplaner beteiligt. Fundamentplatte und Betonfestigkeit Die zwei Meter dicke Fundamentplatte besteht aus 700 Kubikmetern Beton. Sie wurde in einem Arbeitsvorgang eingebracht und verdichtet. Neben einem hohen Bewehrungsgrad weist die Bodenplatte Sensoren zur Temperaturmessung auf. Die Betonqualität ist in Abhängigkeit von der Höhe unterschiedlich gestaffelt. Da die Eigenschaft des Betons eine moderate Wärmeentwicklung gewährleisten sollte, wählte man als Festigkeitsklasse für den Baustoff maximal C50/60. Die unteren 80 Meter des Turmschafts bestehen wie die Fundamentplatte aus Beton der Klasse C50/60, die weiteren 50 Meter aus C40/50, bis zur Spitze verwendete man den Festigkeitsgrad C30/37. Lediglich auf der Höhe von 190 Metern (29. Etage) wurde ebenfalls Beton der Sorte C50/60 verwendet, weil an dieser Stelle eine Pendelmasse eingebaut wurde. Schwingungstilger Der Schwingungstilger soll bei Auslenkungen den Turm entsprechend dämpfen. Dazu wurde an einem rund neun Meter langen Seil im Hohlraum des Wärmespeichers eine 240 Tonnen schwere Betonplatte aufgehängt, die sowohl passiv wirkt als auch über zwei Aktuatoren (Linearmotoren) aktiv betrieben werden kann. Darüber hinaus enthält das System viskose Dämpferelemente zur Energiedissipation. Die Schwingungsmasse war notwendig geworden, weil Versuche im Windkanal bereits in der frühen Planungsphase die Erkenntnis erbrachten, dass die Neigung des zylindrischen Turmschaftes zu Querschwingungen nicht vollständig durch die Fassadenmembran beseitigt werden kann. Mit Hilfe der passiven Nutzung des Tilgers lassen sich windbedingte Turmbewegungen von 76 Zentimeter auf unter 15 Zentimeter reduzieren; die Eigenfrequenz des Bauwerks beträgt 0,2 Hz. Die aktive Nutzung simuliert während der Aufzugtestfahrten eine real angeregte Windbelastung. Mit einem verhältnismäßig kleinen Kraftaufwand von 35 Kilonewton sind künstlich hervorgerufene Auslenkungen am Turmkopf bis 20 Zentimeter möglich. Der TK-Elevator-Testturm war das erste Bauwerk weltweit, das aktiv in Schwingungen versetzt werden kann, um eine reale Windbelastung zu simulieren. Da der aktive Gebrauch des Pendels theoretisch bis zur Selbstzerstörung des Bauwerks führen könnte, wurden strenge Grenzwerte errechnet, die den Zeitraum und die maximale horizontale Auslenkung begrenzen. Die errechneten Spannungsbreiten und Schwingungsspiele bilden den notwendigen Ermüdungsnachweis. Damit stellen 20 Zentimeter in der Kopfauslenkung des Testturms für die Bewehrung und den Beton keine Einschränkungen in der Dauerfestigkeit dar und gelten damit als unbedenklich. Randbauwerk Am Turmfuß befindet sich ein Foyerbereich, der von einem kegelstumpfförmigen Randbauwerk umschlossen wird. Dessen Durchmesser beträgt 48 Meter. Ein Teil dieses Bauwerks wurde als Glasdach, der andere Teil mit einer Dachbegrünung realisiert. Das als Sockel fungierende Randbauwerk ragt bis 4,5 Meter unter die Erde. Das Randbauwerk erfüllt die statische Funktion einer horizontalen Aussteifung: Zehn radial angebrachte Schottwände vergrößern den Hebelarm des Turmes und wandeln einen Teil der Horizontalkräfte in Vertikalkräfte um, die wiederum über das Fundament in den Boden abgeleitet werden. Neben dem statischen Nutzwert vergrößert das Randbauwerk die räumlichen Nutzungsmöglichkeiten. Dort befindet sich neben der Empfangshalle für das Besucherpublikum auch ein Medienraum für Präsentationen. Turmschaft und -spitze Im Turm verteilen sich in einer Höhe von 120 bis 220 Metern weitere Büro- und Konferenzräumlichkeiten. Die Wandstärke des Turmschaftes verringert sich ab einer Höhe von 110 Metern von 40 auf 25 Zentimeter. An der Spitze befindet sich ein Konferenzraum, darüber eine überdachte Aussichtsplattform auf 232 Meter Höhe. Diesen Bereich bezeichnet der Architekt Werner Sobek als Penthouse. Es handelt sich um eine leichte Stahlkonstruktion mit Trapezblecheindeckung. Um das Penthouse herum verläuft bis zur Außenkante des Turms ein unbedachter Terrassenbereich. Dieser Freiluftbereich ist von Glasscheiben umschlossen, die an gevouteten Stahlprofilen befestigt sind und im Abstand von jeweils 1,5 Metern zueinander stehen. Vier Meter über der Aussichtsplattform schließt ein gedämmtes Flachdach mit leichtem Gefälle das Turmbauwerk ab. Die etwa 2-prozentige Neigung sorgt zusammen mit einer Punktentwässerung in zwei Abflüssen dafür, dass das Regenwasser abgeleitet wird. Fassadenmembran Der TK-Elevator-Testturm hat eine runde Grundfläche mit einem Durchmesser von 21 Metern, die sich ohne Verjüngung nach oben fortsetzt. Die Betonfassade wird dabei von einem engmaschigen, halbdurchsichtigen, spiralförmig aufwärtsstrebenden Glasfasergewebe mit einer Beschichtung aus Polytetrafluorethylen (PTFE) verkleidet, was den Durchmesser des Bauwerks auf 24,8 Meter ansteigen lässt. Neben dem ästhetischen Aspekt hat die PTFE-Membran eine Isolierungsfunktion, die das Turminnere vor starker Überhitzung und starker Auskühlung schützen soll. Gleichzeitig entsteht mit der Kunststoffmembran die sogenannte Scruton-Wendel, welche die Wirbelablösung am Turmschaft positiv beeinflusst und damit die für diese Bauwerke typischen Querschwingungsbeanspruchungen um etwa 40 Prozent reduziert. Das insgesamt mehr als 16.000 Quadratmeter umfassende PTFE-Glas-Gittergewebe ist auf einer Stahl-Unterkonstruktion angebracht. Diese besteht aus sechs Stahlrohrwendeln, die, auf A-Böcken gelagert, im Abstand von 1,8 bis 2,7 Meter von der Betonoberfläche von unten nach oben um den Turm herumgeführt werden. Die rund 800 Ankerplatten wurden mittels Dübel- oder Anschweißmontage rund um den Turm montiert. Die Wendelrohre tragen am oberen Ende ein Abschlussrohr. Dieses verläuft im Aufriss von Süden nach Norden angeschrägt und ist über 40 Meter konkav gekrümmt. Die Membranen sind von einem Wendelrohr zum nächsten gespannt und in ihren Mittellinien zusätzlich gegen Windeinflüsse unterstützt. Die vier verschiedenen Materialien verlaufen stufenweise von unten nach oben und werden dabei transparenter. An der Spitze läuft die Membran schräg aus und gibt das Ende des Turmschaftes optisch mit den nach Süden ausgerichteten Fensterreihen frei. Betriebstechnik Die im Turminneren verbauten Aufzüge sind an ein Stromrückgewinnungssystem gekoppelt, das umso effizienter ist, je stärker die Kabinen beladen sind. So können bis zu 30 % der Energie wiederverwendet werden. Darüber hinaus wird die Wärme, die alle Komponenten und Ausstattungen im Turm produzieren, über einen Wärmetauscher mithilfe von elektronischer Mess-, Steuerungs- und Regelungstechnik und von zwei Wärmepumpen in die beheizten Räume zurückgeführt. Dafür dient der Schachtbereich oberhalb der 120-Meter-Marke als Luftwärme-Energiespeicher. Die elektrische Anspeisung der sechs im Turm verteilten Informationsschwerpunkte – der tiefste liegt auf −4 Meter im Kellerbereich, der höchste auf 206 Meter – wurde mit Aluminiumkabeln realisiert. Der Selbstversorgungsgrad an Wärme ist damit hoch. Brandschutz Der Turm verfügt etagenweise über punktförmige Mehrfachmeldesensoren; insgesamt sind 421 dieser Meldeanlagen im Bauwerk verbaut. Zusätzlich existieren rund 40 Handfeuermelder. Das Meldesystem ermöglicht im Brandfall, der Feuerwehr die Information zu geben, in welchem Stock der Brand ausgebrochen ist, und fährt den Feuerwehraufzug im Ernstfall nur bis zur Ebene unterhalb derjenigen, in welcher der Alarm ausgelöst wurde. Neben diesen passiven Maßnahmen werden Lüftungs- und Entrauchungsklappen entsprechend der Notwendigkeit gesteuert. Daneben gibt es auch eine Sprinkleranlage. Eine weitere Brandschutzmaßnahme stellt der Einbau einer 36 Zentimeter dicken Steinwolledämmung auf dem Dach des Testturms dar. Die Dämmung sorgt auch dafür, dass die im Luftspeicher aufgefangene Wärme über einen Wärmetauscher an die Räume zurückgeführt wird. Der Werkstoff wurde allerdings vor allem wegen seiner hohen Temperaturbeständigkeit bis 1000 °C verwendet, weil das Löschen in derartigen Höhen für die Feuerwehr schwierig ist. Beleuchtung Am 14. Februar 2019 gingen die 44 Strahler, die die Membran beleuchten, erstmals in Betrieb. Mit der Stadt wurde ein bestimmtes Leuchtschema vereinbart. Vom 15. Februar bis zum 15. Mai wird der Turm nur bei Abenddämmerung beleuchtet, um Vogelschwärme nicht zu irritieren. Zudem hat der Turm einen Nebelsensor, der die Beleuchtung bei Nebel ausschaltet. Aufgrund der Höhe gilt der Turm als Luftfahrthindernis und verfügt deshalb alle 50 Höhenmeter über rote Flugbefeuerungen, die von allen Seiten sichtbar sind. Bei entsprechender Witterung wird tagsüber zudem ein blinkendes, weißes Feuer (Medium Intensity Obstacle Light, Type A) an der Turmspitze eingesetzt. Dieses ist z. B. bei Nebel oder Hochnebel, wenn der Kontrast des Bauwerks zum Himmel selbst aus der Nähe gering ist, in Betrieb. Nutzung Testanlage Der Testturm in Rottweil hat für das Unternehmen TK Elevator eine Schlüsselfunktion bei der Umsetzung der globalen Innovationsstrategie. Zusammen mit dem Aufzugswerk in Neuhausen auf den Fildern und als Teil des Forschungs- und Entwicklungsstandorts in Pliezhausen bildet der Testturm das Innovationszentrum für Aufzugstechnologien in Deutschland. Im Turm werden einerseits Hochgeschwindigkeitsaufzüge mit einer Geschwindigkeit von bis zu 18 m/s getestet, entwickelt und abgenommen. Der Test der Hochgeschwindigkeitsaufzüge ist auch ein Grund für die enorme Höhe dieser Testanlage. Um auf die entsprechende Geschwindigkeit zu kommen, benötigt man einen Beschleunigungsweg von 90 Metern. So könne der Aufzug in voller Geschwindigkeit zwischen 10 und 20 Meter weit fahren. Andererseits kommen die Systeme TWIN mit zwei Kabinen im gleichen Schacht sowie MULTI zum Einsatz, bei dem sich mehrere Aufzugskabinen seillos unabhängig voneinander bewegen können. Zum Einsatz kommt hier dieselbe Technik wie bei Magnetschwebebahnen. Der Einsatz von Magnetfeldern ermöglicht neben einer rein vertikalen Bewegung der Aufzugskabinen, wie bei konventionellen Systemen ausschließlich möglich, auch eine Horizontalbewegung. Zusätzlich werden in der Anlage in Rottweil auch Fall- und Bremsversuche an konventionellen Aufzügen durchgeführt. Im Rottweiler Testturm befinden sich insgesamt zwölf Aufzugschächte, neun davon sind für den konventionellen Testbetrieb vorgesehen. Drei Schächte dienen dem Test des neuen MULTI-Systems, in welchem Kabinen auf zwei miteinander verbundenen vertikalen Schienen in die Höhe fahren. Aus Sicherheitsgründen dürfen auch im Testturm bis zur TÜV-Freigabe vorerst keine Personen mit dem MULTI-System befördert werden. Tourismus und Veranstaltungslocation Um die Akzeptanz des auffälligen und hohen Testbauwerks in der Bevölkerung zu verankern, entschied das Unternehmen, den Testturm auch der Öffentlichkeit zugänglich zu machen und mit der Errichtung der höchsten Aussichtsplattform in Deutschland einen Besuchermagneten für die Region zu schaffen. Am Turmgelände wurde für den Besucherandrang eine entsprechende Infrastruktur mit Parkplätzen geschaffen. Außerdem ist eine Anbindung des Turmareals mit der Rottweiler Altstadt über eine Fußgänger-Hängebrücke geplant. Die öffentlich zugängliche, bodentief verglaste 125 Quadratmeter große Besucherplattform bietet Platz für bis zu 199 Menschen und ermöglicht einen 360-Grad-Panoramablick bis auf die Schwäbische Alb und bei idealen Wetterbedingungen bis zu den Schweizer Alpen. Mit einem zehnfach vergrößernden Fernglas ist aufgrund der Turmhöhe und Standort bei optimalen Sichtvoraussetzungen eine Fernsicht bis 210 Kilometern möglich. In der überdachten Besucherplattform sind in den zugehörigen Himmelsrichtungen digitale Infostelen in Fernglasoptik installiert, die Daten und Fakten zu verschiedenen Städten mit großer Ansammlung von Hochhäusern geben. Der Turm verzeichnete im ersten Jahr seiner Öffnung 2018 knapp 210.000 Besucher. Auch die Stadt Rottweil bietet zwei Führungen zum Turm an. Der Betreiber bietet diverse Räumlichkeiten für Veranstaltungen zur Vermietung an. Neben einem großen Konferenzraum mit 157 Quadratmetern auf 220 Meter Höhe und einem kleinen mit 65 Quadratmetern auf 216 Meter gibt es eine 37 Quadratmetern große Lounge auf demselben Stockwerk. Eine Medienlobby auf der Erdgeschossebene mit 82 Quadratmetern bietet eine extrabreite Präsentationsleinwand. Auch die Besucherlobby (146 Quadratmeter) und die Kundenlobby (160 Quadratmeter) sind grundsätzlich anmietbar. Treppenlauf Am 16. September 2018 fand erstmals ein Lauf namens thyssenkrupp Towerrun durch das Treppenhaus vom Erdgeschoss hinauf zur Besucherplattform statt: Rund 700 Läufer und Läuferinnen bewältigten 1390 Stufen. Schnellster Läufer war Christian Riedl, der die 232 Höhenmeter in 6:56 Minuten bewältigte, schnellste Frau Martina Nagel, sie schaffte den Treppenhauslauf in 9:53 Minuten. Der Treppenlauf wird seither jährlich durchgeführt. Der Treppenlauf am Testturm in Rottweil, an dem man einzeln, im Zweierteam oder in einer Zweierstaffel teilnehmen kann, ist bis dato der höchste in Westeuropa. Zusätzlich gibt es Spezialwertungen für Feuerwehrleute und Polizeibeamte. Am 15. September 2019 fand der 2. Treppenlauf mit rund 1000 Teilnehmern am Rottweiler Testturm statt, der gleichzeitig Austragungsort der Deutschen Meisterschaften im Treppenlaufen war. Rezeption Der TK-Elevator-Testturm erhielt am 17. Mai 2018 den Balthasar-Neumann-Preis der Deutschen Bauzeitschrift (DBZ) und dem Bund Deutscher Baumeister, Architekten und Ingenieure, der für Bauwerke verliehen wird, die sich durch nachhaltiges Bauen auszeichnen. Der alle zwei Jahre verliehene und mit 10.000 Euro dotierte Preis wurde verliehen für die gelungene Zusammenarbeit im Bereich Architektur, Tragwerk und Energie-/Nachhaltigkeitskonzept. Die Jury erkannte an, dass Bauwerk und Bauausführung sehr hohe technisch komplexe Anforderungen erfüllen mussten und sowohl Form wie Konstruktion sich auf bemerkenswerte Weise verschränken. Die außergewöhnliche Fassadengestaltung des Turms durch die PTFE-Membran erhielt 2018 durch die Gesellschaft, die den Deutschen Fassadenpreis für vorgehängte hinterlüftete Fassaden verteilt, eine Anerkennung. Am 13. Juni 2018 erhielt der Testturm den Deutschen Ingenieurbaupreis 2018, der als Staatspreis als der bedeutendste Preis für Bauingenieure in Deutschland gilt. Das Bauwerk setzte sich bei der Jury aus insgesamt 20 Einreichungen durch. Gewürdigt wurden dabei seine innovative Fassade und Konstruktion. Der Präsident der Bundesingenieurkammer, Hans-Ulrich Kammeyer, führte als weiteren Grund aus: Der Siegerentwurf war mit einem Preisgeld von 30.000 Euro dotiert. Für die besondere Ausgestaltung des Besucherbereichs erhielt das Bauwerk drei Designpreise. Am 24. April 2018 erhielt das Besucherzentrum des Testturms durch den Art Directors Club eine Auszeichnung im Rahmen des Kreativfestivals Deutschland. Am 16. August 2018 zeichnete ein Juryteam aus 24 Mitgliedern ebenfalls das Besucherzentrum mit dem Red Dot Design Award aus. Das Projekt, welches in der Disziplin Communication Design überzeugte, setzte sich aus einer Auswahl von 8610 Einreichungen aus 45 Ländern durch. Am 30. Januar 2019 wurde der iF Award für die Ausstellungen im Foyer des Testturms prämiert. Gewürdigt wurde dabei die Disziplin Interior Architecture. Bereits am 9. Februar 2018 wurde die im Testturm erprobte Kabine des seillosen Aufzugsystems MULTI mit dem German Design Award ausgezeichnet. Literatur Christian Meinhardt: Applikation eines Hybriden Tilgersystems für ein 246 m hohes Gebäude. in: 6. VDI-Fachtagung. Baudynamik 2018, VDI-Berichte 2321, VDI Verlag GmbH, Düsseldorf 2018, ISBN 978-3-18-092321-5, S. 83–92. (Inhaltsverzeichnis) Rainer Büchel, Thomas Kaczmarek: Der Beton für den Testturm in Rottweil. In Gleitbauweise bis auf 246 m. in: Beton, 2018, , S. 374–377. Andreas Gabriel, Markus Jetter: Ein revolutionäres Aufzugssystem im Testturm in Rottweil. in: Structure, 2018, , S. 54–58. Preisträger. thyssenkrupp Testturm, Rottweil. in: DBZ – Deutsche Bauzeitschrift, 2018, , S. 6–9. (hier online) Christian Petersen, Horst Werkle: Dynamik der Baukonstruktionen. Springer Vieweg, Wiesbaden 2017, ISBN 978-3-8348-1459-3, S. 1113. Bundesingenieurkammer (Hrsg.): Ingenieurbaukunst 2017. Ernst & Sohn, Berlin 2016, ISBN 978-3-433-03167-4, S. 104–109. Thomas Glunk: Klaus Strohmeier: Bau des Aufzugstestturms für die thyssenkrupp AG in Rottweil. in: Bauingenieur, 2017, , S. 81–83. Holger Hinz, Wener Sobek: Der Testturm in Rottweil – Deutschlands höchste Aussichtsplattform. Stahlbetonröhre mit Textilfassade. in: Beratende Ingenieure, 2017, , S. 18–22. (hier online) Karin Kronthaler: Testturm brandsicher gedämmt. Flachdachdämmung und -entwässerung in großer Höhe. in: Industriebau, 2017, , S. 48–49. Birgit Kümmel: Testturm aus Stahlbeton. in: Baukultur, Zeitschrift der Deutschen Architekten- und Ingenieurvereine (DAI), , Ausgabe 1/2016, S. 20–21. (hier online) Ab nach oben. Hoher Testturm für Aufzüge in Rottweil. in: Opus C, 2016, , S. 82–87. Horst Erler, Werner Remarque: Bauwerk der Rekorde – Der Testturm in Rottweil. in: Beton-Informationen, 2016, , S. 3–15. (hier online) Weblinks Online-Darstellungen Website des TK Elevator Testturms Rottweil Maßgeschneiderte Eleganz aus Glasgewebe und Stahl stuttgarter-nachrichten.de: Das muss man beim Besuch wissen und Multimedia-Reportage Ausgezeichnete Architektur: Schwäbisches Highlight. thyssenkrupp Testturm in Rottweil (PDF; 2,9 MB), S. 26–29. Testturm Rottweil: PTFE-Fassade – Dokumentationsvideo zur Anbringung der Fassade Panoramaaufnahme von der Aussichtsplattform bei sehr guter Fernsicht (Beschriftung von Sichtzielen zuschaltbar), auf panorama-photo.net Video- und Filmbeiträge Bau des TK Elevator Testturms im Zeitraffer – Videobeitrag von TK Elevator Galileo: Deutschlands höchster Aufzug – Der Fahrstuhl der Zukunft – Fernsehbeitrag vom 24. November 2017 Sendung mit der Maus: Eine riesige Schraube – Filmbeitrag vom 13. Januar 2019 Einzelnachweise Turm im Landkreis Rottweil Bauwerk in Rottweil Aussichtsturm in Baden-Württemberg Aufzug (Bauwerk) Turm in Europa ThyssenKrupp Helmut Jahn (Architekt) Erbaut in den 2010er Jahren
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https://de.wikipedia.org/wiki/Lysergs%C3%A4ureamide
Lysergsäureamide
Lysergsäureamide (meist kurz: Lysergamide) sind eine chemische Stoffgruppe, welche die Amide der Lysergsäure und ihre Derivate umfasst. Ihre Stammverbindung ist das Mutterkornalkaloid Ergin. Viele dieser Verbindungen weisen pharmakologische Eigenschaften auf, die sie als Arzneistoff oder auch Droge interessant machen. Lysergamidhaltige Arzneimittel werden vor allem in der Frauenheilkunde und Geburtshilfe, bei Migräne und Cluster-Kopfschmerz sowie bei Morbus Parkinson eingesetzt. Mit Blick auf den bekanntesten Vertreter der Gruppe – das hochpotente Psychedelikum Lysergsäurediethylamid (LSD) – spricht man im Falle synthetischer Lysergamide auch von LSD-Analoga. Dabei umfassen strukturelle LSD-Analoga alle Substanzen, deren chemische Struktur jener von LSD stark ähnelt. Ist die Ähnlichkeit so beschaffen, dass die Substanz im lebenden Organismus auch eine ähnliche Wirkung hervorruft wie LSD, hat man es überdies mit einem funktionellen LSD-Analogon zu tun. Diese Wirkung ist auch speziesabhängig und nicht unbedingt von Versuchstieren auf den Menschen übertragbar. Teilweise handelt es sich bei den funktionellen Analoga um Prodrugs, die nach Einnahme vom Körper in LSD umgewandelt werden. In manchen Fällen besitzen die Analoga eine eigenständige pharmakologische Aktivität. Neben wissenschaftlichem Interesse und industriellem Wirkstoffdesign besteht eine Motivation für die Entwicklung neuer LSD-Analoga darin, bestehende staatliche Regulierungen psychotroper Substanzen zu umgehen. Übersicht über die Stoffgruppe Grundstruktur Die Struktur aller Lysergamide leitet sich von der Stammverbindung Ergin ab. Damit handelt es sich um Ergolene mit Doppelbindung zwischen den C-Atomen 9 und 10 (Δ9,10-Ergolene), die in Position 8 eine Carbonsäureamidgruppe aufweisen. Sie können daher als polycyclische Amide beschrieben werden, in die sowohl die Phenethylamin- als auch die Tryptaminstruktur eingebettet sind. Natürlich vorkommende Lysergamide Bei einem großen Teil der Mutterkornalkaloide – nicht jedoch den Clavinen und Lysergsäuren – handelt es sich um Lysergamide, welche in einfache Lysergamide und Ergopeptide unterteilt werden. Einfache Lysergamide tragen an der Amidgruppe keinen weiteren oder nur eine kleine Hydroxyalkylgruppe als Substituenten. Hierzu gehören die Stammverbindung Ergin sowie Lysergsäurehydroxyethylamid und Ergometrin. Bei Ergopeptiden sind über die Amidgruppe Tripeptide an das Ergin-Grundgerüst gebunden. Durch die vielfältigen Kombinationsmöglichkeiten von zwei der drei Aminosäuren (die dritte ist fast immer Prolin) zusätzlich zu den verschiedenen Substitutionsmustern am Ergin-Grundgerüst gibt es eine große Anzahl bekannter Ergopeptide. Man unterscheidet zunächst Ergopeptine und Ergopeptame: erstere enthalten einen Oxazolidring, in welchem die Stellung 2' oxidiert ist, in letzteren bilden die letzten zwei Aminosäuren einen Dizyklus. Bei Peptinen werden anhand der ersten Aminosäure weitere Untergruppen definiert, namentlich die Ergotamin- (Alanin), die Ergotoxin- (Valin) und die Ergoxin-Gruppe (α-Aminobuttersäure). Synthetische Lysergamide Künstlich hergestellte Derivate leiten sich von natürlich vorkommenden Lysergamiden meist durch veränderte Substituenten an den drei Stickstoffatomen der Stammverbindung ab. Das bekannteste Beispiel ist das N,N-Diethylderivat von Lysergamid, LSD. Nur wenige Lysergamide mit Substituentenmodifikationen an anderen Stellen des Ergolen-Gerüsts sind von Bedeutung, zu nennen sind hier lediglich die 2-Brom-Derivate des Ergopeptins Ergocryptin, Bromocriptin, bzw. von LSD, BOL-148. Welche synthetischen Lysergamide als „LSD-Analoga“ bezeichnet werden, wird auch in der wissenschaftlichen Literatur uneinheitlich gehandhabt. Während sich Strukturanaloga schon durch bloße Ähnlichkeit der chemischen Struktur als solche qualifizieren, weisen funktionelle Analoga darüber hinaus wie LSD eine halluzinogene Wirkung auf. Dessen ungeachtet werden sowohl manche nicht-halluzinogene LSD-Derivate wie BOL-148 als auch Lysergamide, die keine Diethylamide sind, als „LSD-Analoga“ oder „LSD-Kongenere“ bezeichnet, wo dies zweckmäßig erscheint. Forschungsgeschichte Spätestens seit der zweiten Hälfte des 15. Jahrhunderts wurde Mutterkorn in der Frauenheilkunde und Geburtshilfe eingesetzt, insbesondere als Mittel bei Wehenschwäche sowie zur Verminderung von Blutungen während und nach der Geburt. Im 17. Jahrhundert wurde es als Ursache des „Antoniusfeuers“ (siehe unten) erkannt. Auf der Suche nach den Wirkstoffen im Mutterkorn gelang es dem französischen Pharmazeuten Charles Joseph Tanret anno 1875 als erstem, mit „Ergotinin“ einen homogenen Bestandteil des komplexen Alkaloidgemischs zu isolieren, der aber wenig bis keine pharmakologische Wirksamkeit besaß und sich später als Gemisch dreier Lysergamide herausstellte. Auch das 1906 gleichzeitig von George Barger und Francis Howard Carr in England sowie F. Kraft in der Schweiz abgetrennte, pharmakologisch hochwirksame „Ergotoxin“ bzw. „Hydroergotinin“ wurde 1943 von den Schweizer Chemikern Arthur Stoll und Albert Hofmann als Lysergamidgemisch erkannt und in seine Einzelbestandteile aufgeteilt. Stoll war es auch, der bereits 1918 mit Ergotamin tatsächlich das erste Mutterkornalkaloid in Reinsubstanz gewonnen hatte. Ergometrin wurde in der ersten Hälfte der 1930er Jahre in mehreren Laboratorien zugleich entdeckt. Beim Versuch seiner Partialsynthese aus Isolysergsäure synthetisierte Hofmann 1938 im Labor von Stoll bei Sandoz erstmals – als 25. Lysergamidderivat aus seiner Synthesereihe – „LSD-25“, das sich im Weiteren aber als weder zur medikamentösen Wehenförderung noch als Analeptikum geeignet erwies, weswegen es vorerst nicht weiter verfolgt wurde. Patentiert und als Arzneimittel auf den Markt gebracht wurde von Sandoz in der Zwischenzeit das Ergometrin-Derivat Methylergometrin. Als Hofmann im Jahre 1943 noch einmal LSD synthetisierte und ihn dabei trotz vorsichtigen Arbeitens rauschhafte Symptome befielen, führte er einen Selbstversuch mit einer – nach damaligem Wissensstand – sehr geringen Menge seines Produkts durch, das sich dabei als psychotrope Substanz nie dagewesener Potenz herausstelle. Seit der Entdeckung der psychotropen Wirkung von LSD wurden zahlreiche Derivate der Lysergsäure synthetisiert und charakterisiert, um seinen Wirkmechanismus zu erforschen. Nachdem es in den Jahren 1948 bis 1953 gelungen war, den Neurotransmitter Serotonin zu isolieren, zu identifizieren und darzustellen, beobachtete die Gruppe um John H. Gaddum, dass LSD in glatter Muskulatur als Antimetabolit von Serotonin wirkt. Vor diesem Hintergrund veranlasste die psychotomimetische Wirkung von LSD D. W. Woolley, E. Shaw und andere dazu, dem Zusammenhang zwischen der Rolle von Serotonin im Gehirn und der Entstehung von Psychosen wie Schizophrenie nachzugehen. Frühzeitig fiel auf, dass das LSD-Derivat 2-Brom-LSD (BOL-148) Serotonin antagonisiert und keinerlei psychedelische Effekte hervorruft. Daraufhin spielten LSD und seine Derivate eine wichtige Rolle in jener Phase der Psychopharmakologie, die von Albert Sjoerdsma und Michael G. Palfreyman als „Renaissance“ (1953–1970) der Serotoninforschung charakterisiert wurde. Im Laufe der 1960er kam die Forschung zum Einsatz von LSD im Rahmen „psycholytischer“ und „psychedelischer Therapie“ weitgehend zum Erliegen, was oft mit der zur gleichen Zeit einsetzenden Prohibitionspolitik begründet wird. Der Medizinhistoriker Matthew Oram weist aber für die USA darauf hin, dass LSD-Forschung niemals verboten, teilweise sogar weiterhin gefördert wurde, der Niedergang vielmehr bereits früher einsetzte und auf komplexe Veränderungen der rechtlichen Rahmenbedingungen für Pharmaforschung allgemein – u. a. infolge des Contergan-Skandals – zurückzuführen ist. Weiterhin wurden und werden Lysergamide einschließlich LSD zur biochemischen Grundlagenforschung verwandt und Derivate ohne ausgeprägte psychotrope Wirkung als Medikamente eingesetzt und erforscht. In jüngerer Vergangenheit hat auch das akademische Interesse an psychotropen Lysergamiden zu möglichem therapeutischen Einsatz und für die neuropsychologische Forschung wieder zugenommen. Medizinische Verwendung Bei der Mutterkorn-Behandlung von Frauen mit Menstruationsbeschwerden sowie während und nach schwierigen Geburten diente wegen seiner gebärmutterstimulierenden Wirkung insbesondere das Mutterkornalkaloid Ergometrin als Wirkstoff, welches aufgrund dessen von der Weltgesundheitsorganisation auch als unentbehrliches Arzneimittel geführt wird. Ähnliche Wirkung zeigt sein synthetischer Abkömmling Methylergometrin. Ihre einstige Bedeutung auf diesem Gebiet haben die Lysergamide aber mittlerweile verloren. Während Ergometrin selbst nicht mehr im Handel ist, wurden vom Methylergometrin-Präparat Methergin in Deutschland im Jahr 2011 noch 0,8 Millionen Definierte Tagesdosen (DDD) verschrieben, bei rückläufiger Verschreibungshäufigkeit. Die Zweckentfremdung von Ergotpräparaten zur Selbstabtreibung birgt die Gefahr schwerwiegender Nebenwirkungen für die ungewollt Schwangere in Form von vaskulärem Ergotismus (siehe unten). Mehrere Lysergamide werden als Mittel gegen Migräne eingesetzt oder erprobt. Das in der Migräneprävention effektive Methysergid verschwand infolge des Auftretens seltener, aber schwerer Nebenwirkungen (v. a. Retroperitonealfibrose) seit Mitte der 1960er wieder vom Markt. Ergotamin und sein Dihydroderivat werden darüber hinaus zur präventiven Behandlung von Cluster-Kopfschmerz eingesetzt, 2-Brom-LSD wird als möglicher Arzneistoff hierfür untersucht. Vom Dihydroergotamin-Präparat Ergotam-CT wurden 2013 in der BRD 1,7 Millionen DDD verschrieben, bei rückläufiger Verschreibungshäufigkeit. Als drittes bedeutsames Gebiet kommen Lysergamidderivate in der Therapie der Parkinson-Krankheit zum Einsatz. Bromocriptin-Präparate wurden in der BRD 2019 im Umfang von insgesamt 1,1 Millionen DDD verschrieben. Auf den 9,10-hydrierten Wirkstoff Cabergolin entfielen weitere 0,93 Millionen DDD. Pharmakologie Allgemeine Pharmakodynamik Das pharmakologische Profil von Lysergamiden ist komplex, da sie mit einer Vielzahl von G-Protein-gekoppelten Rezeptoren wechselwirken, die biogene Amine als physiologische Liganden haben. Die psychedelische Wirkung von LSD und Wirkungsanaloga wird vermittelt über die Aktivierung kortikaler Serotonin-Rezeptoren des Typs 2A (5-HTR2A), die überwiegend intrazellulär vorkommen. Eine Schlüsselrolle kommt der indirekten Ausschüttung von Glutamat, insbesondere im präfrontalen Cortex zu, wobei die vermittelnden Signaltransduktionskaskaden noch nicht ausreichend aufgeklärt sind. fMRT-Studien zeigen, dass unter LSD-Einwirkung einerseits die Integrität funktionaler Netzwerke im Gehirn vermindert ist und die Signalvarianz innerhalb solcher Netzwerke abnimmt, andererseits verstärkt Hirnareale miteinander kommunizieren, die sonst untereinander nur wenig funktional verbunden sind. So begünstigt die intensivere funktionale Vernetzung anderer Hirnareale mit dem primären visuellen Cortex das Entstehen der charakteristischen Halluzination. Der Zusammenhang zwischen zunehmender Konnektivität im thalamokortikalen System und sensorischer Filterung im Thalamus muss noch genauer erforscht werden. Vielfältige Erklärungsansätze wurden hergeleitet zu der Frage, warum manche 5-HTR2A-Agonisten, darunter auch Lysergamide, trotz ausgeprägter Affinität keine psychedelische Wirkung entfalten. Ein wesentlicher Faktor lässt sich im Grad der Zellmembranpermeabilität finden. So wirken Agonisten, die aufgrund ihrer ausgeprägten Lipophilie zur passiven Diffusion imstande sind, psychedelisch, während höher polare Stoffe wie Serotonin, die die Membran nicht durchqueren, keinen solchen Effekt haben. Im Englischen wird diese Form der funktionellen Selektivität location bias genannt. Im Fall von Ergotamin könnte eine zu geringe Passage über die Blut-Hirn-Schranke den ausbleibenden Effekt erklären, wobei die Studienlage zu dieser Frage uneindeutig ist. Ein anderer Erklärungsansatz führt diesen Unterschied der halluzinogenen Agonisten LSD (und DOI) auf der einen Seite und der nicht-halluzinogenen Agonisten Ergotamin (und Lisurid) auf der anderen darauf zurück, dass sie unterschiedliche Phosphorylierungsmuster am 5-HT2A-Rezeptor hervorrufen. Während letztgenannte eine rasche und robuste Rezeptordesensibilisierung und -internalisierung bewirken, verlaufen beide Regulierungsschritte im Falle der Halluzinogene langsamer, in geringerem Umfang und unabhängig von β-Arrestin 2. Im Tierversuch mit Knockout-Mäusen erweist sich das Vorhandensein von β-Arrestin 2 – nicht jedoch von β-Arrestin 1 – als notwendig dafür, dass die Mäuse nach 5-HT2A-Rezeptoraktivierung mit LSD die typischen Reaktionen auf Psychedelika zeigen. Wird der gleiche Rezeptorsubtyp dagegen mit dem ebenfalls halluzinogenen Amphetamin-Derivat DOI aktiviert, treten entsprechende Reaktionen auch bei Mäusen auf, die nicht über β-Arrestin 2 verfügen. Zahlreichen 5-HTR2A-Agonisten wohnt das Potential rasch depressionslösender Wirkung inne. Ergebnisse präklinischer Studien deuten darauf hin, dass sich der antidepressive Wirkanteil vom psychedelischen entkoppeln lässt. Dies wurde etwa am Beispiel von 2-Brom-LSD gezeigt, welches die psychedelische Wirkung von LSD und DOI hemmt und antidepressive Eigenschaften hat. Es ist gemäß BRET-Assay ein 5-HTR2A-Partialagonist (Emax 60 % für Gq), während das halluzinogene LSD nahezu ein Vollagonist ist (Emax 91,5 %). Der antidepressive Effekt wird zum Teil der Aktivierung der 5-HT2A-Rezeptoren zugeschrieben, während andererseits erkannt wurde, dass LSD wie auch Psilocin unmittelbar an den Tyrosinkinaserezeptor Typ B (TrKB; als Dimer) hochaffin binden. TrKB gilt als zentraler Vermittler antidepressiver Wirkung. Diese Wirkstoffe erhöhen die Verfügbarkeit von TrkB an der Zelloberfläche und verstärken als Positivmodulatoren dessen Signalfunktion. Synergistisch bewirkt LSD die Hochregulierung und damit die erhöhte Verfügbarkeit des Neurotrophins BDNF, dem endogenen Liganden des TrKB. Sowohl LSD als auch Ergotamin wirken am 5-HT2B-Rezeptor als arrestinbevorzugende Agonisten, aktivieren also vorrangig den β-Arrestin-Signalweg gegenüber der Phosphoinositidkaskade. Am 5-HT1B-Rezeptor tritt dagegen keine vergleichbare funktionelle Selektivität auf. Die migräneprophylaktische Wirkung von Methysergid kommt über 5-HT2B-Antagonismus zustande, die Wirkung gegen akute Migräne von Ergotamin und Dihydroergotamin dagegen über 5-HT1B/1D-Partialagonismus. Agonistische bzw. partialagonistische Wirkung vieler Lysergamidderivate wie Bromocriptin an Dopamin-Rezeptoren vor allem der D2-ähnlichen Gruppe ist die Grundlage ihres Einsatzes in der Therapie der Parkinson-Krankheit, der ein Dopaminmangel zugrunde liegt. In Kombinationstherapie mit der Dopamin-Vorstufe Levodopa kann es einen unerwünschten Nebeneffekt des langfristigen Levodopa-Einsatzes lindern, nämlich die davon induzierte Steigerung des Dopamin-Abbaus im Striatum, welche mit der Zeit die Dopamin-ersetzende Wirkung von Levodopa reduziert. Auch gibt es Hinweise darauf, dass Dopamin-abhängige Vorgänge für einen zeitverzögert eintretenden Teil der LSD-Wirkung verantwortlich sind. Darüber hinaus wechselwirken Lysergamide mehr oder weniger stark mit verschiedenen Adrenozeptoren. Historisch geht deren Unterteilung in α- und β-Typen darauf zurück, dass erstere von Mutterkornalkaloiden beeinflusst werden und letztere nicht. Aktivierung von α-Adrenozeptoren der glatten Muskulatur – wie im Uterus oder in Blutgefäßen – führt zu deren Kontraktion. Die absoluten und relativen Affinitäten zum α1- und α2-Rezeptorsubtyp stellen sich für verschiedene Lysergamide unterschiedlich dar. Die geringe Bindungsselektivität ist typisch für Mutterkornalkaloide, die deswegen im Vergleich zu den ebenfalls auf Serotonin-Rezeptoren abzielenden Triptanen als Dirty Drugs gelten. Die relativen Affinitäten zu den verschiedenen Rezeptoren können bei Analoga in unterschiedlichem Ausmaß variieren; so hat man zwischen den Affinitäten verschiedener Lysergamide zu Dopamin-Rezeptoren der D1-ähnlichen Gruppe einerseits und zu Serotonin-Rezeptoren der 5-HT2-Familie andererseits keine nennenswerte Kovarianz gefunden. Dies eröffnet die Möglichkeit, durch geeignete Substitutionen die Selektivität synthetischer Lysergamide zu beeinflussen. Im Falle vieler funktioneller LSD-Analoga ist nicht gesichert, ob ihre pharmakologische Wirkung auf eine eigenständige Rezeptoraffinität zurückzuführen ist, oder ob es sich um eine Prodrug handelt, aus der erst in vivo LSD oder ein anderes wirksames Lysergamid freigesetzt wird. Beide möglichen Wirkmechanismen schließen sich auch nicht gegenseitig aus, allerdings ist es unwahrscheinlich, dass eine Prodrug, die bereits teilweise zum hochpotenten LSD metabolisiert wurde, mit einer etwaigen eigenen Aktivität nennenswert zur psychotropen Wirkung beiträgt, wofür sie mit dem hochaffinen LSD um die vorhandenen 5-HT2A-Rezeptoren konkurrieren müsste, welches sich überdies durch eine lange Verweildauer ebenda auszeichnet. Dazu passt, dass die auf dem Drogenmarkt erhältlichen LSD-Analoga N-Allyl-nor-LSD (AL-LAD), 1-Propionyl-LSD (1P-LSD) und N-Ethyl-nor-LSD (ETH-LAD) im Rahmen einer Konsumentenselbstauskunftstudie tendenziell als etwas schwächere Version von LSD bewertet wurden. Struktur-Wirkungsbeziehung Grundlage der Struktur-Wirkungsbeziehung der Lysergamide ist, dass sie in ihrer chemischen Struktur mehreren Neurotransmittern ähneln. In ihrem Ergolen-Gerüst vereinen sie wesentliche Strukturmerkmale der Katecholamine (Dopamin, Noradrenalin, Adrenalin), die ebenfalls Phenylethylamine sind, sowie von Serotonin (5-Hydroxytryptophan), das gleichsam zu den Tryptaminen gehört. Aminerge Rezeptoren weisen eine schmale, mit hydrophoben Seitenketten ausgekleidete orthosterische Bindungstasche für ihre physiologischen Transmitter auf, in die sich auch das Ergolen-Gerüst einfügt. Bedeutung der Amidsubstituenten Besonders intensiv erforscht wird der Mechanismus der Wechselwirkung von Lysergamiden mit Serotonin-Rezeptoren. Dabei zeigt sich, dass für diese Liganden neben der orthosterischen Bindungstasche selbst auch der vorgelagerte Bereich von großer Bedeutung ist. In dieser erweiterten Bindungstasche (extended binding pocket, EBP) hält sich bei Bildung des Ligand-Rezeptor-Komplexes die C-8-ständige Amidgruppe mit ihren Substituenten auf. Auch für die Spezifität der Bindung an Dopamin-Rezeptoren hat sich die Wechselwirkung mit der erweiterten Bindungstasche als bedeutsam herausgestellt. Von entscheidender Bedeutung für die psychotrope Potenz des LSD ist seine namensgebende N,N-Diethylamidgruppe. Bereits geringe Modifikationen an dieser Stelle – wie beim Isomer mit je einer Methyl- und n-Propylgruppe statt zweier Ethylgruppen – führen zu deutlich verringerter Wirkung. In einer homologen Reihe von N-Alkyl-N-iso-propyllysergamiden zeigt sich ein besonders starker Rückgang der Wirksamkeit im Tierversuch beim Übergang von der N-Ethyl-N-iso-propyl- zur N,N-Di-iso-propylverbindung. Untersuchungen mit Lysergamiden mit amidisch gebundenen 2,4-Dimethylazetidinen, welche als erstarrte Modelle der N,N-Diethylamidgruppe dienen, geben Hinweise auf die Bedeutung der Konformation dieser Gruppe: Lediglich das Derivat mit (S,S)-(+)-2,4-Dimethylazetidin rief im Tierversuch eine ähnlich starke Wirkung hervor wie LSD, die beiden anderen Stereoisomere mit (R,R)-(−)- und cis-2,4-Dimethylazetidin dagegen nicht. In vitro durchgeführte Ligandenbindungstests zeigten hier auch hohe Affinitäten zum 5-HT2A-, 5-HT2B- und 5-HT2C-Rezeptor sowie die höchste intrinsische Aktivität bezüglich der Umsetzung von Phosphoinositid als Schritt der Signaltransduktion. Auf Grundlage kristallographischer, kinetischer und molekulardynamischer Analysen wird dies damit erklärt, dass die Ethylgruppen im rezeptorgebundenen Zustand auf diese Weise trans zueinander stehen und nur diese Konformation weitere Wechselwirkungen des tiefer in den Rezeptor hineinragenden Ergolen-Gerüsts mit den Aminosäuren des Proteins ermöglicht, die den Liganden festhalten. Ist der Ligand an der Einnahme dieser fixierenden Konformation sterisch gehindert oder fehlen ihm die Substituenten, diffundiert er bereits nach kurzer Zeit wieder von der Bindungsstelle des Rezeptors fort. Die Kinetik der Rezeptor-Ligand-Bindung wirkt sich auf deren weitere Folgen nicht nur quantitativ, sondern auch qualitativ aus: je kürzer die Verweildauer an der Bindungsstelle von 5-HT2A- und 5-HT2B-Rezeptoren, desto geringer wird spezifisch der β-Arrestin2-Signalweg aktiviert. In diesem Zusammenhang erweist sich auch eine der extrazellulären Schleifen (EL 2) des 5HT2A/2B-Rezeptors als bedeutsam, da sie eine Art beweglichen „Deckel“ bildet, der sowohl den Ein- als auch den Austritt von Liganden verlangsamt. Wechselwirkungen seiner Seitenketten mit den Substituenten in der erweiterten Bindungstasche können die Verweildauer weiter erhöhen. In vergleichenden kryoelektronenmikroskopischen Untersuchungen an Ligand-Rezeptor-Komplexen hat sich gezeigt, dass die Wechselwirkung zwischen C-8-ständigen Substituenten und erweiterter Bindungstasche auch wesentlich dafür ist, dass Bromocriptin viel stärker an Dopamin-Rezeptoren vom Subtyp D2 bindet als an solche vom Subtyp D1, da dessen große Tripeptidgruppe – unter anderem aufgrund der sterisch anspruchsvollen Leucin-Seitenkette – im Falle des D1-Subtyps in Konflikt mit der Seitenkette eines evolutionär nicht-konservierten Lysin sowie mit der Position einer transmembranären α-Helix (TM6) steht. Im Falle des D2-Subtyps ist erstere nicht vorhanden und letztere anders positioniert, sodass auch der große Ergopeptidsubstituent Platz findet. Bedeutung des Ergolengerüsts Wichtig für die Verankerung sowohl im Serotonin- als auch im Dopamin-Rezeptor ist eine Ionenbindung zwischen der basischen – und damit unter physiologischen Bedingungen protonierten – Trialkylamingruppe in Position 6 und der Carboxylatgruppe einer konservierten Aspartat-Seitenkette. Wird die Methylgruppe am N-6 durch andere organische Gruppen ersetzt, lässt sich in manchen Fällen im Rahmen von Drug-Discrimination-Versuchen eine niedrigere mittlere effektive Dosis (ED50) bestimmen, ab der Versuchstiere, die zuvor gelernt hatten, nach intraperitonealer Gabe von LSD einerseits und isotoner Salzlösung andererseits unterschiedliche Schalter zu betätigen, LSD-entsprechendes Verhalten zeigen (siehe Tabelle). Vor allem mit Allyl- (AL-LAD), aber auch Ethyl- (ETH-LAD) und n-Propylgruppen (PRO-LAD) am N-6 ergaben sich niedrigere ED50-Werte als bei LSD, mit iso-Propyl-, n-Butyl- und Propargylgruppe dagegen höhere. Ohne Methylgruppe (Nor-LSD) erkannten die Versuchstiere die Substanz nicht mehr als LSD-Analogon; gleiches gilt bei ihrer Ersetzung durch die 2-Phenylethylgruppe, was im Falle von Opiumalkaloiden dagegen oft zu hoher Aktivität führt. Die Wechselwirkung zwischen dem Indolring und dem Rezeptor scheint weniger festgelegt zu sein. Mit LSD tritt im 5-HT2B-Modell eine Wasserstoffbrückenbindung des (nicht basischen) Indol-NH zum Rückgrat-O eines Glycin auf, mit Ergotamin dagegen zur OH-Gruppe einer Threonin-Seitenkette. Von verschiedenen Ergolinen und Tryptaminen ist bekannt, dass Alkylsubstituenten am Indol-N die Affinität zum 5-HT2A-Rezeptor des Menschen verringern, nicht jedoch zu jenem der Ratte. Der Unterschied ist so stark, dass sich dabei das Verhältnis der 5-HT2A-Rezeptoraffinität zwischen den Spezies umkehrt: Während die N-1-unsubstituierten Verbindungen eine höhere Affinität zum menschlichen Rezeptor haben, haben die N-1-substituierten eine höhere zum Rezeptor der Ratte. Acylsubstituenten am Indol-N verringern die Affinität von LSD-Derivaten zu den meisten Monoamin-Rezeptoren einschließlich des 5-HT2A-Rezeptors um ein bis zwei Zehnerpotenzen. Die immer noch beträchtliche Potenz der N-1-acetylierten (ALD-52), -propionylierten (1P-LSD) und -butyrylierten (1B-LSD) Verbindungen ist auf effektive Deacylierung in vivo zurückzuführen. Allgemein zu einem Verlust der halluzinogenen Wirkung führen Inversionen eines der beiden oder beider Stereozentren (C-5, C-8), Reduktion der Δ9,10-Doppelbindung oder Substituenten am C-2, insbesondere Halogene. Pharmakokinetik Im Körper beginnt die Biotransformation der nur schlecht wasserlöslichen Lysergamide in der Leber mit Funktionalisierungsreaktionen (Phase-I-Reaktionen). Von zentraler Bedeutung sind hier Oxidationsreaktionen, die von Enzymen des Cytochrom-P450-Systems katalysiert werden, vor allem von CYP3A4: CYP3A4 entfernt Alkyl- und Allylgruppen vom Amin-N (N-6), deethyliert Amidgruppen zum N-Monoethylamid und hydroxyliert das Ergolen-Gerüst. Außer bei N-1-acylierten LSD-Derivaten und ETH-LAD werden solche Hydroxylierungen auch von CYP1A2 katalysiert. Andere Isoenzyme der CYP-Superfamilie spielen nur eine kleine Rolle: CYP2C19 katalysiert von den untersuchten Muttersubstanzen nur die Demethylierung von LSD, CYP2C9 die Amid-Deethylierung nur bei LSD und ECPLA, CYP2D6 die Hydroxylierung von ALD-52, 1B-LSD und ETH-LAD. Von CYP2D6 gibt es Polymorphismen, die einen nennenswerten Einfluss auf die pharmakokinetischen Parameter von LSD haben. Acylgruppen am Indol-N (N-1) werden hydrolytisch durch Amidasen abgespalten. Vor allem hierdurch kann LSD aus N-1-acylierten LSD-Derivaten freigesetzt werden. Auch Alkylgruppen am Indol-N können in vivo rasch entfernt werden; so wird etwa Methysergid im Zuge eines First-Pass-Effekts zu einem großen Teil zu Methylergometrin N-1-demethyliert. In Phase II der Biotransformation werden die so funktionalisierten Metabolite glucuronidiert, wodurch ihre Hydrophilie stark zunimmt und sie über die Niere mit dem Harn ausgeschieden werden können. Toxikologie Mutterkornvergiftungen sind die wohl ältesten bekannten Mykotoxikosen. Je nach Herkunft kann sich die Alkaloidzusammensetzung im Sklerotium unterscheiden und unterschiedliche Symptombilder hervorrufen. Man unterscheidet nach den Symptomen vor allem konvulsiven Ergotismus mit tonisch-klonischen Krampfanfällen und Halluzinationen sowie gangränösen (vaskulären) Ergotismus mit Gewebsnekrosen infolge von Blutunterversorgung aufgrund extremer Blutgefäßverengung. Hinzu können Verdauungsbeschwerden (Enteroergotismus) und Überwärmung (hyperthermer Ergotismus) treten. Werden gleichzeitig Medikamente eingenommen, die die CYP3A4 hemmen, können auch therapeutisch übliche Dosen von Lysergamid-Wirkstoffen giftig wirken, da ihr Abbau dadurch behindert wird. Mehrere Fälle sind bekannt, bei denen nach gleichzeitiger Einnahme eines Präparats mit 1 mg Ergotamin und eines CYP3A4-Hemmers gangränöser Ergotismus auftrat. Im Vergiftungsfalle werden zur Therapie standardmäßig Vasodilatantien intraarteriell injiziert, um der gefährlichen Vasokonstriktion zu begegnen. Auch längerdauernde Einnahme von Ergotaminen scheint das Ischämie-Risiko zu erhöhen, doch ist die Studienlage hierzu noch unzureichend. Für Ergopeptide – nicht jedoch für einfache Lysergamide wie Ergometrin – wurde ferner Zytotoxizität in menschlichen Zellkulturen demonstriert. Während von LSD selbst bekannt ist, dass es sich bei üblichen wirksamen Dosen (50–200 μg) um eine physiologisch äußerst sichere Substanz handelt, gibt es zur Toxizität LSD-analoger neuer psychoaktiver Substanzen kein gesichertes Wissen, sondern lediglich die Selbstauskunft von Konsumenten, Analoga als insgesamt etwas weniger wirksam und subjektiv noch weniger gefährlich als LSD wahrzunehmen. Hinweise darauf, dass aktuell erhältliche Analoga eine signifikant höhere Toxizität hätten als LSD selbst, liegen bisher nicht vor. Chemie Biosynthese Ihren Anfang nimmt die Biosynthese der Lysergamide in Mutterkornpilzen bei der Prenylierung der Aminosäure Tryptophan mit Dimethylallylpyrophosphat (DMAPP), katalysiert von der Prenyltransferase 4-Dimethylallyltryptophan-Synthase (DMATS). Nach Methyltransferase-katalysierter Methylierung der Aminogruppe mit S-Adenosylmethionin (SAM) wird über mehrere – ebenfalls enzymatische – Zwischenschritte zunächst Ring C und anschließend Ring D aufgebaut, wobei nach und nach verschiedene Clavine entstehen. Das Δ8,9-Ergolen Agroclavin wird in zwei weiteren Schritten enzymatisch zur Paspalsäure oxidiert, welche – entweder spontan oder mit Unterstützung seitens einer Isomerase – zur Lysergsäure tautomerisiert. Wie im Weiteren die Lysergamide aus der D-Lysergsäure entstehen, ist ungewöhnlich: Eine nichtribosomale Peptidsynthetase (NRPS), die über zwei funktionell unterschiedliche Untereinheiten (D-Lysergylpeptidsynthetase 1 und 2) verfügt, aktiviert zunächst mit ihrer einen Untereinheit (LPS2) die Carboxylgruppe durch Bildung eines Thioesters. Nach Transfer an die andere Untereinheit (LPS1) katalysiert diese drei aufeinanderfolgende Kondensationsreaktionen mit Aminosäuren, wobei jedes Zwischenprodukt wieder als reaktiver Thioester an das Enzym gebunden bleibt. Nach Übertragung von Prolin als dritter Aminosäure kommt es zur Cyclokondensation mit der zuvor übertragenen Aminosäure und das Lactam – ein Ergopeptam – wird freigesetzt. Dabei handelt es sich das erste Beispiel eines NRPS-Multienzymkomplexes mit verschiedenen Untereinheiten, das in Pilzen gefunden wurde. Die Weiterreaktion zu Ergopeptinen erfordert einen enzymatisch katalysierten Zwischenschritt, in dem die erste Aminosäure an ihrer α-Position oxidiert wird; das Zwischenprodukt cyclisiert spontan zum Oxazolidinon – zum Ergopeptin. Alternativ kann die aktivierte Lysergsäure mithilfe eines weiteren Enzyms (LPS3) mit der Aminosäure Alanin kondensieren und anschließend zu Ergometrin reduziert werden. Herstellung Bereitstellung des Grundgerüsts Der übliche Weg zur Herstellung von Lysergamiden sind Partialsynthesen ausgehend von Lysergsäure, die in industriellem Maßstab (Weltjahresproduktion 1999 auf 10–15 t geschätzt) durch Isomerisierung von Paspalsäure oder Hydrolyse anderer Mutterkornalkaloide aus Bioreaktoren mit saprophytisch kultivierten Mutterkornpilzen bereitgestellt wird. Die natürlich vorkommenden Ergopeptine werden direkt durch Fermentation gewonnen, wobei deren geringe Wasserlöslichkeit bei dem dafür nötigen pH-Wert niedrige Konzentrationen in der Fermentationsbrühe bedingt. Auch laborchemische Zugänge zum Aufbau des Ergolen-Gerüsts sind möglich: Der Forschungsgruppe um Robert B. Woodward gelang 1956 die erste, fünfzehnstufige Totalsynthese der Lysergsäure, seitdem wurden zahlreiche weitere – auch enantioselektive – Zugänge entwickelt. Diese Ansätze sind jedoch viel aufwändiger als die Isolierung aus natürlichem Material und anschließende Modifizierung. Die häufigsten Modifikationen in Lysergamiden betreffen die Substituenten an den Stickstoffatomen (Indol-N, Amin-N und Amid-N) sowie an Position 2 des Indolrings. Das Einführen von Substituenten an anderen Positionen – ohne die Δ9,10-Ergolen-Grundstruktur zu verändern – bereitet dagegen meist große präparative Schwierigkeiten. Synthese amidsubstituierter Lysergamide Der erste synthetische Zugang zu Lysergamiden war die Spaltung natürlicher Ergopeptide mit Hydrazin, wodurch die Carbonsäurehydrazide der Diastereomere Lysergsäure und Isolysergsäure entstehen, deren Enantiomere durch Kristallisation mit Di-(p-toluyl)-D-weinsäure aufgetrennt werden können. Die Isolysergsäurehydrazide lagern sich in gesättigter Ethanol-Lösung nach Zugabe von Kalilauge basenkatalysiert zu den entsprechenden Lysergsäurehydraziden um. Aus den Carbonsäurehydraziden können durch Umsetzung mit in situ gebildeter salpetriger Säure die Carbonsäureazide gewonnen werden. Die sehr reaktionsfähigen Lysergsäureazide bilden mit Aminen dann die entsprechenden Lysergsäureamide. Auch LSD wurde auf diese Weise erstmals synthetisiert. Diese Methode ist mit verschiedenen Nachteilen behaftet: Die Reaktionsbedingungen bewirken eine teilweise Racemisierung und Isomerisierung, was weitere Trennungs-, Umlagerungs- und Aufreinigungsschritte erfordert, die hochreaktiven Azide müssen in großen Mengen Lösungsmittel verdünnt werden, und der Acylierungsschritt nimmt mehrere Stunden in Anspruch. Dennoch waren lange Zeit keine besseren Zugänge verfügbar, da der klassische Weg der Amidsynthese – die Bildung der entsprechenden Carbonsäureester oder -chloride und die anschließende Umsetzung mit Aminen – bei Lysergsäure nicht funktioniert. Im Laufe der Zeit wurden jedoch verschiedene Alternativrouten entwickelt, die die direkte Darstellung zahlreicher Lysergamide aus Lysergsäure ermöglichen, etwa über gemischte Säureanhydride mit Trifluoressigsäure oder Schwefelsäure, mithilfe von Phosphorylchlorid, oder mit PyBOP als Kupplungsreagenz. Synthese N-1-substituierter Lysergamide Modifikationen am Indol-N (Position 1) sind durch Alkylierungen, Acylierungen und Mannich-artige Reaktionen leicht zugänglich. Alkylierungen werden mit primären Alkylhalogeniden und Kaliumamid in flüssigem Ammoniak durchgeführt. Acylierungen sowie Sulfamoylierungen lassen sich mithilfe von Phasentransferkatalyse durch Umsetzung mit den entsprechenden Carbon- bzw. Sulfonsäurehalogeniden vornehmen. Die Acetylierung mit Essigsäureanhydrid gelingt dagegen nicht, da es unter milden Bedingungen nicht mit Lysergsäure-Derivaten reagiert, unter energischeren Bedingungen aber der Ring D aufgespalten wird. Eine Alternative ist die Umsetzung mit Keten in Benzol mit katalytischen Mengen Triethylamin. Mannich-artige Kondensation von Dialkylaminen und Carbonylverbindungen ist mit Indolen möglich, wenn sie – wie die Derivate der Lysergsäure – an Position 3 Substituenten tragen. Hierdurch werden die N-1-Dialkylaminoderivate der Lysergamide zugänglich. Diverse weitere Modifikationen sind möglich. Synthese C-2-substituierter Lysergamide In Position 2 ist die pharmazeutisch bedeutendste Modifikation das Einführen eines Brom-Atoms wie in Bromocriptin und 2-Brom-LSD (BOL-148). Direkte Bromierung mit elementarem Brom führt jedoch zur Überbromierung. Ein einzelnes Br-Atom kann mithilfe von N-Bromsuccinimid eingeführt werden, analog Iod mit N-Iodsuccinimid, Chlor mit N,2,6-Trichlor-4-nitro-acetanilid. Speziell für die Synthese von Bromocriptin aus Ergocryptin wurden zahlreiche weitere Verfahren entwickelt. Synthese N-6-substituierter Lysergamide Die Darstellung von am Amin-N (Position 6) anders substituierten Lysergamiden aus Lysergsäure erfordert zu Beginn deren N-Demethylierung. Da es sich beim Ausgangsstoff um ein tertiäres Amin handelt, kann es im Rahmen einer Von-Braun-Reaktion mit Bromcyan in Tetrachlormethan (unter Freisetzung von Methylbromid) zur entsprechenden N-Cyanoverbindung umgesetzt werden, welche sich anschließend mit Zink in verdünnter Essigsäure zum sekundären Amin reduzieren lässt. Letzteres ist ein geeigneter Reaktionspartner für eine nukleophile Substitution mit Alkyl- oder Allylhalogeniden, welche mit ihm in Dimethylformamid (mit Kaliumcarbonat zum Abfangen der bei der Reaktion freigesetzten Halogenwasserstoffe) die entsprechenden N-6-alkylierten bzw. -allylierten Produkte bilden. Reaktionen Eine präparativ bedeutende Reaktion der Lysergamide ist die Reduktion der Δ9,10-Doppelbindung, die einen wichtigen Schritt in der Synthese von Ergolin-Arzneistoffen wie Cabergolin, Dihydroergotamin, Dihydroergocryptin und Dihydroergotoxin darstellt. Hierbei entsteht am C-10 ein neues Stereozentrum. Durch katalytische Hydrierung von Lysergsäure und ihren Derivaten wird nur das Stereoisomer mit trans-ständigen Ringen C und D gebildet (bei Isolysergsäure und deren Derivaten dagegen das cis-Isomer), was einen frühen Hinweis auf die jeweilige Stellung der abschirmenden Carbonsäuregruppe bei Lysergsäure und Isolysergsäure gab. Nach photochemischer Anregung der Doppelbindung kann es in wässriger Lösung auch zur protisch katalysierten Addition von Wasser kommen, bei der sich die Hydroxylgruppe anschließend am C-10 befindet, wobei auch hier das trans-Isomer begünstigt ist. Insbesondere in Gegenwart katalytischer Mengen Base kommt es leicht zur Epimerisierung am C-8. Der Grund hierfür liegt in der benachbarten Δ9,10-Doppelbindung: (8R)- (Lysergsäure/-amide) und (8S)-Stereoisomer (Isolysergsäure/-amide) können sich über das Δ8,9-Tautomer als Zwischenprodukt ineinander umwandeln. Aus biologischem Material extrahierte Ergopeptine enthalten daher immer auch zu einem gewissen Anteil die Isoformen. Bei Ergopeptamen ist das dagegen nicht der Fall, da diese sich in Gegenwart von Basen rasch zersetzen. Weitere Reaktionen von Lysergamiden, die in der Literatur beschrieben werden, beinhalten die salzsaure Ringöffnung von 1,2-Dimethylaziridinen in Form ihrer Amide mit Lysergsäure, die vollständige alkalische Hydrolyse von Ergopeptinen sowie die Methanolyse von Ergopeptamen. Analytik Farbreaktionen können sowohl zum qualitativen als auch zum quantitativen Nachweis von Lysergamiden eingesetzt werden. Zur Anfärbung auf den Trägerplatten nach Dünnschichtchromatographie dient meist das Dragendorff-Reagenz. Hohe Empfindlichkeit bei der photometrischen Bestimmung der Konzentration von Indolverbindungen besitzt die – zum Nachweis der Mutterkornalkaloide entwickelte – Van-Urk-Reaktion. Weitere chemische Methoden sind in der Literatur beschrieben, haben in der heutigen Praxis aber keine große Bedeutung. Toxikologische Analysen stützen sich hauptsächlich auf instrumentelle Verfahren, insbesondere auf Infrarot- und Kernspinresonanzspektroskopie sowie gekoppelte chromatographische und massenspektrometrische Verfahren (LC/MS und GC/MS). Zur Strukturaufklärung können Lysergamide entweder – wie bei ihrer klassischen Synthese aus Ergopeptinen – durch Hydrazinolyse oder durch Reduktion mit Lithiumalanat gespalten werden, zur weiteren Analyse von Peptidteilen können anschließend Standardmethoden wie der Edman-Abbau zum Einsatz kommen. Die Analyse der Fragmente erfolgt dann mittels geeigneter instrumenteller Verfahren. Regulierung auf Staats- und EU-Ebene Lebens- und Futtermittel Mit der EU-Verordnung 2021/1399 sind mit Wirkung zum 1. Januar 2022 Höchstgehalte von Mutterkornalkaloiden in Getreideerzeugnissen festgelegt. So dürfen bei Abgabe an den Endabnehmer bzw. Verbraucher beispielsweise Roggenmehl und -körner nicht mehr als 500 μg/kg enthalten. Ab 1. Juli 2024 gilt ein abgesenkter Höchstwert von 250 μg/kg. Die Gehalte sind definiert als Summe aus Ergotamin, Ergometrin, Ergosin, Ergocristin, Ergocryptin und Ergocornin und deren Epimeren. Psychoaktive Substanzen Als LSD in den 60er Jahren zunehmend auch in der breiteren amerikanischen Bevölkerung – insbesondere auch in der Gegenkultur, die sich unter dem Eindruck des Vietnamkrieges herausbildete – als Droge konsumiert wurde, schränkten viele westliche Staaten seit Mitte des Jahrzehnts Herstellung, Inverkehrbringen, Handel und Besitz psychotroper Substanzen rechtlich stark ein. LSD selbst ist seit 1970 in Anhang I des Controlled Substances Act gelistet und unterliegt damit in den USA strengster Regulierung. International fällt es unter die Konvention über psychotrope Substanzen, wodurch es automatisch auch vom österreichischen Suchtmittelgesetz (SMG) erfasst wird. In der Bundesrepublik Deutschland wurde es 1967 mit der vierten Betäubungsmittel-Gleichstellungsverordnung den betäubungsmittelrechtlichen Vorschriften des Opiumgesetzes unterstellt und ist bis heute nicht verkehrsfähig gem. Anlage I zum Betäubungsmittelgesetz (BtMG). Um seine unerlaubte Herstellung zu unterbinden, unterstehen neben Lysergsäure selbst auch die Mutterkornalkaloide Ergometrin und Ergotamin aufgrund ihrer Einstufung als Grundstoffe der Kategorie 1 in der Verordnung (EG) Nr. 111/2005 in Deutschland dem Grundstoffüberwachungsgesetz (GÜG), in der Schweiz zu gleichem Zwecke als Vorläuferstoffe gem. Verzeichnis f der Schweizer Betäubungsmittelverzeichnisverordnung (BetmVV-EDI) dem Betäubungsmittelgesetz (BetmG). Darüber hinaus unterliegen in Deutschland seit 2016 alle Substanzen den Beschränkungen des Neue-psychoaktive-Stoffe-Gesetzes (NpSG), die gem. mit Zustimmung des Bundesrats entspr. durch Verordnung des Bundesgesundheitsministeriums in die Anlage des NpSG eingetragen worden sind. Dort werden zwei Kategorien vom Tryptamin abgeleiteter Verbindungen unterschieden, wobei LSD-Analoga in der Kategorie der Δ9,10-Ergolene erscheinen. Das NpSG erfasst jedoch nicht alle Δ9,10-Ergolene schlechthin, sondern gem. nur solche, deren molare Masse 500 u nicht überschreitet und die an Position 8 eine Amidgruppe sowie an weiteren bestimmten Positionen der so definierten Lysergamid-Grundstruktur solche Substituenten besitzen, welche in der Anlage des Gesetzes gelistet sind. Eine Unterscheidung nach Konfigurationsisomeren – obwohl pharmakologisch bedeutsam – findet im Rahmen des NpSG nicht statt. Auf Stoffe, die Arzneimittel im Sinne des Arzneimittelgesetzes (AMG) oder Betäubungsmittel im Sinne des BtMG sind, ist das NpSG nicht anwendbar, . Das österreichische Recht verfolgt einen etwas anderen Ansatz, hier werden neue psychoaktive Substanzen nicht über ihre chemische Struktur definiert, sondern gem. über ihre Fähigkeit, bei ihrer Anwendung im menschlichen Körper eine psychoaktive Wirkung herbeizuführen. Allerdings eröffnet dem Bundesgesundheitsminister die Möglichkeit, neue psychoaktive Substanzen mit Verordnung zu bezeichnen. Dabei dürfen – sofern dies besser geeignet erscheint, der Verbreitung psychoaktiver Substanzen vorzubeugen – auch ganze chemische Substanzklassen definiert werden, selbst wenn davon Substanzen mit erfasst werden, deren psychotrope Potenz gering oder nicht vorhanden ist, oder die dem SMG unterliegen. Die Anlage II zur einschlägigen Neue-Psychoaktive-Substanzen-Verordnung (NPSV) benennt pauschal sowohl „[j]ede Verbindung, die von einer Phenethylamin-Grundstruktur abgeleitet werden kann, auch wenn sie ein heterocyclisches oder polycyclisches Ringsystem […] an Stelle der Phenylstruktur oder eine oder mehrere der chemischen Strukturen gemäß § 1 Abs. 2 als Substituent(en) aufweist“ als auch „Tryptamin sowie jede Verbindung, die von dieser chemischen Grundstruktur abgeleitet werden kann, auch wenn sie eine oder mehrere der chemischen Strukturen gemäß § 1 Abs. 2 als Substituent(en) aufweist“, wobei es sich bei Substituenten gemäß § 1 Abs. 2 NPSV um „Aldehyde, Alkane, Alkene, Alkohole, Alkoxide, Alkyle, Alkylhalide, Alkyne, Amide, Amine, Benzyle, Carboxylate, Ester, Ether, Halogenide, Isocyanate, Ketone, Nitrile, Nitroxide, Phenole, Phenyle, Selenoalkyle, Selenoester, Selenole, Thioalkyle, Thiocyanate, Thioester, Thioketone, Thiole, Thiophenole sowie alle chemisch möglichen auch substituierten Ringverbindungen (wie insbesondere Cyclopropyl-, Cyclobutyl-, Benzocyclobutyl- oder Adamantan-Ringstrukturen) und substituierten Hetero-Ringverbindungen (wie insbesondere Indazol-, Pyrazolopyridin-, Azaindol-, Tetrahydro-Naphthyridin-Verbindungen) sowie deren isomere Ringstrukturen“ handeln kann. Nicht anwendbar ist das NPSG auf Stoffe, die nach Maßgabe der arzneimittel-, apotheken- oder arzneiwareneinfuhrrechtlichen Vorschriften in Verkehr gebracht werden dürfen, . In der Schweiz wird vom Eidgenössischen Departement des Innern über die BetmVV-EDI bestimmt, welche Substanzen der Betäubungsmittelkontrolle nach dem BetmG unterliegen. Dort finden sich in Verzeichnis e als „Rohmaterialien und Erzeugnisse mit vermuteter betäubungsmittelähnlicher Wirkung“ mehrere einzelne LSD-Analoga sowie alle Lysergamide, sofern sie am Indol-N unsubstituiert oder mit einer beliebigen Alkyl- oder Carbonylgruppe substituiert sind, und zusätzlich am Amid-N unsubstituiert oder in beliebigem Umfang mit Alkyl-, Alkenyl-, Alkoxyalkyl- oder Hydroxyalkylgruppen substituiert sind, sowie zusätzlich am N-6 mit einer beliebigen Alkyl- oder Alkenylgruppe substituiert sind. Die Verwendung von LSD und Analoga zu wissenschaftlichen Zwecken ist auch in Deutschland, Österreich und der Schweiz nicht verboten () bzw. genehmigungsfähig (, , ). Weblinks Literatur Nicht mehr ganz aktueller, aber sehr umfassender Überblick über Mutterkornalkaloide und ihre Derivate: Vladimír Křen, Ladislav Cvak (Hrsg.): Ergot: the genus Claviceps. CRC Press, 1999, ISBN 978-90-5702-375-0. Neuere Einzelarbeiten zur Struktur-Wirkungsbeziehung von Lysergamiden: David E. Nichols, Stewart Frescas, Danuta Marona-Lewicka, Deborah M. Kurrasch-Orbaugh: Lysergamides of Isomeric 2,4-Dimethylazetidines Map the Binding Orientation of the Diethylamide Moiety in the Potent Hallucinogenic Agent N,N-Diethyllysergamide (LSD). In: Journal of Medicinal Chemistry, 2002, Band 45, Nr. 19, S. 4344–4349, doi:10.1021/jm020153s. Daniel Wacker, Sheng Wang, John D. McCorvy, Robin M. Betz, A. J. Venkatakrishnan, Anat Levit, Katherine Lansu, Zachary L. Schools, Tao Che, David E. Nichols, Brian k. Shoichet, Ron O. Dror, Bryan L. Roth: Crystal Structure of an LSD-Bound Human Serotonin Receptor. In: Cell, 2017, Band 168, S. 377–389, doi:10.1016/j.cell.2016.12.033. John D. McCorvy, Daniel Wacker, Sheng Wang, Bemnat Agegnehu, Jing Liu, Katherine Lansu, Alexandra R. Tribo, Reid H. J. Olsen, Tao Che, Jian Jin, Bryan L. Roth: Structural determinants of 5-HT2B receptor activation and biased agonism. In: Nature Structural & Molecular Biology, 2018, Band 25, S. 787–796, doi:10.1038/s41594-018-0116-7. Kuglae Kim, Tao Che, Ouliana Panova, Jeffrey F. DiBerto, Jiankun Lyu, Brian E. Krumm, Daniel Wacker, Michael J. Robertson, Alpay B. Seven, David E. Nichols, Brian K. Shoichet, Georgios Skiniotis, Bryan L. Roth: Structure of a Hallucinogen-Activated Gq-Coupled 5-HT2A Serotonin Receptor. In: Cell, 2020, Band 182, Nr. 6, S. 1574–1588.e19, doi:10.1016/j.cell.2020.08.024. Youwen Zhuang, Peiyu Xu, Chunyou Mao, Lei Wang, Brian Krumm, X. Edward Zhou, Sijie Huang, Heng Liu, Xi Cheng, Xi-Ping Huang, Dan-Dan Shen, Tinghai Xu, Yong-Feng Liu, Yue Wang, Jia Guo, Yi Jiang, Hualiang Jiang, Karsten Melcher, Bryan L. Roth, Yan Zhang, Cheng Zhang, H. Eric Xu: Structural insights into the human D1 and D2 dopamine receptor signaling complexes. In: Cell, 2021, Band 184, Nr. 4, S. 931–942.e18, doi:10.1016/j.cell.2021.01.027. Aktuelle Einzelarbeiten von Brandt et al. zur analytischen und pharmakologischen Charakterisierung von LSD-Analoga: Simon D. Brandt, Pierce V. Kavanagh, Folker Westphal, Alexander Stratford, Simon P. Elliott, Khoa Hoang, Jason Wallach, Adam L. Halberstadt: Return of the lysergamides. Part I: Analytical and behavioural characterization of 1-propionyl-d-lysergic acid diethylamide (1P-LSD). In: Drug Testing and Analysis, 2016, Band 8, Nr. 9, S. 891–902, doi:10.1002/dta.1884. Simon D. Brandt, Pierce V. Kavanagh, Folker Westphal, Simon P. Elliott, Jason Wallach, Tristan Colestock, Timothy E. Burrow, Stephen J. Chapman, Alexander Stratford, David E. Nichols, Adam L. Halberstadt: Return of the lysergamides. Part II: Analytical and behavioural characterization of N6-allyl-6-norlysergic acid diethylamide (AL-LAD) and (2’S,4’S)-lysergic acid 2,4-dimethylazetidide (LSZ). In: Drug Testing and Analysis, 2017, Band 9, Nr. 1, S. 38–50, doi:10.1002/dta.1985. Simon D. Brandt, Pierce V. Kavanagh, Folker Westphal, Simon P. Elliott, Jason Wallach, Alexander Stratford, David E. Nichols, Adam L. Halberstadt: Return of the lysergamides. Part III: Analytical characterization of N6-ethyl-6-norlysergic acid diethylamide (ETH-LAD) and 1-propionyl ETH-LAD (1P–ETH-LAD). In: Drug Testing and Analysis, 2017, Band 9, Nr. 10, S. 1641–1649, doi:10.1002/dta.2196. Simon D. Brandt, Pierce V. Kavanagh, Brendan Twamley, Folker Westphal, Simon P. Elliott, Jason Wallach, Alexander Stratford, Landon M. Klein, John D. McCorvy, David E. Nichols, Adam L. Halberstadt: Return of the lysergamides. Part IV: Analytical and pharmacological characterization of lysergic acid morpholide (LSM-775). In: Drug Testing and Analysis, 2018, Band 10, Nr. 2, S. 310–322, doi:10.1002/dta.2222. Simon D. Brandt, Pierce V. Kavanagh, Folker Westphal, Alexander Stratford, Simon P. Elliott, Geraldine Dowling, Jason Wallach, Adam L. Halberstadt: Return of the lysergamides. Part V: Analytical and behavioural characterization of 1-butanoyl-d-lysergic acid diethylamide (1B-LSD). In: Drug Testing and Analysis, 2019, Band 11, Nr. 8, S. 1122–1133, doi:10.1002/dta.2613. Simon D. Brandt, Pierce V. Kavanagh, Folker Westphal, Alexander Stratford, Anna U. Odland, Adam K. Klein, Geraldine Dowling, Nicola M. Dempster, Jason Wallach, Torsten Passie, Adam L. Halberstadt: Return of the lysergamides. Part VI: Analytical and behavioural characterization of 1-cyclopropanoyl-d-lysergic acid diethylamide (1CP-LSD). In: Drug Testing and Analysis, 2020, Band 12, Nr. 6, S. 812–826, doi:10.1002/dta.2789. Simon D. Brandt, Pierce V. Kavanagh, Folker Westphal, Alexander Stratford, Simon P. Elliott, Geraldine Dowling, Adam L. Halberstadt: Analytical profile of N-ethyl-N-cyclopropyl lysergamide (ECPLA), an isomer of lysergic acid 2,4-dimethylazetidide (LSZ). In: Drug Testing and Analysis. 12, 2020, S. 1514, doi:10.1002/dta.2911. Simon D. Brandt, Pierce V. Kavanagh, Folker Westphal, Alexander Stratford, Peter Blanckaert, Geraldine Dowling, Matthias Grill, Hannes M. Schwelm, Volker Auwärter, Stephen J. Chapman: Separating the wheat from the chaff: Observations on the analysis of lysergamides LSD, MIPLA, and LAMPA. In: Drug Testing and Analysis, 2021, Early View, doi:10.1002/dta.3103. Simon D. Brandt, Pierce V. Kavanagh, Folker Westphal, Benedikt Pulver, Kathleen Morton, Alexander Stratford, Geraldine Dowling, Adam L. Halberstadt: Return of the lysergamides. Part VII: Analytical and behavioural characterization of 1-valeroyl-D-lysergic acid diethylamide (1V-LSD). In: Drug Testing and Analysis 14, 2022, S. 733, doi:10.1002/dta.3205. Simon D. Brandt, Pierce V. Kavanagh, Folker Westphal, Benedikt Pulver, Hannes M. Schwelm, Kyla Whitelock, Alexander Stratford, Volker Auwärter, Adam L. Halberstadt: Analytical profile, in vitro metabolism and behavioral properties of the lysergamide 1P‐AL‐LAD. In: Drug Testing and Analysis. 14, 2022, S. 1503, doi:10.1002/dta.3281. Pierce V. Kavanagh, Folker Westphal, Benedikt Pulver, Hannes M. Schwelm, Alexander Stratford, Volker Auwärter, Stephen J. Chapman, Adam L. Halberstadt, Simon D. Brandt: Analytical profile of the lysergamide 1cP‐AL‐LAD and detection of impurities. In: Drug Testing and Analysis. 2022 doi:10.1002/dta.3397. Anmerkungen Einzelnachweise Stoffgruppe Arzneistoff
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Carolina-Wolfspinne
Die Carolina-Wolfspinne (Hogna carolinensis) ist eine Spinne und die größte in Nordamerika vorkommende Art aus der Familie der Wolfspinnen (Lycosidae). Sie ist entgegen ihrem Trivialnamen weit über North und South Carolina großflächig in den Vereinigten Staaten und darüber hinaus auch in der kanadischen Provinz Ontario sowie dem mexikanischen Bundesstaat Baja California verbreitet. Dort bewohnt die Spinne eine Vielzahl an offenen Habitaten (Lebensräumen). Bei der Carolina-Wolfspinne handelt es sich wie bei vielen Wolfspinnen der Gattung Hogna um eine nachtaktive Art, die zu jenen Vertretern der Gattung zählt, die eine Wohnröhre graben und diese mit einem Wohngespinst sowie der umliegenden Vegetation auskleiden. Wie viele Wolfspinnen jagt auch die Carolina-Wolfspinne ohne ein Spinnennetz, sondern als freilaufender Lauerjäger. Dabei erlegt die Art entweder bei ihrer Wohnröhre oder davon entfernt als opportunistischer Jäger andere Gliederfüßer oder kleinere Wirbeltiere. Der Paarung geht ein Balzverhalten voraus; das Weibchen trägt wie für Wolfspinnen üblich sowohl den Eikokon als auch die daraus schlüpfenden Jungtiere mit sich, ehe diese sich von dem Muttertier trennen und selbstständig über mehrere Fresshäute (Häutungsstadien) heranwachsen. Bisse der Carolina-Wolfspinne beim Menschen sind dokumentiert. Der Biss gilt zwar als schmerzhaft, ruft jedoch im Normalfall keine medizinisch relevanten Symptome hervor. Außerdem sind im Gift der Art antimikrobielle Substanzen enthalten, eine für Spinnen ungewöhnliche Eigenschaft. Die Carolina-Wolfspinne ist überdies die Staatsspinne des US-Bundesstaats South Carolina und somit neben der Art Phidippus audax aus der Familie der Springspinnen (Salticidae) die derzeit einzige Spinne, die als ein Staatssymbol innerhalb der Vereinigten Staaten gilt. Merkmale Das Weibchen der Carolina-Wolfspinne erreicht eine Körperlänge von 22 bis 35 und das Männchen eine von 18 bis 20 Millimetern. Damit handelt es sich um einen größeren Vertreter der Wolfspinnen (Lycosidae) und überdies um den größten Vertreter dieser Familie, der in Nordamerika vorkommt. Der grundsätzliche Körperbau der Spinne entspricht dem anderer der Gattung Hogna. Der Carapax (Rückenschild des Prosomas bzw. Vorderkörpers) maß bei drei 1990 von Charles D. Dondale und James H. Redner und im Nordosten der Vereinigten Staaten vermessenen Weibchen, die eine Körperlänge von 20,32 bis zu 30 Millimetern aufwiesen, eine Länge von 10 bis 12,32 und eine Breite von 7,68 bis zu 9,89 Millimetern. Bei einem zur gleichen Zeit von Dondale und Redner untersuchten Männchen mit einer Körperlänge von 19 Millimetern war dessen Carapax 9,99 Millimeter lang und 6,94 Millimeter breit. Fred Punzo maß 2003 bei in der Chihuahua-Wüste gefundenen Weibchen eine Länge des Carapax von 9,9 bis 15,4 und durchschnittlich 13,4 ± 0,18 Millimetern sowie eine Breite von 5,1 bis 7,4 und im Durchschnitt 6,7 ± 0,11 Millimetern. Bei Männchen beliefen sich Punzos Ergebnisse diesbezüglich auf 9,1 bis zu 13,1 mm und durchschnittlich 11,2 ± 0,11 bzw. 4,9 bis zu 6,7 mm sowie im Durchschnitt 5,5 ± 0,08 mm. Der Carapax der Carolina-Wolfspine ist dunkelrotbraun oder bräunlich orange gefärbt und besitzt einen dunkleren Radiärstreifen. Daneben weist er schwach entwickelte medianene (mittlere) und submarginale (vor dem Rand gelegene) Bänder auf. Das breitere Medianband reicht für gewöhnlich nicht über die posterior (hinten) medianen Augen hinaus. Die Augenpartie erscheint schwarz, Gleiches trifft auf die Cheliceren (Kieferklauen) zu. Letztere sind außerdem häufig mit hellorangen oder gelben Setae (chitinisierten Haaren) bedeckt. Das Sternum (Brustschild des Prosomas) ist meistens schwarz, manchmal jedoch dunkelrötlich gefärbt. Die Beine erscheinen überwiegend dunkelrotorange, sind distal (von der Körpermitte entfernt) jedoch dunkler. Die Coxae (Hüftglieder) sind ventral (unten) schwärzlich. Die Enden der Femora (Schenkel) sowie die Basisbereiche und Enden der Tibien (Schienen) vom dritten und vierten Beinpaar haben eine schwarze Farbgebung. Das Opisthosoma (Hinterleib) hat eine gräuliche Färbung und ein breites undeutlich ausgeprägtes Herzmal. Ventral ist das Opisthosoma gräulich gefärbt. Diese Fläche kann jedoch auch eine schwarze Farbgebung besitzen. Sexualdimorphismus Der Sexualdimorphismus (Unterschied der Geschlechter) ist bei der Carolina-Wolfspinne verglichen mit anderen Spinnen gering ausgeprägt und beide Geschlechter lassen sich nur anhand weniger Merkmale, etwa der verschieden ausfallenden maximalen Körperlänge, unterscheiden. Daneben gibt es auch einige farbliche Unterschiede: So sind beim Weibchen dunkle Punktierungen ventral im Endbereich der Femora vorhanden. Beim Männchen befinden sich dafür schwarze Flächen im ventralen Endbereich der Coxae, der Tibien und der Patellae (Glieder zwischen Femora und Tibien) sowie den gesamten Ventralflächen der Tarsen (Fußglieder) und Metatarsen (Fersenglieder). Genitalmorphologische Merkmale Ein einzelner Bulbus (männliches Geschlechtsorgan) der Carolina-Wolfspinne kann innerhalb der Gattung Hogna mitunter durch das Cymbium (erstes und vorderes Sklerit bzw. Hartteil des Bulbus) charakterisiert werden, dessen Spitze mit 10 oder mehr dicken Makrosetae ausgestattet ist. Die Palea (vorspelzenartiges Gebilde) steht hervor, ist runzelig und hat einen sklerotisierten (verhärteten) Kamm. Die terminale (am Ende gelegene) Apophyse (Fortsatz) erscheint sichelförmig sowie breit gebaut und verläuft gebogen. Diese Apophyse endet spitz zulaufend. Der Embolus (drittes und letztes Sklerit des Bulbus) ist breit gebaut und zur Spitze hin verjüngt. Die mediane Apophyse hat einen vergleichsweise kurzen und kräftigen Aufbau und ist spitz zulaufend. Sie besitzt im Gegensatz zu denen anderer Arten der Gattung keinen Sporn. Ferner ist diese Apophyse am distalen Rand verdickt und erhoben. Eine Eigenschaft der Epigyne (weibliches Geschlechtsorgan) der Art, die innerhalb der Gattung als Unterscheidungsmerkmal dienen kann, ist die bei anderen dazugehörigen vorhandene Haube. Das Atrium (innere Kammer am Eingang der Epigyne) ist auf eine schmale tiefe Rinne entlang der Seiten des medianen Septums (Trennwand) reduziert. Das für die Gattung Hogna übliche Längsstück des medianen Septums hat ein schlankes Erscheinungsbild und ist gleichmäßig breit sowie rippenartig aufgebaut. Die Kopulationskanäle sind kurz, dick, schräg angelegt und deutlich voneinander getrennt. Lateral weisen sie je eine fingerartige Verdickung auf. Die Spermatheken (Samentaschen) haben eine große und runde Erscheinung sowie vereinzelte winzige Vorsprünge. Differenzierung von sympatrisch vorkommenden Wolfspinnen Die Carolina-Wolfspinne kann sympatrisch (gemeinsam) mit zwei weiteren vergleichsweise großen Vertretern der Wolfspinnen (Lycosa), der ebenfalls zur Gattung Hogna zählenden Art H. timuqua und der Tollwut-Tarantel (Rabidosa rabida), vorkommen. Alle drei Arten lassen sich jedoch leicht voneinander unterscheiden. Beim Männchen von H. timuqua sind – soweit bekannt – der Carapax und Beine annähernd orange gefärbt, während das Sternum und die gesamte Ventralseite eine schwarze Färbung aufweisen. Beim Weibchen dieser kaum nachgewiesenen Art weisen die Beine und Körper nach bisherigem Kenntnisstand eine annähernd quittengelbe Farbgebung auf. Hier ist die Ventralseite schwarz gefärbt. Die weniger ähnliche Tollwut-Tarantel besitzt eine gelbe Grundfarbe mit bräunlichen bis schwarzen Längsstreifen. Dazu verläuft auf dem Opisthosoma ein unterbrochenes Medianband, das hellere Bereiche umschließt. Die Beine des Männchens sind bei der Art zusätzlich dunkelbraun oder schwarz gefärbt. Verbreitung und Lebensräume sowie sympatrisches Vorkommen mit anderen Wolfspinnen Das Verbreitungsgebiet der Carolina-Wolfspinne umfasst große Teile der Vereinigten Staaten. Es reicht jedoch teilweise darüber hinaus und endet im Nordwesten in den US-Bundesstaaten Oregon und Wyoming, während es nach Nordosten hin in den US-Bundesstaat Maine sowie die kanadische Provinz Ontario reicht. Das Vorkommen der Spinne reicht nach Süden hin bis in den mexikanischen Bundesstaat Baja California sowie die US-Staaten Texas und Florida. Die Carolina-Wolfspinne nimmt als Habitat (Lebensraum) offene Flächen, wie Acker, Wiesen, Weiden, Graslandschaften und Wüsten, an. Von letzterem Habitat ist bekannt, dass das Männchen der Carolina-Wolfspinne in diesem weniger zahlreich als das Weibchen vorkommt. Es wird vermutet, dass in Wüsten die Überlebenschancen für das Männchen der Art allgemein geringer sind. Die Carolina-Wolfspinne teilt sich mit der Art Hogna timuqua und der Tollwut-Tarantel (Rabidosa rabida) ihrer Sympatrie entsprechend einige Habitate, darunter sandige Küstengebiete. Die Tollwut-Tarantel hält sich jedoch bevorzugt im Gegensatz zu den beiden anderen terrestrischen (bodenbewohnenden) Arten auf Stauden, Gräsern oder auf kleinen Bäumen und Sträuchern etwas erhöht über dem Bodengrund auf. Lebensweise Die Carolina-Wolfspinne ist wie viele Arten der Gattung Hogna nachtaktiv und legt als Rückzugsort eine in den Boden gegrabene Wohnröhre an. Ihrer Aktivitätszeit entsprechend verbleibt die Spinne häufig am Tag in ihrem Rückzugsort. In der Nacht kommt die Art dann hervor. In nordamerikanischen Wüsten wie der Chihuahua- oder der Sonora-Wüste zählt die Carolina-Wolfspinne wie einige andere Wolfspinnen (Lycosidae) zu deren geläufigen Bewohnern. Insbesondere hier ist die nächtliche Aktivitätszeit der Art vor allem in den Sommermonaten ausgeprägt. Bemerkenswert ist, dass die Carolina-Wolfspinne zumindest in der Chihuahua-Wüste trotz der teils lebensfeindlichen Bedingungen die Tendenz zeigt, auf das Anlegen eines Unterschlupfs zu verzichten. Dafür nutzt die Art dort andere Versteckmöglichkeiten, darunter die Unterseite von Steinen, Geröll, abgestorbene Vegetation oder Felsspalten. Auch werden verlassene, gegrabene Unterschlüpfe anderer Wüstenbewohner, darunter Eidechsen, Nagetieren und anderen Gliederfüßern gerne als Rückzugsort angenommen. Im Gegensatz dazu ließ sich in Arizona nachweisen, dass die Art dort mehrheitlich Wohnröhren anlegt. Anlegen und Funktionen des Unterschlupfes Ausgewachsene Individuen der Carolina-Wolfspinne sind vor allem zwischen März und bis zum Juni sowie teilweise darüber hinaus mit dem Anlegen eines Unterschlupfes beschäftigt. Danach kann dies bis zum November nur noch bei den Jungtieren beobachtet werden. Der gegrabene Unterschlupf der Art ist von variabler Beschaffenheit und kann manchmal auch nur bis zu 12 Zentimeter tief sein. Es sollen jedoch auch Wohnröhren mit Tiefen von bis zu 34 Zentimetern vorkommen, so maß Punzo bei seinen Beobachtungen in der Chihuahua-Wüste Wohnröhren der Art, die 21 bis 34 und durchschnittlich 27,8 ± 4,9 Zentimeter tief in den Boden reichen. Die Gestalt der Wohnröhre reicht von geraden, vertikal verlaufenden Gängen bis hin zu vertikalen, stark verzweigten Tunnelsystemen. Die Beschaffenheit der Unterschlüpfe wird wahrscheinlich von der Durchlässigkeit des Bodens und dem Vorhandensein von im Boden befindlichen und beim Bau hinderlichen Objekte, darunter großen Felsen, beeinflusst. Die Wohnröhre der Carolina-Wolfspinne dient wie bei anderen Wolfspinnen (Lycosidae) mit dieser Lebensweise nicht nur als Rückzugsort und Schutz vor Prädatoren (Fressfeinden), sondern bietet insbesondere in Wüsten auch Schutz vor hohen Temperaturen am Tag. Der Ausgang der Wohnröhre kann mit einem Durchmesser von über 3 Zentimetern vergleichsweise groß sein. Gelegentlich kann der Ausgang der Wohnröhre einen Durchmesser von lediglich 1,2 Zentimetern aufweisen. Bereits nachgewiesene Wohnröhren mit einem Durchmesser von 5 bis 6 Zentimetern dürften darauf zurückzuführen sein, dass diese von anderen Wüstenbewohnern stammen und nur von der Carolina-Wolfspinne übernommen wurden. Der Röhrenausgang wird häufig mit Spinnseide, Grashalmen und kleinen Zweigen verstärkt. Weitere Materialien, die in Wüsten dafür in Frage kommen, sind Blätter von Traubenkräutern (Ambrosia) und dem Kreosotbusch (Larrea tridentata), Stacheln von Kakteen, kleines Geröll und Hasenköttel. Da die Elemente radiär um den Röhrenausgang angelegt und durch Spinnseide mit diesem verfestigt sind, wird vermutet, dass diese Anordnung dazu dient, Vibrationen von außerhalb an die verborgene Spinne weiterzuleiten, und somit wie ein Frühwarnsystem für diese funktioniert. Weitere Funktionen dieser Konstruktion dürften neben dem Erschweren eines Einlasses von Prädatoren in die Röhre ebenso das Verhindern eines Wassereinlasses in die Röhre bei Regen sowie von Partikeln wie Sand und Erdkrumen sein. Außerdem könnte die Spinne mithilfe der Verstärkung des Röhrenausgangs ihren Unterschlupf wiedererkennen und in den Wüstenregionen diesen nutzen, sich über dem heißen Sand aufzuhalten. Das Konstrukt reicht 1,2 Zentimeter in die Höhe. In seltenen Fällen fehlt die Verstärkung des Ausgangs. Aktionsraum und Standort des Unterschlupfs Der Aktionsraum (genutzter Lebensraum) hat beim Weibchen der Carolina-Wolfspinne zumindest in der Chihuahua-Wüste eine Fläche von 1,34 ± 0,02 und beim Männchen eine von 0,91 ± 0,05 Quadratmetern. Die Standortwahl zum Anlegen eines Unterschlupfs wird bei der Art maßgeblich von der Beschaffenheit des jeweiligen Standorts ausgemacht, etwa, wenn der ausgewählte Standort an einen Wadi, ein Gewässerbett, Gräser oder Büsche angrenzt. Außerdem legt die Spinne ihren Unterschlupf immer in einer Entfernung von gut 0,5 Metern zu einer nächstgelegenen Pflanze an, sofern eine am Standort vorhanden ist. Jagdverhalten und Beutespektrum sowie geschlechtsspezifische Unterschiede Die wie alle Spinnen räuberische Carolina-Wolfspinne ist wie die überwiegende Mehrheit der Wolfspinnen (Lycosidae) ein freilaufender Lauerjäger, der demzufolge kein Spinnennetz für den Beutefang anlegt. Zwecks der Suche nach Beutetieren verlässt die Spinne in ihrer nächtlichen Aktivitätszeit und seltener auch am Tag ihren Unterschlupf. Dabei unternimmt die Art gegebenenfalls weitläufige Wanderungen. Alternativ zur aktiven Suche nach Beutetieren kann die Carolina-Wolfspinne auch entweder direkt am Ausgang ihrer Wohnröhre oder 2 bis 8 Zentimeter davon entfernt auf Beutetiere warten. Verharrt die Art am Röhrenausgang und nähert sich ein beliebiges Beutetier auf 1,5 Zentimeter der Wohnröhre, wird dieses von der Spinne gepackt und in die Wohnröhre transportiert. Befindet sich die Spinne in unmittelbarer Nähe zur Wohnröhre und packt sie ein Beuteobjekt, dann beginnt die Spinne schon außerhalb ihrer Wohnröhre mit der Nahrungsaufnahme und setzt diese für 3 bis 24 Minuten fort, ehe sie sich mitsamt Beutetier in der Wohnröhre verschanzt. Bei der Carolina-Wolfspinne handelt es sich um einen opportunistischen Räuber ohne spezialisiertes Beutespektrum, der demnach euryphag (nicht auf bestimmte Nahrung angewiesen) ist. Den Großteil des Beutespektrums bilden beliebige Gliederfüßer, darunter Käfer, Heuschrecken und andere Spinnen. Dabei ist die Art auch in der Lage, vergleichsweise wehrhafte Vertreter dieser Taxa, darunter Laufkäfer, zu erbeuten. Es ist der Carolina-Wolfspinne außerdem möglich, kleine Wirbeltiere zu erlegen, so wurden Weibchen der Art mit erbeuteten Jungtieren des Texas-Krallengeckos (Coleonyx brevis) gesichtet. Da das allgemein schmächtigere Männchen der Carolina-Wolfspinne vermutlich über geringere Energiereserven als das Weibchen verfügt, dürfte es vermehrt zu aktiven Nahrungssuchen neigen. Dennoch dürfte das Weibchen insgesamt ein erfolgreicherer Jäger sein, da es im Regelfall häufiger mit Beutetieren nachgewiesen wird. Alternativ könnte das Männchen auch aufgrund seines weniger kräftigen Aufbaus einen geringeren Bedarf an Nahrung aufweisen, dafür allerdings mehr auf erfolgreiche Nahrungssuchen angewiesen sein. Natürliche Feinde und Abwehrverhalten sowie Einflussfaktoren der Fluchtgeschwindigkeit Als Prädatoren der Carolina-Wolfspinne spielen etwa einige Wirbeltiere, wie verschiedene Vögel und darunter vor allem Rennkuckucke (Geococcyx) wie der Wegekuckuck oder verschiedene Eulen, eine große Rolle. Daneben ist unter den Wirbeltieren der Kojote ein bedeutender Fressfeind der Spinne. Genauso treten auch andere Gliederfüßer, etwa Faltenwespen, Skorpione, Walzenspinnen und Vogelspinnen, als Antagonisten der Art auf. Außerdem wird vermutet, dass räuberische Ameisen, die in Wüsten in großer Zahl vorkommen können, verschiedene Wolfspinnen (Lycosidae) einschließlich der Carolina-Wolfspinne entweder erbeuten oder zumindest aus ihren Unterschlüpfen vertreiben, indem sie in diese aktiv eindringen. Bei Störungen kann die Carolina-Wolfspinne eine auch für einige andere Spinnen typische Drohgebärde vollführen, bei dieser sich die Art aufrichtet, die vorderen Beine in die Luft streckt und die Cheliceren spreizt. Bei diesem Drohverhalten handelt es sich jedoch meistens um einen Bluff und die Spinne flieht meistens bei anhaltender Bedrohung, anstatt sich mit einem Giftbiss aktiv zur Wehr zu setzen. Eine wichtige Methode der Caroline-Wolfspinne zum Entkommen vor Fressfeinden ist die aktive Flucht, wobei diese von verschiedenen Faktoren beeinflusst wird. So neigt das Männchen der Art zu Fluchten über größere Distanzen als das Weibchen. Dies rührt vermutlich daher, dass das Männchen seltener eine Wohnröhre besitzt, in die es fliehen kann. Schnellere Individuen fliehen ebenfalls zumeist über größere Distanzen als langsamere, die eine Flucht erst dann antreten, sollte ein möglicher Prädator bereits eine kürzere Distanz zu der Spinne eingenommen haben. Da das Weibchen der Spinne allgemein größer und schwerer als das Männchen ist, ist es möglich, dass es aufgrund des bei ihm höheren Energiebedarfs seltener eine Flucht als das Männchen antritt. Neben der Flucht dürfte die Carolina-Wolfspinne auch mittels Tarnung vor Prädatoren entkommen, die ihr durch ihre Farbgebung in ihren Habitaten ermöglicht wird. Dies dürfte insbesondere bei langsameren Individuen der Spinne der Fall sein, die sich eher auf die Krypsis verlassen, während schnellere Individuen dann doch bei Störungen eher zur aktiven Flucht als zum Verharren neigen. Letzteres dürfte daher rühren, dass die Überlebenschancen bei der Flucht vor Prädatoren nur dann erhöht werden können, wenn das jeweilige Individuum der Art in der Lage ist, schneller zu laufen. Innerartliches Verhalten und Verträglichkeit Das innerartliche Verhalten der Carolina-Wolfspinne ist bislang beim Weibchen untersucht worden, jedoch nicht beim Männchen. Begegnen sich zwei außerhalb ihres Unterschlupfs befindliche Weibchen, nähern sie sich gegenseitig an und berühren einander an den vorderen Beinen. Beide Individuen verbleiben dann für 6 bis 22 Sekunden lang reglos, ehe sie sich wieder trennen. Nähert sich ein Weibchen einem anderen, das in seinem Unterschlupf verweilt, und berührt es deren vordere Extremitäten, dann werden diese von dem verborgenen Weibchen ausgestreckt, während es Trommelbewegungen mit seinen Pedipalpen (umgewandelte Extremitäten im Kopfbereich) ausgeführt sowie seine Cheliceren gespreizt. Dies wird fortgeführt, bis sich das andere Weibchen entfernt hat. Es kann auch vorkommen, dass ein in seinem Unterschlupf verweilendes Weibchen ein sich näherndes attackiert und tötet. Überlappen sich Unterschlüpfe der Carolina-Wolfspinne hinsichtlich des Aktionsraums, sind solche auch unbewohnt vorfindbar, was auf im Falle einer Überlappung auftretenden Kannibalismus, der von der Spinne ausgeht, zurückzuführen sein mag. Deswegen ist die maximale Distanz der Wanderung von der Art zum nächstgelegenen Artgenossen immer kleiner als die Distanz zwischen den Unterschlüpfen. Parallelen mit Hogna timuqua Unter den beiden mit der Carolina-Wolfspinne sympatrisch vorkommenden Arten sind insbesondere bei der gattungsverwandten Art H. timuqua viele Gemeinsamkeiten hinsichtlich der Biologie beider Spinnen erkennbar, zumal diese beiden Vertreter der Gattung Hogna aktiv auf dem Bodengrund nach Beutetieren suchen sowie die Beutespektren beider Arten einander ähneln und beide in den gleichen Habitaten eine selbstgegrabene Wohnröhre als Unterschlupf anlegen. Der Eingang der Wohnröhre von H. timuqua wird allerdings zusätzlich getarnt. Genauso sind beide Arten wie alle der Gattung nachtaktiv und präferieren die gleichen Witterungen. Insgesamt erwies sich H. timuqua als die dominantere Art. Jedoch dürften beide Arten in der Lage sein, sich gegenseitig zu erbeuten, wobei das größere Individuum als der Jäger hervorgehen dürfte. Genauso kommt innerartlicher Kannibalismus bei beiden Vertretern vor. Allerdings dürfte zumindest bei den Weibchen der durch die standorttreue Lebensweise limitierte Bewegungsraum Interaktionen beider Arten deutlich unwahrscheinlicher machen. Ferner sind sowohl andere Prädatoren als auch Parasiten vermutlich weitere Einflussfaktoren, die sich auf die Interaktionswahrscheinlichkeit beider Arten auswirken. Insgesamt ist die Relation zwischen der Carolina-Wolfspinne und H. timuqua noch nicht ausgiebig erforscht. Lebenszyklus und Phänologie Der Lebenszyklus der Carolina-Wolfspinne entspricht grundsätzlich dem anderer Wolfspinnen (Lycosidae). Die Phänologie (Aktivitätszeit) ausgewachsener Individuen variiert je nach geographischer Lage. Sie beläuft sich in dem innerhalb der gemäßigten Klimazonen befindlichen Teil des Verbreitungsgebiets der Art beim Weibchen auf das ganze Jahr und beim Männchen auf den Zeitraum zwischen dem späten Sommer und Herbst. Im Gegensatz dazu sind in der Sonora-Wüste ausgewachsene Individuen vom Weibchen der Spinne zwischen April und September sowie vornehmlich im Juli vorfindbar. Die Phänologie des Männchens stimmt innerhalb dieses Gebiets größtenteils mit der des Weibchens überein, wobei der Höhepunkt hier im Juli liegt. Zwischen November und Februar sind in der Sonora-Wüste keine Exemplare der Carolina-Wolfspinne anzutreffen. Jungtiere der Art sind dort vor allem im März und im Oktober anzutreffen. Fortpflanzung Das Fortpflanzungsverhalten der Carolina-Wolfspinne gliedert sich in die drei Phasen: das Aufsuchen eines weiblichen Geschlechtspartners seitens des Männchens, die Balz und die eigentliche Paarung. Es ist verglichen mit dem einiger anderer Spinnenarten gut erforscht. Diese Prozesse finden im Herbst statt. Aufsuchen des Weibchens seitens des Männchens Um ein Weibchen ausfindig machen zu können, wandert das Männchen der Spinne aktiv umher. Verläuft die Suche erfolgreich, nähert sich das Männchen dem Weibchen bzw. dessen Pedipalpen auf eine Entfernung von gut 3 Zentimetern und geht dann zur Balz über. Balz Die wie bei Wolfspinnenartigen (Lycosoidea) typisch ausgeprägte Balz beginnt bei der Carolina-Wolfspinne mit einem Reiben des Bodengrunds mithilfe seiner Pedipalpen. Dies wird als ein Erkundungsverhalten mithilfe chemischer Reize aufgefasst. Bei 1973 getätigten Beobachtungen des Balzverhaltens in West Virginia von Charles Farley und William A. Shear ließ sich ein vertikales Ausstrecken des ersten Beinpaars vom Männchen unmittelbar nach aufgenommenen Kontakt mit dem Weibchen belegen, was Punzo bei balzenden Individuen der Art in der Chihuahua-Wüste jedoch nicht beobachten konnte. Dem Erkundungsverhalten folgt ein vom Männchen verursachtes Trommeln, bei dem es seine Pedipalpen rapide hebt und senkt, sowie eine mithilfe gleicher Extremitäten ausgeführte Stridulation (Lauterzeugung durch Reiben zweier gegeneinander beweglicher Körperteile). Beide Prozesse werden gelegentlich von 4 bis 12 Sekunden andauernden Ruhephasen unterbrochen. Als Nächstes führt das Männchen weitere Trommelbewegungen auf den Bodengrund aus, indem es das rechte oder linke Bein des ersten Paares anhebt, streckt und schlussendlich absenkt. Das Weibchen verweilt passiv während der Balz des Männchens. Die nächsten Bewegungen des Männchens beinhalten an Liegestütze erinnernde Bewegungen bzw. Senkungen seines Körpers, bis es mit dem Bodengrund in Berührung gerät, wobei es zeitgleich weitere Trommelbewegungen und Stridulationen mithilfe seiner Pedipalpen ausführt, ehe es seinen gesamten Körper auf die Beinenden gestützt wieder anhebt. Farley und Shear wiesen überdies nach, dass das Männchen während der Balz mit seinem Opisthosoma vibriert. Auch dies konnte Punzo nicht belegen. Das Weibchen reagiert auf die liegestützartige Bewegung des Männchens mit einer Annäherung an seinen Geschlechtspartner, richtet sich diesem zu und hebt für gewöhnlich einseitig das erste oder zweite Beinpaar mit einer leichten Biegung an den jeweiligen Gelenken der Femura und der Patellae von den beanspruchten Beinen an. In dieser vorkopulären Haltung signalisiert das Weibchen Paarungsbereitschaft, sodass die Balz nun in die Paarung übergeht. Paarung Die eigentliche Begattung findet in der für viele ohne Spinnennetz jagende Echte Webspinnen (Araneamorphae) typischen Position III statt, sodass auch bei der Carolina-Wolfspinne das Männchen über dem Weibchen positioniert ist und beide übereinander befindlichen Geschlechtspartner in die jeweils entgegengesetzte Richtung blicken. Das Männchen wechselt mehrmals beidseitig die in die Epigyne des Weibchens einzuführenden Bulbi. Einer Einfuhr folgt je eine Expansion der Haematodocha (membranöser, dehnbarer Teil des Bulbus). Das Weibchen dreht sein Opisthosoma meistens etwas in laterale Richtung, was vermutlich dazu dient, den Kontakt zwischen seiner Epigyne und den Bulbi des Männchens zu erleichtern. Nach der Kopulation entfernt sich das Männchen zügig vom Weibchen. Eiablage und Kokonherstellung Ein begattetes Weibchen der Carolina-Wolfspinne vollführt die Eiablage und die Herstellung des Eikokons im Mai oder Juni des Folgejahres nach der Paarung. Die Masse des Eikokons sowie die Anzahl der darin angelegten Eier variiert je nach geographischer Lage. Eikokons der Art in der Chihuahua-Wüste wiegen laut Punzo 0,78 bis 1,11 und im Durchschnitt 0,89 ± 0,02 Gramm, während sich die Gelegegröße auf Werte zwischen 89 und 193 und durchschnittlich 137,4 ± 28,8 beläuft. Ähnliche Werte bezüglich der Gelegegröße ließen sich auch bei Eikokons der Spinne in Arizona nachweisen, wo die Gelegegröße 112 bis 180 betragen kann, wobei der dortige Mittelwert 149 beträgt. Ein Weibchen der Carolina-Wolfspinne mit Eikokon, das eine Wohnröhre angelegt hat, begibt sich gelegentlich mitsamt dem für Wolfspinnen üblich permanent an den Spinnwarzen angehefteten Eikokon außerhalb dieser und hält den Kokon dann in die Luft und somit am Tag der Sonne entgegen. Damit dürfte das Wachstum der Embryos gefördert werden, zumal diese anderweitig durch in den feuchteren Tiefen der Wohnröhre auftretenden Pilzbefall abgetötet werden können. Im Umkehrschluss wird die Fitness (Anpassungsfähigkeit) der Nachkommen gesteigert. Ein Weibchen der Carolina-Wolfspinne kann zumindest in der Sonora-Wüste zwei Eikokons hintereinander anlegen. Schlupf und anfänglicher Verbleib der Jungtiere Roland S. Shook, der 1978 die Biologie der Carolina-Wolfspinne in der Sonora-Wüste untersuchte, gab bekannt, dass das Weibchen den Eikokon dort für 12,2 Tage mit sich herumträgt, ehe die Nachkommen schlüpfen. Diese klettern dann – ebenfalls nach Eigenmanier der Wolfspinnen (Lycosidae) – auf das Muttertier und lassen sich von diesem anfangs tragen. Dabei werden vor allem dessen Opisthosoma und teilweise das Prosoma sowie die Beine bedeckt. Die Jungtiere ernähren sich dort von dem Dottervorrat in den Resten des ebenfalls nach wie vor umhergetragenen Eikokons, der nach maximal fünf Tagen aufgebraucht ist. Nach fünf oder sechs Tagen verlassen die Jungtiere das Muttertier und wachsen wie alle Spinnen selbstständig über mehrere Fresshäute (Häutungsstadien) heran. Selbstständige Lebensweise der Jungtiere und Lebenserwartung Sobald sich die Jungtiere der Carolina-Wolfspinne von ihrem Muttertier trennen, lassen sie sich einfach zu Boden fallen und beginnen von dort an ihre solitäre Biologie. Es wurde belegt, dass einige Jungtiere der Art noch für einige Wochen beim Unterschlupf des Muttertieres verweilen. Im Regelfall suchen diese aber einen eigenen geeigneten Rückzugsort oder legen einen solchen an. Während des Heranwachsens vergrößern die Jungtiere ihren Unterschlupf jedoch allem Anschein nach nicht, sondern legen einen neuen an. Es kann auch vorkommen, dass die Jungtiere den Unterschlupf ihres Muttertieres nach dessen Ableben übernehmen. Die selbstständigen Jungtiere der Carolina-Wolfspinne laufen außerdem häufig auf dem Bodengrund genau wie unter Steinen oder in flachen Höhlen umher. Sie unterscheiden sich dadurch von den ausgewachsenen Individuen, die bevorzugt versteckt leben. Das Männchen der Art ist im August und September geschlechtsreif, während das Weibchen seine Reife im Zeitraum zwischen August bis zum folgenden Sommer erhält. Die Lebenserwartung des Weibchens kann bis zu 3 Jahren reichen. Das Männchen, das zumeist nur ein Jahr alt wird, ist somit wesentlich kurzlebiger. Toxikologie Das Gift der Carolina-Wolfspinne wurde noch nicht vollständig charakterisiert. Es wurden jedoch zwei Toxine, die Lycotoxine I und II, isoliert und untersucht. Lycotoxin I besteht aus 25 Aminosäuren, besitzt einen amidierten C-Terminus und wiegt 2843 g/mol, während Lycotoxin II aus 27 Aminosäuren besteht und 3206 g/mol wiegt. Bei beiden Toxinen handelt es sich um kationische Peptide. Bei einem Biss der Spinne wird das Opfer paralysiert. Dies ist darauf zurückzuführen, dass die Lycotoxine die Spannungs- und Ionengradienten in Muskelzellen abbauen. Sie zeigen weiterhin Aktivität gegenüber grampositiven und gramnegativen Bakterien sowie Pilzen aus der Gattung Candida. Bei Erythrozyten von Wildkaninchen (Oryctolagus cuniculus) führt die Einwirkung der Toxine zur Hämolyse. Es wird vermutet, dass die antimikrobiellen Eigenschaften der Toxine dazu dienen, beim Verdauen der Beute keine Schädlinge aufzunehmen. Systematik Die Systematik der Carolina-Wolfspinne durchlief mehrfach Änderungen. Der Artname carolinensis deutet auf die nordamerikanische Kolonie Carolina des damaligen Vereinigten Königreichs Großbritannien und Irland, deren Gebiet sich auf die heutigen US-Staaten North und South Carolina belief und wo die Art erstmals nachgewiesen wurde. Bei der 1805 stattgefundenen Erstbeschreibung ordnete der Autor Charles Athanase Walckenaer die Carolina-Wolfspinne als Unterart der Apulischen Tarantel (Lycosa tarantula) unter der Bezeichnung L. t. carolinensis ein. Anschließend erhielt sie von verschiedenen Autoren unterschiedliche Bezeichnungen. Gleicher Autor erhob die Spinne 1837 in den Artstatus innerhalb der Gattung Lycosa damals noch unter der Bezeichnung Lycosa vehemens. James Henry Emerton nutzte 1885 die seitdem für lange Zeit genutzte Bezeichnung L. carolinensis für die Carolina-Wolfspinne, ehe Carl Friedrich Roewer sie 1955 zur Gattung Hogna unter der noch heute gängig angewandten Bezeichnung H. carolinensis für die Art transferierte. Carolina-Wolfspinne und Mensch Die Carolina-Wolfspinne zählt zu den bekanntesten Wolfspinnen (Lycosidae) Nordamerikas. Staatssymbol von South Carolina Die Carolina-Wolfspinne ist seit 2000 eines der Staatssymbole des US-Bundesstaats South Carolina. Die Anregung zu dieser Umsetzung stammte von Skyler B. Hutto, damals Schüler der dritten Klasse in dem Bundesstaat, um andere Schüler dazu zu motivieren, mehr über die dort heimische Art zu erfahren. Am 21. Juli 2000 erhob Jim Hodges, damaliger Gouverneur von South Carolina, die Spinne zum Staatssymbol. Bis 2021 war die Carolina-Wolfspinne die einzige Spinne in den Vereinigten Staaten, die als Staatssymbol eines Bundesstaats galt. Seitdem gilt die Art Phidippus audax aus der Familie der Springspinnen (Salticidae) als ein Staatssymbol von New Hampshire und ist somit neben der Carolina-Wolfspinne eine von zwei Spinnenarten, die zu Staatssymbolen eines Bundesstaats der Vereinigten Staaten erkoren wurden. Bissunfälle und Symptome Von der Carolina-Wolfspinne ausgehende Bissunfälle beim Menschen sind überliefert. Dies passiert jedoch nur, wenn die Spinne durch übermäßige Provokation dazu veranlasst wird. Anderweitig verhält sie sich gegenüber dem Menschen scheu. Der Biss der Art wird von der Wirkung her mit einem Bienenstich verglichen und gilt somit zwar als schmerzhaft, jedoch für gewöhnlich nicht als gefährlich. Einzelnachweise Literatur Weblinks bei Global Biodiversity Information Facility Hogna carolinensis bei BugGuide Hogna carolinensis bei der South Carolina Encycploedia Wolfspinnen
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https://de.wikipedia.org/wiki/Canines%20Cushing-Syndrom
Canines Cushing-Syndrom
Das Canine Cushing-Syndrom – nach Harvey Cushing, der die Erkrankung beim Menschen erstmals beschrieb – oder der Canine Hyperadrenokortizismus (von , und ) ist eine häufige hormonelle Erkrankung des Haushundes (Canis lupus familiaris). Bei ihr treten hohe Blutspiegel an Glucocorticoiden auf, insbesondere des in der Nebenniere produzierten Cortisols (Hypercortisolismus). Ursache sind zumeist Tumore der Hirnanhangsdrüse, die das die Nebenniere steuernde Hormon ACTH im Übermaß abgeben und somit eine Überproduktion von Cortisol auslösen. Noch häufiger tritt ein Cushing-Syndrom durch die Gabe synthetischer Glucocorticoide wie Prednisolon oder Dexamethason auf. Diese werden in der Tiermedizin häufig zur Behandlung von Allergien, Autoimmunkrankheiten oder Entzündungen eingesetzt und können bei Langzeitanwendung das gleiche Krankheitsbild auslösen (iatrogenes Cushing-Syndrom). Typische Symptome der Erkrankung sind vermehrtes Trinken, vermehrter Urinabsatz, gesteigerter Appetit, Hängebauch, dünne Haut, Muskelschwund und Infektanfälligkeit. Zur Sicherung der Diagnose können verschiedene Labortests herangezogen werden, eine eindeutige Diagnose ist aber nicht immer möglich. Zur Behandlung des iatrogenen Cushing-Syndroms wird das synthetische Glucocorticoid schrittweise abgesetzt. Bei den anderen Cushing-Formen wird zumeist der Arzneistoff Trilostan eingesetzt, der über eine Enzymhemmung die Bildung des Cortisols unterdrückt. Die chirurgische Entfernung der die Krankheit auslösenden Tumoren ist ebenfalls möglich, wird aber wegen der häufigen Komplikationen deutlich seltener durchgeführt. Grundlagen Die Nebenniere ist ein kleines, paariges Organ des Hormonsystems. Sie liegt vor der jeweiligen Niere und ist beim Hund etwa 20 × 5 mm groß. In der äußeren Schicht, der Nebennierenrinde, werden von strangartig angeordneten Zellen der Zona faciolata Glucocorticoide wie Cortisol und Corticosteron gebildet. Die Steuerung der Cortisolproduktion erfolgt über die Hypothalamus-Hypophysen-Nebennierenrinden-Achse. Dabei wird bei Bedarf im Hypothalamus Corticotropin-releasing Hormone (CRH) gebildet, welches in der Hypophyse die Bildung von Adrenocorticotropin (ACTH) stimuliert. Hohe Spiegel von Cortisol hemmen dabei die Bildung und Ausschüttung der übergeordneten Steuerhormone CRH und ACTH (Feedback-Hemmung). Cortisol kann nach erfolgter Wirkung durch Oxidation reversibel (umkehrbar) in die inaktive Form Cortison umgewandelt werden oder durch Leberenzyme an der Doppelbindung zwischen viertem und fünftem Kohlenstoffatom hydriert und damit irreversibel inaktiviert werden. Cortisol hat im Körper zahlreiche Wirkungen. Es bindet sich an spezifische Rezeptoren im Zellkern und stimuliert die Traubenzuckerneubildung (Gluconeogenese) in der Leber, hemmt die Proteinbiosynthese in Muskulatur und Bindegewebe, steigert den Eiweißabbau (Proteolyse), steigert den Fettabbau (Lipolyse), unterdrückt die Immunantwort und hemmt die Wundheilung. Krankheitsentstehung und Vorkommen Prinzipiell können fünf Ursachen unterschieden werden: Behandlung mit synthetischen Glucocorticoiden (iatrogenes Cushing-Syndrom) Spontanes Cushing-Syndrom Tumoren der Hirnanhangsdrüse (sekundärer Hyperadrenokortizismus) Tumoren der Nebenniere (primärer Hyperadrenokortizismus) Ektopes ACTH-Syndrom Fütterungsabhängiges Cushing-Syndrom Die häufigste Ursache des Cushing-Syndroms ist die Behandlung mit synthetischen Glucocorticoiden (iatrogen, also durch den Tierarzt verursacht). Prednisolon oder Dexamethason werden häufig zur Behandlung von Allergien, Autoimmunerkrankungen oder Entzündungen eingesetzt. Je länger Glucocorticoide angewendet werden, umso häufiger treten Krankheitsbilder wie ein Cushing-Syndrom oder eine Zuckerkrankheit als Nebenwirkung auf, da diese Wirkstoffe zu einer Hemmung der Hypothalamus-Hypophysen-Nebennieren-Achse führen. Das spontane Cushing-Syndrom wird in 80 bis 85 % der Fälle durch Zellvermehrung der ACTH-produzierenden Zellen des Hypophysenvorderlappens, meist einen Tumor dieses Organteils, verursacht. Die Zellen bilden vermehrt ACTH, welches die Zellen der Nebennierenrinde zur übermäßigen Bildung von Cortisol anregt. Beim Hund dominieren gutartige Tumoren (Adenome) und betreffen fast immer nur die ACTH-produzierenden Zellen der Hirnanhangsdrüse. In etwa 15 bis 20 % der Fälle sind Tumoren (Adenome und Karzinome) der Nebennierenrinde selbst für die vermehrte Cortisolproduktion verantwortlich. Die übrigen beiden Formen sind sehr selten. Beim ektopen ACTH-Syndrom sind es ACTH-produzierende Tumoren außerhalb der Hirnanhangsdrüse, meist bösartige Tumoren des diffusen neuroendokrinen Systems, deren Zellen vermehrt dieses Hormon bilden. Das fütterungsabhängige Cushing-Syndrom tritt bei Tieren auf, die in der Nebennierenrinde fehlerhafte Rezeptoren, vor allem für das Glukoseabhängige insulinotrope Peptid, ausbilden. Bei diesen Tieren kommt es nach jeder Nahrungsaufnahme zu einer krankhaft gesteigerten Cortisolbildung. Für das spontane Cushing-Syndrom ermittelte eine britische Studie aus dem Jahre 2022 eine Inzidenz von 0,06 %. Die Erkrankung tritt vor allem bei älteren Tieren (> 7 Jahre) auf. Am häufigsten sind Bichon Frisé, Border Terrier und Zwergschnauzer betroffen. Auch Yorkshire Terrier, Jack Russell Terrier und Dackel erkranken häufiger. Für andere Hunderassen wie Foxterrier, Cavalier King Charles Spaniel, Boxer, Shih Tzu, Pudel, Irish Setter und Basset Hound ist eine rassebedingte Häufung beschrieben, allerdings basieren diese Angaben auf relativ kleinen Stichproben. Hunderassen wie Golden Retriever, Labrador Retriever, Border Collie und Cocker Spaniel scheinen dagegen deutlich seltener an einem Cushing-Syndrom zu erkranken. Das in der Literatur beschriebene vermehrte Auftreten bei kastrierten Hündinnen konnte die britische Studie dagegen nicht bestätigen. Ob es einen Zusammenhang zwischen Sexualhormonen und der Erkrankung gibt, ist auch unter Experten umstritten, er gilt derzeit als wenig wahrscheinlich. Die Erstbeschreibung der Erkrankung beim Menschen erfolgte 1912 durch den US-amerikanischen Neurochirurgen Harvey Cushing. Zwei Jahre zuvor hatte Cushing bereits einen Einzelfallbericht vorgelegt. Beim Hund wurde das Cushing-Syndrom erstmals 1939 durch Verstraete and Thoonen beschrieben. Klinisches Bild Die häufigsten Symptome eines Cushing-Syndroms sind vermehrtes Trinken (Polydipsie), vermehrter Urinabsatz (Polyurie), stark gesteigerter Appetit mit Fresssucht (Polyphagie), Hängebauch, Verdünnung der Haut (Hautatrophie) mit Haarausfall und Hautverkalkungen (Calcinosis cutis) sowie Muskelschwund und erhöhte Infektanfälligkeit. Der vermehrte Urinabsatz wird vermutlich über die cortisolbedingte Hemmung der Adiuretinsekretion und die Steigerung der glomerulären Filtrationsrate vermittelt und der dadurch bedingte Flüssigkeitsverlust wird durch vermehrtes Trinken ausgeglichen. Die Fresssucht resultiert aus der direkten Stimulation des Hungerzentrums im Hypothalamus, eventuell wird auch die Leptinfreisetzung gehemmt. Der Hängebauch entsteht durch Atrophie der Bauchmuskulatur, Zunahme des Fetts im Bauchraum, die Vergrößerung der Leber (Hepatomegalie) und die häufig stark gefüllte Harnblase. Milde Formen des Cushing-Syndroms zeigen sich häufig nur in Hautveränderungen mit Infektanfälligkeit in Form von Hautpilzerkrankung, eitriger Hautentzündung oder generalisierter Haarbalgmilbenerkrankung (Demodikose). Weitere Krankheitsanzeichen sind Abgeschlagenheit, Hecheln und Bluthochdruck. Da Cortisol mit zahlreichen anderen Komponenten des Hormonsystems Wechselwirkungen zeigt, können als Begleiterkrankungen eine Zuckerkrankheit, eine Wasserharnruhr, eine sekundäre Schilddrüsenunterfunktion, eine sekundäre Nebenschilddrüsenüberfunktion und Fortpflanzungsstörungen auftreten. Dies sind neben Nierenerkrankungen auch die wichtigsten Differentialdiagnosen. Diagnostik Das klinische Bild ist bei voller Ausprägung bereits stark hinweisend auf die Erkrankung. Die Diagnose muss jedoch durch Laboruntersuchungen gesichert werden. Es gibt allerdings keinen Test, der ein Cushing-Syndrom sicher beweisen oder ausschließen kann, es gibt also immer falsch positive oder falsch negative Laborbefunde. Die Laborergebnisse müssen daher immer im Zusammenhang mit dem klinischen Bild betrachtet werden und gegebenenfalls müssen mehrere Tests kombiniert werden. Laborbefunde Im Blutbild zeigt sich durch den Einfluss des Cortisols auf die Blutzellen sehr häufig ein Stressleukogramm. Ein Stressleukogramm ist durch einen Anstieg der Zahl der weißen Blutkörperchen (Leukozytose), insbesondere der neutrophilen Granulozyten (Neutrophilie), sowie der Abnahme der Lymphozyten (Lymphopenie) und der Eosinophilen (Eosinopenie) gekennzeichnet. Außerdem ist die Zahl der roten Blutkörperchen meist moderat erhöht (Erythrozytose). Durch den Einfluss hoher Cortisolspiegel kommt es zur Aktivierung der Leberenzyme, zu einer Einlagerung von Glycogen und damit zur Vergrößerung der Leberzellen und der Leber insgesamt („Steroidleber“). Bei der blutchemischen Untersuchung dominieren daher erhöhte Leberwerte, vor allem die Alkalische Phosphatase, die bei 85 bis 90 % der erkrankten Hunde deutlich erhöht ist. Auch Cholesterin und Blutfette sind oft erhöht. Bei der Urinuntersuchung fällt insbesondere die stark verminderte relative Dichte auf. Da Cortisol auch Blaseninfektionen begünstigt, können sekundär auch die dafür typischen Veränderungen (Pyurie, Bakteriurie) auftreten. Spezifische Diagnostik Als Goldstandard für ein spontanes Cushing-Syndrom gilt der Low-Dose-Dexamethason-Suppressionstest (LDDS), für das Erkennen eines iatrogenen Hyperadrenokortizismus ist er jedoch nicht geeignet. Für den Test wird eine Blutprobe am Morgen genommen und dem Hund danach eine geringe Dosis Dexamethason gespritzt. Vier und acht Stunden später wird erneut Blut abgenommen und in allen drei Proben das Cortisol bestimmt. Bei gesunden Hunden würde das Dexamethason über die Feedback-Hemmung (s. o.) die ACTH- und damit die Cortisolsekretion hemmen. Liegt der Cortisolspiegel nach 8 Stunden über 39 nmol/l (1,4 µg/dl) ist das stark hinweisend auf ein Cushing-Syndrom, liegt er unter 28 nmol/l (1 µg/dl) ist es unwahrscheinlich. Der 4-Stunden-Wert dient zur Unterscheidung eines primären von einem sekundären Hyperadrenokortizismus. Beim sekundären Hyperadrenokortizismus, also Tumoren der Hirnanhangsdrüse, kommt es bei etwa 60 % der Tiere in den ersten Stunden zu einer Senkung der ACTH-Sekretion und damit zu einem Abfall der Cortisolsekretion, bei Tieren mit einem Nebennierentumor unterbleibt diese Suppression. Die Sensitivität des LDDS liegt bei 97 %, die Spezifität bei 70 %. Zur Unterscheidung zwischen primärem und sekundärem Hyperadrenokortizismus kann auch der High-Dose-Dexamethason-Suppressionstest (HDDS) eingesetzt werden. Hierfür wird im Vergleich zum LDDS die fünffache Menge an Dexamethason verabreicht. Bei einem primären Hyperadrenokortizismus wird auch damit die Cortisolbildung kaum unterdrückt. Es gibt gelegentlich Fälle, bei denen zwar die klinischen Befunde für ein Cushing-Syndrom sprechen, die Suppressionstests aber normale Befunde zeigen. Diese werden als atypischer Hyperadrenokortizismus bezeichnet. Beim ACTH-Stimulationstest wird der Blutspiegel des Cortisols bestimmt, ACTH injiziert und nach einer Stunde erneut der Cortisolspiegel im Blut gemessen. Dieser Test ist für die Diagnostik des spontanen Cushing-Syndroms bedingt geeignet, aber er ist der einzige Test mit dem ein iatrogenes Cushing-Syndrom nachgewiesen werden kann. Stimulierte Cortisolwerte unter 138 nmol/l sprechen für eine Nebennierenrindeninsuffizienz oder ein iatrogenes Cushing-Syndrom, Werte zwischen 138 und 497 nmol/l sind physiologisch, Werte zwischen 497 und 662 nmol/l sind verdächtig und Werte darüber stark verdächtig für ein spontanes Cushing-Syndrom. Für atypische Cushing-Fälle wird auch vorgeschlagen, nicht das Cortisol selbst zu bestimmen, sondern dessen Vorläufermoleküle im Syntheseweg (Sexualhormone wie 17α-Hydroxyprogesteron, Progesteron, Estradiol und Androstendion). Die Cortisolbestimmung im Blut erlaubt keine Aussage über die Krankheit. Hunde mit einem Cushing-Syndrom haben zwar statistisch höhere Cortisolwerte im Blut als gesunde, aber da Cortisol unregelmäßig (pulsatil) ausgeschüttet wird, Stresssituationen zu erhöhten Cortisolpegeln führen und erhebliche individuelle Unterschiede bestehen, sind Einzelbestimmungen für die Diagnostik nicht geeignet. Etwas aussagekräftiger ist die Ermittlung in einer 24-Stunden-Urinprobe, da dadurch tageszeitliche Schwankungen ausgeglichen werden. Idealerweise wird Urin zweier aufeinanderfolgender Tage eingesammelt und Cortisol im Verhältnis zum Kreatinin betrachtet (Cortisol-Kreatinin-Quotient). Die Sensitivität beträgt fast 100 %, es werden also alle Hunde mit einem Cushing-Syndrom erkannt, die Spezifität ist allerdings gering (21 %), es gibt also auch viele andere Ursachen für einen erhöhten Cortisol-Kreatinin-Quotienten. Bereits die Größe des Hundes hat einen Einfluss, da die Kreatininausscheidung abhängig von der Muskelmasse ist. Die Tagesschwankungen in der Cortisolproduktion lassen sich auch durch stündliche Blutentnahmen über acht Stunden ausgleichen, Hunde mit einem Cushing-Syndrom haben hier generell höhere Cortisolkonzentrationen als gesunde. Die Bestimmung der endogenen (körpereigenen) ACTH-Konzentration im Blutplasma ist ein weiteres Testverfahren. Bei einem primären Cushing-Syndrom ist ACTH infolge der Feedback-Hemmung meist erniedrigt (< 4,4 pmol/l), bei einem sekundären meist erhöht (> 8,8 pmol/l). Allerdings liefert dieser Test in etwa 20 % der Fälle keine eindeutigen Ergebnisse. Zudem ist diese Untersuchung kostspieliger und logistisch aufwändiger, denn das Plasma muss tiefgekühlt in das Labor transportiert werden. Bildgebende Diagnostik Zur Unterscheidung zwischen primärem und sekundären Hyperadrenokortizismus wird mittlerweile häufig auf die Ultraschalluntersuchung (Sonografie) der Nebenniere zurückgegriffen. Diese Untersuchungstechnik ist in der Tiermedizin mittlerweile breit verfügbar und kann Nebennierentumoren relativ sicher nachweisen. Generell ist die Nebenniere auch bei primären Cushing-Patienten vergrößert, da die gesteigerte Hormonproduktion zu einer Vergrößerung des Organs führt. Ein Querdurchmesser über 6 mm ist verdächtig für einen Hyperadrenokortizismus, die Sensitivität beträgt 75 %, die Spezifität 94 %. Zudem lässt sich mittels Ultraschall auch die typische „Steroidleber“ nachweisen, bei der das Lebergewebe diffus echoreich ist. Die Abgrenzung zu anderen Erkrankungen mit diesem sonografischen Befund ist aber nur durch eine Leberbiopsie und anschließende histologische Untersuchung möglich. Die als Krankheitsursache viel häufigeren Hypophysentumoren ließen sich mit einer Magnetresonanzuntersuchung oder Computertomographie erkennen, allerdings ist diese nur in wenigen tiermedizinischen Einrichtungen verfügbar und nur in Narkose durchführbar. Zudem sind mit diesen Verfahren solche Tumoren erst ab einer bestimmten Größe erkennbar. Für die Planung einer operativen Tumorentfernung sind sie aber zwingend erforderlich. Konsenspapier zur Diagnostik Führende Fachleute auf dem Gebiet der Endokrinologie von Hund und Katze vom American College of Veterinary Internal Medicine (ACVIM) haben sich 2013 auf einheitliche Kriterien zur Diagnostik des Caninen Cushing-Syndroms geeinigt. In diesem Konsenspapier (Consensus statement) wird empfohlen, keine Labordiagnostik einzuleiten, wenn es klinisch keinen Verdacht auf die Erkrankung gibt. Wenn nur wenige Krankheitserscheinungen vorliegen, dann sind es entweder vermehrtes Trinken und Urinieren oder Haarausfall und Hautveränderungen, die den Verdacht auf diese Erkrankung lenken sollten. Auch ein schlecht auf Insulin ansprechender Diabetes mellitus oder ein anhaltender Bluthochdruck wären Indikationen für eine spezifische Cushing-Diagnostik, bloße Veränderungen in Blutbild und Blutchemie dagegen nicht. Es wird keiner der Tests bevorzugt, außer bei Verdacht auf einen iatrogenes Cushing-Syndrom, bei dem nur der ACTH-Stimulationstest sinnvoll ist. Zeigt ein Test trotz klinischem Verdacht auf ein spontanes Cushing-Syndrom ein negatives Ergebnis, sollten alternative Tests durchgeführt werden. Bei fraglichen Resultaten sollten die Tests nach 3 bis 6 Monaten wiederholt werden. Liegen andere schwere Erkrankungen vor, ist die Testung wenig sinnvoll, da diese die Ergebnisse der Cushing-Tests verfälschen können. Die bildgebende Diagnostik allein ist zur Diagnose nicht geeignet. Bei Verdacht auf ein atypisches Cushing-Syndrom, bei dem eine Beteiligung der Sexualhormone von einigen Wissenschaftlern postuliert wurde, wird deren Bestimmung dennoch für wenig sinnvoll gehalten, da die Spezifität sehr gering ist. Behandlung Die häufigste Form, der iatrogene Hyperadrenokortizismus, ist am einfachsten zu behandeln, nämlich durch Ausschleichen der Glucocorticoidtherapie. Ein abruptes Absetzen würde zu einem Hypoadrenokortizismus (Morbus Addison) führen, da nach längerer Unterdrückung der Hormonbildung die Nebennieren einige Zeit brauchen, um wieder ausreichend Glucocorticoide zu produzieren. Das spontane Cushing-Syndrom wird zumeist konservativ durch die Gabe von Medikamenten behandelt. Da häufig Tumoren der Auslöser sind, wird damit zwar nicht die Ursache der Erkrankung beseitigt, aber wieder eine angemessene Lebensqualität hergestellt. Die chirurgische oder strahlentherapeutische Behandlung der Tumoren ist mit einigen Risiken verbunden, nicht für jeden Patienten geeignet und nur in spezialisierten Einrichtungen durchführbar. Medikamentöse Behandlung Der einzige zur Behandlung des Caninen Cushing-Syndrom zugelassene Wirkstoff ist Trilostan. Trilostan bewirkt über eine reversible Hemmung der 3β-Hydroxysteroid-Dehydrogenase die Bildung des Cortisols. Vor der Einführung von Trilostan im Jahre 2001 durch Dechra Pharmaceuticals wurde auch Mitotan verwendet, welches selektiv ein Absterben der glucocorticoidproduzierenden Zellen in der Nebennierenrinde auslöst. Die Behandlung muss auf jeden Fall überwacht werden, weil bei zu hoher Dosis eine Nebennierenunterfunktion (Morbus Addison) ausgelöst werden kann. Diese zeigt sich vor allem in Abgeschlagenheit, Appetitlosigkeit, Schwäche, verminderter Leistungsfähigkeit, Gewichtsverlust und Erbrechen. Mit Absetzen des Trilostans oder Verringerung der Dosis verschwinden die Symptome aber wieder schnell. In einer Studie aus dem Jahre 2022 zeigte sich, dass mit einer zweimal täglichen Gabe einer geringeren Startdosis von 0,2–1,1 mg/kg als der vom Hersteller empfohlenen 3–6 mg/kg 1× täglich die Überlebenszeit etwas verbessert ist. Negativ auf die Überlebenszeit wirken sich Alter, eine Calcinosis cutis, ein Body-Condition-Score <3 und eine erhöhte Blutplättchenzahl (Thrombozythämie) aus. Zur Überwachung und Dosisanpassung der Behandlung mit Trilostan galt lange der ACTH-Stimulationstest als Goldstandard. Der Stimulationswert sollte bei guter Einstellung des Medikaments zwischen 6 und 18 µg Cortisol/dl liegen. Da ACTH längere Zeit nicht mehr hergestellt wurde, war dieser Test nicht mehr möglich, und es wurden Alternativen zum Trilostan-Monitoring gesucht. Dabei wurden der Serumcortisolspiegel vor der Trilostan-Gabe (prepill), die ACTH-Plasmakonzentration, die Serum-Haptoglobin-Konzentration, die Alanin-Aminotransferase (ALT), die Γ-Glutamyltransferase (γGT) und die Alkalische Phosphatase, die spezifische Dichte des Urins und der Cortisol-Kreatinin-Quotient im Urin als mögliche Marker getestet. Am besten eignet sich Haptoglobin zur Therapiekontrolle, hiermit konnten in einer Studie aus dem Jahre 2021 90 % der gut eingestellten und zwei Drittel der untertherapierten Hunde erkannt werden. Neben der blutchemischen Kontrolle ist die Überwachung des Befindens durch den Hundehalter wichtig. Der Hersteller von Trilostan hat dafür mit dem Royal Veterinary College London zwei Fragebogen entwickelt. Mit einem werden Trinkverhalten und Harnabsatz, Appetit, Verhalten und Aktivität erfasst, der zweite dient der Beurteilung der Lebensqualität. Ein neuer Therapieansatz im experimentellen Stadium ist die Verabreichung von ATR-101. Dieser selektive Hemmer des Enzyms ACAT1 und damit der ACTH-Produktion zeigt auch beim Hund vielversprechende Ergebnisse. Chirurgische Behandlung Da in der Mehrzahl der Fälle ein spontaner Hyperadrenokortizismus durch Tumoren verursacht wird, erscheint die chirurgische Entfernung des auslösenden Tumors zunächst als naheliegendste Therapieoption. Für einseitige Nebennierentumoren liegen dazu mehrere Studien vor. Diese zeigen, dass einige Tumoren inoperabel waren, es zahlreiche Komplikationen geben kann, die zu einer Einschläferung führen, und in einigen Fällen die gesteigerte Cortisolsekretion bestehen blieb oder nach einiger Zeit wieder auftrat. Die chirurgische Behandlung ist daher nur Mittel der Wahl bei einseitigen Nebennierentumoren ohne Metastasen und guter Abgrenzung zum umgebenden Gewebe. Die Entfernung eines Tumors der Hirnanhangsdrüse ist eine sehr schwierige Operation mit zahlreichen Risiken. Die Sterblichkeitsrate liegt zwischen 8 und 19 %. Da bei der Entfernung eines Hypophysentumors häufig noch ausreichend hormonproduzierende Hypophysenzellen im Körper verbleiben, ist dies jedoch eine effektive therapeutische Option. Strahlentherapie Die Effektivität der Bestrahlung von Hypophysentumoren ist bislang nur în geringen Fallzahlen untersucht. Eine Studie an 45 Hunden ermittelte eine mittlere Überlebenszeit von 311 Tagen. Eine klinische Besserung trat bei 82 % der Tiere ein, akute Nebenwirkungen zeigten 22 % der Hunde. Bei 69 % der Tiere kam es in der Spätphase zunehmend zu neurologischen Ausfallerscheinungen. Cushing-Syndrom beim Menschen und anderen Säugetieren Da die Wirkungen von Cortisol bei allen Säugetieren weitestgehend gleich sind, ähneln sich auch das klinische Bild und die Laborbefunde bei allen sehr stark. Auch in der Diagnostik gibt es kaum Unterschiede. Beim Menschen grenzt man manchmal den hypophysären Hyperadrenokortizismus als Morbus Cushing begrifflich vom nebennierenbedingten Cushing-Syndrom ab. Mit 1 bis 3 Neuerkrankungen pro 1 Million Einwohner (zum Vergleich: Hund 1–2 pro 1000 Hunde pro Jahr) ist der spontane Hyperadrenokortizismus aber sehr selten. Betroffen sind vor allem Frauen über 40 Jahre. Wie beim Hund dominiert mit 70 bis 80 % der Fälle die hypophysäre Form. Als Besonderheit treten beim Menschen auch eine alkoholinduzierte Form („Pseudo-Cushing-Syndrom“) und ein „biochemischer Hyperkortisolismus“ bei Depressionen und Einnahme der Antibabypille auf. Der tumorbedingte Hyperadrenokortizismus wird beim Menschen zumeist chirurgisch behandelt, ist dies nicht möglich, erfolgt eine Strahlen- oder medikamentöse Behandlung. Für letztere kann die ACTH-Sekretion durch das Somatostatinanalogon Pasireotid blockiert werden. Seit 2020 ist mit Osilodrostat auch ein Hemmstoff der Steroid-11β-Hydroxylase (CYP11B1) und damit der Cortisolsynthese zugelassen. In der Tiermedizin spielt das Cushing-Syndrom neben dem Hund vor allem bei Pferden und Katzen eine gewisse Rolle. Auch hier dominiert der sekundäre, also hypophysäre Hyperadrenokortizismus, auch wenn diese Tierarten insgesamt deutlich seltener als der Hund betroffen sind. Bei Pferden (Equines Cushing-Syndrom) wird ein Cushing-Syndrom durch erhöhte Produktion von ACTH oder anderer Proopiomelanocortin-Abkömmlinge hervorgerufen. Da deren Bildung unter Kontrolle dopaminerger Nervenzellen steht, wird zur Behandlung beim Pferd der Dopamin-Rezeptor- Agonist Pergolid eingesetzt. Bei Katzen (Felines Cushing-Syndrom) ist die Erkrankung fast immer mit einem Diabetes mellitus vergesellschaftet, der nicht auf eine Insulinbehandlung anspricht (Insulinresistenz). Bei dieser Tierart sind, im Gegensatz zum Hund, in der Hirnanhangsdrüse Tumoren der Wachstumshormon-produzierenden Zellen deutlich häufiger als solche der ACTH-produzierenden Zellen. Zur Therapie wird wie beim Hund Trilostan eingesetzt. Weblinks Literatur Einzelnachweise Hundekrankheit Nebenniere Harvey Cushing
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https://de.wikipedia.org/wiki/Bezirksverwaltung%20f%C3%BCr%20Staatssicherheit%20Leipzig
Bezirksverwaltung für Staatssicherheit Leipzig
Die Bezirksverwaltung für Staatssicherheit Leipzig (abgekürzt: BVfS Leipzig) war eine regionale Außenstelle des Ministeriums für Staatssicherheit (MfS) der Deutschen Demokratischen Republik (DDR), gemeinhin bekannt als „Stasi“. Sie war verantwortlich für die Überwachung und Unterdrückung von Andersdenkenden im Bezirk Leipzig. Die Bezirksverwaltung befand sich in Leipzig im Areal Dittrichring 24/Große Fleischergasse und verfügte über 13 Kreisdienststellen. Von den, je nach einbezogenen Diensten und Mitarbeitergruppen, über 2.390 bis 3.792 hauptamtlichen Mitarbeitern arbeiteten ungefähr 750 in der Zentrale in Leipzig. Zusammen mit den fast 10.000 inoffiziellen Mitarbeitern (IMs) war die Bezirksverwaltung Leipzig eine der größten der DDR. Die BVfS Leipzig wurde im Zuge einer Verwaltungsreform im Jahr 1952 gegründet und war bis zu ihrer Auflösung Ende 1989 tätig. Haupttätigkeitsfelder neben vielfältig repressiven Überwachungsmaßnahmen gegen die Bevölkerung waren die Kontrolle der Leipziger Messe und die Auslandsspionage, konkret in Nordrhein-Westfalen, aber auch die Umsetzung der Direktive 1/67, in der als „Vorbeugekomplex“ DDR-weit 86.000 Bürger erfasst waren und die ein System von Isolierungs- und Internierungslagern vorsah. Nach der Besetzung am 4. Dezember 1989 im Rahmen der Montagsdemonstrationen verlor die Bezirksverwaltung ihre Funktion. Vereinzelte Aktivitäten ehemaliger Mitarbeiter des BVfS Leipzig sind aber bis heute in Vereinen (GRH, GBM) spürbar. Seit 1990 beherbergt das Gebäude am Innenstadtring die Gedenkstätte Museum in der „Runden Ecke“, in der die Erinnerung an die Tätigkeit der Stasi von vielen Leipziger Bürgern wachgehalten wird, welche teilweise die repressiven Aktivitäten noch selbst miterlebt hatten. Die Gebäude der ehemaligen Stasi-Zentrale – die auch eine der größten Bunkeranlagen (für 750 Personen) auf dem Stadtgebiet Leipzigs enthalten – werden teilweise als Museum verwendet, teilweise von Ämtern und Vereinen, teilweise sind sie ungenutzt. Auch die Akten des BVfS sind hier in einer Außenstelle des Bundesarchivs öffentlich zugänglich. Die langfristige Nachnutzung des Erweiterungsbaus wird seit 2017 verstärkt diskutiert. Standort Lage und Vorgeschichte Das etwa 15.800 Quadratmeter große Grundstück, auf dem die Bauten der Bezirksverwaltung errichtet wurden, liegt in der nordwestlichen Altstadt von Leipzig auf der Innenseite der Ringstraße. Dabei ahmen die ehemaligen Bürogebäude der Bezirksverwaltung Leipzig, die zwischen Dittrichring, Großer Fleischergasse, Matthäikirchhof und Goerdelerring stehen, eine Blockrandbebauung nach. An dieser Stelle hatte im 11. Jahrhundert die Burg Leipzig, erstmals zum Jahr 1015 als „urbs lipzi“ erwähnt bei Thietmar von Merseburg, gelegen. Ab dem 13. Jahrhundert siedelten sich dort Franziskaner an und errichteten ein Kloster, welches im Zuge der Reformation aufgelöst wurde. Die Reste der Klosterkirche dienten zunächst als Lager, sie wurde aber 1699 von der Bürgerschaft neu aufgebaut. Im 19. Jahrhundert wurde sie als Matthäikirche im Stil der Neugotik erneuert. Die enge Bebauung nach der Reformation wich an der Seite des Innenstadtrings um 1913 den Gebäuden der „Runden Ecke“. Während des Zweiten Weltkriegs wurde das Viertel samt Kirche durch Bombenangriffe 1943 schwer zerstört. Der Bau der „Runden Ecke“ blieb jedoch erhalten und wurde zunächst von der amerikanischen Militärverwaltung, später von der sowjetischen, genutzt. Mit der Gründung der DDR 1949 wurde der Gebäudekomplex an die sich 1950 neu konstituierende Staatssicherheit übergeben. Dabei wurden neben der Ruine der Matthäikirche auch weitere kriegszerstörte Häuser abgebrochen. Um 1953 erfolgten umfangreiche archäologische Untersuchungen durch Herbert Küas auf dem Gelände, anschließend wurden auf dem Areal Neubauten hinter der „Runden Ecke“ errichtet. Bau „Runde Ecke“ Das Gebäude wurde zwischen 1911 und 1913 als Geschäftshaus der Alten Leipziger Feuerversicherung nach Plänen der Architekten Hugo Licht und Karl Poser zusammen mit dem Büro Weidenbach & Tschammer errichtet. Nach Einzug amerikanischer Truppen in die Stadt im Jahr 1945 nutzte die US-Armee das Gebäude für einige Monate, anschließend folgte eine Nutzung durch das Innenministerium der Sowjetunion und des MfS-Vorläufers K5. Von 1950 bis 1989 war dort der Sitz der Bezirksverwaltung für Staatssicherheit in Leipzig. Seit August 1990 beherbergt die „Runde Ecke“ die ständige Ausstellung Stasi – Macht und Banalität. Träger ist das Bürgerkomitee Leipzig e. V. mit ihrem Geschäftsführer Tobias Hollitzer. Das Gebäude wird zudem von dem Bundesbeauftragten für die Unterlagen des Staatssicherheitsdienstes der ehemaligen Deutschen Demokratischen Republik (BStU) als Außenstelle, einem Teil des Bundesarchivs, genutzt. Saalbau Von 1956 bis 1958 wurde der Saalbau errichtet. Der Name geht auf einen großen Fest- und Kinosaal im 4. Stock zurück, der für Filmvorführungen und zu Schulungszwecken genutzt wurde. Auch große Feierlichkeiten, wie Jahrestage, wurden hier abgehalten, auf denen hochrangige Stasioffiziere wie Markus Wolf, langjähriger Leiter der Auslandsspionage, ihre Reden hielten. Im Keller des fünfstöckigen Verwaltungsbaus befand sich eine Kegelbahn für das MfS. Die Büroräume dazwischen nutzten die Abteilungen „Finanzen“ und „Kader und Schulung“, aber auch die „Auslandsaufklärung“ (Abteilung XV). Von 1978 bis 1985 war im Keller zusätzlich eine HO-Verkaufsstelle eingerichtet, die – nach dessen Fertigstellung – in den Erweiterungsbau verlegt wurde. In den freiwerdenden Raum kam die Datenendstelle des Messdatenspeichers. Um für den 40. Jahrestag der DDR zur Verfügung zu stehen, wurde der Saal 1989 umfassend erneuert. Im Anschluss an die Montagsdemonstrationen wurden hier Filmaufnahmen und Fotos der Demos vorgeführt, um Teilnehmer zu identifizieren und weiter zu verfolgen. Erweiterungsbau Am 25. Januar 1980 erfolgte die offizielle Grundsteinlegung des Erweiterungsbaus im Beisein von Manfred Hummitzsch, dem damaligen Leiter der BVfS. Das Richtfest des Erweiterungsbaus für Staatssicherheit und Volkspolizei fand am 23. Juni 1982 statt. Bei der Fassadengestaltung kam ein serielles Formsteinverfahren zum Einsatz, das Karl-Heinz Adler und Friedrich Kracht entwickelt hatten. Aufgrund der Formen der sichtbaren Verkleidung wurde der Bau im Volksmund als „Ohrenburg“ bezeichnet. Die künstlerische Ausgestaltung des Baus lag in den Händen des Grafikers Helmut Humann (1922–1996); dieser fertigte nach den zentralen Vorgaben unter anderem Emaille-Wandreliefe wie „Feliks Dzierżyński“ oder das Logo des MfS im Eingangsbereich. Als am 19. September 1985 die symbolische Schlüsselübergabe an die Bezirksverwaltung der Staatssicherheit stattfand, hatte der Bau etwa 78 Mio. Mark der DDR gekostet. Der Haupteingang der Bezirksverwaltung befand sich seit dieser Zeit an der Großen Fleischergasse. Die verbunkerten Räume im 2. Kellergeschoss boten mit über 1000 Quadratmetern allen 750 Mitarbeitern Platz für den Kriegsfall, der allerdings in der DDR nur als Verteidigungsfall bezeichnet wurde. Der 100 Mann starke Führungsstab um Manfred Hummitzsch hätte im Falle eines Krieges seine Arbeit im Bunker der geheimen Ausweichführungsstelle im Naherholungsgebiet „Lübschützer Teiche“, 20 km östlich von Leipzig, fortsetzen können. Der von 1980 bis 1985 errichtete Erweiterungsbau besteht aus vier einzelnen Gebäudetrakten mit jeweils sechs Geschossen mit zurückgesetztem Dachgeschoss, die alle mit einem Flachdach abschließen. Der Gebäuderiegel zur Großen Fleischgasse ist 70 Meter lang und 10 Meter tief, zu je 18 Bürofenstern plus Treppenturm, der im Volksmund spöttisch auch als „Horchturm“ oder „Ohrenburg“ bezeichnet wird. Geschichtlicher Kontext Vor 1980 Bereits kurz nach dem Zweiten Weltkrieg wurde in Sachsen damit begonnen, eine politische Polizei aufzubauen: „Abteilungen zur Bearbeitung politischer Kriminalität bildeten sich innerhalb der Polizei aus und erhielten nach einem Vereinheitlichungsprozess Anfang 1947 die Bezeichnung »K 5«“ Als Hilfsorgane der sowjetischen Geheimpolizei arbeiteten sie dieser in Fällen wie politischen Delikten, Kriegsverbrechen oder Widerstand gegen die neue Ordnung zu. Die SED-Führung drängte ab 1948 in Moskau darauf, eine eigene deutsche Geheimpolizei aufbauen zu dürfen und Stalin stimmte dem im August des Jahres zu. Kurz nach Gründung der DDR am 7. Oktober 1949 wurde am 8. Februar 1950 ein Gesetz zur Bildung des Ministeriums für Staatssicherheit erlassen. In Sachsen spielte Joseph Gutsche (1895–1964) eine zentrale Rolle beim Aufbau der Staatssicherheit nach sowjetischem Vorbild. Gutsche setzte die Erwartungen konsequent um: Am 1. September 1949 zählte die Landesverwaltung Sachsen etwa 60 Mitarbeiter und Ende 1951 bereits 1200. In der Frühzeit von 1950 bis 1952 waren die Mitarbeiter der dafür gebildeten Abteilungen des MfS vor allem gegen politisch aktive „bürgerliche“ Wähler aktiv: So wurden im Frühjahr und Sommer 1950 in Plauen und Leipzig zahlreiche CDU-Mitglieder verhaftet. Zu größeren Aktivitäten kam es bei den Ereignissen am 17. Juni 1953. An diesem Tag wurde Herbert Kaiser (1913–1953) wegen „Boykotthetze“ verhaftet und um 23.00 Uhr in die Untersuchungshaftanstalt des MfS in der Beethovenstraße eingeliefert, wo die erste Vernehmung noch in der Nacht um 0.30 Uhr begann. Am 19. Juni wurde er „dem Freund überstellt“, worunter das MfS die sowjetische Besatzungsmacht verstand. Das Innenministerium der UdSSR legte einen eigenen Untersuchungsvorgang an und vernahm Herbert Kaiser am 19. und 20. Juni. Am 21. Juni verurteilte ihn das sowjetische Militärtribunal zum Tode. In den folgenden Tagen wurde Herbert Kaiser in die Sowjetunion gebracht, wo der Oberste Sowjet am 15. Dezember 1953 sein Gnadengesuch ablehnte. Herbert Kaiser wurde noch am gleichen Tag hingerichtet. Erst 14 Jahre später, 1967, erhielt die Familie eine Sterbeurkunde und damit Nachricht von seinem Tod. Ein weiteres Opfer der DDR-Diktatur während des Aufstandes 1953 war Dieter Teich, der mit streikenden Kollegen vor der Untersuchungshaftanstalt der Staatssicherheit in der Beethovenstraße die Freilassung von Gefangenen gefordert hatte. Als Volkspolizisten und Stasi-Offiziere auf Befehl von Paul Fröhlich, des Ersten Sekretärs der SED-Bezirksleitung Leipzig, gegen 15 Uhr in die vordrängende Menge feuerten, wurde Dieter Teich tödlich getroffen. Er war der erste Tote des Volksaufstandes in Leipzig, noch vor Verhängung des Kriegsrechtes. Auch Mitarbeiter der Universität Leipzig standen wiederholt im Fokus der Staatssicherheit. Gegen den Kunsthistoriker Wolfgang Hütt eröffnete bereits die Bezirksverwaltung Halle im Jahr 1956 einen „Operativen Vorgang“ wegen „Aufweichungs- und Zersetzungstätigkeit innerhalb der Universität Halle“. Als Hütt deshalb dem Ruf des Rektors Professor Johannes Jahn an das Institut für Kunstgeschichte der Universität Leipzig folgte und dort seine wissenschaftliche Arbeit von 1959 bis 1961 als Oberassistent fortsetzte, ging die Observation durch die Bezirksverwaltung Leipzig weiter und gipfelte im Verdacht der Organisation einer „staatsfeindlichen Gruppenbildung“. 1962 erfolgte DDR-weit die geheime Aktion Licht, bei der Stasi-Mitarbeiter landesweit Wertgegenstände und Dokumente in Finanzinstituten, Archiven und Museumsdepots konfiszierten, um sie zum Zwecke der Devisenbeschaffung auf dem westlichen Markt zu verkaufen. Dabei wurden insgesamt 21.000 Bankschließfächer und Tresore gewaltsam geöffnet, die vorher lange Zeit unberührt geblieben waren. Im Bereich der BVfS Leipzig wurden im Hauptstaatsarchiv in Altenburg die Besitztümer des letzten Herzogs von Sachsen-Altenburg, Ernst II., vermutet. Teile des Hausarchivs wurden beschlagnahmt und mit mehreren LKWs abtransportiert. Erich Mielke ordnete später an, die Unterlagen über die Aktion Licht zu vernichten. Am 31. Oktober 1965 kam es zu einer Demonstration 1.000 bis 2.000 Jugendlicher auf dem Wilhelm-Leuschner-Platz. Sie protestierten gegen das Verbot von Beatgruppen durch die SED im Zuge der Rückgängigmachung der Tauwetterperiode. Die Stasi verhaftete hunderte der Jugendlichen und ermittelte gegen die Initiatoren. Der ehemalige Associated-Press-Reporter John Koehler sagte später aus, dass Mielke während dieser Konfrontation in Leipzig 1965 mit seiner Beteiligung an den Bülowplatz-Morden geprahlt habe. Der Abriss der Paulinerkirche wurde im Mai 1968 vom Politbüro des ZK der SED unter Vorsitz von Walter Ulbricht beschlossen, als diese den Bebauungsplan des Leipziger Karl-Marx-Platzes einschließlich des Abrisses bestätigte. Der Senat der Universität stimmte am 16. Mai, die Leipziger Stadtverordnetenversammlung am 23. Mai zu. Die einzige Gegenstimme im Universitätssenat war jene des Theologen Ernst-Heinz Amberg, die einzige Gegenstimme in der Stadtverordnetenversammlung war die von Hans-Georg Rausch, CDU-Mitglied, Pfarrer und IM des MfS. Die Sprengung der Paulinerkirche erfolgte am Donnerstag, dem 30. Mai 1968 um 9:58 Uhr. Die Trümmer wurden in der Folge in die Etzoldsche Sandgrube in Leipzig-Probstheida verkippt. Vereinzelte Protestbekundungen führten zu mehreren Festnahmen und teils mehrjährigen Ermittlungen der Staatssicherheit. Die DDR-Regierung kontrollierte von Beginn an ihre Künstlerszene. Im Bereich des BVfS Leipzig kam es am 26. Juni 1968 zu einer von Siegmar Faust und Andreas Reimann initiierten, unangemeldeten Lesung auf einem Fahrgastschiff auf dem Leipziger Elsterstausee mit 30 Teilnehmern, darunter Gert Neumann, Heidemarie Härtl, Bernd-Lutz Lange, Dietrich Gnüchtel. Diese Lesung wurde später unter der Bezeichnung Stauseelesung von Leipzig bekannt. Der nicht anwesende Informant der Staatssicherheit (IM „Kretschmar“) protokollierte das Treffen. In der Folge wurden Faust und Reimann – auch aufgrund ihrer fortwährenden Dissidenz – zu mehrjährigen Haftstrafen verurteilt. Durch Fotos belegt ist ein Besuch Erich Mielkes am 30. Januar 1976 in der Bezirksverwaltung Leipzig. Kurz vor April 1978 begannen die Vorbereitungen für den umfassenden und großen Neubau des „Erweiterungsbaus“ über dem Standort der ehemaligen Matthäikirche. 1979 wurde Gert Trebeljahr, ein Major des MfS in Potsdam, dessen Fluchtpläne nach Westberlin aufgeflogen waren, in Leipzig als drittletzter Todeskandidat der DDR hingerichtet; 1980 Winfried Baumann, dessen Tätigkeit (seit 1977) für den Bundesnachrichtendienst aufgeflogen war; schließlich 1981 Werner Teske, ein Hauptmann des MfS, wegen angeblich vollendeter Spionage und versuchter Fahnenflucht. 1980 bis 1989 Der Bezirk Leipzig war ein Industriegebiet, das vor allem durch die Braunkohleindustrie geprägt war, die zu einer starken Umweltverschmutzung führte. Zu den wichtigsten Werken gehörten das VEB Braunkohlekombinat Espenhain und das VEB Kombinat „Otto Grotewohl“ Böhlen. Die Umweltpolitik war der verordneten „Einheit von Wirtschafts- und Sozialpolitik“ untergeordnet, weshalb seit den 1970er Jahren nicht mehr über Umweltverschmutzungen und deren gesundheitliche Folgen berichtet werden durfte. Seit einem Beschluss des Ministerrats vom 16. November 1982 waren Umweltdaten der Geheimhaltung unterworfen. So erfuhr die Öffentlichkeit beispielsweise nichts von der Explosion mit Brandfolge im VEB „Otto Grotewohl“ in Böhlen im Oktober 1985. Als im Jahr 1964 die Anweisung erging, „Baueinheiten“ einzurichten, war dies der Versuch, eine Kompromissvariante für Wehrdienstverweigerer zu finden und auf diese Weise die oppositionelle Bewegung zu beruhigen. Rund 15.000 junge Männer verweigerten als Bausoldaten in der DDR den Dienst an der Waffe. Ein illegales Treffen von Bausoldaten, das im Jahr 1981 zentral in Leipzig stattfand, wurde von der Stasi überwacht. Auch die Überwachung der in unregelmäßigen Abständen in Leipzig stattfindenden Turn- und Sportfeste der DDR gehörte zum Aufgabenbereich der Staatssicherheit. Von 1954 bis 1987 fanden diese insgesamt achtmal (1954, 1956, 1959, 1963, 1969, 1977, 1983 und 1987) in Leipzig statt. Die beiden letzten Veranstaltungen dieses Typs waren vom 25.–31. Juli 1983 das VII. Turn- und Sportfest der DDR sowie vier Jahre später vom 27. Juli–2. August 1987 das VIII. Turn- und Sportfest der DDR. Sämtliche Tätigkeiten der Stasi, die für einen störungsfreien Ablauf des Ereignisses zu sorgen hatte, liefen unter der Bezeichnung Aktion „Lebensfreude“. Dafür wurden alle ausländischen Gäste wie der IOC-Präsident Juan Antonio Samaranch und andere internationale Repräsentanten beobachtet und überwacht. Organisiert wurde dies von der Hauptabteilung XX (Staatsapparat, Kultur, Kirche, Untergrund) mit ihrer Arbeitsgruppe Ausländer. Im Verlaufe der 1980er Jahre faszinierten Computer auch in der DDR. Als sich im ganzen Land junge Menschen zusammenschlossen, um zu programmieren, Software zu tauschen und zu spielen, sah die SED-Führung darin nicht nur ein großes Potenzial, sondern hegte zunehmend Misstrauen gegenüber der neuen Jugendkultur. Die Staatssicherheit nahm die Computerfans ins Visier. Wie Unterlagen der BVfS Leipzig zeigen, registrierte die Geheimpolizei bereits im März 1985 den Zusammenschluss von „ca. 80 Computerinteressenten“ in Ost-Berlin, die Software tauschten und programmierten. Wie bei allen Zusammenschlüssen Jugendlicher, wurde auch hier eine potentielle subversive Dynamik vermutet. Bei Vorgängen im April 1986 auf der Säuglingsstation der Leipziger Frauenklinik, bei denen vier Frühchen aufgrund von falscher Dosierung von Digitoxin ums Leben kamen, wird die sogenannte „Spezialkommission“ der Staatssicherheit fassbar, über deren Arbeit bisher nur wenig bekannt ist. Diese sollten für Ruhe sorgen, indem sie die Fälle lösen und deren Hintergründe so weit wie möglich vertuschen. Da in der DDR Todesfälle auf Geburtsstationen als politisch besonders brisant gelten, wurde die Untersuchung des Falls nicht in die Hände der Kripo gelegt, sondern sofort von der Staatssicherheit übernommen und das Klinikpersonal zum Schweigen gezwungen. Als Verdächtige wurde eine 20 Jahre alte Krankenschwester – die ein Jahr lang in Untersuchungshaft war – in einer nicht-öffentlichen Gerichtsverhandlung verurteilt, wegen einer „systemfeindlichen Tat“ und einem „gesellschaftsgefährdenden Akt“. Die Eltern der Angeklagten wurden weder über den Termin noch über den Prozessausgang informiert. Ein Jahr nachdem die Krankenschwester im Jahr 2009 – nach mehr als 20 Jahren – aus der Haft entlassen wurde, wurde sie in ihrer Wohnung tot aufgefunden. Aus den Stasi-Akten geht hervor, dass den Eltern der Säuglinge die Todesursache nie mitgeteilt worden war. Wesentliche Zentren der Opposition in der DDR waren Ost-Berlin, Leipzig und Jena. Immer wieder entstanden neue kritische Gruppen, wie in Leipzig 1986 die Arbeitsgruppe Menschenrechte, begründet vom evangelisch-lutherischen Pfarrer Christoph Wonneberger, der ab 1985 die Lukaskirchgemeinde in Leipzig betreute, Steffen Gresch, Oliver Kloss und anderen. Im Jahr 1987 wurde der Arbeitskreis Gerechtigkeit Leipzig von Thomas Rudolph, Rainer Müller und anderen gegründet, aus dem wiederum der DDR-weite Leipziger Sonnabendskreis hervorging. 1989 Die Stadt Leipzig spielte eine bedeutende Rolle bei der Friedlichen Revolution in Ostdeutschland, die im revolutionären Kontext der Ereignisse und politischen Strukturveränderungen in den Jahren 1989 und 1990 schließlich zum Zusammenbruch des Ostblocks und zur Wiedervereinigung Deutschlands führten. Auf der Entwicklung dorthin lassen sich, neben wiederholten Verhaftungen, rückblickend mehrere Stationen feststellen: Im Vorfeld der Wiener Konferenz (KSZE, 17.–19. Januar 1989), auf der auch Vertreter der DDR anwesend waren, wurden am 12. Januar in Leipzig elf Personen verhaftet, die Flugblätter mit einem Demonstrationsaufruf gedruckt und verteilt hatten; bei der Demonstration in der Leipziger Innenstadt am 15. Januar wurden dann 53 Teilnehmer vorübergehend festgenommen und von der Volkspolizei „belehrt“. Am 7. Mai 1989 wurden 72 Personen vorübergehend festgenommen. Ein wichtiger Meilenstein war der sogenannte Pleißepilgerweg („Eine Hoffnung lernt gehen“) am 4. Juni 1989. Eine andere wichtige Station war das „Leipziger Straßenmusikfestival“ am 10. Juni 1989, zu dem zahlreiche regimekritische Künstler aus der gesamten DDR anreisten. Viele dieser Besucher wurden verhaftet, in den Räumlichkeiten der BVfS verhört und später wieder entlassen. Die SED beunruhigte besonders, dass von den 84 Festgenommenen 53 nicht aus dem Bezirk Leipzig kamen. Ein Mitorganisator beider Veranstaltungen war Uwe Schwabe, der seit 1987 durch das MfS im Operativen Vorgang „Leben“ und der Operativen Personenkontrolle „Willi“ verfolgt wurde. Im Januar 1989 war er wegen des Verteilens von Flugblättern, mit einem Aufruf zu einer Demonstration am 15. Januar 1989, für sieben Tage in Untersuchungshaft. Im September gehörte Schwabe zu den Mitgründern des Neuen Forums in Leipzig. Im März 1989 begründete Christian Dietrich mit Katrin Hattenhauer, Gesine Oltmanns und Michael Arnold die Initiative zur demokratischen Erneuerung, die zur Demonstration gegen die ‚Pseudowahlen‘ am 7. Mai 1989 aufrief und ein Archiv des Widerstandes ankündigte. Wegen seiner Beteiligung an Demonstrationen wurde er mehrfach festgenommen. Auf der Leipziger Montagsdemonstration am 4. September 1989 trug er ein Transparent mit den Worten Versammlungs- und Vereinsfreiheit. Der Versuch der Staatssicherheit, Dietrich am Rande der Montagsdemonstration am 18. September festzunehmen, scheiterte an der Solidarisierung der Umstehenden. Das Ministerium für Staatssicherheit verfolgte ihn unter dem Operativen Vorgang „Kerze“. Im Herbst 1989 beteiligte Dietrich sich am Aufbau des Neuen Forums und des Demokratischen Aufbruchs. Im Anschluss an das Friedensgebet am 11. September 1989 wurden 89 Personen verhaftet, von denen die meisten zu Geldstrafen (1000 bis 5000 Mark) und 19 zu mehrmonatigen Haftstrafen verurteilt wurden. Bei einer Besprechung der Referatsleiter am 13. September wurde notiert, dass es in Leipzig „künftig zu strafrechtlichen Maßnahmen“ komme. Dieser Versuch schlug allerdings fehl, denn jeden Montag nahm die Zahl der Demonstranten zu. An der Montagsdemonstration am 25. September 1989 nehmen in Leipzig mehrere tausend Demonstranten teil. Solidaritätskonzerte der Leipziger Liederszene fanden im Oktober 1989 in der Lukaskirche, der Michaeliskirche und der Bethanienkirche statt, dabei wurde teilweise Geld gesammelt, um inhaftierten Demonstranten zu helfen. Vor der Demonstration am 9. Oktober standen 8000 Polizisten, Kampfgruppen­mitglieder und NVA-Soldaten bereit. In den Krankenhäusern waren die Blutkonserven aufgestockt worden, medizinisches Personal wurde zwangsverpflichtet. Die Nikolaikirche war bereits gegen 14 Uhr mit etwa 600 SED-Mitarbeitern besetzt. Zugverbindungen nach Leipzig waren erschwert. Trotz der drohenden Gefahr fanden sich zahlreiche Bürger nach den Friedensgebeten zusammen. Kurz vor Schluss des Friedensgebetes wurde in allen Kirchen der „Aufruf der Leipziger Sechs“ verlesen. Ab 18 Uhr wurde der Appell mehrmals über den Stadtfunk ausgestrahlt. Die folgende Demonstration mit über 130.000 Teilnehmern verlief erstmals friedlich ohne staatliche Gewaltanwendung. Als die Menschen am Hauptbahnhof vorbeizogen, zogen sich die Sicherheitskräfte zurück. Mit einer solchen Anzahl an Menschen hatte der Staat nicht gerechnet. Die Gründe und der genaue Hergang sind bis heute nicht vollständig geklärt. Am 16. Oktober 1989 nahmen bereits 150.000 Demonstranten teil (militärische Einheiten wurden noch in Reserve gehalten), eine Woche später wuchs die Zahl auf 300.000. Während der am 21. Oktober 1989 stattfindenden zentralen Dienstbesprechungen des MfS wird der Sicherheitsapparat auf den Begriff „Wende“ verpflichtet. Die Kreisdienststelle Wurzen bereitete sich noch am 3. November 1989, sechs Tage vor Maueröffnung, mit Waffen auf den erwarteten Proteststurm vor. Erich Mielke gab am 6. November 1989 an die Dienststellen des MfS in den Bezirken die Weisung, brisantes dienstliches Material zu vernichten. Als am 6. November 1989 im Parteiorgan Neues Deutschland Entwürfe neuer Reiseregelung veröffentlicht wurde, nach denen (fast) alle jedes Jahr für einige Wochen in den Westen reisen dürften, wofür aber weiterhin Antrag und Genehmigung eines Visums der Staatsorgane erforderlich seien, attackierten die Rednerinnen und Redner auf Demonstrationen in Leipzig dies als Ausdruck alter Machtanmaßung. Als am 17. November 1989 das MfS in „Amt für Nationale Sicherheit“ umbenannt wird, deren neuer Leiter Wolfgang Schwanitz, einer der Stellvertreter Mielkes, wird, kommentieren die Demonstranten das auf der Straße mit dem Slogan: „Aus Stasi wird Nasi, sonst ändert sich nichts“. Die Öffentlichkeit ließ sich also von der durch die Regierung Modrow versuchten Umbenennung nicht täuschen. Bereits vor der Besetzung der Leipziger BVfS am 4. Dezember 1989 war der Dialog zwischen Stasi und Bürgerrechtlern so weit gediehen, dass Leipzig als Deeskalationsmodell in anderen Städten wie Berlin genutzt wurde. Am 12. November 1989 kam es um 17 Uhr im Haus der Deutsch-Sowjetischen-Freundschaft im Raum „Kiew“ zu einem Treffen von 15 Bürgerrechtler und Vertretern der staatlichen „Schutz- und Sicherheitsorgane“ (zwei Stasioffiziere, jeweils ein Vertreter von Polizei und Feuerwehr). Die Staatsvertreter protokollierten das Gespräch über die „Sicherung der Gewaltlosigkeit“. Ihre Fotos mit Kerzen vor der BVfS sollten Brandspuren am Gebäude belegen. Die staatliche Intention war, dass die Bürgervertreter dafür sorgen müssten, dass es zu keinen Übergriffen kommt, da andernfalls die staatlichen Stellen gezwungen wären, von der Schusswaffe Gebrauch zu machen. Die internen Arbeitsprotokolle der damaligen Dienstbesprechungen zeigen, dass das Treffen nicht auf Augenhöge stattfand, sondern dazu diente, im Dialog „feindliche Kärfte entlarven“. Davon ahnten die Bürgervertreter nichts und besprachen arglos deeskalierende Taktiken; so sollte vor einer Polizeikette eine zweite Kette aus Ordnern des Neuen Forum aufgestellt werden. Als Leipzigs Stasi-Chef Manfred Hummitzsch am 14. November öffentlich vom „Ideenreichtum und der Konstruktivität der Bürgervertreter“ schwärmte, zeigt dies, dass es damals eine ganze Reihe von Versuchen gab, die Bürgerbewegung zu instrumentalisieren und das die SED versuchte, sich „an die Spitze“ zu stellen. Solche Funktionalisierung durch die Stasi ging dem Neuen Forum endgültig zu weit, woraufhin beim zweiten Treffen am 16. November 1989 eine „Denkpause“ vereinbart wurde. Am 4. Dezember 1989 war die Lage vor der Montags-Demo in der Runden Ecke angespannt. Die Volkspolizei sollte von außen sichern. Zur Besänftigung der Massen würde über das örtliche Radio versprochen, dass die Runde Ecke bis April an die Stadtverwaltung abgegeben werde. Die Mitarbeiter wurden ab ein Uhr nach Hause geschickt. Zunächst forderte Mielke-Nachfolger Wolfgang Schwanitz, das Betreten der Gebäude mit „allen Mitteln“ außer Gewaltanwendung zu verhindern. Aufgrund der Ereignisse musste die BVfS Leipzig eine größere Delegation ins Haus lassen, die sich als Bürgerkomitee etablierte und die sächsische Stasi-Dienststelle parallel zu entsprechenden Vorgängen im Rest der DDR Stück für Stück demontierte. Am 4. Dezember 1989 kam es in mehreren Städten der DDR zu Demonstrationen vor den örtlichen Stasi-Zentralen, die zur Besetzung der Bürogebäude zunächst am Morgen in Erfurt, dann in Leipzig und Rostock, und zur Beschlagnahmung von Akten durch Bürgerkomitees führten. An der Besetzung des Staatssicherheitsgebäudes in Leipzig war beispielsweise Ansgar Müller, der ab Oktober 1989 Kontaktperson des Neuen Forums war, beteiligt. Da sich die Anzeichen mehrten, dass die Staatssicherheit Akten vernichtete, die Beziehungen zu den IMs „einfror“ und auf verschiedenen Ebenen um das institutionelle Überleben kämpfte, besetzten die Demonstranten zusammen mit Vertretern der Staatsanwaltschaft, teilweise von Journalisten begleitet, die Räume im BVfS. Nachdem sie inspiziert waren, wurden sie polizeilich versiegelt, um die am 6. November von Mielke befohlene Aktenvernichtung zu beenden. Zahl der Teilnehmer an den Demonstrationen in Leipzig: 1990 Mit der Auflösung der BVfS am 4. Dezember 1989 und den ersten freien Wahlen auf dem Gebiet der DDR am 18. März 1990 hatten die Teilnehmer der Montagsdemonstrationen zwar zwei ihrer wichtigsten Ziele erreicht, aber der Umgang mit den sichergestellten Akten der Staatssicherheit war noch nicht geklärt. Nachdem die Bezirksverwaltungen DDR-weit vom 4. bis 6. Dezember und die meisten Kreisdientsstellen in den Tagen und Wochen danach besetzt worden sind, blieb nur noch die Hauptzentrale in Berlin-Lichtenberg aktiv. Während die Arbeit der Stasi außerhalb Berlins seit Dezember 1989 weitgehend zum Erliegen gebracht worden war, arbeitete die Zentrale unter der neuen Bezeichnung „AfNS“ weiter, was die regionalen Bürgerkomitees in Städten wie Leipzig, Dresden oder Schwerin kritisierten. Die Bürgerkomitees aus den genannten Städten außerhalb Berlins ergriffen deshalb am 15. Januar 1990 die Initiative. Dazu hatten sie sich auf zwei Treffen am 4. Januar 1990 in Leipzig und am 12. Januar in Berlin verabredet. Im Ergebnis gelang es am 15. Januar 1990 auch die Stasi-Zentrale in Berlin zu stürmen. Doch auch nach den Besetzungen im Dezember und trotz Bürgerkontrollen verschwanden immer wieder verfängliche Akten. Vorschläge ehemalige MfSler die Akten an ein zentrales Staatsarchiv zu übergeben oder die Findmittel zu zerstören, wurden zwar nicht umgesetzt, aber im Februar 1990 wurden mit Zustimmung des Runden Tisches zahlreiche elektronische Dateien und Karteisysteme zerstört. Zum Wandel in der öffentlichen Meinung kam es erst, als Oppositionspolitiker in Verdacht gerieten, IMs gewesen zu sein, was nur durch Akten belegt werden konnte. So etablierte sich im Frühjahr 1990 der Begriff Aufarbeitung. Unmittelbar nach der Volkskammerwahl wurde mit einem Ministerratsbeschluss vom 16. Mai 1990 die Aufarbeitung des MfS der Bürgerkontrolle entzogen und einer Regierungskommission unter Teilnahme des ehemaligen MfS-Leiters für den Bereich Aufklärung, Generaloberst Markus Wolf übertragen. Dagegen wurde nicht nur in Leipzig demonstriert und Mahnwachen gehalten. Das Bürgerkomitee Leipzig bereitete seit April 1990 eine Ausstellung vor, die am 10. Juni 1990 unter dem Titel „Stasi – Macht und Banalität. Indizien des Verbrechens“ eröffnet wurde. Die letzte Volkskammer der DDR beschloss im August 1990 ein sehr restriktives Gesetz zur Aktennutzung. Die weitere Aufarbeitung der Akten, wäre dann beinahe an der Regierung Helmut Kohls gescheitert, denn diese wollte den Großteil bereits nach wenigen Monaten vernichten, weil die Stasi viele ihrer Unterredungen abgehört hatte. Die Bürgerrechtsbewegung protestierten gegen diesen Versuch, diese Errungenschaft der Friedlichen Revolution rückgängig zu machen. Um öffentliche Aufmerksamkeit auf die Frage nach der Zukunft der Stasiakten zu lenken, wurde die alte Stasi-Zentrale in Berlin Anfang September 1990 ein zweites Mal von Bürgerrechtlern besetzt. Eine zentrale Forderung der Demonstrierenden lautete nun: „Meine Akte gehört mir!“ Mit Hilfe des Rostocker Pfarrers und späteren Bundespräsidenten Joachim Gauck kam es zu einem Zusatz zum Einigungsvertrag; die Akten sollten erhalten und die Akteneinsicht vom Bundestag gesetzlich geregelt werden. Ende 1991 wurde das Stasi-Unterlagen-Gesetz nach langen Diskussionen beschlossen; welches mit Beginn des Jahres 1992 den Betroffenen den Einblick in ihre Akten ermöglichte. Nach 1990 Mitte der 1990er Jahre wurden große Teile der magazinierten Sammlungen sowie die museumspädagogische Abteilung, die Bibliothek und Fotothek des Stadtgeschichtlichen Museums Leipzig bis zur Eröffnung des Neubaus in Übergangsquartiere, unter anderem in Räumlichkeiten der ehemaligen Bezirksverwaltung des Ministeriums für Staatssicherheit am Matthäikirchhof und in der Großen Fleischergasse, zwischengelagert. Die Sauna der BVfS wurde nach 1990 unter dem Namen „Phoenix“ als erste Gay-Sauna der Stadt Leipzig genutzt. Von 1997 bis 2002 nutzte die Großraumdisko „Jam Dancehall“ Teile des Gebäudes. Das anschließend hier untergebrachte Tanzhaus „Alpen Max. Der Gipfel des Vergnügens“ schloss im Jahr 2016 wieder, „weil die Stadt Leipzig Eigenbedarf für das Gebäude angemeldet hatte.“ Als im Jahr 2004 das Sachbuch Stasiland der Australierin Anna Funder auf Deutsch erscheinen sollte – in dem es ausdrücklich auch um die BVfS Leipzig geht –, erwirkte der Verein Gesellschaft zum Schutz von Bürgerrecht und Menschenwürde (GBM) kurz nach Erscheinen des Buches eine einstweilige Verfügung bezüglich der Schilderungen des Umgangs der GBM mit Kritikern. Daraufhin erschien die deutsche Fassung des Buches neu ohne die beanstandeten Passagen. Die Olympiabewerbung Leipzigs im Jahr 2012 war von Stasi-Verstrickungen überschattet, als bekannt wurde, dass in wichtigen Positionen ehemalige IMs tätig waren. Im Jahr 2017 wurde ein Konzept zur Nutzung übergeben. Im gleichen Jahr forderte eine Initiative Leipziger Architekten den Abriss der Gebäude um den Matthäikirchhof. Dagegen wurde argumentiert, dass „viele original erhaltene Zeugnisse in den Plattenbauten – etwa eine Bunkeranlage im zweiten Keller, das Büro des letzten Leipziger Stasi-Chefs, der Paternoster und die Fassade mit der Treppenhausverkleidung, spöttisch ‚Horchturm‘ genannt“ erhalten seien. In der Zeit 2019 bis 2020 wurde eine Grundlagenermittlung für Entwicklung des ehemaligen Matthäikirchhofs durchgeführt. Im Jahr 2021 fanden Aktionstage statt. Vorschläge für die Nachnutzung des Gebäudekomplexes umfassen auch ein „Zukunftszentrum“, inspiriert vom 2014 eröffneten „Europäischen Solidarność-Zentrum“ in Danzig. Aufgrund der durch die geschlossene Bebauung geprägten Atmosphäre wird der Innenhof der ehemaligen Bezirksverwaltung wiederholt als Hintergrund für Verfilmungen eingesetzt; dazu zählen die 2021 verfilmte Geschichte Die unheimliche Leichtigkeit der Revolution und die 2022 gesendete ARD-Krimiserie „ZERV – Zeit der Abrechnung“. Auch der 2007 gedrehte Dokumentarfilm Die Firma – Das Ministerium für Staatssicherheit wurde in der BVfS Leipzig gedreht. Struktur und Aufbau Personal Die Gesamtanzahl der hauptamtlichen Mitarbeitern der BV Leipzig lag Ende 1988 bei 3.792 (Stand 31. Dezember 1988), die Einwohnerzahl des Bezirkes Leipzig betrug 1989 etwa 1.360.900 Personen. Die Gesamtzahl der hauptamtlichen Mitarbeiter der Kreisdienststelle Leipzig umfasste 757. In der Bezirksverwaltung Leipzig und allen ihren Kreisdienststellen gab es im Jahr 1989 insgesamt 9.979 inoffizielle Mitarbeiter. Davon waren 5.331 IMS (Inoffizieller Mitarbeiter zur politisch-operativen Durchdringung und Sicherung des Verantwortungsbereiches), 142 IMB (Inoffizieller Mitarbeiter der Abwehr mit Feindverbindung oder zur unmittelbaren Bearbeitung im Verdacht der Feindtätigkeit stehender Personen), 275 IME (Inoffizieller Mitarbeiter im besonderen Einsatz), 169 FIM (Führungs-IM), 1.475 IMK/KW/KO, 162 IMK (Inoffizieller Mitarbeiter zur Sicherung der Konspiration und des Verbindungswesens)/DA/DT/S und 1.637 GMS (Gesellschaftliche Mitarbeiter für Sicherheit) (Stand: 31. Oktober 1989). Die „Inoffiziellen Mitarbeiter“ des MfS bildeten eine „Schattenarmee“ der Geheimpolizei, und das Stichwort IM prägt noch heute die Diskussion über die Rolle der Stasi in der DDR. Insgesamt wurden die meisten IM pro Einwohner in den Bezirken Brandenburgs geführt, die wenigsten in den Bezirken Sachsens. In den Städten gab es die größte Dichte in Cottbus und die geringste in Leipzig. Leiter vor März 1952: Felix Müller 1952–1958: Kurt Rümmler (1911–1958) 1959–1966: Hans Schneider (1914–1972) 1966–1989: Manfred Hummitzsch (1929–2015) Von Dezember 1989 bis April 1990 war Reinhard Eppisch, von 1983 bis 1990 1. Stellvertreter Operativ, noch für die Auflösung zuständig. Strukturen Die BVfS Leipzig bestand aus 33 Abteilungen, Arbeitsgruppen, Einheiten oder Referaten. Struktureller Aufbau der Bezirksverwaltung Leipzig (Stand: November 1989) Hinzu kam die „Spezialkommission“, eine 1958 auf Befehl von Mielke gegründete „Mord- und Brandkommission“, die immer größere Kompetenzen bekam. 1967 wurde aus der Einheit die Spezialkommission bei der Untersuchungsabteilung IX mit dem Auftrag sogenannte Diversionsverbrechen, also Schädigung der Volkswirtschaft (Mord, Terror, Brandstiftung), zu ermitteln. Sie bildeten eine Art Kriminalpolizei innerhalb des DDR-Geheimdienstes, zuständig für alle sicherheitspolitisch bedeutsamen Fälle; als eine Polizei, die nachrichtendienstliche Mittel einsetzen durfte. Nach der Lesart der DDR-Oberen durfte es in einer „entwickelten sozialistischen Gesellschaft“ Kapitalverbrechen wie Sexual- oder Raubmorde, vor allem aber auch Serienmorde, eigentlich gar nicht geben. So wichtig wie die Aufklärung solcher Fälle wurde deren Vertuschung angesehen. Die Zusammenarbeit mit der konkurrierenden Kriminalpolizei war schwierig. Treffen von Abgesandten des Innenministeriums der DDR, dem die Kriminalpolizei unterstand, und des Ministeriums für Staatssicherheit, zuständig für die Spezialkommission, wie am 9. März 1983, sollten die Zusammenarbeit „effektiver“ gestalten. Das Problem wurde erkannt, aber nicht gelöst. Die Spezialkommissionen waren auch bei unnatürlichen Todesfällen (Suizid) von Funktionären des Staatsapparates für die Tatortuntersuchung zuständig. Unterstellte Dienststellen Der BVfS Leipzig unterstanden insgesamt 13 Kreisdienststellen für Staatssicherheit (KDfS), deren Leiter alle Oberstleutnant (OSL) waren. Die Zahlen der Hauptamtlichen (HA) und der Inoffiziellen Mitarbeiter (IM) enthalten alle Mitarbeiter zum Stand 31. Oktober 1989. KDfS Altenburg (Clara-Zetkin-Str. 10), Leitung: OSL Bernd Neudeck. IM (1989): 486. Überlieferter Akten-Umfang: 101 lfm. KDfS Borna (Luckaer Str. 16), Leitung: OSL Wolfgang Henter. IM (1989): 812. Überlieferter Akten-Umfang: 4 lfm. KDfS Delitzsch (Am Wallgraben 7), Leitung: OSL Frank Low. IM (1989): 437. Überlieferter Akten-Umfang: 57 lfm. KDfS Döbeln (Reichsteinstr. 2–4), Leitung: OSL Horst Schmidt. IM (1989): 640. Überlieferter Akten-Umfang: 47 lfm. KDfS Eilenburg (Gustav-Raute-Str. 6), Leitung: OSL Kurt Neubert. IM (1989): 444. Überlieferter Akten-Umfang: 51 lfm. KDfS Geithain (Schillerstr. 8), Leitung: OSL Karl-Heinz Moeller. HA: 27, IM (1989): 277. Überlieferter Akten-Umfang: 17 lfm. KDfS Grimma (Nordstr. 19), Leitung: OSL Dieter Nottrodt. HA: 38, IM (1989): 314. Überlieferter Akten-Umfang: 87 lfm. KDfS Leipzig-Land (Käthe-Kollwitz-Str. 82–84), Leitung: OSL Bruno Händel. IM (1989): 587. Überlieferter Akten-Umfang: 186 lfm. KDfS Leipzig-Stadt (Friedrich-Ebert-Str. 19a/b), Leitung: OSL Norbert Schmidt. HA: 210, IM (1989): 1407. Überlieferter Akten-Umfang: 380 lfm. KDfS Oschatz (Freiherr-vom-Stein-Promenade 11), Leitung: OSL Helmut Müller. IM (1989): 419. Überlieferter Akten-Umfang: 34 lfm. KDfS Schmölln (Lindenberg 23), Leitung: OSL Dieter Lugenheim. IM (1989): 237. Überlieferter Akten-Umfang: 4 lfm. KDfS Torgau (Str. der OdF 4), Leitung: OSL Karl-Heiz Böhm. IM (1989): 430. Überlieferter Akten-Umfang: 28 lfm. KDfS Wurzen (Dehnitzer Weg 4 a), Leitung: OSL Reimund Rädler. IM (1989): 323. Überlieferter Akten-Umfang: 74 lfm. Hinzu kamen die Untersuchungshaftanstalt (UHA) in der Beethovenstraße. Das im 19. Jahrhundert nach Entwürfen des Architekten Hugo Licht gebaute Gebäude der UHA war Teil eines ganzen Justiz- und Gefängniskomplexes gegenüber dem ehemaligen Reichsgericht. Dort wurden politische Häftlinge bis zur Verurteilung festgehalten. Das Gefängnis verfügte über eine Kapazität von 98 Zellen; die Durchschnittsbelegung lag im Jahr 1988 bei 45 Häftlingen. Leiter der Gefängnisses war zuletzt Oberstleutnant Horst Näther. Von 1952 bis 1989 waren hier mehr als 5.000 Menschen inhaftiert. Die ehemalige Ausweichführungsstelle des BVfS Leipzig befand sich in geheimen Bunkeranlagen an den Lübschützer-Teichen in Machern. Der Bunker, der in den Jahren von 1968 bis 1972 gebaut worden war, wurde für den Fall eines Atomkriegs oder eines konventionellen Angriffs konzipiert. Das Gesamtgelände der etwa 20 km östlich von Leipzig liegenden Anlage ist 5,2 Hektar groß; die Bunkerinnenräume umfassen etwa insgesamt 1500 Quadratmeter. Das gesamte Gelände, das in eine innere und eine äußere Sicherheitszone eingeteilt und durch Maschendrahtzäune gesichert war, wurde ständig durch den Bunkerkommandanten im Range eines Majors des MfS, seinen Stellvertreter, sechs Wachsoldaten und mehrere Hunde gesichert. Die Anlage bot Platz für etwa 100 bis 120 hauptamtliche Mitarbeiter. Der massive Stahlbeton-Bunker (35 × 41 m) lag in 5 bis 6 m Tiefe, wobei die Bedeckung mit Erde rund 2,50 m betrug. Neben Arbeits- und Schlafräumen gab es sanitäre Einrichtungen, Küche, Krankenstation, Notstromaggregate, Luftfilter und Nachrichtentechnik. Die 16 Räume sind dabei zu zweimal acht Zinken wie bei einem Kamm angeordnet, wobei jeder Raum 2 × 14 m groß ist. Bis auf zwei Tiefbrunnenbohrungen wurden alle sonstigen Arbeiten von MfS-Mitarbeitern ausgeführt. Erst im Dezember 1989 entdeckte der Pfarrer der Stadt Machern den bis dahin geheimen Bunker, der 1995 auf Initiative des Bürgerkomitees unter Denkmalschutz gestellt wurde. „Daneben belegte die BVfS Leipzig noch zahlreiche andere Dienstobjekte im Stadtgebiet von Leipzig, zum Beispiel die 3. Etage der Messehalle 7.11. und verschiedene Gebäude in der Friedrich-Ebert-Straße 19a/Gustav-Mahler-Straße 1-3, Käthe-Kollwitz-Straße 82/84, Rathenaustraße 54, Mathiesenstraße 16 und Primavesistraße 2. Nach der Fertigstellung des Erweiterungsbaus residierte die Leitung der BVfS (außer Stellvertreter Operative Technik/Sicherstellung) in der 4. Etage dieses Gebäudes.“ Daneben gab es noch eine weitere Dienststelle, das sogenannte „Objekt 2“ im Leipziger Stadtteil Leutzsch mit insgesamt 126 Mitarbeitern bei den „Rückwärtigen Diensten“, davon 40 bei den Kfz-Diensten. Mindestens von 1978 bis 1984 stahlen hier 13 Mitarbeiter Auto-Ersatzteile im bandenmäßigen Stil, indem sie neue Ersatzteile aus ihnen anvertrauten Autos ausbauten und durch alte Teile ersetzen. Die Schadenssumme durch den Diebstahl betrug mindestens 65.000 DDR-Mark. Zwar folgten Entlassungen, Degradierungen und Parteiausschlüsse, aber insgesamt fielen die Strafen milde aus. Zwei Mitarbeiter mussten in Untersuchungshaft nach Berlin-Hohenschönhausen. Ein Oberfeldwebel musste danach für zwei Jahre ins Gefängnis, während sein vorgesetzter Oberleutnant nur ein Jahr und acht Monate auf Bewährung erhielt. Zudem wurden im Leipziger Stadtgebiet im Laufe der Jahre 817 konspirative Wohnungen und 46 konspirative Arbeitsräume genutzt. Neben der BVfS gab es noch zwei Kreisdienststellen: KD Leipzig-Land und KD Leipzig-Stadt. Deren letzte Leiter waren OSL Norbert Schmidt (Stadt) und OSL Bruno Händel (Land). 1989 arbeiteten in der KD Leipzig-Stadt 210 Mitarbeiter. Im Einflussgebiet des BVfS Leipzig befand sich von 1960 bis 1987 auch die Zentrale Hinrichtungsstätte der DDR. Im Erdgeschoss des Hauses Arndtstraße 48, mitten in einem Wohngebiet, wurden insgesamt 64 Menschen hingerichtet, in der Anfangszeit mit einem Fallbeil. Von 1968 bis 1981 vollstreckte MfS-Hauptmann Hermann Lorenz Todesurteile durch unerwarteten Nahschuss. Zwar wurde am 26. Juni 1981 mit Werner Teske letztmalig eine Hinrichtung in der DDR durchgeführt, der Staatsrat verkündete aber erst am 17. Juli 1987 die Abschaffung der Todesstrafe. Vorbereitung auf den Tag X Die streng geheime „Direktive 1/67“, die seit Ende Juli 1967 geplant worden war, sah eine konzertierte Aktion aller Bezirks- und Kreisdienststellen des Ministeriums für Staatssicherheit innerhalb von 24 Stunden vor. Die Direktive unterschied bei den Vorbeugemaßnahmen zwischen „Internierung“ und „Isolierung“. Interniert werden sollten Ausländer und Transitreisende, die sich auf dem Gebiet der DDR aufhielten. Dafür sollten insgesamt 35 Internierungslager mit einer Kapazität von 21.000 Personen und einer Maximalkapazität von 26.000 Personen eingerichtet werden; jedes sollte mindestens 60 km von der innerdeutschen Grenze entfernt sein. Auch Internierungslager für 855 Diplomaten und Korrespondenten in Berlin sollten eingerichtet werden. Die „Isolierung“ richtete sich ausschließlich gegen die eigene Bevölkerung und wurde als Vorbeugekomplex bezeichnet. Im Dezember 1988 waren 85.939 Personen für diese Maßnahmen erfasst, davon 2.955 zur Inhaftierung in den MfS-Untersuchungshaftanstalten, 10.726 Personen zur Inhaftierung in den Isolierungslagern, 937 „unzuverlässige“ Leiter waren für eine verstärkte Überwachung mit dem Ziel ihrer späteren Ablösung vorgesehen und weitere 71.321 Bürger waren als „feindlich-negative Personen“ registriert. Aus Leipzig ist eine Aufstellung mit dem Titel: „Im Rahmen des Vorbeugekomplexes zuzuführende Personen, die dem politischen Untergrund zuzuordnen sind“ überliefert. Die Liste, die an den Chef der Arbeitsgruppe des Leiters der Bezirksverwaltung Leipzig adressiert ist und auf den 9. Oktober 1989 datiert, umfasst 122 Personen mit Wohnanschrift und anderen Angaben. Aktivitäten (Auswahl) Telefon- und Postüberwachung Der Art. 31 der Verfassung der DDR von 1968 schützte das Postgeheimnis als unverletzbar. Es durfte nur auf gesetzlicher Grundlage eingeschränkt werden, wenn es die Sicherheit des sozialistischen Staates oder eine strafrechtliche Verfolgung erfordern. Die Mitarbeiter und Beauftragten der Deutschen Post der DDR waren nach § 18 des Gesetzes über das Post- und Fernmeldewesen verpflichtet, das Post- und Fernmeldegeheimnis zu wahren. Das unbefugte Öffnen von Briefsendungen oder Telegrammen während der Beförderung oder die Mitteilung des Inhalts von Nachrichten, die der Deutschen Post anvertraut waren, durch Mitarbeiter oder Beauftragte der Deutschen Post an Nichtberechtigte wurde gem. § 202 StGB (DDR) als Straftat gegen den Nachrichtenverkehr bestraft. Als Straftat gegen Freiheit und Würde des Menschen wurde bestraft, wer sich vom Inhalt eines verschlossenen Schriftstückes oder einer anderen verschlossenen Sendung unberechtigt Kenntnis verschaffte (§ 135 StGB-DDR). Dennoch erfolgte eine systematische Kontrolle aller Postsendungen aus oder in die Bundesrepublik oder West-Berlin durch die Abteilung M des Ministeriums für Staatssicherheit. Diese arbeitete mit der Deutschen Post der DDR zusammen. Innerhalb der Post firmierte die Postkontrolle unter der Tarnbezeichnung „Abteilung 12“ oder „Dienststelle 12“. Die Postkontrolle des MfS begann im Jahr 1950 mit drei Referaten und einigen Dutzend Mitarbeitern und wurde kontinuierlich ausgebaut. Im Jahr 1989 verfügte der Bereich über zehn Abteilungen mit knapp 2.200 Mitarbeitern. Die Bedeutung, die der Postkontrolle beigemessen wurde, zeigte sich daran, dass der Leiter des Bereichs, Rudi Strobel, im Range eines Generalmajors stand und seit 1982 direkt Erich Mielke unterstand. In den 1980er Jahren öffnete das MfS in der gesamten DDR pro Tag etwa 90.000 Briefe und 60.000 Pakete. In der Abteilung Postkontrolle waren in der BVfS Leipzig 200 Mitarbeiter damit beschäftigt, täglich bis zu 1200 Briefe vorsichtig mit Wasserdampf zu öffnen, den Inhalt auf gefährliche oder feindliche Aktivitäten, wie Republiksfluchtpläne, zu prüfen und Kopien der Briefe anzufertigen. Im Anschluss daran wurden die Briefe sauber wieder verschlossen und teilweise mit Bügeleisen geglättet. Aus der privaten Post wurden allein in Leipzig etwa 100.000 Schriftproben zusammengetragen, um Verdächtige auch anhand ihrer Handschrift überführen zu können. Aufgrund der technischen Ausstattung konnten aus der Zentrale der BVfS heraus 600 Telefonate innerhalb Leipzigs gleichzeitig abgehört werden. Das kam, aufgrund der wenigen Anschlüsse insgesamt, einer Vollabdeckung gleich. Daneben wurden auch im Bahnpostamt Leipzig sämtliche hier umgeschlagenen Pakete und Briefe auf staatsgefährdenden Inhalt untersucht und gegebenenfalls zur Abteilung M der BVfS Leipzig weitergeleitet. Auch die Leipziger Zollverwaltung wurde als Organ des Ministeriums für Außenhandel von der Hauptabteilung XVIII (HA XVIII) des Ministeriums für Staatssicherheit durch die Führung von Offizieren im besonderen Einsatz (OibEs) in Schlüsselpositionen kontrolliert. Geruchsproben, Personenüberwachung, Verhöre, Zersetzung Das bekannteste wie außergewöhnlichste Mittel, welches für die Überwachung, Vernehmungen und Zersetzungen verwendet wurde, war das Sammeln von Geruchsproben. Mit dieser gängigen Methode des MfS in Leipzig sollten unsichtbare Spuren des Individualgeruchs von Personen gesichert werden, um so oppositionelle Aktivitäten aufzuklären. Der Geruchskonserven-Speicher in der BVfS Leipzig wurde von der Abteilung 26 hergestellt und von der Abteilung XX geführt. Während der friedlichen Revolution mussten die Einweckgläser mit den Proben gesondert gesichert werden, da die Volkspolizei, die ebenfalls mit Geruchsproben arbeitete, versuchte, die Sammlung der Stasi zu übernehmen. Für einige Betroffene, welche die repressiven Aktivitäten noch selbst miterlebt haben, bilden „diese Geruchsproben … das Symbol für die Stasi-Tätigkeit“ schlechthin. Personenüberwachung und Verhöre gehörten zur Haupttätigkeit der Staatssicherheit. So wurde Rainer Müller im Vorfeld der Leipziger Liebknecht-Luxemburg-Demonstration im Januar 1989 wegen geplanter oppositioneller Aktivitäten verhaftet. Das Ministerium für Staatssicherheit führte den Operativen Vorgang (OV) „Märtyrer“ gegen ihn. Mehrfach wurde er bei Demonstrationen festgenommen und mit Aufenthaltsverboten oder Geldstrafen belegt. Das Haus Mariannenstraße 46 im zerfallenden Altbauviertel des Leipziger Ostens, das er gemeinsam mit anderen Oppositionellen bewohnte, wurde rund um die Uhr wahrnehmbar vom MfS observiert. Für die Verhöre wendeten die Stasimitarbeiter Isolationshaft, Nachtverhöre und Schlafentzug an. Zudem sollten psychische und anfangs auch physische Gewalt die Gefangenen zu Geständnissen zwingen. Im Zusammenhang mit den Verhören gab es die sogenannte „Linie 9“, ein mit kriminalpolizeilichen Befugnissen und geheimdienstlichen Möglichkeiten ausgestattetes eigenes „Ermittlungsorgan“. In den 1980er Jahren erreichte diese Abteilung bei den ersten Verhören eine Geständnisquote von über 80 Prozent, die 1988 auf 95 Prozent gesteigert wurde. Die Zersetzung war eine geheimpolizeiliche Methode des MfS zur Bekämpfung vermeintlicher und tatsächlicher politischer Gegner. Als repressive Verfolgungspraxis bestanden die Zersetzungsmethoden aus umfangreichen, heimlichen Steuerungs- und Manipulationsfunktionen und subtilen Formen ausgeklügelten Psychoterrors bis in die persönlichsten und intimsten Beziehungen der Opfer hinein. Das MfS griff dabei auf ein Netz Inoffizieller Mitarbeiter, staatliche Einflussmöglichkeiten auf alle Arten von Institutionen sowie die „Operative Psychologie“ zurück. Kontrolle der Leipziger Messe Die Leipziger Messen fanden jährlich im März und September statt. Diese Großereignisse mit zahlreichen Besuchern aus Ost und West wurden von der Staatssicherheit intensiv überwacht, sowohl im Bereich der Absicherung der Veranstaltung als auch bei der Anbahnung entsprechender Kontakte im „Operationsgebiet“, worunter vor allem Länder des westlichen nichtsozialistischen Auslands verstanden wurden. So wurden aufgrund des Besuchs von Franz Josef Strauß auf der Leipziger Messe im Jahr 1985 „Erfahrungswerte aus dem Einsatz“ gesammelt, die für künftige vergleichbare Einsätze genutzt werden sollten. Zur Frühjahrsmesse 1987 war Strauß das nächste Mal in Leipzig. Während das BVfS die 3. Etage der Messehalle 7.11. nutzte, unterstanden 7 Räume in der 2. Etage der KD Leipzig-Stadt („Objekt V“). Dabei kam es während der Messe in Leipzig wiederholt zum Missbrauch der Schlüsselgewalt durch Mitarbeiter der Staatssicherheit, die diese nutzten, um während der Nacht Waren aus den Ausstellungsbereichen zu stehlen. Während der Leipziger Messe wurden vor allem in den Hotels Astoria, International und Merkur in Leipzig Prostituierte – trotz des seit 1968 in der DDR geltenden Verbotes – als inoffizielle Mitarbeiterinnen eingesetzt, um als sogenannte „Honigfallen“ Material gegen die westdeutschen Freier zu sammeln, indem sie diese mit Sexangeboten in kompromittierende Situationen lockten, die heimlich von der Stasi dokumentiert wurden. Westdeutsche, die während der Leipziger Messen in der DDR einen Arzt aufsuchen mussten, wurden bei den Untersuchungen von IM-Ärzten „abgeschöpft“. Diese verletzten damit zwar ihre ärztliche Schweigepflicht, trotzdem ließen sich viele Ärzte der DDR als inoffizielle Mitarbeiter anwerben. Bei den gewonnenen Informationen ging vor allem um die persönlichen, beruflichen und politischen Ansichten der Personen, um diese später selbst durch Erpressung als IM rekrutieren zu können. Aktivitäten der Auslandsspionage Die Abt. XV (Auslandsaufklärung) in Leipzig unter der Leitung von Oberst Claus Brüning war vor allem für Nordrhein-Westfalen zuständig, im Speziellen unter anderem für die Staatskanzlei Nordrhein-Westfalens, das Forschungsinstitut Meinsberg, aber auch für Universitäten in Westdeutschland und Großbritannien. Die Analyse der Arbeit dieser Abteilung steht vor einer schwierigen Quellen- und Überlieferungslage, denn die Akten der Hauptverwaltung A durften im Wiedervereinigungsprozess 1990 ganz legal und fast vollständig vernichtet werden. Der „Zentrale Runde Tisch“ hatte der Selbstauflösung der HV A zugestimmt, was eine umfassende, eigenmächtige und unkontrollierte Spurenbeseitigung ermöglichte. Als Besonderheit sind in Leipzig noch 40 lfm. an Akten dieser Abteilung erhalten geblieben. Aus diesen und den nicht vernichteten Akten anderer Abteilungen lassen sich dennoch Fallbeispiele rekonstruieren, wie jenes für das Wirken des BVfS Leipzig im westfälischen Münster: Die Leipziger Bezirksverwaltung versuchte ab 1973 einen Bibliothekar der Universität Münster anzuwerben, was gelang, da dieser ein Verhältnis mit einer verheirateten DDR-Bürgerin hatte. Zunächst wurde die Leipzigerin als IM „Annelie“ angeworben und ab Mai 1974 wurde auch der Bibliothekar als IM „Park“ geführt. Die Treffen mit seinem Führungsoffizier erlaubten „Park“ unbeschränkte Einreisemöglichkeiten in die DDR; den obligatorischen Mindestumtausch musste er nicht leisten und er erhielt zudem „operative Zuwendungen“. Auch nach seinem Ruhestand 1983 wollte er weiterhin Zuwendungen, ein unbegrenztes Visum und die (Zwangs-)Umtauschbefreiung für die Reisen zu seiner Geliebten „Annelie“ nach Leipzig behalten. Selbst nach ihrer Ausreise 1987 blieb er als IM/DA („Deckadresse“) im Einsatz. Das letzte Treffen mit einem Führungsoffizier fand noch im Oktober 1989 statt. Ein anderes Fallbeispiel betrifft Aktivitäten der Stasi in Aachen. Dafür wurden Mitarbeiter des DDR-Zugpersonals als inoffizielle Mitarbeiter (IM) genutzt. Auch als Journalisten der „Aachener Zeitung“ in der DDR unterwegs waren, gerieten sie ins Visier der Stasi. Diese war aber ebenso an Forschungsinhalten der RWTH Aachen interessiert und versuchte, den akademischen Austausch zur Technikspionage zu nutzen. Zusammenarbeit mit dem KGB Das MfS blieb auch nach seiner formellen Gleichberechtigung mit dem KGB im Jahr 1958 ein „Diener zweier Herren“. Es agierte zugleich als „Schild und Schwert“ der SED wie als Dienstleister für die sowjetischen „Freunde“. Dabei prägte informelle Unterwerfung des MfS die Kooperation mit dem KGB. Die Zusammenarbeit in Leipzig erfolgte unter anderem mit der KGB-Residentur in der Käthe-Kollwitz-Straße. Die Residenturen hatten eine Doppelfunktion, einerseits waren sie für den Kontakt zur Staatssicherheit zuständig, gleichzeitig waren aber die dort Entsandten Mitarbeiter der Auslandsspionage des KGB. Aus der BVfS Leipzig ist die Weitergabe qualifizierter IMs an den KGB bekannt. So berichtet zum 6. November 1987 der Stellvertreter Aufklärung der Bezirksverwaltung Leipzig an die Hauptverwaltung A in Berlin über die Übergabe zweier IM „aus Anlass des 70. Jahrestags der Großen Sozialistischen Oktoberrevolution“. Die Gruppe der Sowjetischen Streitkräfte in Deutschland (GSSD) hatte ihre Stützpunkte in Leisnig, Grimma, Leipzig, Wurzen, Torgau, Nobitz und Oschatz. Die Absicherung dieser sowjetischen Militärobjekte bildete einen wesentlichen Teil der Arbeit des BVfS, ebenso wie der Umgang mit den sich aus der Anwesenheit so vieler sowjetischer Soldaten im Bezirk ergebenden Problemen. Personen mit Bezug zur BVfS Leipzig Bekannte Mitarbeiter (Auswahl) Karli Coburger (* 1929), vor 1953 im Bereich der MfS-Bezirksverwaltung Leipzig tätig Harry Herrmann (* 1930), in Abteilung XV, zuständig für Spionage (1956–1963) Jörg Strenger (* 1948), Major der MfS-Bezirksverwaltung Leipzig in der Abteilung XX Heinz Geyer (1929–2008), 1952 Leiter der Abteilung II (Spionageabwehr), 1953 stellvertretender Leiter der BVfS Leipzig, ab 1958 deren kommissarischer Leiter Stellvertretender Operativ des Leiters Herbert Weidauer (1909–1975), stellv. Operativ des Leiters der BVfS Leipzig Karl Kreusel (1911–1996), 1956 stellv. Operativ des Leiters der BVfS Leipzig Heinz Pommer (1929–2004), 1964 stellv. Operativ des Leiters der BVfS Leipzig Inoffizielle Mitarbeiter (Auswahl) Heinz Kucharski, tätig als Verlagslektor im Paul-List-Verlag sowie am Museum für Völkerkunde zu Leipzig, wurde als IM „Lektor“ geführt. Als Vertrauensperson eines Künstlerkreises in Leipzig sei es ihm gelungen, „deren politische Unzufriedenheit auszuspionieren und zu neutralisieren“, indem mehrere Künstler verhaftet wurden. Hans-Joachim Rotzsch, der von 1972 bis 1991 Leiter des berühmten Leipziger Thomanerchors war, musste zurücktreten, als bekannt wurde, dass er seit 1973 als IM tätig war. Peter Zimmermann, Theologiedozent der Karl-Marx-Universität, einer der sogenannten Sechs von Leipzig, war lange Zeit als IM „Karl Erb“ für das MfS tätig. Unter dem Namen IM „Drossel“ war ein Chormitglied des Leipziger Rundfunkchors für die Stasi aktiv. Ein zweites Chormitglied war als IM gegen die katholische Kirche aktiv, spionierte aber nicht im Chor selbst. Nach bisherigen Auswertungen hat der Anteil von IMs an der Medizinischen Fakultät der Universität Leipzig bei unter zehn Prozent gelegen. Wladimir Putin in Leipzig Wladimir Putin, der unter mehreren falschen Identitäten und verschiedenen Decknamen (unter anderem „Platow“) operierte, wird heute überwiegend mit seiner nachrichtendienstlichen Tätigkeit von 1985 bis 1990 in Dresden verbunden. Bereits in den Jahren vorher war er als Tarnung offiziell aber für drei andere Tätigkeitsbereiche vorgesehen, die allesamt in Leipzig lagen. Einerseits war er unter dem Namen „Oberstleutnant Adamow“ zuständig für die Leitung des Hauses der deutsch-sowjetischen Freundschaft (DSF) am Dittrichring 21 in Leipzig. Das Haus, das genau gegenüber dem Gebäude „Runde Ecke“ und damit der BVfS Leipzig liegt, wurde seit dem 10. Mai 1952 für den Zweck genutzt. Die offizielle Arbeitsstelle Putins im Jahr 1984 war wohl das Generalkonsulat der Sowjetunion in der Turmgutstraße 1 in Leipzig, das für die vier südlichen DDR-Bezirke Dresden, Leipzig, Karl-Marx-Stadt und Gera zuständig war. Hier war er unter dem Namen „Aleksandr Rybin“ mit einer Akkreditierung von 1982 bis 1986 tätig. Seine dritte offizielle Arbeitsstelle scheint die sowjetische Handelsmission in der Springerstraße 7 in Leipzig gewesen zu sein. Putins Stammkneipe in Leipzig wurde die Gosenschenke „Ohne Bedenken“, die am 13. Mai 1986 wieder eröffnet wurde. Sein auf den 31. Dezember 1985 datierter und von der BVfS Dresden ausgestellter Ausweis des Ministeriums für Staatssicherheit ist nicht ungewöhnlich, denn 1978 hatte sich die Stasi verpflichtet, Mitarbeiter des KGB mit Dokumenten auszurüsten, „die es ihnen gestatten, die Diensträumlichkeiten des MfS der DDR zu betreten“. Bis 1989 erreichte Putin den Dienstgrad eines Oberstleutnants, was auf eine Dienststellung als stellvertretender Abteilungsleiter in der KGB-Residentur in der Villa Angelikastraße 4 in Dresden hindeutet. Er wohnte während dieser Zeit mit seiner Familie in einem Plattenbau in der Radeberger Straße 101 in Dresden. Akten, Literatur und Medien Aktensituation und Erschließung Insgesamt lagern im Stasi-Unterlagen-Archiv Leipzig 5736,30 laufende Meter Unterlagen sowie ca. 3000 laufende Meter Schriftgut auf Sicherungs- und Arbeitsfilmen. Die Unterlagen der Diensteinheiten der Bezirksverwaltung sind vollständig erschlossen. Der Außenstellenleiter ist seit 2020 Stefan Walter. Er folgte auf Regina Schild, die seit November 1990 Leiterin der Außenstelle war. In Leipzig sind 62 Mitarbeiterinnen für die mehr als 8.600 Regal-Meter Unterlagen zuständig. Seit 1992 sind etwa 240.000 Anträge zur persönlichen Akteneinsicht in Leipzig eingegangen. In den Beständen sind mehr als 2,8 Millionen Karteikarten in 493 verschiedenen Karteien überliefert. Die zentrale Personenkartei enthält über 300.000 Namen. An zerstörten Materialien sind noch 2305 Säcke mit Papierschnipseln, zerstörten Filmen, Fotos und Tonbänder erhalten, aber aufgrund des Zustandes nicht erschlossen. Die überlieferten Tonaufzeichnungen der ehemaligen BV Leipzig umfassen insgesamt 1.003 Stück und werden zentral in Berlin aufbewahrt. Die überlieferten Karten/Pläne und Plakate der ehemaligen BV Leipzig umfassen insgesamt 12.641 Stück. Die überlieferten Fotografien (Fotopositive, Fotonegative, DIAs) der ehemaligen BV Leipzig umfassen insgesamt 150.612 Stück. Eine Besonderheit des Aktenbestandes der BV Leipzig bildet die Menge der überlieferten Unterlagen über die Abteilung XV (Auslandsaufklärung). Im Gegensatz zu den Beständen der HV A in Berlin und den Abteilungen XV in den anderen Bezirksverwaltungen gab es in Leipzig deutlich weniger Vernichtungen. Die dort überlieferten 40 Lfm. (von der gesamten HV A sind nur 45 Lfm. überliefert) ermöglichen den einzigen detaillierten Einblick in diese West-Arbeit der Bezirksverwaltungen. Forschungsliteratur Martin Albrecht: Die Untersuchungshaftanstalt der Staatssicherheit in Leipzig: Mitarbeiter, Ermittlungsverfahren und Haftbedingungen. Der Bundesbeauftragte für die Unterlagen des Staatssicherheitsdienstes der ehemaligen Deutschen Demokratischen Republik, Berlin 2017, ISBN 978-3-942130-81-3, S. 64–100. Uwe Bastian: Zersetzungsmassnahmen der Staatssicherheit am Beispiel des Operativvorganges „Entwurf“: die Staatssicherheit gegen unabhängige linke Politikansätze in der DDR. (= Forschungsverbund SED-Staat: Arbeitspapiere des Forschungsverbundes SED-Staat. Nr. 8). Freie Universität Berlin, 1993. Gerhard Besier: Staatssicherheit in Kirche und Theologie. In: Kirchliche Zeitgeschichte. 4/1, Mai 1991, S. 293–312. Peter Boeger, Elise Catrain (Hrsg.): Stasi in Sachsen, Die DDR-Geheimpolizei in den Bezirken Dresden, Karl-Marx-Stadt und Leipzig. Der Bundesbeauftragte für die Unterlagen des Staatssicherheitsdienstes der ehemaligen Deutschen Demokratischen Republik, ISBN 978-3-946572-01-5, S. 156–161. (pdf) Elise Catrain: Hochschule im Überwachungsstaat: Struktur und Aktivitäten des Ministeriums für Staatssicherheit an der Karl-Marx-Universität Leipzig (1968/69–1981). Leipziger Univ.-Verlag, Leipzig 2013, ISBN 978-3-86583-725-7, S. 63–212. Edgar Dusdal: Stasi intern: Macht und Banalität. hrsg. vom Bürgerkomitee Leipzig. 3. Auflage. Forum Verlag Leipzig, Leipzig 1998, ISBN 3-931801-06-3. Nils Franke: Verstrickung: der FDGB Leipzig im Spannungsfeld von SED und Staatssicherheit 1946–1989. hrsg. von der Kreisverwaltung der ÖTV Leipzig. Leipzig: Militzke 2002, ISBN 3-86189-133-6. Anna Funder: Stasiland. Stories from behind the Berlin Wall. Granta Books, London 2003, S. 6–9. Tobias Hollitzer: „Wir leben jedenfalls von Montag zu Montag“: zur Auflösung der Staatssicherheit in Leipzig; erste Erkenntnisse und Schlußfolgerungen. Der Bundesbeauftragte für die Unterlagen des Staatssicherheitsdienstes der Ehemaligen Deutschen Demokratischen Republik, Abteilung Bildung und Forschung 1999. Marius Mechler: Lost & Dark Places leipzig. 33 vergessene, verlassene und unheimliche Orte. Bruckmann Verlag, München 2022, ISBN 978-3-7343-2504-5, S. 16–21 und 84–89. Jens Schöne: „Das Bezirksamt ist handlungsunfähig“ Vom eigentlichen Ende der DDR-Geheimpolizei. In: Deutschland Archiv. 14. Januar 2020. (bpb.de, eingesehen am 3. März 2023) Peter Wensierski: Die unheimliche Leichtigkeit der Revolution: wie eine Gruppe junger Leipziger die Rebellion in der DDR wagte. Deutsche Verlags-Anstalt, München/Spiegel-Verlag, Hamburg 2017, ISBN 978-3-421-04751-9. Erlebnisberichte Manfred Bols: Ende der Schweigepflicht: aus dem Leben eines Geheimdienstlers. Edition Ost, Berlin 2002, ISBN 3-360-01037-X. Ariane Becker, Annet Schwarz, Dirk Schneider: Stasi intim, Gespräche mit ehemaligen MfS-Angehörigen. Forum Verlag Leipzig, Leipzig 1990. Helga Brachmann: Ich wollte es erst nicht glauben. Erfahrungen mit Stasi und IM anlässlich eines Familientreffens. In: Arbeitsgruppe Zeitzeugen der Seniorenakademie 2004/2005. (research.uni-leipzig.de, eingesehen am 3. März 2023) Günter Fritzsch: Gesicht zur Wand: Willkür und Erpressung hinter Mielkes Mauern. Benno-Verlag, Leipzig 1993, ISBN 3-7462-1069-0. Willi Lange: Such dir einen zweiten Mann: von Stasihaft in Leipzig und mecklenburgischem Landpastorenleben. bearb. von Christoph Wunnicke. Landesbeauftragte für Mecklenburg-Vorpommern für die Unterlagen des Staatssicherheitsdienstes der Ehemaligen DDR, Schwerin 2010, ISBN 978-3-933255-34-1. Christel Resties: In der Höhle des Löwen – unsere Stasireise. In: LeMO-Zeitzeugen, Lebendiges Museum Online, Stiftung Haus der Geschichte der Bundesrepublik Deutschland. (hdg.de, eingesehen am 3. März 2023) Georg-Siegfried Schmutzler: Gegen den Strom: Erlebtes aus Leipzig unter Hitler und der Stasi. Vandenhoeck & Ruprecht, Göttingen 1992, ISBN 3-525-55420-6. Hanskarl Hoerning: Harlekin im Stasiland: Report eines Leipziger „Pfeffermüllers“. Bleicher, Gerlingen 1994, ISBN 3-88350-104-2. Acht junge Arbeiter aus Jena und Leipzig: unterdrückt – verhaftet – freigekauft … und abgeschoben; Rudil Moldt, Ruprecht Schröder: politische Häftlinge der Stasi; Fälle politischer Unterdrückung in der DDR – im geteilten Deutschland; eine Dokumentation. Hrsg. vom Komitee zur Verteidigung und Verwirklichung der Demokratischen Rechte und Freiheiten in Ost und West – in ganz Deutschland. Bochum 1978. Medienberichte und Medien Matthäikirchhof. Fotobuch von Iona Dutz mit Texten von Arnold Bartetzky, Uta Bretschneider, Anke Hannemann und Anselm Hartinger. Spere publishers, Leipzig 2023. ISBN 978-3-910737-00-6. Arnold Bartetzky: Stasi-Zentrale in Leipzig: Gebt die Festung dem Volk. In: Frankfurter Allgemeine Zeitung. 8. Mai 2021, eingesehen am 2. März 2023 Christian Booß: Das Leipziger Modell '89 – Wie die Partnerschaft von Bürgern und Stasi den friedlichen Wandel prägte. In: mdr.de vom 16. Dezember 2022, eingesehen am 2. März 2023 Museum im Stasi-Bunker. In: Spiegel online. 19. August 2009. (spiegel.de, eingesehen am 5. März 2023) Die Leipziger Stasi-Zentrale – DDR Relikt in bester Citylage, Video des MDR Fernsehen vom 3. März 2022, Dauer: 45 Minuten Dauer: 1:08:41 Stunde Dauer: 4,27 Minuten Rolf Mainz: Das Verhör. Leipziger Stasi-Dialoge ’76. gesendet vom Deutschlandfunk am 20. Mai 1980 (Wiederholung: 21. April 1986). Georg Mascolo, Gunter Latsch: Geruchsproben. In: SPIEGEL-TV-Bericht vom 2. September 1990, eingesehen am 27. März 2023. Anmerkungen Weblinks Eintrag zur BVfS Leipzig im Stasi-Unterlagen-Archiv Leipzig 3-D-Modell der Gebäude des BVfS Leipzig Digitale Karte der konspirativen Stasi-Objekte im Leipziger Stadtgebiet (Kartographische Übersicht der 817 konspirativen Wohnungen und 46 konspirativen Arbeitsräume) Podcast: Außenstelle Leipzig Folge 28, Stasi-Unterlage-Archiv vom 3. März 2021, Dauer: 46,54 Minuten Historische Organisation (Leipzig) Aufarbeitung der SED-Diktatur Bauwerk in Leipzig
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Akkadische Sprache
Akkadisch (akkadû, ak-ka-du-u2; Logogramm: URIKI) ist eine ausgestorbene semitische Sprache, die stark vom Sumerischen beeinflusst wurde. Sie wurde bis ins erste nachchristliche Jahrhundert in Mesopotamien und im heutigen Syrien verwendet, in den letzten Jahrhunderten ihres Gebrauchs zunehmend vom Aramäischen verdrängt und diente zuletzt nur noch als Schrift- und Gelehrtensprache. Ihre Bezeichnung ist vom Namen der Stadt Akkad abgeleitet. Akkadisch war zusammen mit dem Aramäischen Volks- und Amtssprache in Mesopotamien sowie zeitweise die Sprache der internationalen Korrespondenz in Vorderasien bis nach Ägypten. Ihre beiden wichtigsten Dialekte waren Babylonisch und Assyrisch. Das Eblaitische wird von den meisten Forschern als nächster Verwandter des Akkadischen betrachtet. Klassifikation Mit den übrigen semitischen Sprachen gehört das Akkadische zu den afroasiatischen Sprachen, einer Sprachfamilie, die in Vorderasien und Nordafrika beheimatet ist. Innerhalb der semitischen Sprachen bildet das Akkadische eine eigene „ostsemitische“ Untergruppe. Es unterscheidet sich von nordwest- und südsemitischen Sprachen durch die Wortstellung Subjekt-Objekt-Verb (SOV), während die beiden anderen Zweige zumeist eine Verb-Subjekt-Objekt- oder Subjekt-Verb-Objekt-Stellung verwenden. Diese Wortstellung geht auf den Einfluss des Sumerischen zurück, das ebenfalls eine SOV-Stellung hat. Daneben verwendete das Akkadische als einzige semitische Sprache die Präpositionen ina (Lokativ, also dt. in, an, bei, mit) und ana (Dativ-Allativ, also dt. für, zu, nach). Viele benachbarte, nordwestsemitische Sprachen, wie das Arabische und das Aramäische, haben stattdessen bi/bə (Lokativ) bzw. li/lə (Dativ). Die Herkunft der akkadischen Ortspräpositionen ist ungeklärt. Im Gegensatz zu den meisten übrigen semitischen Sprachen hat das Akkadische nur einen Frikativ, nämlich ḫ . Es hat sowohl den glottalen als auch die pharyngalen Frikative verloren, die für die übrigen semitischen Sprachen typisch sind. Die Sibilanten (Zischlaute) des Akkadischen waren zumindest bis zur altbabylonischen Zeit (ca. 19. Jahrhundert v. Chr.) ausschließlich Affrikaten. Geschichte und Schrift Schrift Altakkadisch ist auf Tontafeln seit etwa 2600 v. Chr. überliefert. Es wurde mit der von den Sumerern übernommenen Keilschrift geschrieben. Im Unterschied zum Sumerischen wurde sie jedoch im Akkadischen zu einer voll ausgebildeten Silbenschrift weiterentwickelt. Der Logogramm-Charakter dieser Schrift trat in den Hintergrund. Dennoch verwandte man vor allem bei sehr häufig gebrauchten Wörtern wie „Gott“, „Tempel“, u. a. auch weiterhin die entsprechenden Logogramme. So kann das Zeichen AN z. B. einerseits als Logogramm für „Gott“ stehen, andererseits den Gott An bezeichnen und auch als Silbenzeichen für die Silbe -an- verwendet werden. Daneben kommt das gleiche Zeichen als Determinativ für Götternamen zur Anwendung. Das Beispiel 4 in der Abbildung rechts zeigt eine andere Eigenart des akkadischen Keilschriftsystems. Viele Silbenzeichen haben keinen eindeutigen Lautwert. Manche, wie z. B. AḪ, differenzieren ihren Silbenvokal nicht. Auch in der anderen Richtung gibt es keine eindeutige Zuordnung. Die Silbe -ša- wird beispielsweise mit dem Zeichen ŠA, aber auch mit dem Zeichen NÍĜ wiedergegeben, oft sogar innerhalb eines Textes wechselnd. Sprachentwicklung Das Altakkadische, das bis zum Ende des dritten vorchristlichen Jahrtausends verwendet wurde, unterscheidet sich sowohl vom Babylonischen wie auch vom Assyrischen, zwei Dialekte, die aus dem Altakkadischen hervorgingen und es ablösten. Bereits im 21. Jahrhundert v. Chr. waren diese beiden späteren Hauptdialekte deutlich unterscheidbar. Altbabylonisch ist, wie auch das ihm nahestehende Mariotische, deutlich innovativer als das etwas archaische Altassyrische und das sprachlich und geografisch entferntere Eblaitische. So findet sich im Altbabylonischen erstmals die Form lu-prus (ich will entscheiden) statt des älteren la-prus. Dennoch hat auch Assyrisch eigene Neuerungen entwickelt, wie z. B. die „assyrische Vokalharmonie“, die jedoch nicht mit den Harmoniesystemen im Türkischen oder Finnischen zu vergleichen ist. Das Eblaitische ist sehr archaisch, es kennt noch einen produktiven Dual sowie ein nach Fall, Zahl und Geschlecht differenziertes Relativpronomen. Beides ist bereits im Altakkadischen verschwunden. Altbabylonisch ist die Sprache König Hammurapis, der den in heutiger Zeit nach ihm benannten Codex Hammurapi, einen der ältesten Gesetzestexte der Welt, schuf. Ab dem 15. Jahrhundert v. Chr. spricht man von „Mittelbabylonisch“. Die Trennung ist dadurch bedingt, dass die Kassiten um 1550 v. Chr. Babylon eroberten und über 300 Jahre lang beherrschten. Sie gaben zwar ihre Sprache zugunsten des Akkadischen auf, beeinflussten die Sprache jedoch. In der Blütezeit des Mittelbabylonischen galt es in der gesamten Alten Welt des Orients, einschließlich Ägyptens, als Schriftsprache der Diplomatie. In diese Zeit fällt auch die Übernahme zahlreicher Lehnwörter aus nordwestsemitischen Sprachen und aus dem Hurritischen. Sie waren jedoch nur in den Grenzregionen des akkadischen Sprachgebiets gebräuchlich. Auch das Altassyrische entwickelte sich im zweiten vorchristlichen Jahrtausend weiter. Da es jedoch eine reine Volkssprache war – die Könige schrieben Babylonisch –, sind nur wenige umfangreiche Texte aus dieser Zeit überliefert. Man spricht von „Mittelassyrisch“ bei dieser Sprache von etwa 1500 v. Chr. an. Im 1. Jahrtausend v. Chr. wurde das Akkadische mehr und mehr als Amtssprache verdrängt. Zunächst bestanden ab etwa 1000 v. Chr. Akkadisch und Aramäisch parallel als Amtssprachen. Das wird auf vielen Abbildungen deutlich, auf denen ein Tontafelschreiber Akkadisch schreibt und ein Papyrus- oder Lederschreiber Aramäisch. Auch die zeitgenössischen Texte zeigen dies. Man spricht ab dieser Zeit von „Neuassyrisch“ bzw. „Neubabylonisch“. Ersteres erhielt im 8. Jahrhundert v. Chr. einen großen Aufschwung durch den Aufstieg des Assyrischen Reichs zur Großmacht. Im Jahre 612 v. Chr. wurden die Stadt Ninive und damit das assyrische Reich zerstört. Von da an gab es nur noch etwa zehn Jahre lang spärliche assyrische Texte. Nach dem infolge der Eroberung des Zwischenstromlands durch die Perser herbeigeführten Ende der mesopotamischen Reiche wurde Akkadisch, das dann nur noch in Form des „Spätbabylonischen“ existierte, als Volkssprache verdrängt, jedoch als Schriftsprache weiterhin verwendet. Auch nach dem Einmarsch der Griechen unter Alexander dem Großen im 4. Jahrhundert v. Chr. konnte sich die Sprache als Schriftsprache behaupten. Vieles deutet jedoch darauf hin, dass zu dieser Zeit Akkadisch als gesprochene Sprache bereits ausgestorben war oder zumindest nur noch in sehr geringem Umfang verwendet wurde. Die jüngsten Texte in akkadischer Sprache stammen aus dem späten ersten nachchristlichen Jahrhundert, doch wurde die Kenntnis, akkadische Texte in Keilschrift zu lesen, unter Gelehrten offenbar noch bis ins dritte nachchristliche Jahrhundert weitergegeben. Entzifferung Die akkadische Sprache wurde erst wiederentdeckt, als der Deutsche Carsten Niebuhr in dänischen Diensten 1767 umfangreiche Abschriften von Keilschrifttexten anfertigen konnte und in Dänemark präsentierte. Sofort begannen die Bemühungen, die Schrift zu entschlüsseln. Besonders hilfreich waren dabei mehrsprachige Texte, die unter anderem altpersische und akkadische Teile hatten. Dadurch, dass zahlreiche Königsnamen in diesen Texten vorkamen, konnte man zumindest einige Keilschriftzeichen identifizieren, die 1802 von Georg Friedrich Grotefend der Öffentlichkeit vorgestellt wurden. Bereits damals erkannte man, dass Akkadisch zu den semitischen Sprachen gehört. Der endgültige Durchbruch in der Entzifferung der Schrift und damit im Zugang zur akkadischen Sprache gelang in der Mitte des 19. Jahrhunderts Edward Hincks und Henry Rawlinson. Dialekte Die folgende Tabelle enthält zusammenfassend die bisher sicher identifizierten Dialekte des Akkadischen. Einige Wissenschaftler (beispielsweise Sommerfeld (2003)) nehmen weiterhin an, dass das in den ältesten Texten verwendete „Altakkadisch“ keine Vorform der späteren Dialekte Assyrisch und Babylonisch war, sondern ein eigener Dialekt, der jedoch von diesen beiden verdrängt wurde und früh ausstarb. Das Eblaitische in Nordsyrien (in und um Ebla) wird von manchen Forschern als ein weiterer akkadischer Dialekt betrachtet, meistens jedoch als eigenständige ostsemitische Sprache. Phonetik und Phonologie Da das Akkadische als gesprochene Sprache ausgestorben ist und über die Aussprache keine zeitgenössischen Aufzeichnungen gemacht wurden, lässt sich die exakte Phonetik und Phonologie nicht mehr erforschen. Jedoch können aufgrund der Verwandtschaft zu den übrigen semitischen Sprachen und auch der Varianten der Schreibungen innerhalb des Akkadischen einige Aussagen getroffen werden. Konsonanten Die folgende Tabelle gibt die in der akkadischen Keilschriftverwendung unterschiedenen Laute wieder. Die IPA-Zeichen stellen die nach Streck 2005 vermutete Aussprache dar. In Klammern dahinter folgt die Transkription, die in der Fachliteratur für diesen Laut anzutreffen ist, sofern sie sich vom Lautschrift-Zeichen unterscheidet. Diese Umschrift wurde für alle semitischen Sprachen von der Deutschen Morgenländischen Gesellschaft (DMG) vorgeschlagen und daher als DMG-Umschrift bezeichnet. Für die Lateralaffrikate /š/ wird von einigen Wissenschaftlern eine frikativische Aussprache ( oder ) vermutet. Vokale Daneben wird von den meisten Akkadologen die Existenz eines hinteren mittleren Vokals (o oder ) vermutet. Die Keilschrift bietet hierfür jedoch kaum Evidenz. Alle Konsonanten und Vokale kommen kurz und lang vor. Konsonantenlänge wird durch Doppeltschreibung des betreffenden Konsonanten ausgedrückt, Vokallänge durch einen Querstrich über dem Vokal (ā, ē, ī, ū). Dieser Unterschied ist phonemisch, d. h. bedeutungsunterscheidend, und wird auch in der Grammatik ausgenutzt, z. B. iprusu (dass er entschied) vs. iprusū (sie entschieden). Betonung Über die Betonung im Akkadischen ist nichts bekannt. Zwar gibt es einige Anhaltspunkte, wie die Vokaltilgungsregel, die im Folgenden kurz beschrieben wird, sowie einige Schreibungen in der Keilschrift, die eine Hervorhebung bestimmter Vokale darstellen könnten, jedoch konnte bisher keine Betonungsregel bewiesen werden. Das Akkadische kennt eine Regel, die kurze (und wahrscheinlich unbetonte) Vokale löscht. Dies geschieht nicht mit Vokalen in der letzten Silbe von Wörtern und auch nur in offenen Silben, die einer anderen offenen Silbe mit kurzem Vokal folgen. Offene Silben sind dabei solche, die auf einen Vokal enden. Beispielsweise lautet das Verbaladjektiv (Partizip II) des Verbs prs (entscheiden, trennen) in seiner weiblichen Form paris-t-um (-t zeigt das feminine Geschlecht an, -um ist die Nominativ-Endung). Das /i/ wird nicht getilgt, da es sich in einer geschlossenen Silbe (/ris/) befindet. In seiner männlichen Form heißt es jedoch pars-um, da in der zugrundeliegenden Form /pa.ri.sum/ das /i/ in einer offenen Silbe steht und auf eine kurze offene Silbe (/pa/) folgt. In den späteren Sprachstufen des Akkadischen ist daneben eine generelle Tilgung kurzer Vokale im Wortauslaut zu beobachten. Grammatik Morphologie Allgemeines Wie alle semitischen Sprachen verwendet auch das Akkadische die sogenannte Wurzelflexion. Die „Wurzel“ eines Wortes, die seine Grundbedeutung beinhaltet, besteht in der Regel aus drei Konsonanten, den sogenannten Radikalen. Die Radikale oder Wurzelkonsonanten werden in der Transliteration im Allgemeinen mit großen Buchstaben wiedergegeben, z. B. PRS (entscheiden, trennen). Zwischen und um diese Wurzelkonsonanten werden im Akkadischen verschiedene Infixe, Präfixe und Suffixe gesetzt, die grammatikalische und wortbildende Funktionen aufweisen. Das Konsonant-Vokal-Muster, das sich ergibt, differenziert die Grundbedeutung der Wurzel. Der mittlere Wurzelkonsonant (Radikal) kann einfach oder verdoppelt (gelängt) sein. Dieser Unterschied ist ebenfalls bedeutungsdifferenzierend. Beispiele hierfür finden sich im Abschnitt „Verbmorphologie“. Die Konsonanten ʔ, w, j und n werden als „schwache Radikale“ bezeichnet. Wurzeln, die diese Radikale enthalten, bilden unregelmäßige Stammformen. Dieses morphologische System unterscheidet sich deutlich von dem der indogermanischen Sprachen. Im Deutschen ändert sich beispielsweise die Wortbedeutung grundlegend, wenn man einzelne Vokale austauscht, z. B. „Rasen“ vs. „Rosen“. Allerdings ähnelt der Ablaut (z. B. Präsens „(wir) singen“ vs. Präteritum „(wir) sangen“), der schon urindogermanischen Alters ist, dem semitischen System. Kasus, Numerus und Genus Das Akkadische hat zwei grammatische Geschlechter, männlich und weiblich. Weibliche Substantive und Adjektive haben meistens ein -(a)t am Ende des Stamms. Das Kasussystem ist einfach. Es beinhaltet im Singular drei Kasus (Nominativ, Genitiv und Akkusativ), im Plural jedoch nur zwei Kasus (Nominativ und Obliquus). Adjektive kongruieren in Kasus, Numerus und Genus mit dem Bezugswort und folgen diesem in der Regel. Am Beispiel der Substantive šarrum (König) und šarratum (Königin) und des Adjektivs dannum (stark) wird in der folgenden Tabelle das Kasussystem im Altbabylonischen verdeutlicht: Wie man sieht, unterscheiden sich die Endungen für Substantive und Adjektive nur im männlichen Plural. Einige Substantive, vor allem geografische Begriffe wie „Stadt“, „Feld“ u. ä. können im Singular zusätzlich einen Lokativ auf -um bilden. Dieser ist jedoch anfangs nicht produktiv und die resultierenden Formen stellen erstarrte adverbiale Bestimmungen dar. In neubabylonischer Zeit wird der um-Lokativ immer häufiger und ersetzt in vielen Formen die Konstruktion mit der Präposition ina. In späteren Entwicklungsstufen des Akkadischen ist, außer im Lokativ, zunächst die sogenannte Mimation (analog mit der Nunation, die im Arabischen auftritt), also das -m, das in den meisten Kasusendungen auftritt, entfallen. Später fielen im Singular der Substantive Nominativ und Akkusativ zu -u zusammen. Im Neubabylonischen trat ein Lautwandel ein, durch den kurze Vokale im Wortauslaut verschwanden. Damit entfiel die Unterscheidung der Kasus außer bei den männlichen Nomen im Plural. In vielen Texten wurden die Kasusvokale jedoch weiterhin geschrieben, dies jedoch nicht konsequent und oft auch falsch. Da die wichtigste Kontaktsprache des Akkadischen in dieser Zeit das Aramäische war, das ebenfalls über keine Kasusunterscheidung verfügt, war diese Entwicklung wohl nicht nur phonologisch bedingt. Status Das akkadische Substantiv besitzt drei verschiedene Status. Sie drücken die syntaktische Beziehung des Substantivs zu anderen Satzteilen aus. Der status rectus (regierter Status) ist dabei die Grundform. Der status absolutus (absoluter Status) wird verwendet, wenn das Substantiv in einem Nominalsatz (z. B. A ist ein B) als Prädikat verwendet wird. Folgt einem Substantiv ein Possessivsuffix oder ein Substantiv im Genitiv, so muss es im status constructus stehen, der oft genau wie der Status absolutus durch Abtrennen des Kasussuffixes gebildet wird. Eine Genitivverbindung kann jedoch auch mit der Partikel ša hergestellt werden. Das Substantiv, von dem die Genitivphrase abhängt, steht dabei im Status rectus. Die gleiche Partikel wird auch zur Anknüpfung von Relativsätzen verwendet. Verbmorphologie Bei den Verben werden vier Stämme unterschieden. Der Grundstamm (G-Stamm) ist die nicht-abgeleitete Form. Mit dem Dopplungsstamm (D-Stamm) werden Applikativ-, Kausativ- oder Intensivformen gebildet. Er erhielt seine Bezeichnung von der Dopplung des mittleren Radikals, die für D-Formen typisch ist. Die gleiche Dopplung tritt jedoch auch im Präsens der übrigen Stammformen auf. Der Š-Stamm (Stammbildungselement š-) wird für Kausative verwendet. Im D- und Š-Stamm ändern die Konjugationspräfixe ihren Vokal in /u/. Der N-Stamm drückt Passiv aus. Das Stammbildungselement n- wird dabei an den folgenden ersten Konsonanten der Wurzel angeglichen, der dadurch gelängt wird (vgl. Bsp. 9 in der folgenden Tabelle). In einigen Formen steht es jedoch nicht direkt vor dem Konsonanten, wodurch die ursprüngliche Form /n/ erhalten bleibt (vgl. Bsp. 15). Jeder der vier Stämme kann neben der normalen Verwendung einen Reflexiv- und einen Iterativstamm bilden. Die Reflexivstämme werden mit einem Infix -ta- gebildet. Daher werden sie auch Gt-, Dt-, Št- bzw. Nt-Stamm genannt, wobei der Nt-Stamm nur von sehr wenigen Verben gebildet wird. Für die Iterativstämme verwendet man ein Infix -tan-, das jedoch nur im Präsens sichtbar ist. Die übrigen Zeitformen und Ableitungen der sog. tan-Stämme Gtn, Dtn, Štn und Ntn lauten wie die entsprechenden Formen der Reflexivstämme. Von vielen Verben lassen sich auf diese Weise theoretisch viele tausend Formen bilden. Diese äußerst umfangreiche Verbmorphologie ist eines der besonderen Merkmale der semitischen Sprachen. Die folgende Tabelle zeigt einen kleinen Ausschnitt aus der Formenvielfalt der Wurzel PRS (entscheiden, trennen). Eine finite Verbform des Akkadischen beinhaltet obligatorisch die Kongruenz zum Subjekt des Satzes. Diese wird stets durch ein Präfix, in einigen Formen zusätzlich durch ein Suffix realisiert. Wie bereits erwähnt, unterscheiden sich die Präfixe des G- und N-Stamms von denen im D- und Š-Stamm durch ihren Vokal. In der folgenden Tabelle werden die einzelnen Kongruenzformen des Verbs PRS (entscheiden, trennen) im Präteritum der vier Stämme dargestellt (Übersetzung siehe Tabelle oben). Wie man sieht, werden die beiden grammatische Geschlechter nur in der 2. Person Singular und in der 3. Person Plural unterschieden. Zusätzlich zur Subjektskongruenz können bis zu zwei pronominale Suffixe an das Verb antreten, die dann das direkte und das indirekte Objekt markieren. Diese Pronominalsuffixe sind in allen Verbstämmen gleich. Anders als bei den Kongruenzmorphemen werden die beiden grammatischen Geschlechter in der 2. und 3. Person sowohl im Singular als auch im Plural unterschieden. Wenn sowohl direktes als auch indirektes Objekt pronominal markiert werden, geht das indirekte Objekt (Dativ) dem direkten (Akkusativ) voraus. Die Suffixe für das indirekte Objekt der 1. Person Singular (‚mir‘, ‚für mich‘) entsprechen den Ventiv-Suffixen. Dabei steht -am, wenn die Subjektskongruenz ohne Suffix auftritt, -m nach dem Suffix -ī und -nim nach den Suffixen -ā und -ū. Die Ventiv-Suffixe treten oft zusammen mit anderen Dativ-Suffixen oder mit den Suffixen der 1. Person Singular Akkusativ auf. Die folgende Tabelle enthält die Formen der Objektssuffixe, wie sie im Altbabylonischen verwendet wurden: Das -m der Dativsuffixe assimiliert sich dabei an folgende Konsonanten, vgl. Bsp. (7) unten. Die folgenden Beispiele illustrieren die Verwendung der beschriebenen Morpheme. Stativ Eine sehr oft auftretende Form, die sowohl von Nomen, von Adjektiven als auch von Verbaladjektiven gebildet werden kann, ist der Stativ. Angefügt an prädikativ verwendete Substantive (im Status absolutus) entspricht diese Form dem Verb sein im Deutschen. Verbunden mit einem Adjektiv oder Verbaladjektiv wird ein Zustand ausgedrückt. Eine direkte Entsprechung hat der Stativ als Pseudopartizip im Ägyptischen. Die folgende Tabelle enthält am Beispiel des Nomens šarrum (König), des Adjektivs rapšum (breit) und des Verbaladjektivs parsum (entschieden) die einzelnen Formen. Dabei kann šarr-āta sowohl „du warst König“, „du bist König“, als auch „du wirst König sein“ bedeuten, der Stativ ist also von Zeitformen unabhängig. Wortbildung Neben der bereits erläuterten Möglichkeit der Ableitung verschiedener Verbstämme verfügt das Akkadische über zahlreiche Nominalbildungen aus den Verbwurzeln. Eine sehr häufig auftretende Nominalisierung ist die sogenannte ma-PRaS-Form. Sie kann den Ort eines Geschehens, die Person, die die Handlung ausführt, aber auch viele andere Bedeutungen ausdrücken. Ist einer der Wurzelkonsonanten (Radikale) ein labialer Laut (p, b, m), so wird das Präfix zu na-. Beispiele hierfür sind: maškanum (Stelle, Ort) von ŠKN (setzen, stellen, legen), mašraḫum (Pracht) von ŠRḪ (prachtvoll sein), maṣṣarum (Wächter) von NṢR (bewachen), napḫarum (Summe) von PḪR (zusammenfassen). Eine sehr ähnliche Bildung ist die maPRaSt-Form. Die Nomen, die dieser Nominalbildung entstammen, sind grammatisch weiblichen Geschlechts. Für die Bildung gelten die gleichen Regeln wie für die maPRaS-Form, z. B. maškattum (Depositum) von ŠKN (setzen, stellen, legen), narkabtum (Wagen) von RKB (reiten, fahren). Zur Ableitung abstrakter Nomen dient das Suffix -ūt. Die Substantive, die mit diesem Suffix gebildet werden, sind grammatisch weiblich. Das Suffix kann sowohl an Substantive, Adjektive, als auch an Verben angefügt werden, z. B. abūtum (Vaterschaft) von abum (Vater), rabûtum (Größe) von rabûm (groß), waṣūtum (Weggang) von WṢJ (weggehen). Auch Ableitungen von Verben aus Substantiven, Adjektiven und Zahlwörtern sind zahlreich. Zumeist wird aus der Wurzel des Nomens oder Adjektivs ein D-Stamm gebildet, der dann die Bedeutung „X werden“ oder „etwas zu X machen“ besitzt, z. B. duššûm (sprießen lassen) von dišu (Gras), šullušum (etwas zum dritten Mal tun) von šalāš (drei). Präpositionen Das Akkadische verfügt über Präpositionen, die aus einem einzigen Wort bestehen (z. B. ina (in, an, aus, durch, unter), ana (zu, für, nach, gegen), adi (bis), aššu (wegen), eli (auf, über), ištu/ultu (von, seit), mala (gemäß), itti (mit, bei)). Daneben gibt es jedoch einige mit ina und ana zusammengesetzte Präpositionen (z. B. ina maḫar (vor), ina balu (ohne), ana ṣēr (zu … hin), ana maḫar (vor … hin)). Unabhängig ihrer Komplexität stehen alle Präpositionen mit dem Genitiv. Beispiele: ina bītim (im Haus, aus dem Haus), ana … dummuqim (um … gut zu machen), itti šarrim (beim König), ana ṣēr mārīšu (zu seinem Sohn). Zahlwörter Da in der Keilschrift die Zahlen zumeist als Zahlzeichen geschrieben werden, ist die Lautung vieler Zahlwörter noch nicht geklärt. In Kombination mit etwas Gezähltem stehen die Kardinalzahlwörter im Status absolutus. Da andere Fälle sehr selten sind, sind die Formen des Status rectus nur von vereinzelten Zahlwörtern bekannt. Die Zahlwörter 1 und 2 sowie 21–29, 31–39, 41–49 usw. kongruieren mit dem Gezählten im grammatischen Geschlecht. Die Zahlwörter 3–20, 30, 40 und 50 zeigen eine Genuspolarität, d. h. vor männlichen Substantiven steht die weibliche Form des Zahlworts und umgekehrt. Diese Polarität ist typisch für die semitischen Sprachen und tritt z. B. auch im klassischen Arabisch auf. Die Zahlwörter 60, 100 und 1000 lauten in beiden Geschlechtern gleich. Mit den Zahlwörtern ab zwei steht das Gezählte in der Mehrzahl. Bei paarweise vorhandenen Körperteilen kann eine Dualform (Zweizahl) beobachtet werden, die jedoch nicht mehr produktiv gebildet werden kann, z. B. šepum (Fuß) wird zu šepān (zwei Füße). Die Ordnungszahlen werden bis auf wenige Ausnahmen durch Anfügen einer Kasusendung an die Nominalform PaRuS gebildet, wobei P, R und S durch die entsprechenden Konsonanten des Zahlwortes ersetzt werden müssen. Besonders auffällig ist, dass im Fall der Eins die Ordnungszahl und die Kardinalzahl gleichlauten. Bei der Vier tritt eine Metathese (Lautvertauschung) ein. Die folgende Tabelle enthält die männlichen und weiblichen Formen des Status absolutus einiger akkadischer Kardinalzahlen, sowie die entsprechenden Ordnungszahlen. Beispiele: erbē aššātum (vier Ehefrauen) (männliches Zahlwort!), meʾat ālānū (einhundert Städte). Syntax Nominalphrase Außer den Zahlwörtern stehen alle Ergänzungen, die einem Substantiv angefügt werden, nach diesem Substantiv. Das betrifft sowohl Adjektive, Relativsätze als auch Appositionen. Zahlwörter hingegen gehen dem Gezählten voraus. In der folgenden Tabelle wird die Nominalphrase erbēt šarrū dannūtum ša ālam īpušū abūja (die vier starken Könige, die die Stadt gebaut haben, meine Väter) analysiert. Satzsyntax Die bevorzugte Satzstellung im Akkadischen ist Subjekt-Objekt-Prädikat. Die für semitische Sprachen ungewöhnliche Verbletztstellung ist Ergebnis eines jahrhundertelangen Sprachkontakts mit dem Sumerischen, das ebenfalls diese Satzstellung besitzt. Vor allem in literarischen Texten kommen im Akkadischen jedoch auch andere Reihenfolgen vor. Vor allem Chiasmen, d. h. Umkehrungen der Satzstruktur, sind sehr häufig anzutreffen. Ein Beispiel aus dem Tonzylinder von Nabonid (2:20-2:21) verdeutlicht dies: Verbformen von Nebensätzen, die mit einer Konjunktion eingeleitet sind, tragen das Subordinativ-Suffix -u, das jedoch entfällt, wenn ein anderes mit einem Vokal beginnendes Suffix antritt. Die einzige Konjunktion, die stets ohne Subordinativ in der Verbform auftritt, ist šumma (wenn, falls). Die Gründe dafür sind noch nicht geklärt. Einige weitere Konjunktionen sind ša (für Relativsätze), kī(ma) (dass, sodass, nachdem, als, sobald, wie), ūm (als, sobald, während), adi (solange bis), aššum (weil). In Nominalsätzen wird im Akkadischen keine Kopula verwendet, d. h. kein Verb wie das deutsche sein. Stattdessen steht das prädikativ gebrauche Substantiv oder Adjektiv im Stativ, wie zum Beispiel in Awīlum šū šarrāq. (‚Dieser Mann ist ein Dieb.‘). Wortschatz Der akkadische Wortschatz ist großenteils semitischen Ursprungs. Bedingt durch den sprachgeschichtlichen Sonderstatus der Sprache, dessentwegen man sie auch in eine eigene Untergruppe „Ostsemitisch“ einordnet, gibt es aber selbst im Grundwortschatz relativ viele Elemente ohne offensichtliche Parallelen in den verwandten Sprachen, z. B. māru „Sohn“ (semitisch sonst *bn), qātu „Hand“ (semit. sonst *jd), šēpu „Fuß“ (semit. sonst *rgl), qabû „sagen“ (semit. sonst *qwl), izuzzu „stehen“ (semit. sonst *qwm), ana „zu, für“ (semit. sonst *li) etc. Durch den intensiven Sprachkontakt zunächst zum Sumerischen und später zum Aramäischen besteht der akkadische Wortschatz zu einem Teil aus Lehnwörtern aus diesen Sprachen. Die aramäischen Lehnwörter waren dabei in den ersten Jahrhunderten des 1. Jahrtausends v. Chr. hauptsächlich auf Nord- und Mittelmesopotamien beschränkt, während die sumerischen Lehnwörter im gesamten Sprachgebiet verbreitet waren. Neben den genannten Sprachen wurden einige Substantive aus dem Reit- und Haushaltswesen aus dem Hurritischen und aus dem Kassitischen entlehnt. Einige wenige Lehnwörter entstammen dem Ugaritischen. Aufgrund der im Vergleich zu nichtsemitischen Sprachen sehr verschiedenen Wortstruktur war es den Akkadern nicht möglich, sumerische oder hurritische Verben in die semitische Wurzelflexion zu übernehmen. Aus diesem Grund wurden aus diesen Sprachen nur Substantive und einige Adjektive entlehnt. Da jedoch das Aramäische und das Ugaritische ebenfalls zu den semitischen Sprachen gehören und daher auch über eine Wurzelflexion verfügen, konnten aus diesen Sprachen einige Verben, aber auch viele Nomina übernommen werden. Die folgende Tabelle enthält Beispiele für Lehnwörter im Akkadischen. Aber auch das Akkadische war Quelle von Entlehnungen, vor allem ins Sumerische. Einige Beispiele sind: sum. da-rí (dauernd, von akk. dāru), sum. ra-gaba (Berittener, Bote, von akk. rākibu). Beispieltext Der folgende kleine Text ist der Paragraph 7 des Codex Hammurapi, der etwa im 18. Jahrhundert v. Chr. verfasst wurde. Die Abkürzungen St.cs. und St.abs. stehen für „Status constructus“ bzw. „Status absolutus“. Übersetzung: ‚Wenn ein Bürger aus der Hand des Sohnes eines anderen Bürgers oder eines Sklaven eines Bürgers ohne Zeugen oder Vertrag Silber, Gold, einen Sklaven, eine Sklavin, ein Rind, ein Schaf, einen Esel oder irgendetwas anderes kauft oder in Verwahrung nimmt, ist dieser Bürger ein Dieb und wird getötet.‘ Akkadische Literatur Atraḫasis-Epos (frühes 2. Jahrtausend v. Chr.) Enūma eliš (etwa 18. Jahrhundert v. Chr.) Gilgamesch-Epos (Standard-Version etwa 13. bis 11. Jahrhundert v. Chr.) Siehe auch :Kategorie:Akkadische Inschrift Literatur Allgemeine Beschreibungen und Grammatiken Giorgio Buccellati: A Structural Grammar of Babylonian. Harrassowitz, Wiesbaden 1996. ISBN 3-447-03612-5 Wolfram von Soden: Grundriß der Akkadischen Grammatik. Analecta Orientalia 33. Rom 1995. ISBN 88-7653-258-7 Michael P. Streck: Sprachen des Alten Orients. Wiss. Buchges., Darmstadt 2005. ISBN 3-534-17996-X Arthur Ungnad: Grammatik des Akkadischen. Neubearbeitung durch Lubor Matouš. 5. Auflage. München 1969, 1979, ISBN 3-406-02890-X Lehrbücher Rykle Borger: Babylonisch-assyrische Lesestücke. Analecta Orientalia 54. Pontificium Institutum Biblicum, Rom 1963, 2006 (3. Auflage der Teile I, II). Teil I: Elemente der Grammatik und der Schrift. Übungsbeispiele. Glossar. Teil II: Die Texte in Umschrift. Teil III: Kommentar. Die Texte in Keilschrift. Richard Caplice: Introduction to Akkadian. Studia Pohl, Series Maior 9. 4. Auflage. Biblical Institute Press, Rom 1988, 2002, ISBN 88-7653-566-7 John Huehnergard: A Grammar of Akkadian. Harvard Semitic Studies 45. Eisenbrauns, Winona Lake 1997, 2011 (3.Aufl.). ISBN 978-1-57506-922-7 Kaspar K. Riemschneider: Lehrbuch des Akkadischen. Enzyklopädie, Leipzig 1969. 6. Auflage, Langenscheidt Verlag Enzyklopädie, Leipzig 1992, ISBN 3-324-00364-4 Michael P. Streck: Altbabylonisches Lehrbuch. Harrassowitz, Wiesbaden 2011, ISBN 978-3-447-06456-9 Josef Tropper: Akkadisch für Hebraisten und Semitisten. Hartmut Spenner, Kamen 2011, ISBN 978-3-89991-118-3 Wörterbücher Wolfram von Soden: Akkadisches Handwörterbuch. 3 Bände. Wiesbaden 1958–1981, ISBN 3-447-02187-X Chicago Assyrian Dictionary, 1964–2011 Jeremy G. Black, Andrew R. George, Nicholas Postgate: A Concise Dictionary of Akkadian. Harrassowitz, Wiesbaden 1999; 2. korrigierte Auflage 2000. ISBN 3-447-04264-8 Zeichenlisten Rykle Borger: Mesopotamisches Zeichenlexikon. Alter Orient und Altes Testament (AOAT). Band 305. Ugarit-Verlag, Münster 2004, ISBN 3-927120-82-0; 2., revidierte und aktualisierte Auflage, 2010, ISBN 978-3-86835-043-2 René Labat: Manuel d’Épigraphie Akkadienne. Paul Geuthner, Paris 1976; 6. Auflage, 1995, ISBN 2-7053-3583-8 Wolfgang Schramm: Akkadische Logogramme 2., revidierte Auflage. Göttinger Beiträge zum Alten Orient – Band 5, Göttinger Universitätsverlag, Göttingen 2010, ISBN 978-3-941875-65-4 Fachliteratur zu spezifischen Themen Rykle Borger, Walther Hinz: Die Behistun-Inschrift Darius’ des Großen. In: Rechts- und Wirtschaftsurknden. Historisch-chronologische Texte (= Texte aus der Umwelt des Alten Testament. Band I, 4). Gütersloh 1984, S. 419–450. Ignace J. Gelb: Old Akkadian Writing and Grammar. Materials for the Assyrian dictionary. Band 2. University of Chicago Press, Chicago 1952, 1961, 1973, ISBN 0-226-62304-1, Markus Hilgert: Akkadisch in der Ur III-Zeit. Rhema-Verlag, Münster 2002, ISBN 3-930454-32-7 Walter Sommerfeld: Bemerkungen zur Dialektgliederung Altakkadisch, Assyrisch und Babylonisch. In: Alter Orient und Altes Testament, 274, S. 569–586. Ugarit-Verlag, Münster 2003, Weblinks Akkadisch-Englisch-Französisch Wörterbuch Akkadisch im Wiki Glossing Ancient Languages (Empfehlungen für die Interlineare Morphemglossierung akkadischer Texte) Versuche zur Rekonstruktion des gesprochenen Babylonisch. Website der School of Oriental and African Studies, Universität London Einzelnachweise Korpussprache Einzelsprache Reich von Akkad Sprache des Alten Orients
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https://de.wikipedia.org/wiki/Heinrich%20VII.%20%28HRR%29
Heinrich VII. (HRR)
Heinrich VII. (* 1278/79 in Valenciennes; † 24. August 1313 in Buonconvento bei Siena) entstammte dem Haus Limburg-Luxemburg und war Graf von Luxemburg und Laroche sowie Markgraf von Arlon. Er war von 1308 bis 1313 römisch-deutscher König und ab dem 29. Juni 1312 römisch-deutscher Kaiser. Heinrich war der erste der insgesamt drei Kaiser des Heiligen Römischen Reiches aus dem Hause Luxemburg. In der Regierungszeit Heinrichs VII. gelangte das Haus Luxemburg in den Besitz des Königreichs Böhmen, was das Fundament für die später bedeutende Hausmacht der Luxemburger im Reich legte. Im deutschen Reichsteil betrieb Heinrich eine konsensorientierte und erfolgreiche Politik. Im Herbst 1310 unternahm er einen Italienzug, um sich die Kaiserkrone zu sichern. Heinrich VII. war der erste römisch-deutsche König nach dem Staufer Friedrich II., der auch zum Kaiser gekrönt wurde. Seine schon als König begonnene energische Arbeit zur Erneuerung der kaiserlichen Herrschaft führte bald zum Konflikt mit guelfischen Kräften in Italien und mit dem König von Neapel(-Sizilien) Robert von Anjou. In dieser Auseinandersetzung ergriff Papst Clemens V., der zunächst mit Heinrich kooperiert hatte, schließlich Partei für die Guelfen. Heinrichs auf Ausgleich zwischen den verfeindeten Gruppen in Reichsitalien zielende Politik scheiterte vor allem an den Widerständen der Beteiligten, die sich eine Politik jeweils zu ihren Gunsten erhofft hatten. Heinrich hatte bis zu seiner Königswahl gute Beziehungen zum Königshof von Paris unterhalten, doch verschlechterten sich diese aufgrund seiner Politik im westlichen Grenzraum, wo er verlorene Reichsrechte einforderte. Damit geriet Heinrich in Konflikt mit dem mächtigen französischen König Philipp IV. Das Kaisertum hatte in den Jahrzehnten zuvor kontinuierlich an Einfluss verloren. Heinrichs Politik zielte auf die Wiederherstellung kaiserlicher Rechte vor allem in Reichsitalien und im westlichen Grenzraum des Imperiums ab. Er betonte die besondere Rolle des Kaisertums im Sinne der traditionellen mittelalterlichen Reichsidee. Die von Heinrich betriebene Renovatio Imperii sorgte dafür, dass das Kaisertum wieder als europäischer Machtfaktor wahrgenommen wurde. Nach Heinrichs Tod verlor die universale Kaiseridee in der Folgezeit jedoch wieder zunehmend an Bedeutung. Während der Kaiser in der älteren Forschung oft eher als Träumer oder Phantast angesehen wurde, werden in der neueren Forschung seine Anknüpfung an geläufige kaiserlich-universale Vorstellungen sowie sein durchaus von realpolitischen Motiven geleitetes Handeln betont. Leben Heinrichs Grafenzeit Heinrich VII. wurde in Valenciennes als Sohn des Grafen Heinrich VI. von Luxemburg und der Beatrix von Avesnes geboren. Sein genaues Geburtsjahr ist unbekannt, in der neueren Forschung wird jedoch sehr oft für 1278/79 plädiert. Heinrich VII. hatte zwei jüngere Brüder, Balduin und Walram. Über die frühen Jahre ist wenig bekannt. Graf Heinrich VI. fiel bereits 1288 in der Schlacht von Worringen, so dass sich bis zu Heinrichs Volljährigkeit seine Mutter Beatrix um ihn und die Verwaltung Luxemburgs kümmerte. 1292 heiratete Heinrich Margarete von Brabant, womit die Feindschaft zwischen beiden Häusern, die noch aus der Schlacht von Worringen resultierte, beigelegt wurde. Heinrich und Margarete hatten drei Kinder: den Sohn Johann von Luxemburg (1296–1346) und zwei Töchter, Maria (1304–1324) und Beatrix (1305–1319). Die äußere Erscheinung Heinrichs beschrieb Albertino Mussato, der Heinrich verschiedentlich persönlich gesehen hatte, als mittelgroßen, eher mageren Mann, mit rötlichen Haaren und rötlicher Hautfarbe. Als Besonderheit erwähnte er ein Schielen des linken Auges. Heinrichs Muttersprache war, wie mehrfach in den Quellen belegt, das Französische, und er war nach dem französischen Ritterideal erzogen worden. Zudem unterhielt er als Graf gute Beziehungen zum Hof von Paris, wo er sich wohl auch einige Zeit aufhielt. Seit 1294 regierte Heinrich eigenständig. Im November 1294 leistete er dem französischen König Philipp IV. einen Lehnseid und erhielt zum Ausgleich eine „Lehnsrente“ ausgezahlt. Eine Doppelvasallität zwei Herren gegenüber, wie in diesem Fall gegenüber dem römisch-deutschen König und dem französischen König, war im westlichen Grenzraum des Reiches keineswegs ungewöhnlich. Heinrich betrieb als Graf in der Folgezeit stets eine unabhängige, auf den eigenen Vorteil bedachte Politik und konnte einige Erfolge verbuchen. Aus dem französisch-deutsch/englischen Krieg 1294–1297 hielt er sich, obwohl für Kriegsdienste auf Seiten Frankreichs bezahlt, weitgehend heraus. Er konnte sogar Gewinne erzielen, indem er gegen Heinrich von Bar vorging, einen in englischen Diensten stehenden Gegner der Luxemburger. Im Waffenstillstand von 1297 erscheint Heinrich als erster Verbündeter Frankreichs. Er genoss einiges Ansehen. Seine Grafschaft galt als gut verwaltet und er betrieb eine umsichtige Territorialpolitik. Konflikte mit dem Grafen von Bar und der Stadt Trier konnten schließlich beigelegt werden, die Bürger der Stadt Verdun hatten sich 1293/94 sogar dem Schutz des jungen Grafen von Luxemburg unterstellt. Sein Charakter wurde unter anderem vom eher guelfisch (anti-kaiserlich) gesinnten Chronisten Giovanni Villani sehr gelobt. Wiederholt wird in den Quellen auch die Frömmigkeit Heinrichs und seiner Ehefrau Margarete herausgestellt. Heinrich nahm im November 1305 an der Krönung Papst Clemens’ V. teil. Dank seiner guten Beziehungen wurde sein Bruder Balduin in jungen Jahren 1307/1308 Erzbischof von Trier. Aufgrund der maroden Finanzlage des Bistums Trier stellte Heinrich zudem einen Kredit in Höhe von 40.000 Turnosen zur Verfügung. Anfang Mai 1308 schloss Heinrich in Nivelles mit mehreren niederrheinischen Fürsten ein gegenseitiges Schutz- und Trutzbündnis. Königswahl von 1308 Nach der Ermordung König Albrechts am 1. Mai 1308, einer Tat mit rein persönlichen Motiven, mussten die Kurfürsten einen neuen König wählen. Die sieben Kurfürsten, die inzwischen ein exklusives Königswahlrecht hatten, waren zum damaligen Zeitpunkt: der Erzbischof von Köln, Heinrich II. von Virneburg; der Erzbischof von Mainz, Peter von Aspelt; der Erzbischof von Trier, Balduin von Luxemburg; der Pfalzgraf bei Rhein, Rudolf I. (der Stammler); der Herzog von Sachsen, Rudolf I. von Sachsen; der Markgraf von Brandenburg, Waldemar von Brandenburg; der König von Böhmen, Heinrich von Kärnten. An der Wahl Ende 1308 nahmen außer Heinrich von Kärnten, der in Böhmen nicht unangefochten herrschte, alle Kurfürsten teil. Zur Wahl standen mehrere Kandidaten. In Frage wären die Söhne Albrechts gekommen, doch das Verhältnis der Habsburger zu den Kurfürsten und speziell den vier rheinischen Kurfürsten war sehr angespannt. Eine dynastische Nachfolge war zudem kaum im Interesse der Wähler, die ein zu starkes Königtum, das ihre Vorrechte beschnitt, möglichst verhindern wollten. Mit Karl von Valois, dem jüngeren Bruder Philipps IV., bot sich sogar ein Thronkandidat aus dem französischen Königshaus an. Der französische Wahlvorstoß war keineswegs aussichtslos, da vor allem Heinrich von Virneburg eng an Frankreich gebunden war. Papst Clemens V. hingegen unterstützte dies nicht bedingungslos; vielmehr scheint er gehofft zu haben, dass ein neuer römisch-deutscher König den Papst in Avignon von der zunehmenden französischen Einflussnahme entlasten könnte. Clemens V. stand aufgrund des Templerprozesses massiv unter Druck. Philipp IV. forderte zudem, dass auch ein Prozess gegen das Andenken von Papst Bonifatius VIII. eröffnet werden sollte, der nur wenige Jahre zuvor einen schweren Konflikt mit Paris ausgetragen hatte. Heinrich VII. hatte eventuell schon kurz nach dem Tod Albrechts mit dem Gedanken einer Kandidatur gespielt, doch bleibt dies unsicher. Im Spätherbst 1308 trat er jedenfalls als Bewerber auf und konnte sich schließlich durchsetzen. Der Kölner Erzbischof, der neben seiner eigenen Wahlstimme auch indirekt die Stimmabgabe Sachsens und Brandenburgs bestimmte, wurde durch große Zugeständnisse gewonnen. Die Wahl des Luxemburgers war wohl dem Wunsch der Kurfürsten geschuldet, einen fähigen, nicht allzu starken König zu wählen. Ein französischer Thronkandidat hätte den Kurfürsten wohl mehr Probleme bereiten können, zumal die französische Expansionspolitik im Westen des Reiches dann noch zugenommen hätte. Zuletzt gaben auch die geschickten Wahlverhandlungen und die üblichen begleitenden Wahlversprechen den Ausschlag für Heinrich. Eine große Bedeutung bei der Wahl von 1308 kam neben Peter von Aspelt, einem Unterstützer der Luxemburger, Heinrichs Bruder Balduin zu. Balduin sollte in der weiteren Politik der ersten Hälfte des 14. Jahrhunderts noch eine bedeutende Rolle spielen. Am 27. November 1308 wurde Heinrich in Frankfurt am Main von den sechs anwesenden Kurfürsten gewählt, am 6. Januar 1309 wurde er zusammen mit seiner Frau Margarete in der Kaiserstadt Aachen gekrönt. Die Wahl wurde ohne Bitte um Approbation Papst Clemens V. angezeigt. Heinrich führte als König die Ordnungszahl VII., womit der Staufer Heinrich (VII.) übergangen wurde. Vermutlich wurde der Staufer nicht gezählt, da er nicht völlig selbstständig regiert hatte und im Gedächtnis der Kurfürsten keine Rolle mehr spielte. Politisches Handeln in Deutschland Heinrich VII. sah sich beim Regierungsantritt mit einigen Problemen im Reich konfrontiert. Das Königtum hatte in der Regierungszeit seiner beiden Vorgänger, Adolf von Nassau und Albrecht I., im Konflikt mit mehreren Fürsten gelegen, denen die Hausmachtpolitik beider Könige speziell in Mitteldeutschland missfiel. Albrecht hatte sich im Gegensatz zu Adolf von Nassau gegenüber den Kurfürsten behaupten können, doch schadeten die anhaltenden Spannungen dem Ansehen des Königs und behinderten außerdem eine effektive Herrschaftsausübung. Heinrich wählte einen Neuanfang und verständigte sich frühzeitig vor allem mit den Habsburgern, die bei der Wahl 1308 unberücksichtigt geblieben waren. Heinrich bestätigte im Juni 1309 die Rechte der neuen Eidgenossenschaft (Uri, Schwyz und Unterwalden), welche ihre Mitglieder als direkte Untertanen des Königs auswiesen, was Heinrich eine gewisse Einflussmöglichkeit in diesem Raum verschaffte. Vergeblich war allerdings Heinrichs Versuch, den Gotthardpass als neues reichsunmittelbares Gebiet zu deklarieren, um die wichtige Südverbindung besser unter Kontrolle zu haben. Er sorgte aber in dieser Region für ruhige Verhältnisse, wobei er in einem Raum eingriff, in dem auch die Habsburger Interessen verfolgten. Das Verhältnis zwischen dem König und den Habsburgern blieb zunächst offen: Heinrich konnte sich nicht sicher sein, wie sich die Habsburger verhalten würden; umgekehrt fürchteten die Habsburger wohl um die Bestätigung ihrer Herrschaftsrechte durch den neuen König. Während des Hoftags in Speyer im August/September 1309, auf dem auch die Habsburger vertreten waren, ließ Heinrich die Leichname seiner beiden Vorgänger dort mit einigem Aufwand neu bestatten. Die folgenden Verhandlungen mit den Habsburgern verliefen zunächst angespannt, doch wurde recht bald eine Übereinkunft getroffen. Am 17. September 1309 bestätigte Heinrich die Rechte der Habsburger und verurteilte im Anschluss die Mörder Albrechts, denen „Ehre und Recht“ genommen wurde. Die Habsburger gaben ihre noch bestehenden Ansprüche auf das Königreich Böhmen auf und stellten Heinrich Truppen sowie ein Darlehen zur Verfügung; als Gegenleistung erhielten sie die Markgrafschaft Mähren als Pfand. Damit war eine für beide Seiten befriedigende Vereinbarung erzielt. Die Habsburger unterstützten in der folgenden Zeit die Politik Heinrichs, was einen Erfolg für den neuen König darstellte. Heinrich kooperierte auch mit den anderen Großen des Reiches, wie den Wittelsbachern, die sich später mit Truppen am Romzug beteiligten. Die Bedeutung des Konsenses zwischen dem König und den Großen im Rahmen mittelalterlicher Herrschaft wird in der neueren Forschung verstärkt betont; man spricht von „konsensualer Herrschaft“. Das verbliebene Reichsgut, das während des Interregnums reduziert worden war, wurde geordnet. Problematisch blieb die angespannte Finanzlage des Königtums, da die Einnahmen vergleichsweise gering waren. Im Sommer 1310 wurde ein Landfrieden für das Oberrheingebiet verkündet. Heinrichs effektive Königsherrschaft beschränkte sich, wie seine Reisewege im Reich (Itinerar) verdeutlichen, im Wesentlichen auf den Süden des Reiches; darauf bzw. auf die Oberrheinregion (die sogenannten „königsnahen“ Landschaften) beschränkte er auch den üblichen Königsumritt und seine folgenden Aufenthalte bis in den Herbst 1310. Der norddeutsche Raum hingegen stellte bereits seit der späten Stauferzeit ein Gebiet dar, in dem das Königtum nicht mehr effektiv eingreifen konnte („königsferne“ Gebiete). Heinrich hielt in Speyer (August/September 1309 und Anfang September 1310) und in Frankfurt am Main (im Juli 1310) Hoftage ab. Diese dienten neben der Vorbereitung des schon frühzeitig geplanten Romzugs auch der Ordnung der politischen Verhältnisse im deutschen Reichsteil, wo es zu keinen bedrohlichen Konflikten mehr kam. Heinrich VII. unterstützte den Niederschwäbischen Städtebund in dessen Auseinandersetzung mit dem Grafen Eberhard von Württemberg, der eine aggressive Territorialpolitik betrieb; gegen Eberhard wurde im Spätsommer 1310 der Reichskrieg erklärt, der sich noch bis ins Jahr 1316 hinzog. Ansonsten war die Königsherrschaft Heinrichs VII. unangefochten. Die Leitung der königlichen Kanzlei, in der vor allem während des Italienzugs einige rhetorisch recht beeindruckende Verlautbarungen angefertigt wurden, oblag Heinrich von Villers-Bettnach, Bischof von Trient. In der Kanzlei fungierten als Notare unter anderem Simon von Marville und Heinrich von Geldonia; im Verlauf des Romzugs kamen auch Italiener hinzu, darunter Bernhard von Mercato. Aufgrund der nur kurzen Regierungszeit Heinrichs und der problematischen Überlieferungslage lässt sich das Hofleben nur skizzenhaft rekonstruieren. Es war offenbar von der französischen Hofkultur geprägt, wie auch mehrere Personen aus dem romanischen Westen des Reiches zum engeren Umfeld Heinrichs gehörten, so z. B. Graf Heinrich von Flandern und dessen Bruder Guido von Namur, beide Verwandte des Königs, oder Bischof Theobald von Lüttich, der während der Straßenkämpfe in Rom 1312 getötet wurde. In die Streitigkeiten der Wettiner um die Markgrafschaft Meißen und die Landgrafschaft Thüringen mischte sich Heinrich im Unterschied zu seinen Vorgängern Adolf von Nassau und Albrecht zunächst nicht ein, hielt aber grundsätzlich an der Auffassung fest, dass beide Territorien nun der Verfügungsgewalt der Krone unterstanden. Das Verhältnis zwischen Friedrich dem Freidigen und Heinrich blieb bis Ende 1310 ungeklärt; vor allem gewährte Heinrich dem Wettiner längere Zeit nicht die gewünschten Ansprüche. Erst im Dezember 1310, als er sich bereits in Italien aufhielt, verzichtete der König auf seinen Anspruch hinsichtlich Thüringen und Meißen, mit denen nun Friedrich belehnt wurde. Als Gegenleistung erhielt Heinrich die Unterstützung der Wettiner hinsichtlich der luxemburgischen Ansprüche in Böhmen. In Böhmen herrschten seit dem Aussterben der Přemysliden in männlicher Linie im Jahr 1306 unruhige Verhältnisse. Heinrich von Kärnten, seit 1307 König von Böhmen, hatte sich durch seine Politik recht unbeliebt gemacht, sogar ein Bürgerkrieg schien zu drohen. Einflussreiche oppositionelle böhmische Kreise hatten daher bereits im August 1309 Kontakt zu Heinrich VII. aufgenommen, der sich zu diesem Zeitpunkt in Heilbronn aufhielt. Ob bereits damals ein luxemburgischer Thronkandidat erwogen wurde, bleibt aufgrund der Quellenlage letztendlich zwar offen, doch ist es angesichts der späteren Entwicklung wahrscheinlich. Im Juli 1310 wurden jedenfalls erneut Gespräche aufgenommen, um Heinrich zum Eingreifen zu bewegen. Heinrich ergriff nun diese Gelegenheit, da Böhmen zu den bedeutendsten Reichsterritorien zählte und eine machtpolitische Perspektive für das Haus Luxemburg bot. Zunächst erhoffte sich Heinrich die Krone Böhmens wohl für seinen zweiten Bruder Walram, dies stieß jedoch eher auf Ablehnung. Es kam bald darauf zu einer Einigung zwischen Heinrich und den böhmischen Gegnern Heinrichs von Kärnten; letzterer wurde für abgesetzt erklärt. Am 30. August 1310 belehnte Heinrich VII. seinen 14 Jahre alten Sohn Johann mit Böhmen. Am selben Tag heiratete Johann in Speyer Elisabeth, die Schwester des letzten anerkannten Böhmenkönigs, womit der luxemburgische Anspruch zusätzlich legitimiert wurde. Johann begab sich bald darauf nach Böhmen, wo er sich rasch durchsetzen konnte. Heinrich von Kärnten wurde bereits Ende 1310 aus Prag vertrieben. Er zog sich in seine Erbländer zurück und spielte in der Folgezeit keine entscheidende Rolle mehr, wenngleich er bei der Doppelwahl 1314 noch einmal die böhmische Stimme für sich beanspruchte und für den Habsburger Friedrich stimmte. Der Erwerb Böhmens war der größte Erfolg von Heinrichs Politik im deutschen Reichsteil. Damit waren die Grafen von Luxemburg, Territorialherren eher zweiten Ranges im Linksrheinischen, in den Besitz der erblichen Königskrone eines reichen Territoriums gelangt. Böhmen sollte zum Eckpfeiler der luxemburgischen Hausmacht werden, die in den folgenden Jahren noch erheblich ausgebaut wurde. Heinrich selbst unternahm diesbezüglich nichts, da der Italienzug unmittelbar bevorstand. Das weitere Vorgehen lag nun in der Hand Johanns, der während des Romzugs als königlicher Vikar im deutschen Reichsteil fungieren sollte. Frankreichpolitik Während Heinrich als Graf gute Beziehungen zum französischen Königshof unterhalten hatte, bemühte er sich als römisch-deutscher König, die bereits seit dem 13. Jahrhundert laufende Expansionspolitik Frankreichs zu stoppen. Heinrichs Vorgänger Albrecht hatte sich noch im Dezember 1299 bei einem Treffen in Quatrevaux mit Philipp IV. verständigt und dabei territoriale Zugeständnisse gemacht. Zu einem ähnlichen Schritt war der Luxemburger nicht bereit. Heinrich ernannte bereits 1309 königliche Vikare, beispielsweise Ende Mai 1309 für die Grafschaft Cambrai, und forderte mehrere geistliche und weltliche Landesherren in diesem Raum auf, die Regalien aus seiner Hand persönlich in Empfang zu nehmen. Insgesamt gelang es wenigstens, den französischen Druck auf die Grenzregionen zu mindern. Die Maßnahmen des Königs lagen auch im Interesse vieler linksrheinischer Territorialherren, die vom französischen König stark unter Druck gesetzt wurden. In Paris zeigte man sich denn auch besorgt über das Engagement des römisch-deutschen Königs. Auf Drängen des Papstes versuchte sich Heinrich dennoch mit Philipp IV. zu einigen. Ende Juni 1310 wurde der sogenannte Vertrag von Paris geschlossen. Strittige Fragen sollten demnach durch Schiedsgerichte entschieden werden. Nachdem jedoch französische Truppen im Juni 1310 überraschend in Lyon einmarschiert waren, das formal zum Imperium gehörte, brach Heinrich den Kontakt mit Philipp zunächst ab. Im April 1311 hatte sich Clemens V. mit Philipp IV. hinsichtlich des Templerprozesses und des Prozesses gegen das Andenken von Bonifatius VIII. weitgehend verständigt. Der Papst ermahnte Heinrich, der sich bereits in Italien befand, sich mit dem französischen König zu einigen. Die Spannungen zwischen Heinrich und Philipp blieben jedoch weiterhin bestehen. Heinrich war offenbar nicht bereit, dem französischen König größere Konzessionen zu machen, nachdem Philipp widerrechtlich Lyon besetzt hatte. Als zukünftiger Kaiser war Heinrich sehr auf sein Ansehen bedacht; dies implizierte unter anderem die Wahrung und Rückforderung von Reichsrechten. Auf der anderen Seite betrachtete Philipp die Kaiserkrönung und den damit verbundenen Ansehensgewinn seines ehemaligen Vasallen offenbar argwöhnisch. Durch die Neuaufnahme der alten kaiserlichen Italienpolitik, die mit dem Ende der Staufer beendet schien, wurden auch französische Interessen tangiert, etwa in Unteritalien, wo mit dem Hause Anjou eine Seitenlinie des französischen Königshauses regierte. Hinzu kamen die ungelösten Probleme im westlichen Grenzgebiet, nicht zuletzt im alten Königreich Arelat, wo Heinrich als Kaiser intervenieren konnte. Bis 1313 war Heinrich vor allem in Italien gebunden; doch schon kurz nach der Kaiserkrönung beklagte er, dass Philipp Länderraub begehe. Anfängliches Verhältnis zum Papsttum und Vorbereitung des Romzugs Heinrichs Pläne für eine Romfahrt und eine aktivere Italienpolitik waren bereits in der Wahlanzeige an den Papst deutlich geworden, in der man dem Wunsch nach einer baldigen Kaiserkrönung Ausdruck verliehen hatte. Im Frühsommer 1309 reiste eine Gesandtschaft Heinrichs zum Papst nach Avignon, wo dieser nun residierte (siehe Avignonesisches Papsttum). Die Verhandlungen, bei denen sich die königlichen Gesandten betont demütig gegenüber dem Papst verhielten, verliefen erfolgreich: Papst Clemens V. erklärte sich bereit, die Kaiserkrönung Heinrichs vornehmen zu lassen. Ursprünglich war dafür der 2. Februar 1312 vorgesehen, der 350. Jahrestag der Kaiserkrönung Ottos des Großen, doch sollte sich dieser Termin später verschieben. Heinrich war auf ein gutes Verhältnis zum Papst angewiesen, da dieser allein zur Kaiserkrönung befugt war. Umgekehrt erhoffte sich Clemens, der in Avignon verstärkt dem Druck Philipps IV. ausgesetzt war, vom zukünftigen Kaiser Unterstützung und wohl auch eine Stabilisierung der italienischen Verhältnisse. Allerdings zeigte sich, dass der Papst dem französischen Druck nicht immer gewachsen war; nach der Einigung mit Philipp IV. hinsichtlich Bonifatius VIII. im Frühjahr 1311 distanzierte er sich zunehmend von Heinrich. Vorläufig jedoch kooperierten Papst und zukünftiger Kaiser, was nach dem Ende der Staufer und den damit verbundenen Spannungen zwischen beiden Universalgewalten nicht selbstverständlich war. Die Wiederaufnahme der alten kaiserlichen Italienpolitik geschah nicht völlig überraschend, denn schon Rudolf von Habsburg hatte sich (allerdings vergeblich) um die Kaiserkrone bemüht. Die Kaiserkrone stellte die höchste weltliche Würde im katholischen Europa dar und ermöglichte die unumstrittene Herrschaftsausübung im Arelat sowie die Wahl eines römisch-deutschen Königs noch zu Lebzeiten des Kaisers. Die Finanzkraft der italienischen Kommunen war ausgesprochen hoch. Die Ausübung von Herrschaftsrechten in Reichsitalien ermöglichte daher ungleich höhere Geldeinnahmen als im deutschen Reichsteil, und auf diese Einnahmen war Heinrich VII. angewiesen. Heinrich VII. beabsichtigte offenbar frühzeitig, eine Erneuerung des Kaisertums zu betreiben und an die alten kaiserlich-universalen Konzeptionen anzuknüpfen. In seiner Umgebung befanden sich bereits in Deutschland einige kaiserlich gesinnte Italiener, die ihn darin bestärkt haben dürften. Heinrich schickte schon im Sommer 1309 Gesandtschaften nach Reichsitalien, um seinen Romzug anzukündigen, weitere Gesandtschaften folgten 1310. Ihre Berichte waren offenbar so positiv, dass Heinrich mit einem problemlosen Ablauf des Italienzugs rechnete. Der Italienzug war nicht nur diplomatisch gut vorbereitet worden. Auf den Hoftagen von Speyer und Frankfurt (siehe oben) stellte Heinrich die Weichen für den reibungslosen Beginn der Romfahrt. Allerdings kam es im Vorfeld des Italienzugs im Sommer/Herbst 1310 noch zu problematischen Verhandlungen mit der Kurie in Avignon. Clemens V. bestand darauf, dass der König auf gewisse Herrschaftsansprüche in Italien zugunsten der Kirche verzichten solle. Heinrich erklärte sich bereit, die üblichen Sicherheitseide römisch-deutscher Könige gegenüber dem Papst zu leisten, gegen die Aufgabe von Reichsrechten protestierte er jedoch. Der Papst hielt aber hartnäckig daran fest. Heinrich erklärte sich schließlich im Oktober 1310 in Lausanne dazu bereit, während er bereits auf dem Weg nach Italien war. Die Zeit drängte und einen Konflikt wollte der König anscheinend vermeiden. Die strittigen Punkte schienen damit geklärt zu sein, doch sollte es später in Italien noch einmal zur Auseinandersetzung kommen. Der Italienzug bis zur Kaiserkrönung Ausgangslage Heinrich VII. hatte im deutschen Reichsteil für sichere Verhältnisse gesorgt und damit eine wichtige Voraussetzung für seine weitgespannte Imperialpolitik geschaffen. Gesandtschaften überquerten vor Heinrich die Alpen, um seine Herrschaft diplomatisch zur Anerkennung zu bringen. Selbst gegenüber Venedig, das sich nie als Teil des Reiches angesehen hatte, beanspruchte Heinrich offenbar Herrschaftsrechte und betrachtete die Stadt als Reichsteil; ein Anspruch, der von Venedig nie akzeptiert wurde. Ende Oktober 1310 überschritt Heinrich die Alpen über den Mont Cenis nach Italien, während sein Sohn Johann als Reichsvikar zurückblieb. Das Heer umfasste im Kern 5.000 Mann; die Truppenstärke wurde in der Forschung oft als zu gering erachtet, doch schien sie im Hinblick auf die positiven Gesandtschaftsberichte und das primäre Ziel des Zugs, die Kaiserkrönung, ausreichend zu sein. In Heinrichs Gefolge befanden sich einige weltliche und geistliche Fürsten, die überwiegend aus dem romanischen Westen des Reiches stammten; seine Ehefrau Margarete sowie seine beiden Brüder Balduin und Walram begleiteten ihn ebenfalls. Über den Romzug Heinrichs berichten vor allem verschiedene italienische Quellen ausführlich, waren seit dem letzten Aufenthalt eines römisch-deutschen Königs südlich der Alpen doch mehr als 50 Jahre vergangen. In Reichsitalien erhofften sich weite Kreise, dass der zukünftige Kaiser regulierend in die instabilen politischen Verhältnisse eingriff. Diese waren von Konflikten innerhalb mehrerer Kommunen sowie zwischen verschiedenen Städten gekennzeichnet. Ghibellinen und Guelfen standen sich oft feindlich gegenüber. Allerdings verlief keine scharfe Trennung zwischen beiden Gruppen. In Italien wurde Heinrich VII. sowohl von den (zumindest formal) kaisertreuen Ghibellinen als auch von mehreren Guelfen begrüßt und zunächst freundlich empfangen. Vor allem die Guelfen erhofften sich von Heinrich eine Bestätigung ihrer Rechte, die sie in den letzten Jahrzehnten, in denen kein König einen Fuß nach Italien gesetzt hatte, usurpiert hatten. Die Kaiseranhänger hingegen wollten, dass Heinrich für ihre Seite Partei ergriff. Venedig wiederum lag mit dem Papst im Streit um Ferrara und hoffte auf Heinrichs Unterstützung in Avignon. Im Königreich Sizilien herrschte seit 1266 das Haus Anjou, eine Nebenlinie des französischen Königshauses. Seit der sizilianischen Vesper 1282 war die Herrschaft der Anjous jedoch auf das unteritalienische Festland begrenzt, weshalb ihr Reich für diesen Zeitraum oft als Königreich Neapel bezeichnet wird. Sizilien wurde seit 1296 von Friedrich aus dem Hause Aragon beherrscht, der alle Rückeroberungsversuche der Anjous abwehren konnte. In Neapel regierte seit 1309 Robert von Anjou, ein Lehnsmann sowohl des Papstes (für das Königreich Neapel) als auch des römisch-deutschen Königs (für die Provence und Forcalquier). Während sich Robert oberflächlich um gute Beziehungen zu Heinrich bemühte, unterstützte er teils verdeckt, teils offen dessen Gegner in Oberitalien. Ein von der Kurie angestoßenes Heiratsbündnis zwischen den Häusern Luxemburg und Anjou, wodurch ein Ausgleich erzielt werden sollte, wurde vom Herbst 1310 bis in den Sommer 1312 verhandelt. Das Vorhaben scheiterte jedoch, nicht zuletzt weil Robert seine Forderungen in die Höhe schraubte und an seiner Unterstützung für die Guelfen in Reichsitalien festhielt. Robert hatte sich ohnehin längst mit Florenz arrangiert, das der Italienpolitik Heinrichs feindlich gegenüberstand. Doch nicht nur gemeinsame politische Ziele verbanden Neapel und Florenz, Robert war zudem von der florentinischen Finanzkraft abhängig. Robert schickte wiederholt Söldner nach Norden, die gegen kaiserliche Truppen kämpften. Ganz offen geschah dies im Mai 1312 in Rom. Vom Alpenübergang bis zum Mailänder Aufstand Zu Beginn des Romzugs war Heinrich ernsthaft um einen Ausgleich mit den Guelfen bemüht und betrieb eine allgemeine Ausgleichs- und Friedenspolitik, wobei er auch eine Rückkehr der aus politischen Gründen Verbannten beider Seiten in ihre Heimatstädte anstrebte. Heinrich äußerte mehrfach seine Absicht, sich von keiner Seite vereinnahmen zu lassen. Er wurde jedoch schließlich zur Parteinahme zugunsten der Ghibellinen und kaisertreuen Guelfen (der sogenannten „weißen Guelfen“) gezwungen. Verantwortlich dafür war vor allem der Widerstand der guelfisch dominierten Kommunen, die der Friedenspolitik Heinrichs misstrauisch gegenüberstanden und an einer Rückkehr der politisch Verbannten nicht interessiert waren, da es sich dabei hauptsächlich um Ghibellinen und weiße Guelfen handelte. Heinrichs Bemühungen sind von manchen Forschern in Anbetracht der verworrenen Lage in Italien als weltfremd beurteilt worden, sie waren jedoch durchaus in seine allgemeinen politischen Zielsetzungen eingebettet. Wiederholt bemühte sich Heinrich, die verfeindeten Gruppen in den Kommunen zusammenzuführen, um so für stabilere Verhältnisse zu sorgen. Diese Vorgehensweise erprobte der König bereits zu Beginn des Romzugs in der Stadt Asti, wo er sich im November/Dezember 1310 aufhielt. Zunächst ließ er sich von der Stadtgemeinde deren Treue öffentlich bestätigen. Anschließend bemühte er sich, die verfeindeten örtlichen Familien Solari und de Castello miteinander zu versöhnen. Faktisch übernahm der König die direkte Regierungsgewalt über die Kommune und übte eine Schiedsrichterfunktion aus. Nach seiner Ankunft in Italien hielt sich Heinrich VII. zunächst im Raum Turin auf. Dort huldigte ihm eine erste Gesandtschaft der lombardischen Städte. Der König griff in Reichsitalien wiederholt in die inneren Verhältnisse der Kommunen ein und ließ sich deren Anerkennung der kaiserlichen Oberherrschaft urkundlich bestätigen, wie das bereits erwähnte Beispiel der Stadt Asti zeigt. Diese Vorgehensweise weist auf die im Spätmittelalter zunehmende Bedeutung schriftlich fixierter Herrschaftsausübung hin. Der König versuchte außerdem mit der Einsetzung königlicher Vikare eine Verwaltung in Oberitalien zu etablieren. Sein Schwager Amadeus V. von Savoyen, der dabei eine wesentliche Rolle spielte, wurde zum Generalstatthalter ernannt. Neuere Forschungen belegen außerdem, dass Heinrich nicht nur die Finanzkraft der Kommunen nutzte, sondern auch über eine relativ „moderne“ Finanzverwaltung verfügte, in der als Schatzmeister Simon Philippi und Gille de la Marcelle fungierten. In diesem Zusammenhang wurde die in Italien bereits verbreitete fortschrittliche Rechnungslegung als Herrschaftsinstrument intensiv genutzt. Durch die Maßnahmen Heinrichs, vor allem die Eingriffe in kommunale Rechte, entstand schließlich ein Konflikt zwischen dem König und den selbstbewussten Kommunen. Heinrichs Maßnahmen zur Wahrung kaiserlicher Rechte in Reichsitalien stießen daher bald auf den Widerstand kaiserfeindlicher Kräfte. Vor allem Guido della Torre, der guelfische Herr von Mailand, fühlte sich davon bedroht. Während einige andere Guelfen abwarten wollten, wie sich der König ihnen gegenüber verhielt, soll Guido dem Chronisten Giovanni da Cermenate zufolge während einer Versammlung der Guelfen zornig ausgerufen haben: „Was will denn dieser deutsche Heinrich von mir?“ Guido lenkte jedoch zunächst ein, als Heinrich Ende Dezember 1310 vor Mailand eintraf und im Rahmen des üblichen festlich inszenierten Herrschereinzugs (adventus regis) die Stadt betrat. Heinrich ließ sich die Anerkennung seiner Herrschaft zuerst durch einen Treueid der Mailänder bestätigen. Er war außerdem bestrebt, in Mailand im dortigen Konflikt zwischen Guido della Torre und dessen Rivalen Matteo I. Visconti zu vermitteln; zumindest oberflächlich und vorläufig versöhnten sich die verfeindeten Seiten. Am 6. Januar 1311 wurde Heinrich VII. in Mailand als erster römisch-deutscher König nach dem Staufer Heinrich VI. mit der eigens neu angefertigten eisernen Krone der Langobarden gekrönt. Die Stadt Mailand hatte dem König einen hohen Geldbetrag in Aussicht gestellt, den Guido jedoch weiter in die Höhe getrieben hatte, womit er eine plötzliche Spannung erzeugt hatte. Heinrich war nicht bereit, auf die versprochene Zahlung zu verzichten, und forderte außerdem von den Mailändern Geiseln für den weiteren Zug. Im Februar 1311 brach ein Aufstand in Mailand aus, der die Restaurationspolitik Heinrichs in ernste Gefahr brachte und an dem Guido della Torre wohl maßgeblich beteiligt war. In Mailand konnten die Unruhen durch die königlichen Truppen rasch beendet werden, doch in mehreren anderen Kommunen kam es bald darauf ebenfalls zu Aufständen. Nachdem Guido die Flucht ergriffen hatte, setzte Heinrich Matteo Visconti in Mailand ein. In der Folgezeit eröffnete er mehrere Prozesse gegen rebellische Städte und zwang einige auch mit Waffengewalt nieder. Wenngleich Heinrich weiterhin an der Idee eines Ausgleichs festhielt, zwang ihn die politische Lage zu einem anderen Kurs. Wiederholt musste er nun notgedrungen auf vor allem ghibellinische Vikare und Stadtherren zurückgreifen, was die Spannungen zu den Guelfen weiter verstärkte. Die komplexe politische Lage in Reichsitalien zwang Heinrich nun faktisch dazu, sich für ein Lager zu entscheiden; hinzu kam der Widerstand Frankreichs und des Königreichs Neapel(-Sizilien) gegen seine Italienpolitik. Cremona und Brescia Im Frühjahr/Sommer 1311 kam es zu schweren Kampfhandlungen in Oberitalien. Heinrich ging vor allem gegen die Städte Cremona und Brescia militärisch vor. Cremona unterwarf sich rasch, wurde aber dennoch recht hart bestraft; dabei spielte wohl eine Rolle, dass Heinrich ein Zeichen gegen die Aufständischen setzen wollte. Brescia leistete mehrere Monate erbitterten Widerstand. Im Verlauf der Belagerung starb Heinrichs Bruder Walram, während im Heer eine Seuche ausbrach und die Truppen dezimierte. Erst im September 1311 kapitulierte die Stadt. Heinrich ließ öffentlich verkünden, dass die Rebellen den Tod verdient hätten, er ihnen aber aus Milde das Leben schenke. Es folgten harte Strafmaßnahmen gegen Brescia, neben hohen Geldstrafen wurden die Mauern geschleift. Sowohl im Fall Cremonas als auch im Fall Brescias wurde die Unterwerfung (deditio) der Kommune in einem öffentlichen Rahmen inszeniert. Die historiographische Überlieferung dazu ist reichhaltig und die unterschiedlichen Berichte erlauben ein relativ klares Bild von diesen Vorgängen. In Cremona erschienen hochrangige Bürger der Kommune, die – Albertino Mussato zufolge demonstrativ Trauerkleidung tragend – den König in die Stadt führen wollten. Ihr Ziel war es, den König so gütig wie möglich zu stimmen, doch scheiterten sie letztendlich mit ihrem Vorhaben. Bemerkenswert ist der Bericht Dino Compagnis zur deditio Cremonas. Ihm zufolge warfen sich die Bürger vor dem König hin und beklagten sich bitterlich; sie seien bereit zu gehorchen, falls Heinrich in ihrer Stadt auf die Einsetzung eines Vikars verzichte. Der König ging darauf nicht ein, doch die Bürger wurden angeblich durch Briefe dazu ermuntert, einen neuen Versuch zu unternehmen. Hochrangige Bürger erschienen daraufhin erneut vor Heinrich, diesmal barfüßig und mit einfachen Hemden bekleidet. Sie hatten sich Stricke um den Hals gelegt, um ihre Unterwerfung zu verdeutlichen, und um Milde gebeten. Heinrich akzeptierte aber auch dies nicht. Nach Dinos Bericht zog er sein Schwert und zwang die Delegation, unter diesem hindurch in die Stadt zu gehen; dann ließ er sie festsetzen. Eine Rolle spielte hierbei wohl die Wahrung des königlichen Herrschaftsanspruchs; im Fall Brescias spiegeln die Strafmaßnahmen zusätzlich die Härte der Kämpfe wider. So war im Juni 1311 der in Gefangenschaft geratene Anführer der Guelfen Brescias, Tebaldo Brusati, auf besonders brutale Weise hingerichtet worden; in Brescia waren daraufhin Gefangene in Sichtweite des kaiserlichen Lagers getötet worden. Wenngleich die Aufstände Heinrich kaum eine Wahl ließen und seine Strafmaßnahmen für damalige Verhältnisse keineswegs ungewöhnlich waren, verspielte er damit einige Sympathien. Vor allem aber gab es seinen Gegnern die Gelegenheit, den König als angeblichen „Tyrannen“ zu brandmarken und an die Strafmaßnahmen früherer römisch-deutscher Herrscher zu erinnern. Diese negative Stilisierung des Königs durch die Guelfen und vor allem Florenz, wo man ihm schließlich seine rechtmäßige Titulatur als rex Romanorum („König der Römer“) verweigerte, dauerte noch nach dem Tod Heinrichs an. Im Laufe der Zeit wandten sich immer mehr Guelfen seines Gefolges von ihm ab; daher musste er verstärkt auf ghibellinische Unterstützer zurückgreifen. Aufenthalt in Genua und Pisa Heinrich zog von Brescia weiter nach Genua, wo er seine verbliebenen Kräfte sammelte und auch in die politischen Verhältnisse der Stadt eingriff. Dort verstarb am 14. Dezember 1311 Heinrichs Frau Margarete, die auch dort bestattet wurde. In Genua äußerte sich der König verärgert über die Politik Roberts von Anjou, der für seine Reichslehen Heinrich die Huldigung verweigert hatte. Die abwartende, bald offen feindselige Haltung von Florenz stellte ein weiteres ernsthaftes Problem dar. Florenz und mehrere andere guelfische Städte hatten bereits ein Bündnis geschlossen, das sich eindeutig gegen Heinrich und dessen Politik richtete, alte kaiserliche Herrschaftsrechte in Italien wieder wahrzunehmen. Gegen Florenz eröffnete Heinrich Ende 1311 einen Prozess und klagte den Abfall der Stadt von der imperialen Ordnung wortgewaltig an. Am 24. Dezember 1311 verhängte er den Reichsbann, dessen reale Auswirkung aber eher gering blieb. Aufgrund des Zeitplans der Kaiserkrönung zog Heinrich aber nicht gegen Florenz, sondern begab sich im Februar 1312 mit einem kleinen Heer auf dem Seeweg in das ghibellinische Pisa. Dort wurde er Anfang März 1312 sehr freundlich aufgenommen, zumal die Pisaner hofften, vom Vorgehen gegen Pisas Erzrivalin Florenz profitieren zu können. Die im Oktober 1311 in Pavia und im März/April 1312 in Pisa abgehaltenen Hoftage dienten der Stabilisierung der Reichsherrschaft in Italien. Diese war nach dem Mailänder Aufstand deutlich ins Wanken geraten. Parma, Reggio, Asti, Vercelli und Pavia sollten sich im Verlauf des Romzugs der Guelfenliga unter Führung von Florenz und Bologna anschließen, doch behaupteten sich kaisertreue Kräfte immer noch in größeren Teilen Reichsitaliens; auch die Verbindung nach Norden blieb weiterhin offen. Gescheitert war vorerst nur Heinrichs Ausgleichspolitik, nicht seine Italienpolitik im Ganzen. Ende April 1312 zog er zur geplanten Kaiserkrönung weiter nach Rom. Die Kaiserkrönung und ihre Folgen Als Heinrich Anfang Mai 1312 Rom erreichte, war der Widerstand gegen ihn längst aufgebaut. Dieser war inszeniert von Robert von Anjou, der Söldner nach Rom geschickt hatte, und ausgeführt von der guelfisch gesinnten Familie der Orsini. Bald darauf kam es zu schweren Kämpfen in der Stadt, da die guelfischen Truppen Heinrich den Zugang nach St. Peter versperrten, wo die römisch-deutschen Kaiser traditionell gekrönt wurden. An den Kämpfen waren auch neapolitanische Truppen unter dem Kommando von Roberts Bruder Johann von Gravina beteiligt. Wiederholt versuchten die kaiserlichen Truppen, den Zugang mit Gewalt zu erkämpfen; besonders verlustreich waren die erbitterten Gefechte am 26. Mai 1312. Ein Durchbruch gelang jedoch nicht. Dennoch fand die Kaiserkrönung Heinrichs durch die vom Papst entsandten Kardinäle am 29. Juni 1312 statt. Die drei in Rom anwesenden Kardinäle, zu denen auch der kaiserfreundlich eingestellte Nikolaus von Prato gehörte, wollten zunächst Nachricht aus Avignon abwarten. Als die Stimmung in der Stadt jedoch zunehmend gereizter wurde und es in der Umgebung der päpstlichen Delegation zu Unruhen kam, sahen sie sich zum Handeln gezwungen. Die Kaiserkrönung wurde statt in St. Peter in der Lateranbasilika vollzogen. Im Anschluss an die feierliche Krönung erließ Heinrich ein Ketzergesetz. Dies entsprach der normalen zeitgenössischen Erwartungshaltung, der zufolge der Kaiser weltlicher Schutzherr der Christenheit war. Anschließend erließ er eine Krönungsenzyklika und ließ diese mehreren weltlichen und geistlichen Fürsten Europas zukommen. Es ist ein regelrechtes, von Heinrichs gelehrten Beratern anspruchsvoll verfasstes Plädoyer für die kaiserliche Universalgewalt, in der himmlische und irdische Ordnung als wesensähnlich gedeutet werden. In der Arenga wird erklärt, dass so wie Gott über alles im Himmel gebietet, alle Menschen auf Erden dem Kaiser zu gehorchen haben; es sei dessen Aufgabe, die Zersplitterung der weltlichen Herrschaften zu überwinden. Diese Erklärungen, die in dieser Form ganz einmalig sind, wurden in der Forschung teilweise als realitätsferner Versuch gedeutet, die „kaiserliche Weltherrschaft“ zu formulieren, doch sind Heinrichs Aussagen als Ausdruck seiner Kaiseridee zu verstehen. Heinrich VII. war offenbar von der Würde des Kaiseramts durchdrungen und versuchte das Kaisertum politisch wieder zur Geltung zu bringen, nachdem es mehrere Jahrzehnte keine Rolle gespielt hatte. Dabei knüpfte er an bekannte kaiserlich-universale Ideen in der Art entsprechender Vorstellungen der Stauferzeit an. Zwar wurde die päpstliche Führungsrolle in geistlichen Fragen betont, doch in weltlichen Fragen beanspruchte der Kaiser den Vorrang. Kaiser und Papst sollten gemeinsam zum Wohle der Christenheit agieren und den Frieden sichern. Diese Zielsetzung legitimierte den keineswegs neuen kaiserlichen „Weltherrschaftsanspruch“. Dieser war in vieler Hinsicht nur formaler Art, wurde aber von kaiserlichen Parteigängern unter den Gelehrten vehement verteidigt, so im frühen 14. Jahrhundert von Engelbert von Admont und Dante Alighieri. Der französische König Philipp IV. zeigte sich jedoch empört und reagierte abschätzig auf die Ausführungen Heinrichs. Offenbar befürchtete Philipp einen kaiserlichen Vorranganspruch, dem der selbstbewusste französische König entgegentreten wollte. Außerdem spielte auch der konkrete Interessengegensatz eine Rolle, der wegen Heinrichs Bemühen um Wahrung von Reichsrechten im Grenzraum zu Frankreich bestand. Aus Neapel kamen später ebenfalls beißende Reaktionen. Ganz anders reagierte der englische König Eduard II., der die Erklärung nur zur Kenntnis nahm und dem Kaiser zur Krönung gratulierte. An der päpstlichen Kurie war man inzwischen von Heinrich abgerückt. Ende März 1312 intervenierten französische und angiovinische Gesandte beim Papst und erhoben schwere Vorwürfe gegen den römisch-deutschen König; man wies auf die Gefahr hin, die von diesem für Robert von Anjou ausgehe. Clemens V., dem die Erneuerungspolitik Heinrichs politisch immer mehr missfiel und der zudem dem Druck des französischen Königs nachgab, ließ sich davon beeinflussen und stellte sich ganz auf die Seite Roberts. Der Papst ordnete nur wenige Tage vor der Kaiserkrönung einen Waffenstillstand zwischen Heinrich und Robert an; außerdem sollte Heinrich nach seiner Kaiserkrönung Rom sofort verlassen. Noch im Sommer 1312 verbot Clemens dann dem Kaiser, das Königreich Neapel anzugreifen. Dagegen protestierte Heinrich vehement, denn die Waffenstillstandsverfügung implizierte einen päpstlichen Anspruch auf weltliche Überordnung über ihn. Einen solchen hatte Heinrich aber nie anerkannt. Er hatte vor seinem Aufbruch nach Italien im Oktober 1310 bloß einen Eid zum Schutz von Papst und Kirche sowie zum Kampf gegen die Ketzer geschworen. Heinrich verwahrte sich nun gegen jede Einmischung des Papstes, wobei er auch Juristen zu seiner Unterstützung heranzog. Hinsichtlich des Konflikts mit Robert wies der Kaiser außerdem darauf hin, dass es Robert gewesen war, der sich stets feindselig verhalten hatte und seine Lehnspflicht gegenüber Heinrich sträflich vernachlässigt hatte. Darauf beabsichtigte Heinrich nun zu reagieren. Es wurden sogar Traktate der kaiserlichen Seite angefertigt, in denen die kaiserliche Universalgewalt in weltlichen Angelegenheiten betont wurde, ganz so wie in staufischer Zeit. Von der Kaiserkrönung bis zum Tod Heinrichs VII. Heinrich VII. war mit seiner Politik einer Erneuerung der Reichsgewalt endgültig in Konflikt mit Robert von Anjou, dem Papst, den guelfischen Kommunen – insbesondere dem mächtigen Florenz – und dem König von Frankreich geraten. Wenngleich die Lage in Oberitalien für den Kaiser problematisch blieb und ein Teil seines Gefolges nach der Kaiserkrönung wieder nach Deutschland aufgebrochen war, verfügte er weiterhin über einige Verbündete, unter anderem Pisa und König Friedrich von Sizilien („Trinacria“). Heinrich stand mit Friedrich, einem erbitterten Feind Roberts, bereits seit einigen Monaten in Kontakt. Im Juli 1312 schlossen die beiden Herrscher entgegen dem ausdrücklichen Willen des Papstes ein Bündnis, das sich in erster Linie gegen Robert richtete. Friedrich bot nicht nur seine militärische Unterstützung an, sondern sicherte dem Kaiser außerdem hohe Geldzahlungen zu, auf die Heinrich angewiesen war. Das päpstliche Verbot eines Angriffs auf das Königreich Neapel sollte offenbar dazu dienen, Robert als den wichtigsten päpstlichen Verbündeten in Italien vor einem kaiserlich-sizilianischen Angriff zu schützen, doch die Kriegsvorbereitungen liefen weiter. Noch im Juli 1312 ergingen Weisungen Heinrichs an Genua und Pisa, militärische Kräfte bereitzustellen. Sogar Venedig erhielt eine entsprechende Weisung, die folgenlos blieb; Ende Mai/Anfang Juni 1313 kam es noch einmal zu letzten Verhandlungen zwischen kaiserlichen Gesandten und Venedig. Heinrich hatte Ende August 1312 Rom endgültig verlassen und sich auf Reichsterritorium nach Arezzo begeben. Dort leitete er den Prozess gegen Robert von Anjou ein und bereitete den Angriff auf Florenz vor, das Zentrum des guelfischen Widerstands in Reichsitalien. Mitte September besiegte er die Florentiner bei Incisa in offener Schlacht, anschließend begann er die Belagerung der Arnostadt. Das kaiserliche Heer war allerdings zu klein, um die Stadt vollkommen einzuschließen und zur Übergabe zu zwingen. In dieser Zeit erkrankte Heinrich an Malaria. Schließlich brach er die Belagerung von Florenz im Oktober 1312 ab. Er blieb die nächsten Monate jedoch noch in der Toskana und ließ die von den Florentinern zerstörte kaisertreue und strategisch nicht unwichtige Stadt Poggibonsi unter dem bezeichnenden Namen Monte Imperiale (Kaiserberg) wiederaufbauen. Der Kaiser begab sich im Anfang März 1313 nach Pisa, wo er Gesetze gegen Majestätsverbrechen (crimen laesae maiestatis) erließ. Jede Auflehnung gegen den Kaiser wurde als Versündigung gegen die gottgewollte weltliche Ordnung aufgefasst; Robert von Anjou wurde kurz darauf am 26. April 1313 vom Kaiser in Abwesenheit zum Tode verurteilt. Die Gesetze wurden in das spätantike Corpus Iuris Civilis eingefügt und später noch von Bartolus de Saxoferrato kommentiert. Ohnehin hatte der Konflikt zwischen dem Kaiser und dem König von Neapel, hinter dem der König von Frankreich und der Papst standen, Einfluss auf die Rechtsgeschichte. Die Juristen Roberts und des Papstes, dessen Vasall Robert für das Königreich Neapel war, erhoben gegen die Verurteilung vehement Einspruch: Der Kaiser übe keine unbegrenzte Gerichtsbarkeit aus. In päpstlichen Gutachten wurde jede gerichtliche Verfügungsgewalt des Kaisers hinsichtlich Robert bestritten. Während der kaiserliche Universalanspruch mit Berufung auf den Souveränitätsanspruch anderer Herrscher geleugnet wurde, wurde aber am päpstlichen Universalanspruch festgehalten. Dagegen argumentierten kaiserliche Juristen, dass überall dort, wo das römische Recht herrsche, auf das sich Heinrich in weiten Teilen stützte, der Kaiser wenigstens formal ein Weltkaiseramt ausübe. Es folgte von angiovinischer Seite eine wahre Flut antikaiserlicher Traktate, in denen teils polemisch „den Deutschen“ die Schuld für Unruhe in Italien gegeben wurde und sogar die Institution des Kaisertums als obsolet dargestellt wurde. Der Kaiser war entschlossen, Robert von Anjou militärisch auszuschalten. Eine pisanisch-sizilianische Flotte unter dem Kommando Friedrichs, der zum Reichsadmiral ernannt worden war, sollte das Königreich Neapel von See her angreifen, während der Kaiser sich im August 1313 mit rund 4.000 Rittern auf dem Landweg nach Süden aufmachte und Verstärkungen aus Deutschland anforderte. Kurfürst Balduin war bereits im März 1313 nach Deutschland aufgebrochen, um im Sommer zusätzliche Truppen nach Süden zu führen. Der Papst war anscheinend über die bevorstehende Invasion besorgt; er drohte im Juni 1313 jedem, der das Königreich Neapel angreife, mit Exkommunikation. Heinrich zeigte sich davon jedoch unbeeindruckt und setzte die Vorbereitungen fort; dem Papst teilte er mit, der Angriff sei nicht gegen die Interessen der Kirche gerichtet, sondern diene nur der Aburteilung eines Majestätsverbrechers und Reichsfeindes. Vor Beginn der Invasion kam es noch zur Belagerung von Siena, wobei der Kaiser schwer erkrankte. Kurz darauf verstarb er am 24. August 1313 in dem kleinen Ort Buonconvento. Es kamen bald falsche Gerüchte auf, der Kaiser sei von seinem Beichtvater vergiftet worden, vielleicht sogar im päpstlichen Auftrag. Sein Tod war eine große Erleichterung für Robert von Neapel, der eine Invasion seines Reiches zu befürchten hatte; daher wurde Robert ebenfalls mit den Mordgerüchten in Verbindung gebracht. Hinzu kam, dass im Königreich Neapel durchaus Sympathien für den Kaiser vorhanden waren. Papst Clemens V. machte bald darauf noch einmal deutlich, dass er Heinrichs Vorgehen gegen Robert von Anjou offen missbilligte. Das kaiserliche Urteil gegen Robert wurde vom Papst für ungültig erklärt und das Verbot eines Angriffs auf das Königreich Neapel bekräftigt. Der Kaiser wurde in päpstlichen Gutachten sogar zu einem Vasallen des Papstes degradiert; bezeichnenderweise geschah dies aber erst nach dem Tod Heinrichs. Heinrichs Leichnam wurde feierlich nach Pisa überführt und dort im Dom in einem später errichteten prächtigen Grabmal beigesetzt, von dem heute aber nur Fragmente erhalten sind; die damit zusammenhängende Rekonstruktion ist in der Forschung umstritten. Das Grabmal Heinrichs in Pisa und das seiner Ehefrau Margarete in Genua, das ebenfalls nicht vollständig erhalten ist, spielen eine wichtige Rolle im Rahmen der memoria, der herrschaftlichen Erinnerungspflege. Dies war für das Haus Luxemburg von nicht zu unterschätzender Bedeutung, da man im Rahmen der mittelalterlichen Erinnerungskultur nun auf einen Kaiser und eine Königin verweisen konnte. Der damit verbundene Prestigegewinn der Luxemburger, aber auch der betreffenden Städte (vor allem im kaiserfreundlichen Pisa) sollte durch die repräsentativen Grabmäler der Öffentlichkeit dargestellt werden. Auch in der Lebensbeschreibung Balduins von Trier wurde auf die kaiserliche memoria hingewiesen. Die Lage in Reichsitalien und in Deutschland nach Heinrichs Tod Für die Anhänger des Kaisers in Italien war sein unerwarteter Tod eine Katastrophe, wenngleich die Ghibellinen am 29. August 1315 bei Montecatini noch einen großen Sieg über Florenz erringen sollten. Dieser Erfolg zeigt, dass die kaiserlich gesinnten Kräfte immer noch ein militärisch ernstzunehmender Faktor in Reichsitalien waren. Das kaiserliche Heer löste sich jedoch bereits Ende 1313 auf, wenngleich einige der Teilnehmer des Heerzuges als Söldner in Italien verblieben. Die kaiserliche Kanzlei blieb sogar in Italien zurück. Die politische Lage in Reichsitalien blieb verworren und die Kämpfe zwischen den Kommunen gingen weiter; einige betrieben in der Folgezeit weiterhin eine aggressive Expansionspolitik. Die von vielen erhoffte Stabilisierung der Lage in Italien wurde durch den frühen Tod des Kaisers, der den damaligen Geschichtsschreibern als ein menschlich sympathischer Charakter erschien, zunichtegemacht. Stattdessen gewann die Signorie als Herrschaftsform in den Kommunen Reichsitaliens weiter an Auftrieb (siehe etwa Castruccio Castracani), nachdem Heinrich wiederholt auf örtliche Machthaber hatte zurückgreifen müssen. Der Tod Heinrichs bedeutete das faktische Ende der traditionellen kaiserlichen Italienpolitik. Die nachfolgenden Kaiser sollten sich mit deutlich niedriger gesteckten Zielen begnügen und waren damit zufrieden, Gelder in Reichsitalien einzutreiben. Der kaiserliche Herrschaftsanspruch blieb aber bis weit in die Frühe Neuzeit zumindest formal bestehen. In Deutschland herrschte nach dem überraschenden Tod des Kaisers zunächst Verwirrung. Die Großen des Reiches hatten mit der Wahl des Luxemburgers keine schlechten Erfahrungen gemacht, ganz im Gegenteil: Heinrich hatte die Rechte der Fürsten geachtet und im Konsens regiert; umgekehrt hatten die Fürsten die kaiserliche Italienpolitik sowie die Erneuerung des Kaisertums aktiv unterstützt. Nun stellte sich die Frage, welcher Kandidat ähnlich handeln und nicht primär eigene Hausmachtsinteressen verfolgen würde. Die Wahl von Heinrichs Sohn Johann schien nicht ausgeschlossen zu sein, scheiterte aber an den unterschiedlichen Interessen der Kurfürsten. Einige, wie Erzbischof Heinrich von Köln, wollten eine luxemburgische Machtkonzentration verhindern. Ein erneuerter französischer Wahlvorstoß lief ins Leere. Der Habsburger Friedrich der Schöne bot sich aber ebenfalls als Kandidat an. Bald kam es zur Bildung von luxemburgischen und habsburgischen Wählergruppen; zu letzteren stieß Heinrich von Kärnten, der seinen Anspruch auf die böhmische Kurstimme erneuerte. Die Situation war kompliziert und die Verhandlungen verliefen fast ein Jahr ergebnislos. Johann wurde von Balduin von Trier und Erzbischof Peter von Mainz zum Verzicht auf seine Kandidatur überredet. Nun unterstützte die luxemburgische Partei den Wittelsbacher Ludwig, während die habsburgische Wählergruppe Friedrich wählte. Es kam im Oktober 1314 zur Doppelwahl, die in einen offenen Thronkampf mündete, der bis 1322 andauerte. Die unter Heinrich erzielte Einigkeit im Reich war für mehrere Jahre zerbrochen. Ideengeschichtlich hatte Heinrichs Kaiserpolitik bedeutende Auswirkungen, speziell auf die Debatte um die Rolle des Imperiums. Diese sollte noch die Regierungszeit Ludwigs des Bayern prägen. Nachwirkung Mittelalterliche Urteile Der Italienzug Heinrichs VII. fand bei den Zeitgenossen große Beachtung. Die zeitgenössischen Geschichtsschreiber lobten allgemein Heinrichs Persönlichkeit und wiesen ihm alle mittelalterlichen Topoi eines gerechten Herrschers zu. In Italien erhofften sich manche Kreise von seinem Eingreifen vor allem ein Ende der ständigen inneren und äußeren Kämpfe der Kommunen und verbanden daher mit dem Italienzug durchaus positive Erwartungen. Bischof Nikolaus von Butrinto begleitete den Kaiser auf dem Italienzug. Er schrieb als einziger Teilnehmer einen Bericht darüber, den er Papst Clemens V. vorlegte. Darin wird Heinrich sehr positiv beschrieben. Der kaiserfreundliche Florentiner Dino Compagni pries das Erscheinen des zukünftigen Kaisers panegyrisch im dritten und letzten Buch seiner Chronik, die jedoch im Jahr 1312 endet. Compagni setzte hohe Erwartungen in Heinrich, vor allem hinsichtlich der Befriedung Reichsitaliens und einer Eindämmung der guelfischen Politik von Florenz. Albertino Mussato aus Padua verfasste eine ausführliche Geschichte des Romzugs in 16 Büchern (De gestis Henrici VII Cesaris). Mussato sympathisierte durchaus mit dem Kaiser und charakterisierte ihn sehr positiv, warf ihm aber sein Vorgehen gegen die Guelfen vor. Auch Giovanni da Cermenate wurde durch das Erscheinen des Kaisers in Italien dazu inspiriert, eine Geschichte des Romzugs zu verfassen, die wichtiges Material enthält. Ferreto de Ferreti aus Vicenza war wie Mussato und da Cermenate ein frühhumanistischer Gelehrter. Er behandelte den Romzug im Rahmen seines 1250 beginnenden Geschichtswerks recht ausführlich und lobte Heinrichs Charakter, wenngleich er der Erneuerung des Kaisertums eher distanziert gegenüberstand. Giovanni Villani schildert Heinrichs Italienzug im 9. Buch seiner bedeutenden Chronik. Wenngleich selbst florentinischer Guelfe, beurteilt er den Kaiser nicht abwertend, sondern ebenfalls wohlwollend und weist auf die Bedrohung hin, die Heinrich für die Guelfen und Robert von Neapel darstellte. Der Notar Giovanni di Lemmo aus Comugnori berücksichtigte in seinem bis 1319 reichenden Tagebuch (Diario) neben persönlichen Ereignissen auch den Italienzug. Er bietet dazu wertvolle Schilderungen. Heinrichs Erscheinen hat Giovanni offenbar beeindruckt, da er eigens nach Pisa reiste, um den römisch-deutschen König zu sehen. Guglielmo Cortusi aus Padua schrieb ein von 1237 bis 1358 reichendes Geschichtswerk, dessen Schwerpunkt auf den Ereignisse in der Lombardei liegt. Heinrich wird darin nicht ohne Sympathie beschrieben, wenngleich seine Eingriffe in die lokalen Angelegenheiten eher ablehnend vermerkt sind. Die Chronisten aus dem deutschen Reichsteil (mit Ausnahme des Romzugteilnehmers Nikolaus von Butrinto) schildern Heinrichs Regierungszeit wesentlich knapper als die italienischen Geschichtsschreiber, wobei seine Tätigkeit nördlich der Alpen den Schwerpunkt bildet. Erwähnung findet er bei zahlreichen Chronisten, so bei Ottokar aus der Gaal (in dessen Reimchronik), Matthias von Neuenburg, Johann von Viktring, Peter von Zittau und Johannes von Winterthur. Anonym überliefert ist der sogenannte Imperator Heinricus, ein Tatenbericht zugunsten der Italienpolitik Heinrichs, den ein Mainzer Kleriker zeitnah zum Tod des Kaisers verfasste. Alle Darstellungen beschreiben Heinrich vorteilhaft und beurteilen seine Regierungszeit positiv. Auch in zahlreichen lokalen Werken wurde Heinrichs Regierungszeit rezipiert. Besonders positiv geschah dies in der spätmittelalterlichen maas-moselländischen Literatur, in der er einen recht hohen Stellenwert erhielt. Im Rahmen der Erinnerungspflege (memoria) des Hauses Luxemburg entstand im Auftrag Balduins von Trier um 1340 die berühmte Bilderchronik der Romfahrt, die das enge Zusammenwirken von Kaiser und Kurfürst betont, wenngleich die Bedeutung des Kaisers deutlich hervorgehoben wird. In dieser von vornherein tendenzgebundenen Darstellung erscheint Heinrich als gerechter Herrscher und guter Krieger. Einen beeindruckenden literarischen Nachhall fand das Wirken Heinrichs in Dantes De Monarchia und in der Göttlichen Komödie. In letzterer tritt Heinrich als alto Arrigo in Erscheinung und wird von Dante stark glorifiziert. In päpstlichen und angiovinischen Stellungnahmen und Gutachten, die im Rahmen des Prozesses Heinrichs gegen Robert von Anjou angefertigt wurden, wurde hingegen deutlich gegen die Universalpolitik Heinrichs Stellung bezogen. Besonders heftig polemisierten die Verfasser zweier Memoranden aus Neapel gegen den Kaiser und schließlich sogar gegen „die Deutschen“. Sie charakterisierten das Kaisertum als Faktor der Unruhe. Beurteilung in der Forschung Die deutsche Mittelaltergeschichtsschreibung des 19. und auch des frühen 20. Jahrhunderts war primär an den „großen Dynastien“ orientiert, den Ottonen, Saliern und Staufern. Unter ihnen habe das „deutsche Reich“ im Mittelalter seinen Höhepunkt erreicht. Der moderne deutsche Nationalstaat war spät geschaffen worden, die sehr oft glorifizierende Betrachtung vor allem der hochmittelalterlichen Kaiserzeit sollte daher der geschichtlichen Sinnstiftung dienen. Dagegen galt das Spätmittelalter als Verfallszeit des Reiches, in der die Macht des Königtums schwand und die der Fürsten zunahm. Anachronistisch wurden moderne Vorstellungen auf das mittelalterliche römisch-deutsche Reich projiziert und die hochmittelalterliche Sinnstiftung auf die Spitze getrieben. Der spätmittelalterliche Niedergang des Kaisertums und die Uneinigkeit im Reich seien auf den Eigennutz der Fürsten zurückzuführen. Die Uneinigkeit habe bis zum Ende des Alten Reiches angedauert; erst durch die „zweite Reichsgründung“ 1871 habe das Reich wieder zu alter Stärke gefunden. Das Spätmittelalter wurde als Verfallszeit aufgefasst, über die selbst angesehene deutsche Mittelalterhistoriker im frühen 20. Jahrhundert kaum etwas Gutes zu berichten hatten. Die neuere Forschung ist zu einer sehr viel differenzierteren und auch positiveren Bewertung des Spätmittelalters gekommen. Dieses stellt heute einen Schwerpunkt der deutschen Mediävistik dar, wenngleich das öffentliche Interesse immer noch vor allem dem Hochmittelalter gilt. Peter Moraw, der großen Anteil an der Neubewertung des deutschen Spätmittelalters hat, prägte dennoch 1985 den Begriff der „kleinen Könige“ für die Zeit von Rudolf von Habsburg bis Heinrich VII. Damit sollte aber nur verdeutlicht werden, dass diese Herrscher im Vergleich zu anderen Monarchen oft über nur geringe Ressourcen verfügten und ihren Aufstieg nicht alten, mächtigen Dynastien verdankten. Leopold von Ranke urteilte am Ende des 19. Jahrhunderts: „Heinrich VII war kein großer Mann, aber gut, standhaft, barmherzig, voll echter und glänzender Ideen.“ Wenngleich Heinrich VII. auch in der älteren Forschung positiv gewürdigt wurde, so z. B. von Robert Davidsohn in dessen monumentaler Geschichte von Florenz, überwog doch lange Zeit die Einschätzung Heinrichs als naiver Träumer, der anachronistischen Ideen wie dem universalen Kaisertum nachgejagt und die politische Realität nicht genügend beachtet habe. Während Friedrich Schneider den Kaiser in seiner bis heute nicht ersetzten Biographie ahistorisch zu einem „Vertreter höheren Menschentums“ stilisierte, charakterisierte ihn William Bowsky in seiner grundlegenden Darstellung des Italienzugs als eher blauäugigen Schwärmer. Bei der Beurteilung seiner Universalpolitik wurde oft ein angebliches Auseinanderklaffen von Anspruch und Wirklichkeit beklagt. Vor allem warf man ihm Fehler bei der Einschätzung der italienischen Verhältnisse vor. Diese Wertungen werden in der neueren Forschung in Frage gestellt. Bereits Heinz Thomas und Hartmut Boockmann hatten sich in ihren Überblicksdarstellungen zur Geschichte des deutschen Spätmittelalters recht vorteilhaft über Heinrichs Politik geäußert und seine Realpolitik betont. In neuerer Zeit haben Kurt-Ulrich Jäschke und Peter Thorau, die die grundlegende Neubearbeitung der betreffenden Regesta Imperii begonnen hatten (seit 2016 ist dafür Michel Margue zuständig), auf die Bedeutung der Politik Heinrichs VII. hingewiesen. Sie kommen zu einer wesentlich ausgewogeneren und recht positiven Gesamtbeurteilung. Nach dieser Einschätzung ist der Romzug nur durch den unerwartet frühen Tod Heinrichs gescheitert. Ob man allgemein von einem „italienischen Fiasko“ sprechen und dem Kaiser zudem irreale politische Ziele unterstellen kann, ist angesichts der durchaus erzielten Erfolge fraglich; aussichtslos war das Italienunternehmen keineswegs. Das wissenschaftliche Interesse an Heinrich VII. ist in den vergangenen Jahren stark gestiegen. 2006 erschien nach jahrelanger Verzögerung die erste Lieferung der von Kurt-Ulrich Jäschke und Peter Thorau vollständig neu bearbeiteten Regesten Heinrichs. Sie werden zukünftig die Grundlage jeder Beschäftigung mit Heinrichs Regierungszeit darstellen, da mit ihrer Erstellung die Auswertung bislang unerschlossenen Archivmaterials verbunden ist, das ausführlich berücksichtigt und kommentiert wird. Dies betrifft vor allem Material aus italienischen Archiven, zumal das kaiserliche Archiv in Italien verblieb und anderes Material bislang nicht systematisch registriert und bearbeitet wurde. Die sorgfältige Darstellung Malte Heidemanns untersucht die wichtigsten Dokumente und den primär diplomatischen Schriftverkehr Heinrichs sowie die politischen Traktate seiner Zeit, blendet jedoch die historiographischen Quellen fast vollständig aus. Der von Ellen Widder 2008 herausgegebene Sammelband bietet Einblicke in neuere Detailforschungen zu Heinrich. Des Weiteren beschäftigten sich zwei wissenschaftliche Tagungen (2008 in Luxemburg und 2012 in Rom) mit dem Kaiser. Beide Tagungen waren auf Jubiläen bezogen. In der Konferenz in Luxemburg stand zum 700. Jahrestag der Wahl Heinrichs VII. das Thema Governance im 14. Jahrhundert im Mittelpunkt, d. h. die Organisation politischer Herrschaft bzw. Regierungstätigkeit. Die Ergebnisse dieser Tagung liegen bereits in gedruckter Form vor. Die internationale Konferenz in Rom wurde zum 700. Jahrestag der Kaiserkrönung Heinrichs VII. veranstaltet. Sie stellte den Aufstieg und die Bedeutung der Luxemburger als Herrscherdynastie in den Blickpunkt. Diese Tagungsergebnisse wurden 2016 publiziert. Eine aktuelle fachwissenschaftliche Biographie des ersten Luxemburgers auf dem römisch-deutschen Königsthron fehlt bislang. Zusammenfassend lässt sich festhalten, dass Heinrichs erfolgreiche Hausmachtpolitik, seine ausgleichende Haltung in Deutschland und sein vehementes Beharren auf Reichsrechten und der traditionellen Reichsidee seine Intelligenz und Tatkraft erkennen lassen. Durch seinen frühen Tod ist seine Politik zwar gescheitert, doch war er keineswegs der naive Träumer, als der er in Teilen der älteren Forschung dargestellt wurde. Als Herrscher erwies sich der erste König aus dem Hause Luxemburg als gute Wahl, was etwa in einer aktuellen deutschen Handbuchdarstellung hervorgehoben wird. Quellen Zentrale Urkunden sind in den Constitutiones et acta publica imperatorum et regum von Jakob Schwalm gesammelt, doch ist das urkundliche Material sehr verstreut; wichtig ist vor allem Material in italienischen Archiven. Eine Auswahl wichtiger historiographischer Quellen liegt in einer älteren Übersetzung von Walter Friedensburg vor. Nützlich für einen Überblick über die erzählenden Quellen ist das Werk von Maria Elisabeth Franke. Eine einzigartige Quelle ist die Bilderchronik der Romfahrt. Sie ist auch kulturhistorisch bedeutsam; unter anderem werden neben Kämpfen die Herrschereinzüge, Krönungen, Feste, Strafmaßnahmen und Hofaktivitäten plastisch dargestellt. Wilhelm von Dönniges: Acta Henrici VII. 2 Bände, Berlin 1839 (Band 1, Band 2). Acta Aragonensia. Herausgegeben von Heinrich Finke. Band 1, Berlin 1908 [Digitalisat]. MGH Constitutiones et acta publica imperatorum et regum. Bearbeitet von Jakob Schwalm. Band 4 (2 Teilbände), Hannover 1906–1911 (und Nachdrucke; Teilband 1, Teilband 2). Das Leben Kaiser Heinrichs des Siebenten. Berichte der Zeitgenossen über ihn. 2 Bde. (= Geschichtschreiber der deutschen Vorzeit 79/80). Herausgegeben von Walter Friedensburg. Leipzig 1882/1883. (Band 1, Band 2 Scans der 2. Gesamtausgabe, beide Leipzig 1898). Michel Margue, Michel Pauly, Wolfgang Schmid (Hrsg.): Der Weg zur Kaiserkrone. Der Romzug Heinrichs VII. in der Darstellung Erzbischof Balduins von Trier (= Publications du CLUDEM. Band 24). Kliomedia, Trier 2009, ISBN 978-3-89890-129-1. (Edition der Bilderchronik mit Erläuterungen und begleitenden Fachaufsätzen.) Von zentraler Bedeutung sind die vollständig neu erstellten Regesta Imperii (hier in den Anmerkungen als Regest Imperii 6.4 abgekürzt), die sukzessiv seit 2006 erscheinen (Regesta Imperii Online). Sie präsentieren auch bislang nicht erschlossenes Material, das teilweise umfangreich kommentiert ist. Literatur Überblicksdarstellungen Jörg K. Hoensch: Die Luxemburger. Eine spätmittelalterliche Dynastie von gesamteuropäischer Bedeutung 1308–1437 (= Urban-Taschenbücher. Band 407). Kohlhammer, Stuttgart u. a. 2000, ISBN 3-17-015159-2, S. 25–50. Michael Menzel: Die Zeit der Entwürfe (1273–1347) (= Gebhardt Handbuch der Deutschen Geschichte. Band 7a). 10., völlig neu bearbeitete Auflage. Klett-Cotta, Stuttgart 2012, ISBN 978-3-608-60007-0, S. 138–153.(aktueller Überblick) Roland Pauler: Die deutschen Könige und Italien im 14. Jahrhundert. Von Heinrich VII. bis Karl IV. Wissenschaftliche Buchgesellschaft, Darmstadt 1997, ISBN 3-534-13148-7. Heinz Thomas: Deutsche Geschichte des Spätmittelalters. 1250–1500. Kohlhammer, Stuttgart u. a. 1983, ISBN 3-17-007908-5.(Gute Darstellung der politischen Geschichte des deutschen Spätmittelalters.) Biographien Friedrich Schneider: Kaiser Heinrich VII. 3 Hefte. Bredt, Greiz u. a. 1924–1928.(Nur mit Vorsicht zu lesen. Schneiders Werk gleicht einer Heldenverehrung des Kaisers und ist zudem auch sprachlich gewöhnungsbedürftig. Dennoch die bisher einzige ausführliche deutschsprachige Biographie.) Peter Thorau: Heinrich VII. In: Bernd Schneidmüller, Stefan Weinfurter (Hrsg.): Die deutschen Herrscher des Mittelalters. Historische Portraits von Heinrich I. bis Maximilian I. (919–1519). C. H. Beck, München 2003, ISBN 3-406-50958-4, S. 381–392. Spezialstudien William M. Bowsky: Henry VII in Italy. The Conflict of Empire and City-State, 1310–1313. University of Nebraska Press, Lincoln, Nebraska 1960.(Beste Darstellung des Romzugs, in der Wertung allerdings teils überholt.) Maria Elisabeth Franke: Kaiser Heinrich VII. im Spiegel der Historiographie. Eine faktenkritische und quellenkundliche Untersuchung ausgewählter Geschichtsschreiber der ersten Hälfte des 14. Jahrhunderts (= Forschungen zur Kaiser- und Papstgeschichte. Band 9). Böhlau, Köln u. a. 1992, ISBN 3-412-10392-6. (Wichtiger Überblick zu den erzählenden Quellen.) Malte Heidemann: Heinrich VII. (1308–1313). Kaiseridee im Spannungsfeld von staufischer Universalherrschaft und frühneuzeitlicher Partikularautonomie (= Studien zu den Luxemburgern und ihrer Zeit. Band 11). Fahlbusch, Warendorf 2008, ISBN 978-3-925522-24-6 (zugleich Dissertation, München 2006/07). Marie-Luise Heckmann: Stellvertreter, Mit- und Ersatzherrscher. Regenten, Generalstatthalter, Kurfürsten und Reichsvikare in Regnum und Imperium vom 13. bis zum frühen 15. Jahrhundert (= Studien zu den Luxemburgern und ihrer Zeit. Band 9/1). Fahlbusch, Warendorf 2002, ISBN 3-925522-21-2, S. 373–432. Michel Pauly (Hrsg.): Europäische Governance im Spätmittelalter. Heinrich VII. von Luxemburg und die großen Dynastien Europas = Gouvernance européenne au bas moyen âge. Henri VII de Luxembourg et l’Europe des grandes dynasties (= Publications de la Section Historique de l’Institut G.-D. de Luxembourg. Band 124 = Publications du CLUDEM. Band 27). Actes des 15es Journées Lotharingiennes, 14–17 octobre 2008, Université du Luxembourg. Linden, Luxemburg 2010, ISBN 978-2-919979-22-6. Sabine Penth, Peter Thorau (Hrsg.): Rom 1312. Die Kaiserkrönung Heinrichs VII. und die Folgen. Die Luxemburger als Herrscherdynastie von gesamteuropäischer Bedeutung (= Forschungen zur Kaiser- und Papstgeschichte des Mittelalters. Bd. 40). Böhlau, Köln u. a. 2016, ISBN 978-3-412-50140-2. Ellen Widder (Hrsg.): Vom luxemburgischen Grafen zum europäischen Herrscher. Neue Forschungen zu Heinrich VII. (= Publications du CLUDEM. Band 23) Unter Mitarbeit von Wolfgang Krauth. Centre Luxembourgeois de Documentation et d'Etudes Médiévales, Luxemburg 2008, ISBN 2-919979-19-1. Weblinks Eintrag in der Residenzen-Kommission Öffnung des Sarkophags Heinrichs VII. in Pisa Anmerkungen Kaiser (HRR) Graf (Luxemburg) Familienmitglied des Hauses Luxemburg Balduin von Luxemburg Herrscher (13. Jahrhundert) Herrscher (14. Jahrhundert) Geboren im 13. Jahrhundert Gestorben 1313 Mann
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Indium
Indium ist ein chemisches Element mit dem Symbol In und der Ordnungszahl 49. Im Periodensystem der Elemente steht es in der 5. Periode und ist das vierte Element der 3. Hauptgruppe, der 13. IUPAC-Gruppe, oder Borgruppe. Indium ist ein seltenes, silberweißes und weiches Schwermetall. Seine Häufigkeit in der Erdkruste ist vergleichbar mit der von Silber. Indium ist für den menschlichen Körper nicht essentiell, genauso wenig sind toxische Effekte bekannt. Das Metall wird heute zum größten Teil zu Indiumzinnoxid verarbeitet, das als transparenter Leiter für Flachbildschirme und Touchscreens eingesetzt wird. Seit der Jahrtausendwende hat die damit verbundene gestiegene Nachfrage zu einem deutlichen Anstieg der Indiumpreise und zu Diskussionen über die Reichweite der Vorkommen geführt. Geschichte Indium wurde 1863 von den deutschen Chemikern Ferdinand Reich und Theodor Richter an der Bergakademie Freiberg entdeckt. Sie untersuchten eine in der Umgebung gefundene Sphalerit-Probe nach Thallium. Dabei fanden sie im Absorptionsspektrum anstatt der erwarteten Thallium-Linien eine bisher unbekannte indigoblaue Spektrallinie und damit ein bisher unbekanntes Element. Nach dieser erhielt das neue Element später seinen Namen. Kurze Zeit später konnten sie zunächst Indiumchlorid und -oxid, durch Reduktion von Indiumoxid mit Wasserstoff auch das Metall darstellen. Eine größere Menge Indium wurde erstmals auf der Weltausstellung 1867 in Paris gezeigt. Nach einer ersten Anwendung ab 1933 als Legierungsbestandteil in Zahngold begann der umfangreiche Einsatz von Indium mit dem Zweiten Weltkrieg. Die Vereinigten Staaten setzten es als Beschichtung in hoch beanspruchten Lagern von Flugzeugen ein. Nach dem Zweiten Weltkrieg wurde Indium vor allem in der Elektronikindustrie, als Lötmaterial und in niedrig schmelzenden Legierungen eingesetzt. Auch die Verwendung in Kontrollstäben von Kernreaktoren wurde mit der zunehmenden Verwendung der Kernenergie wichtig. Dies führte bis 1980 zu einem ersten starken Ansteigen des Indiumpreises. Nach dem Reaktorunfall von Three Mile Island gingen jedoch sowohl Nachfrage als auch Preis deutlich zurück. Ab 1987 wurden zwei neue Indiumverbindungen, der Halbleiter Indiumphosphid (InP) und das elektrisch leitende und in dünnen Schichten durchsichtige Indiumzinnoxid (ITO) entwickelt. Besonders Indiumzinnoxid wurde mit der Entwicklung von Flüssigkristallbildschirmen technisch interessant. Durch den hohen Bedarf wird seit 1992 der größte Teil des Indiums zu Indiumzinnoxid weiterverarbeitet. Vorkommen Indium ist ein seltenes Element, sein Anteil an der kontinentalen Erdkruste beträgt nur 0,05 ppm. Es ist damit von ähnlicher Häufigkeit wie Silber und Quecksilber. In gediegener, das heißt elementarer Form konnte Indium bisher (Stand 2014) nur sehr selten entdeckt werden. Als Typlokalität gilt dabei eine Tantalerz-Lagerstätte bei Olowjannaja in der russischen Region Transbaikalien. Daneben fand man gediegenes Indium unter anderem noch im Perzhanskoe-Erzfeld in der ukrainischen Oblast Schytomyr und im Tschatkalgebirge in der usbekischen Provinz Taschkent sowie in Gesteinsproben vom Mond. Auch an Mineralen, die Indium enthalten, sind nur wenige bekannt (aktuell 13 anerkannte Minerale, Stand 2014). Dies sind vor allem sulfidische Minerale wie Indit FeIn2S4, Laforêtit AgInS2 und Roquesit CuInS2 sowie die zu den Elementmineralen zählenden, natürlichen Legierungen Damiaoit PtIn2 und Yixunit Pt3In. Diese sind jedoch selten und spielen für die Gewinnung von Indium keine Rolle. Die größten Vorkommen von Indium liegen in Zinkerzen, insbesondere Sphalerit. Die theoretischen Reserven werden auf 16.000 Tonnen geschätzt, wirtschaftlich abbaubar sind davon etwa 11.000 Tonnen. Die größten Vorkommen liegen in Kanada, China und Peru. Indiumhaltige Erze werden aber auch in Australien, Bolivien, Brasilien, Japan, Russland, Südafrika, den USA, Afghanistan und einigen europäischen Ländern gefunden. In Deutschland liegen Vorkommen im Erzgebirge (Freiberg, Marienberg, Geyer) und am Rammelsberg im Harz. Gewinnung und Darstellung Indium wird fast ausschließlich als Nebenprodukt bei der Produktion von Zink oder Blei gewonnen. Eine wirtschaftliche Gewinnung ist möglich, wenn sich an bestimmten Stellen des Produktionsprozesses Indium anreichert. Dies sind etwa Flugstäube, die während des Röstens von Zinksulfid entstehen, und Rückstände, die bei der Elektrolyse während des nassen Verfahrens der Zinkherstellung zurückbleiben. Diese werden mit Schwefelsäure oder Salzsäure umgesetzt und so in Lösung gebracht. Da die Konzentration an Indium in der Säure zu gering ist, muss sie angereichert werden. Dies geschieht etwa durch Extraktion mit Tributylphosphat oder Fällung als Indiumphosphat. Die eigentliche Indiumgewinnung erfolgt elektrolytisch. Dazu wird eine Lösung von Indium(III)-chlorid in Salzsäure verwendet. Dieses wird mit Hilfe von Quecksilberelektroden zu elementarem Indium umgesetzt. Bei der Elektrolyse ist darauf zu achten, dass die Lösung kein Thallium mehr enthält, da die Standardpotentiale der beiden Elemente sehr ähnlich sind. Durch geeignete Verfahren wie Zonenschmelzverfahren oder mehrmalige Elektrolyse von Indium(I)-chlorid-Salzschmelzen kann das Rohprodukt weiter gereinigt und so über 99,99 % reines Indium gewonnen werden. Produktion Die Primärproduktion (Raffinerieproduktion) von Indium lag im Jahr 2006 zwischen 500 und 580 Tonnen. Auf Grund der geringen natürlichen Vorräte von 11.000 Tonnen bei gleichzeitig hoher Nachfrage zählt Indium zu den knappsten Rohstoffen auf der Erde. Im Jahr 2008 wuchsen insbesondere für China die Angaben zu den natürlichen Indium-Vorräten von 280 auf 8.000 Tonnen, was die Reichweite von vormals 6 auf 19 Jahre verlängerte. Die Sekundärproduktion, also das Recycling, übertrifft die Primärproduktion und lag im Jahr 2008 bei 800 Tonnen. Die Indiumproduktion in China findet erst seit kurzer Zeit verstärkt statt. Im Jahr 1994 lag die produzierte Menge noch bei 10 Tonnen. Seitdem vergrößerte sich der Anteil Chinas an der Weltproduktion auf 60 % im Jahr 2005 und betrug im Jahr 2020 57 %. Als zweitgrößter Produzent mit ca. 21 % Anteil etablierte sich mittlerweile die Republik Südkorea. Die Produktion in anderen Ländern wie Japan, Kanada oder Frankreich konnte nur in geringem Umfang gesteigert werden oder verringerte sich durch Erschöpfung der Lagerstätten. So wurde 2006 die japanische Toyoha-Mine geschlossen und damit die dortige Produktion deutlich verringert. Da die Nachfrage nach Indium stärker als die Produktion gestiegen ist, ergab sich ein starker Anstieg des Indiumpreises von 97 Dollar 2002 auf 827 Dollar pro Kilogramm im Jahr 2005. Da aber mittlerweile größere Mengen aus vermehrtem Recycling verfügbar wurden, sank der Preis in Folge wieder deutlich ab und pendelte 2021 um durchschnittlich 210 $ pro Kilogramm. Das Recycling von Indium erfolgt vor allen durch Wiederverwertung von Rückständen aus dem Sputtern. Recycling von Indium spielt vor allem in Japan und Südkorea eine starke Rolle. In der industriellen Dünnschichttechnologie ist die Wiederverwertung indiumhaltiger Sputtertargets auf Grund ihrer stückigen Natur und dem geringen Demontageaufwand bei hoher Materialwertigkeit gängige betriebliche Praxis. Im Gegensatz zu Wänden und Einbauten der Sputterkammer sowie etwaiger Strukturierungsabfälle. Die Substitution von Indium in der transparent-leitenden Schicht (TCO) mittels Zinkoxid insbesondere bei Kupfer-Indium-Gallium-Diselenid- (CIGS), aber auch bei a-Si- bzw. c-Si-Solarzellen ist ebenso wie die Nutzung von Sekundärmaterial für den Einsatz in Indiumtargets geringer Reinheit aktuelles Thema der öffentlich geförderten Forschung der funktionalen und ressourcen-ökonomischen Materialwissenschaft. Indium kann zwar in den meisten Anwendungen durch andere Stoffe ersetzt werden, dabei verschlechtern sich jedoch häufig die Eigenschaften des Produktes oder die Wirtschaftlichkeit der Produktion. So kann etwa Indiumphosphid durch Galliumarsenid ersetzt werden und auch für Indiumzinnoxid sind einige – wenn auch physikalisch nicht optimale – Ersatzstoffe möglich. Eigenschaften Physikalische Eigenschaften Indium ist ein silbrig-weißes Metall mit einem niedrigen Schmelzpunkt von 156,60 °C. Einen niedrigeren Schmelzpunkt besitzen unter den reinen (unlegierten) Metallen nur Quecksilber, Gallium und die meisten Alkalimetalle. Über einen sehr großen Bereich von fast 2000 K ist das Metall flüssig. Flüssiges Indium hinterlässt auf Glas dauerhaft einen dünnen Film (Benetzung). Das Metall besitzt eine hohe Duktilität und sehr geringe Härte (Mohs-Härte: 1,2). Es ist daher möglich, Indium wie Natrium mit dem Messer zu schneiden. Gleichzeitig hinterlässt es auf Papier einen sichtbaren Strich. Unterhalb einer Sprungtemperatur von 3,41 Kelvin ist Indium supraleitend. Eine Besonderheit des Indiums, die es mit dem Zinn gemeinsam hat, sind die charakteristischen Geräusche, die beim Verbiegen von Indium zu hören sind („Zinngeschrei“). Von Indium ist bei Normalbedingungen nur eine kristalline Modifikation bekannt, die im tetragonalen Kristallsystem in der und damit in einem tetragonal-innenzentrierten Gitter mit den Gitterparametern a = 325 pm und c = 495 pm sowie zwei Formeleinheiten in der Elementarzelle kristallisiert. Ein Indiumatom wird in der Kristallstruktur von zwölf weiteren Atomen umgeben, wobei vier aus den benachbarten Elementarzellen stammen und einen geringeren Abstand (325 pm; rote Bindungen) als die acht auf den Ecken der Elementarzelle befindlichen Atome aufweisen (337 pm; grüne Bindungen). Als Koordinationspolyeder ergibt sich durch die Koordinationszahl 4 + 8 = 12 ein verzerrtes Kuboktaeder. Die Kristallstruktur kann daher als eine tetragonal verzerrte, kubisch-dichteste Kugelpackung beschrieben werden. In Hochdruckexperimenten wurde eine weitere Modifikation entdeckt, die oberhalb von 45 GPa stabil ist und im orthorhombischen Kristallsystem in der Raumgruppe  kristallisiert. Chemische Eigenschaften Die chemischen Eigenschaften des Indiums ähneln denen der Gruppennachbarn Gallium und Thallium. So ist Indium wie die beiden anderen Elemente ein unedles Element, das bei hohen Temperaturen mit vielen Nichtmetallen reagieren kann. An der Luft ist es bei Raumtemperatur stabil, da sich wie bei Aluminium eine dichte Oxidschicht bildet, die das Material durch Passivierung vor weiterer Oxidation schützt. Erst bei hohen Temperaturen findet die Reaktion zu Indium(III)-oxid statt. Während Indium von Mineralsäuren wie Salpetersäure oder Schwefelsäure angegriffen wird, ist es nicht löslich in heißem Wasser, Basen und den meisten organischen Säuren. Auch Salzwasser greift Indium nicht an. Indium ist bei Raumtemperatur das in Quecksilber am besten lösliche Metall. Isotope Von Indium sind 38 verschiedene Isotope und weitere 45 Kernisomere von 97In bis 135In bekannt. In der Natur kommen davon nur zwei Isotope vor, 113In (64 Neutronen) mit 4,29 Prozent und 115In (66 Neutronen) mit 95,71 Prozent Anteil an der natürlichen Isotopenverteilung. Das häufige Isotop 115In ist schwach radioaktiv, es ist ein Betastrahler mit einer Halbwertszeit von 4,41 · 1014 Jahren. Somit hat ein Kilogramm Indium eine Aktivität von 250 Becquerel. Beide natürlichen Isotope können mit Hilfe der NMR-Spektroskopie nachgewiesen werden. Die stabilsten künstlichen Isotope 111In und 114mIn haben Halbwertszeiten von 2,8 bzw. 50 Tagen, 113mIn nur 99 Minuten. 111In und 113mIn werden in der medizinischen Diagnostik für bildgebende Verfahren (Szintigrafie und SPECT) verwendet. Verwendung Metall Indium ist vielseitig verwendbar, sein Einsatz ist jedoch durch die Seltenheit und den hohen Preis beschränkt. Der größte Teil des produzierten Indiums wird nicht als Metall eingesetzt, sondern zu einer Reihe von Verbindungen weiterverarbeitet. Allein für die Produktion von Indiumzinnoxid wurden im Jahr 2000 65 % der Gesamtproduktion an Indium verwendet. Auch andere Verbindungen, wie Indiumphosphid und Indiumarsenid werden aus dem produzierten Indium gewonnen. Genaueres über die Verwendung von Indiumverbindungen findet sich im Abschnitt Verbindungen. Metallische Werkstücke können durch galvanisch abgeschiedene Indiumüberzüge geschützt werden. So beschichtete Werkstoffe etwa aus Stahl, Blei oder Cadmium sind danach beständiger gegen Korrosion durch organische Säuren oder Salzlösungen und vor allem Abrieb. Indiumschutzschichten wurden früher oft für Gleitlager in Automobilen oder Flugzeugen verwendet. Seit dem deutlichen Anstieg des Indiumpreises ist dies jedoch nicht mehr wirtschaftlich. Mit Indium beschichtete Flächen besitzen einen hohen und gleichmäßigen Reflexionsgrad über alle Farben hinweg und können daher als Spiegel verwendet werden. Der Schmelzpunkt von Indium liegt relativ niedrig und ist sehr genau bestimmbar. Aus diesem Grund ist er einer der Fixpunkte bei der Aufstellung der Temperaturskala. Diese Eigenschaft wird auch für die Kalibrierung in der dynamischen Differenzkalorimetrie (DSC) genutzt. Wegen des hohen Einfangquerschnittes sowohl für langsame als auch für schnelle Neutronen ist Indium ein geeignetes Material für Steuerstäbe in Kernreaktoren. Auch als Neutronendetektoren können Indiumfolien verwendet werden. Indium ist gasdicht und auch bei tiefen Temperaturen leicht zu verformen und wird daher in sogenannten Indiumdichtungen in Kryostaten eingesetzt. Auch als Lot für viele Materialien spielt Indium auf Grund einiger spezieller Eigenschaften eine Rolle. So verformt es sich beim Abkühlen nur in geringem Maß. Dies ist vor allem beim Löten von Halbleitern für Transistoren wichtig. Ebenso spielt eine Rolle, dass Indium in der Lage ist, auch nichtmetallische Stoffe wie Glas und Keramik zu verlöten. Mit „Indiumpillen“ wurden Germaniumplättchen beiderseits anlegiert, um erste Transistoren herzustellen. Legierungen Indium kann mit vielen Metallen legiert werden. Viele dieser Legierungen, vor allem mit den Metallen Bismut, Zinn, Cadmium und Blei, besitzen einen niedrigen Schmelzpunkt von 50 bis 100 °C. Dadurch ergeben sich Anwendungsmöglichkeiten beispielsweise in Sprinkleranlagen, Thermostaten und Sicherungen. Da das ebenfalls verwendbare Blei giftig ist, dient Indium als ungefährlicher Ersatzstoff. Der Zweck dieser Legierungen liegt darin, dass sie bei zu hohen Umgebungstemperaturen, die durch Feuer oder hohe Stromstärken verursacht werden, schmelzen. Durch das Schmelzen wird dann der Stromkreis unterbrochen oder die Sprinkleranlage ausgelöst. Indium-Gallium-Legierungen besitzen häufig noch niedrigere Schmelzpunkte und sind in Hochtemperaturthermometern enthalten. Eine spezielle Gallium-Indium-Zinn-Legierung ist Galinstan. Diese ist bei Raumtemperatur flüssig und dient als ungefährlicher Ersatzstoff für Quecksilber oder Natrium-Kalium-Legierungen. Es gibt noch einige weitere indiumhaltige Legierungen, die in unterschiedlichen Gebieten eingesetzt werden. In klinischen Studien wurden Quecksilberlegierungen mit Kupfer und 5 bzw. 10 % Indium als Amalgamfüllung erprobt. In der Speicherschicht einer CD-RW ist unter anderem Indium enthalten. Investment Seit einigen Jahren gibt es Indiumbarren, die von Kapitalanlegern als risikoreiche Beimischung in ihr Metall-Portfolio aufgenommen werden können. Dabei gibt es nicht nur einige wenige Anbieter in Deutschland, sondern der Markt an sich ist relativ illiquide und eine Handelbarkeit wie bei Gold oder Silber ist in diesem Umfang bei Indium nicht gegeben. Nachweis Ein möglicher chemischer Nachweis ist das Ausfällen von Indiumionen mit Hilfe von 8-Hydroxychinolin aus essigsaurer Lösung. Normalerweise wird Indium nicht auf chemische Weise nachgewiesen, sondern über geeignete spektroskopische Verfahren. Leicht ist Indium über die charakteristischen Spektrallinien bei 451,14 nm und 410,18 nm nachzuweisen. Da diese im blauen Spektralbereich liegen, ergibt sich die typische blaue Flammenfärbung. Für eine genauere quantitative Bestimmung bieten sich die Röntgenfluoreszenzanalyse und die Massenspektrometrie als Untersuchungsmethode an. Toxizität und Sicherheit Indium und seine anorganischen Verbindungen wurden in der MAK- und BAT-Werte-Liste 2023 der DFG erstmalig als K2-Stoff (Verdacht auf kanzerogene Wirkung beim Menschen) und H (Hautresorption) eingestuft. Indiumionen besitzen im Tierversuch mit Ratten und Kaninchen embryotoxische und teratogene Effekte. Bei einer Einmalgabe von 0,4 mg · kg−1 InCl3 an trächtigen Ratten konnten Missbildungen wie beispielsweise Gaumenspalten und Oligodaktylie beobachtet werden. Diese Erscheinungen waren gehäuft festzustellen, wenn Indiumtrichlorid am 10. Schwangerschaftstag appliziert wurde. Bei Mäusen waren dagegen keine Missbildungen zu beobachten. Bei Indiumnitrat wurde eine Toxizität für Wasserorganismen (aquatische Toxizität) festgestellt. Kompaktes Indiummetall ist nicht brennbar. Im feinverteilten Zustand als Pulver oder Staub ist es dagegen wie viele Metalle leichtentzündlich und brennbar. Brennendes Indium darf wegen der Explosionsgefahr durch entstehenden Wasserstoff nicht mit Wasser gelöscht werden, sondern muss mit Metallbrandlöschern (Klasse D) gelöscht werden. Verbindungen Indium bildet eine Reihe von Verbindungen. In ihnen hat das Metall meist die Oxidationsstufe +III. Die Stufe +I ist seltener und instabiler. Die Oxidationsstufe +II existiert nicht, Verbindungen, in denen formal zweiwertiges Indium vorkommt, sind in Wirklichkeit gemischte Verbindungen aus ein- und dreiwertigem Indium. Indiumoxide Indium(III)-oxid ist ein gelber, stabiler Halbleiter. Reines Indium(III)-oxid wird wenig verwendet, in der Technik wird der größte Teil zu Indiumzinnoxid weiterverarbeitet. Es handelt sich hierbei um Indium(III)-oxid, das mit einer geringen Menge Zinn(IV)-oxid dotiert ist. Dadurch wird die Verbindung zu einem transparenten und leitfähigem Oxid (TCO-Material). Diese Kombination von Eigenschaften, die nur wenige weitere Materialien besitzen, bedingt eine breite Anwendung. Insbesondere als Stromleiter in Flüssigkristallbildschirmen (LCD), organischen Leuchtdioden (OLED), Touchscreens und Solarzellen wird Indiumzinnoxid verwendet. In weiteren Anwendungen wie beheizbaren Autoscheiben und Solarzellen konnte das teure Indiumzinnoxid durch preiswerteres aluminiumdotiertes Zinkoxid (AZO) ersetzt werden. YInMn-Blau ist ein Mischoxid aus Yttrium-, Indium- und Manganoxiden, das ein sehr reines und brillantes Blau zeigt und erst 2009 von Mas Subramanian an der Oregon State University entdeckt wurde, als er die magnetischen und elektrischen Eigenschaften von schwarzem Mangan(III)-oxid erforschen wollte. Verbindungshalbleiter Viele Indiumverbindungen sind von großer Bedeutung für die Halbleitertechnik. Dies betrifft insbesondere Verbindungen mit Elementen der 5. und 6. Hauptgruppe (15. und 16. IUPAC-Gruppe), wie Phosphor, Arsen oder Schwefel. Diejenigen mit Elementen der 5. Hauptgruppe werden zu den III-V-Verbindungshalbleitern gezählt, diejenigen mit Chalkogenen zu den III-VI-Verbindungshalbleitern. Die Zahl richtet sich jeweils nach der Anzahl an Valenzelektronen in den beiden Verbindungsbestandteilen. Indiumnitrid, Indiumphosphid, Indiumarsenid und Indiumantimonid haben unterschiedliche Anwendungen in verschiedenen Dioden, wie Leuchtdioden (LED), Fotodioden oder Laserdioden. Die jeweilige Anwendung hängt von der benötigten Bandlücke ab. Indium(III)-sulfid (In2S3) ist ein III-VI-Halbleiter mit einer Bandlücke von 2 eV, der anstelle von Cadmiumsulfid in Solarzellen verwendet wird. Einige dieser Verbindungen – vor allem Indiumphosphid und Indiumarsenid – spielen eine Rolle in der Nanotechnologie. Indiumphosphid-Nanodrähte besitzen eine stark anisotrope Photolumineszenz und können eventuell in hochempfindlichen Photodetektoren oder optischen Schaltern eingesetzt werden. Neben den einfachen Verbindungshalbleitern gibt es auch halbleitende Verbindungen, die mehr als ein Metall enthalten. Ein Beispiel ist Indiumgalliumarsenid (InxGa1−xAs) ein ternärer Halbleiter mit einer im Vergleich zu Galliumarsenid verringerten Bandlücke. Kupferindiumdiselenid (CuInSe2) besitzt einen hohen Absorptionsgrad für Licht und wird daher in Dünnschichtsolarzellen eingesetzt (CIGS-Solarzelle). Weitere Indiumverbindungen Mit den Halogenen Fluor, Chlor, Brom und Iod bildet Indium eine Reihe von Verbindungen. Sie sind Lewis-Säuren und bilden mit geeigneten Donoren Komplexe. Ein wichtiges Indiumhalogenid ist Indium(III)-chlorid. Dieses wird unter anderem als Katalysator für die Reduktion organischer Verbindungen eingesetzt. Es existieren auch organische Indiumverbindungen mit den allgemeinen Formeln InR3 und InR. Sie sind wie viele metallorganische Verbindungen empfindlich gegen Sauerstoff und Wasser. Indiumorganische Verbindungen werden als Dotierungsreagenz bei der Produktion von Halbleitern genutzt. Literatur Ulrich Schwarz-Schampera, Peter M. Herzig: Indium: Geology, mineralogy, and economics. Springer, Berlin/ New York 2002, ISBN 3-540-43135-7. Norman N. Greenwood, A. Earnshaw: Chemie der Elemente. 1. Auflage. Verlag Chemie, Weinheim 1988, ISBN 3-527-26169-9. Hans Breuer: dtv-Atlas Chemie 1. Allgemeine und anorganische Chemie. Dtv, 1981, ISBN 3-423-03217-0. Harry H. Binder: Lexikon der chemischen Elemente – das Periodensystem in Fakten, Zahlen und Daten. Hirzel, Stuttgart 1999, ISBN 3-7776-0736-3. Weblinks Indium – Statistics and Information (USGS) Einzelnachweise Anerkanntes Mineral Tetragonales Kristallsystem Elemente (Mineralklasse)
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https://de.wikipedia.org/wiki/Indien
Indien
Indien [] (Eigennamen unter anderem Bhārat Gaṇarājya und Republic of India) ist ein Staat in Südasien. Indien umfasst den größten Teil des indischen Subkontinents. Der Himalaya bildet die natürliche Nordgrenze Indiens, im Süden umschließt der Indische Ozean das Staatsgebiet. Indien grenzt an Pakistan, das chinesische Autonome Gebiet Tibet, Nepal, Bhutan, Myanmar und Bangladesch. Weitere Nachbarstaaten im Indischen Ozean sind Sri Lanka und die Malediven. Hinsichtlich seiner Landesfläche ist Indien das siebtgrößte Land der Erde. Mit etwa 1,426 Milliarden Einwohnern ist Indien seit April 2023 vor der Volksrepublik China der bevölkerungsreichste Staat der Erde und somit die bevölkerungsreichste Demokratie der Welt. Durch fortschreitende Modernisierung, Bildung, Wohlstand und Verstädterung sinkt die Geburtenrate seit Anfang der 1980er Jahre. Die Bundesrepublik Indien wird von 28 Bundesstaaten sowie acht bundesunmittelbaren Gebieten gebildet. Hauptstadt ist Neu-Delhi, Teil der Metropole Delhi. Die bevölkerungsreichste Stadt und zugleich das Wirtschafts- und Finanzzentrum ist Mumbai. Weitere Ballungsräume sind Kalkutta, Chennai, Bengaluru, Hyderabad, Ahmedabad und Pune. Das Gebiet Indiens ist mindestens seit der bronzezeitlichen Indus-Hochkultur zivilisiert. Seit seiner Unabhängigkeit vom Vereinigten Königreich 1947 und dem Britischen Weltreich ist es Mitglied der Commonwealth of Nations, zunächst als Kaiserreich mit dem britischen Monarchen als Kaiser von Indien und seit 1950 als demokratisch und säkular verfasste Republik. Das politische System Indiens basiert seither auf einer parlamentarischen Republik nach dem Vorbild des britischen Westminster-Systems. Die indische Gesellschaft wird trotz verfassungsmäßiger Religionsfreiheit vom religiösen hierarchischen Kastensystem bestimmt. Die mit Abstand größte Religionsgruppe sind die Hindus, gefolgt von Muslimen, Christen und den historisch aus Indien stammenden Sikhs, Buddhisten und Jaina. Das Entwicklungsprogramm der Vereinten Nationen zählt Indien zu den Ländern mit mittlerer menschlicher Entwicklung. Beim Ländervergleich des Index der menschlichen Entwicklung lag Indien im Jahr 2021 auf Rang 132 von 191 weltweit. Wirtschaftlich gilt Indien als Schwellenland. Es gehört zu den O5- und BRICS-Staaten und der Gruppe der zwanzig wichtigsten Industrie- und Schwellenländer (G20). Trotz seines niedrigen Pro-Kopf-Einkommens und -Vermögens, teilweise großer Armut, hoher Arbeitslosigkeit und ausgeprägter Einkommensungleichheit ist Indien aufgrund seiner großen Bevölkerung die dritt- bzw. sechstgrößte Wirtschaftsmacht der Welt (kaufkraftbereinigt bzw. nominal). Das Land war 2015 erstmals die am schnellsten wachsende Volkswirtschaft der G20-Gruppe, hat sich zu einem Zentrum für Informationstechnologie und -dienstleistungen entwickelt und verfügt über eine stetig wachsende Mittelschicht sowie eine der weltweit größten Softwareindustrien. Seit 2014 ist der hindu-nationalistische Politiker Narendra Modi Premierminister Indiens. Unter ihm hat sich der Zustand von Demokratie und Menschenrechten in Indien stetig verschlechtert. Geografie Landschaftsgliederung Indien ist mit 3.287.490 Quadratkilometern der siebtgrößte Staat der Erde. Er erstreckt sich in West-Ost-Richtung vom 68. bis zum 97. östlichen Längengrad über rund 3000 Kilometer. Von Nord nach Süd, zwischen dem 8. und dem 37. Grad nördlicher Breite, beträgt die Ausdehnung rund 3200 Kilometer. Indien grenzt an sechs Staaten: Pakistan (2912 Kilometer), China (Autonomes Gebiet Tibet; 3380 Kilometer), Nepal (1690 Kilometer), Bhutan (605 Kilometer), Myanmar (1463 Kilometer) und Bangladesch (4053 Kilometer). Insgesamt beträgt die Grenzlänge somit 14.103 Kilometer. Da der nördliche Teil des umstrittenen Kaschmir seit 1949 unter pakistanischer Kontrolle steht (Waffenstillstand nach dem Kaschmir-Konflikt), hat Indien keine gemeinsame Grenze mit Afghanistan mehr. Die Küste des Landes ist rund 7000 Kilometer lang. Die natürliche Grenze im Norden und Nordosten bildet der Himalaya, das höchste Gebirge der Welt, das im äußersten Nordwesten durch das Hochtal des Indus vom Karakorum und der diesem vorgelagerten Ladakh Range getrennt wird. Südlich an den Himalaya schließen sich die breiten, fruchtbaren Stromebenen der Flüsse Ganges und Brahmaputra an. Im Westen geht das Stromland des Ganges in die Wüste Thar über, die im Osten und Süden vom Aravalligebirge begrenzt wird. Südlich davon liegen die Sümpfe des Rann von Kachchh sowie die Halbinsel Kathiawar. Den Nordosten Indiens, einschließlich der Brahmaputra-Ebene, verbindet nur ein schmaler Korridor zwischen Bangladesch und Nepal bzw. Bhutan mit dem übrigen Land. Die Nordostregion wird durch das bis zu 3800 Meter hohe Patkai- oder Purvachalgebirge von Myanmar sowie die knapp 2000 Meter hohen Khasi-Berge von Bangladesch abgeschirmt. Das Hochland von Dekkan nimmt den größten Teil der keilförmig in den Indischen Ozean vorragenden indischen Halbinsel ein. Das Vindhya- und das Satpuragebirge schirmen den Dekkan von der Gangesebene im Norden ab. Im Westen wird er von den bis zu 2700 Meter hohen Westghats, im Osten von den flacheren Ostghats begrenzt. Beide Gebirgszüge treffen im Süden, wo die Halbinsel spitz zum Kap Komorin zuläuft, zusammen. Die Westghats fallen steil zur Konkan- und Malabarküste entlang des Arabischen Meeres ab. Die Ostghats gehen in die breiteren östlichen Küstenebenen am Golf von Bengalen über. Zu Indien gehören außerdem drei dem indischen Subkontinent vorgelagerte Inselgruppen. Rund 300 Kilometer westlich der Malabarküste liegen die Korallenatolle von Lakshadweep, das die Inselgruppen der Lakkadiven und Amindiven sowie die Insel Minicoy umfasst. Südöstlich der Halbinsel, zwischen 1000 und 1600 Kilometer vom indischen Festland entfernt, erstrecken sich die Andamanen und Nikobaren, die zugleich die östliche Grenze des Golfs von Bengalen markieren. Höchster Punkt Indiens ist der Berg Kangchendzönga mit Höhe. Er liegt im äußersten Westen Sikkims; über ihn verläuft die Grenze zu Nepal. Der höchste vollständig auf indischem Gebiet liegende Berg ist die Nanda Devi mit . Vor dem Beitritt des damaligen Königreichs Sikkim zur indischen Union im Jahr 1975 war dies auch der höchste Berg Indiens. Der tiefste Punkt ist die zwei Meter unter dem Meeresspiegel gelegene Kuttanad-Senke an der Malabarküste. Flüsse und Seen Alle größeren Flüsse Indiens entspringen in einer der drei Hauptwasserscheiden des Subkontinents: im Himalaya, in den zentralindischen Vindhya- und Satpura-Bergen oder in den Westghats. Indiens längster und bedeutendster Fluss ist der Ganges (Ganga), der im Himalaya entspringt. Seine längsten Nebenflüsse sind die Yamuna und der Gomti; der Chambal ist ein Zufluss der Yamuna. Der Brahmaputra, dessen Oberlauf seinerseits den Himalaya vom Transhimalaya trennt und der das Land im Nordosten durchfließt, vereinigt sich mit dem Ganges und bildet vor der Mündung in den Golf von Bengalen ein gewaltiges Delta. An diesem hat Indien im Westen Anteil; der Großteil des Gangesdeltas liegt auf dem Territorium des Nachbarstaates Bangladesch. Fast ein Drittel der Fläche Indiens gehört zum Einzugsgebiet von Ganges und Brahmaputra. Im äußersten Norden durchquert der Indus in Südost-Nordwest-Richtung das Unionsterritorium Ladakh. Das Hochland von Dekkan wird von mehreren großen Flüssen entwässert. Die Narmada und der Tapti münden ins Arabische Meer, während Godavari, Krishna, Mahanadi und Kaveri zum Golf von Bengalen fließen. Trotz seiner Größe hat Indien nur wenige große natürliche Seen. Zwecks Bewässerung und Stromerzeugung wurden im ganzen Land teils riesige Stauseen angelegt. Die größten sind der Hirakud-Stausee (746 Quadratkilometer) in Odisha, der Gandhi-Stausee (648 Quadratkilometer) in Madhya Pradesh und der Govind-Ballabh-Pant-Stausee (465 Quadratkilometer) an der Grenze zwischen Uttar Pradesh und Chhattisgarh. Geologie Die Theorie der Kontinentalverschiebung besagt, dass Indien bis gegen Ende des Jura zum Südkontinent Gondwana gehörte. In der Kreidezeit riss es von der Kontinentalscholle der Antarktis ab und driftete in erdgeschichtlich extrem kurzen 50 Millionen Jahren quer durch den gesamten Tethys-Ozean gegen den Süden der Eurasischen Platte. Das Aufeinandertreffen der beiden Erdteile erfolgte vor geschätzt etwa 43 bis 64 Millionen Jahren am Anfang des Paläogens. In der resultierenden gemeinsamen „Knautschzone“ dieser Krustenbewegungen wurden der Himalaya und benachbarte Gebirgssysteme aufgeschoben (Auffaltung der früheren Kontinentalränder) und das Hochland von Tibet angehoben. Obwohl einzelne Krustenteile sich inzwischen miteinander verschweißt haben, bewegt sich die Indische Platte bis heute nach Norden, so dass sich der Himalaya jährlich um einige Millimeter hebt – ebenso wie andere Faltengebirge der Erde, von denen er eines der jüngsten ist. Die ihm vorgelagerten Flussebenen entstanden durch Sedimentablagerungen im Pleistozän. Vielfältiger sind die Gesteinsformationen des Dekkan. Den Großteil nehmen proterozoische Formationen im Süden und Osten, der in der Kreidezeit entstandene vulkanische Dekkan-Trapp im Westen und Nordwesten sowie ungeformte Kratone im Nordosten und Norden ein, die zu den ältesten Teilen der Erdkruste gehören. Klima Mit Ausnahme der Bergregionen herrscht in Nord- und Zentralindien vornehmlich subtropisches Kontinentalklima, im Süden und in den Küstengebieten dagegen ein stärker maritim geprägtes tropisches Klima. So treten im Norden im Jahresverlauf teils erhebliche Temperaturschwankungen auf. In den nördlichen Tiefebenen herrschen im Dezember und Januar 10 bis 15 °C; in der heißesten Zeit zwischen April und Juni sind Höchsttemperaturen von 40 bis über 50 °C möglich. Im Süden ist es dagegen ganzjährig (relativ konstant) heiß. Die Niederschlagsmengen werden im ganzen Land maßgeblich vom Indischen Monsun beeinflusst. Der Südwest- oder Sommermonsun setzt in den meisten Landesteilen im Juni ein und bringt je nach Region bis September oder Oktober ergiebige Niederschläge. Dabei zieht die Monsundepression von Südosten nach Nordwesten, wodurch die Niederschlagsmengen in der Regel im Südosten des Landes am höchsten sind. Auch die sehr unterschiedliche Topographie hat einen enormen Einfluss auf Niederschlagsverteilung. So regnet sich die feuchtmaritime Luft an orographischen Hindernissen, zum Beispiel Gebirgen, in Form von Steigungsregen ab. Daher gehen die stärksten Regengüsse an der Westküste, in den Westghats, an den Hängen des Himalayas und in Nordostindien nieder. Der Himalaya, auf den der Monsun trifft, ist der Grund dafür, dass Indien die weltweit höchsten Regensummen erzielt. Der Ort Cherrapunji hält gleich mehrere weltweite Niederschlagsrekorde. Am trockensten ist es in der Thar, die sich im Nordwesten des Landes befindet und so am wenigsten vom Monsun beeinflusst wird. Die aus Zentralasien kommenden Nordost- oder Wintermonsunwinde zwischen Oktober und Juni bringen kaum Feuchtigkeit. Durch den starken Temperaturkontrast zwischen der kalten, trockenen Luft im Inneren des Kontinents (Tibetisches Hochplateau) zum im Vergleich warmen Süden, strömt diese kalte Luftmasse nach Süden und erwärmt sich beim Absinken vom Himalaya, sodass ein trockener, warmer Fallwind in Indien Einzug hält. Daher gehen in den meisten Gegenden 80 bis über 90 % der jährlichen Gesamtniederschlagsmenge während der Sommermonate nieder. Nur der Südosten erhält auch während des Nordostmonsuns Regen, da die Luftströmungen über dem Golf von Bengalen Feuchtigkeit aufnehmen. Vegetation Der Größe des Landes und den verschiedenen klimatischen Bedingungen in den einzelnen Landesteilen entsprechend weist Indien eine große Landschaftsvielfalt auf. Dabei reicht die Pflanzenwelt Indiens von Hochgebirgsvegetation im Himalaya bis zu tropischen Regenwäldern im Süden. Weite Teile der ursprünglichen Vegetationsdecke sind heute zerstört, stattdessen ist Indien überwiegend durch Kulturlandschaften geprägt. Nur noch etwa ein Fünftel des Landes ist bewaldet, wobei offizielle Angaben hierzu schwanken und auch degradierte Gebiete sowie offene Wälder mit einbeziehen. Für das Jahr 2015 wird eine Waldfläche von 701.700 km² angegeben: 21,3 % der Landesfläche (3.287.300 km²). 2001 betrugen die Werte noch 768.400 km² und 23,4 % – in 14 Jahren schrumpfte Indiens Waldfläche um 9,5 %. In den tieferen Lagen des Himalayas erstrecken sich noch ausgedehnte Wälder. Da die Niederschläge an den Hängen des Gebirges von Ost nach West abnehmen, finden sich im Osthimalaya immergrüne subtropische und gemäßigte Feucht- und Regenwälder, die nach Westen hin lichter und trockener werden. Laubwälder mit Eichen und Kastanien herrschen vor; charakteristisch für den Osthimalaya sind Rhododendren. In höheren Lagen dominieren Nadelbäume, insbesondere Zedern und Kiefern. Die steppen- und wüstenartigen Hochtäler in Ladakh und anderen Teilen des westlichen Innerhimalayas gehen in das trockene Hochland von Tibet über. Die Vegetationsgrenze liegt bei etwa 5000 Metern. Der schwer zugängliche Nordosten ist teils noch dicht bewaldet. Besonders hohe Niederschlagsmengen ermöglichen dort halbimmergrüne Feuchtwälder. Der weitaus größte Teil der Gangesebene, des Dekkans und der angrenzenden Randgebirge war früher von Monsunwäldern bedeckt; heute gibt es davon nur noch Reste, zumeist in Bergregionen. Die landwirtschaftlich intensiv genutzten Ebenen sind dagegen praktisch waldfrei. Monsunwälder werfen während der Trockenperioden Laub ab. Je nach Niederschlagsmenge und Länge der Trockenperiode unterscheidet man zwischen Feucht- und Trockenwäldern. Wälder, die zwischen 1500 und 2000 Millimeter Jahresniederschlag erhalten, werden in der Regel als laubabwerfende Feuchtwälder bezeichnet. Sie herrschen im nordöstlichen Dekkan, Odisha und Westbengalen sowie im Lee der Westghats vor. Bei Niederschlägen zwischen 1000 und 1500 Millimetern im Jahr spricht man von laubabwerfenden Trockenwäldern; diese dominieren in Indien. Wegen der dünneren Baumkronen haben Monsunwälder ein dichtes Unterholz. Die charakteristische Baumart des Nordens ist der Sal (Shorea robusta), im zentralen und westlichen Dekkanhochland ist es der Teakbaum (Tectona grandis) und den Süden der Halbinsel prägen Sandelholzbäume (Santalum album). Bambusarten sind weit verbreitet. In den trockeneren Teilen Indiens, wie Rajasthan, Gujarat, dem Westrand des Gangestieflandes oder dem zentralen Dekkan, wachsen die insbesondere medizinisch genutzten, endemischen Niembäume. Im ariden Klima haben sich offene Dornwälder ausgebildet, die in der Wüste Thar in Halbwüstenvegetation mit vereinzelten Dornbüschen übergehen. In den feuchten Westghats gibt es noch relativ große zusammenhängende Teile der ursprünglichen, immergrünen oder halbimmergrünen Feuchtwälder. Sie sind durch die für tropische Regenwälder typische Stockwerkgliederung geprägt. Einige der hoch wachsenden Baumarten des obersten Stockwerkes werfen jahreszeitbedingt ihr Laub ab, darunter wachsende Arten sind dagegen immergrün. Aufsitzerpflanzen wie Orchideen und Farne kommen in großer Vielfalt vor. Mangroven, salzwasserresistente Gezeitenwälder, sind nur an der Ostküste Indiens verbreitet. Die Sundarbans im Ganges-Brahmaputra-Delta weisen die dichtesten Mangrovenbestände des Landes auf. Weitere Gezeitenwälder befinden sich in den Mündungsdeltas von Mahanadi, Godavari und Krishna. Tierwelt Dank seiner Landschaftsvielfalt findet man in Indien eine äußerst artenreiche Tierwelt vor. Man schätzt, dass etwa 350 Säugetier-, 1200 Vogel-, 400 Reptilien- und 200 Amphibienarten dort heimisch sind. Viele Arten kommen allerdings nur noch in Rückzugsgebieten wie Wäldern, Sümpfen, Berg- und Hügelländern vor. In indischen Gewässern leben zudem mehr als 2500 Fischarten. Indiens größte Säugetierart ist der Indische Elefant, der neben dem Königstiger wohl auch am bekanntesten ist. Der Tiger war lange Zeit vom Aussterben bedroht, durch Einrichtung von Tigerschutzgebieten konnten sich die Bestände aber wieder erholen. Dennoch gibt es nur wenige tausend Exemplare in freier Wildbahn. Außer dem Tiger leben noch andere Großkatzen in Indien, darunter Leoparden und Löwen. Letztere sind ausschließlich im Gir-Nationalpark in Gujarat, dem letzten Rückzugsgebiet des Asiatischen Löwen, anzutreffen. Der seltene Schneeleopard bewohnt die hohen Gebirgsregionen des Himalaya. Die bekannteste und weitverbreitetste der kleineren Raubtierarten ist der Mungo. Das Panzernashorn lebt fast nur noch in den Sumpf- und Dschungelgebieten Assams, vor allem im Kaziranga-Nationalpark. Weit verbreitet sind dagegen Paarhufer. Dazu gehören unter anderem Wildschweine, Muntjaks, Sambars, Axishirsche, Schweinshirsche, Barasinghas, Wasserbüffel, Gaur sowie mehrere Antilopenarten. Die Pferdeartigen sind durch den Kiang im Himalaya und den Khur, eine Unterart des Asiatischen Esels, in der Halbwüste von Gujarat vertreten. Auch Affen sind in Indien häufig anzutreffen. Rhesusaffen gelten den Hindus als heilig, dürfen nicht belästigt werden und haben sich daher sogar in Städten ausgebreitet. Im Süden des Landes wird der vom etwas kleineren Indischen Hutaffen ersetzt. Die in ganz Indien verbreiteten Hanuman-Languren werden ebenfalls als heilig erachtet. Daneben gibt es weitere Langurenarten sowie Makaken. In den Trockengebieten des Nordwestens leben noch einige indische Halbesel, die sich vor allem im Dhrangadhra-Wildreservat im Kleinen Rann von Kachchh aufhalten. Im feuchten Osten des Landes leben dagegen Arten des tropischen Regenwaldes, wie Weißbrauengibbons und Nebelparder. Weiterhin erwähnenswerte Säugetiere sind die Rothunde, Streifenhyänen, Bengalfüchse, die hauptsächlich Graslandschaften bewohnen, und die dichte Wälder bevorzugenden Lippenbären. Im Ganges, Brahmaputra und deren Nebenflüssen findet sich gelegentlich noch der Gangesdelfin. Indiens Vogelwelt ist mit über 1200 einheimischen Arten – mehr als in ganz Europa – überaus vielfältig. Dazu kommen im Winter unzählige Zugvögel aus Nordasien. Der Pfau gilt als Nationalvogel und ist weit verbreitet. Häufig sind auch Tauben, Krähen, Webervögel, Spechte, Pittas, Drongos, Sittiche, Nektarvögel und Pirole. In Feuchtgebieten leben Störche, Reiher, Kraniche, Ibisse und Eisvögel. Unter den Greifvögeln waren Schmutz- und Bengalgeier am verbreitetsten. Während letzterer in den 1980er Jahren noch allgegenwärtig war, ist er jedoch zusammen mit zwei nah verwandten Arten unabsichtlich durch ein Veterinärmedikament fast vollständig ausgerottet worden. Etwa die Hälfte aller in Indien heimischen Reptilienarten sind Schlangen wie die Brillenschlange, die Königskobra und der Tigerpython. In Feuchtgebieten findet man aber auch Sumpfkrokodile. Sehr selten ist der scheue, fischfressende Gangesgavial. Eine Besonderheit ist das Vorkommen von Chamäleons im südlichen Indien und Sri Lanka, die ansonsten in Südasien fehlen. Naturkatastrophen Indien wird immer wieder von verschiedenen Naturkatastrophen heimgesucht, besonders Überschwemmungen, die während des Sommermonsuns durch extreme Niederschlagsmengen im ganzen Land auftreten können. Während der trockenen Jahreszeit oder bei Ausbleiben der Monsunregenfälle kommt es dagegen häufig zu Dürren. Auch Zyklone und dadurch bedingte Flutwellen, vor allem an der Ostküste, kosten oft viele Menschenleben und richten verheerende Schäden an. In einigen Gebieten besteht auch erhöhte Erdbebengefahr, namentlich im Himalaya, den Nordoststaaten, Westgujarat und der Region um Mumbai. Am 26. Dezember 2004 verursachte ein Seebeben im Indischen Ozean einen verheerenden Tsunami, der an der Ostküste und auf den Andamanen und Nikobaren 7793 Menschenleben forderte und schwerste Verwüstungen anrichtete. Natur und Umweltschutz Mit einer sehr großen Artenvielfalt und Biodiversität (insbesondere in einem schmalen Streifen an der feuchttropischen Südwestküste), ausgesprochen vielen endemischen Arten, Gattungen und Familien von Pflanzen und Tieren sowie vielfältigen Ökosystemen wird Indien zu den Megadiversitätsländern dieser Erde gerechnet. Zudem werden aufgrund der großen Gefährdungslage die Regenwälder der Westghats als Biodiversitäts-Hotspot geführt. Indien verfügt über eine umfangreiche Umweltschutzgesetzgebung, die aber in vielen Fällen nur mangelhaft umgesetzt wird. Knapp 5 % der Landesfläche sind als Naturschutzgebiete ausgewiesen, deren Zahl sich auf fast 600 beläuft, darunter 92 Nationalparks. Wasserknappheit ist eines der größten Umweltprobleme Indiens. Staudämme und künstliche Bewässerungssysteme sollen die Wasserversorgung in trockenen Gebieten sicherstellen. Übermäßige Bewässerung ist einer der Hauptgründe für die vielerorts sinkenden Grundwasserspiegel; zudem sind schätzungsweise 60 % der landwirtschaftlichen Nutzflächen von Bodenerosion, Versalzung oder Vernässung betroffen. Darüber hinaus wird abgeholzt, übermäßig bewässert und gedüngt. Die Wasser- und Sanitärversorgung in Indien hat sich seit den 1980er Jahren drastisch verbessert. Während nahezu die gesamte Bevölkerung Indiens heute Zugang zu Toiletten hat, haben dennoch viele Menschen keinen Zugang zu sauberem Wasser und Abwasserinfrastruktur. Verschiedene Regierungsprogramme auf nationaler, bundesstaatlicher und kommunaler Ebene haben zu einer raschen Verbesserung der Sanitärversorgung und der Trinkwasserversorgung geführt. Einige dieser Programme laufen noch. Verschmutztes und verseuchtes Wasser trägt wesentlich zur Entstehung und Verbreitung von Infektionskrankheiten bei. NGOs wie die Water Literacy Foundation und staatliche Stellen wie das Ministry of Drinking Water and Sanitation bemühen sich um eine Verbesserung der Situation. 1980 wurde der Abdeckungsgrad der ländlichen Abwasserentsorgung auf 1 % geschätzt, dieser erreichte 2018 95 %. Der Anteil der Inder mit Zugang zu verbesserten Wasserquellen ist von 72 % im Jahr 1990 auf 88 % im Jahr 2008 erheblich gestiegen. Gleichzeitig werden lokale Regierungsinstitutionen, die mit der Bereitstellung von Trinkwasser und sanitären Einrichtungen beauftragt sind, als schwach angesehen und verfügen nicht über die finanziellen Mittel, um ihre Aufgaben zu erfüllen. Darüber hinaus verfügen nur zwei indische Städte über eine kontinuierliche Wasserversorgung und nach einer Schätzung aus dem Jahr 2018 haben noch immer etwa 8 % der Inder keinen Zugang zu verbesserten sanitären Einrichtungen. Die Luftverschmutzung ist insbesondere in den indischen Metropolen sehr hoch. Fabrikanlagen, Kleinindustrie, Kraftwerke (darunter zahlreiche Kohlekraftwerke), Verkehr und private Haushalte emittieren zahlreiche Luftschadstoffe, unter anderem große Mengen an Feinstaub. Nach einer Studie der Weltgesundheitsorganisation war Delhi im Jahr 2014 in Hinsicht auf Luftqualität die schmutzigste Stadt der Welt. Kalkutta war 1984 die erste Stadt, die ein U-Bahn-Netz in Betrieb nahm, 2002 folgte Delhi. Mumbai und Chennai haben ein vergleichsweise gut ausgebautes Zugnetz. LKWs, Busse, über 5.000 Diesellokomotiven, Autorikshas, private PKWs, Motorräder und Mopeds tragen zur Luftverschmutzung bei. Die Zahl der PKW pro 1000 Einwohner gilt als sehr gering. Die CO2-Emission hat in der Vergangenheit stark zugenommen; Ursachen waren unter anderem das Bevölkerungswachstum, die fortschreitende Industrialisierung und zunehmender Verkehr. Indien galt 2015 als das Land mit den drittgrößten Treibhausgas-Emissionen weltweit; es emittierte pro Kopf 1,6 Tonnen. Indien unterzeichnete am 2. Oktober 2016 das Übereinkommen von Paris. Die unzureichenden technischen Anlagen in Fabriken führen oft zu Beeinträchtigungen oder vermeidbaren Emissionen. In Bhopal traten 1984 in der Pestizid-Fabrik der amerikanischen Union Carbide (UCC) hochgiftige Gase aus (Katastrophe von Bhopal). Innerhalb von Tagen starben 7000 Menschen, 15.000 weitere starben an Spätfolgen, Tausende erlitten chronische Gesundheitsschäden. Schutzgebiete Indienweit gibt es im März 2019 insgesamt 868 Schutzgebiete in Natur- und Landschaftsschutz (PA: Protected Areas), mit einem Anteil von 5 % an Indiens geografischer Gesamtfläche von 3.287.000 Quadratkilometern (inklusive der von Indien verwalteten Teile von Kaschmir) – ein Zuwachs von 11.000 km² oder 0,35 % seit 2009: Landesname Der Name Indien ist vom Strom Indus abgeleitet. Dessen Name geht wiederum über Vermittlung des Altgriechischen (Indos) und Altpersischen (Hinduš) auf das Sanskrit-Wort mit der Bedeutung „Fluss“ zurück. Die europäischen Seefahrer bezeichneten ganz Süd- und Südostasien als Indien. Davon zeugen noch Begriffe wie Inselindien („Insulinde“) und der Staatsname Indonesien. Auch die Bezeichnung Ostindien war zur Unterscheidung von den als Westindische Inseln bezeichneten Inseln der Karibik gebräuchlich, die Christoph Kolumbus auf der Suche nach dem Seeweg nach Indien entdeckt hatte. In der Kolonialzeit reduzierte sich die Bezeichnung schrittweise bis auf die heutigen Gebiete von Indien, Pakistan und Bangladesch, um schließlich bei der indischen Staatsgründung seine heutige Bedeutung anzunehmen. Von der persischen Form Hind beziehungsweise Hindustan leiten sich auch die Bezeichnung Hindu und der Name der Sprache Hindi her. Der amtliche Name Indiens in den meisten Landessprachen (z. B. Hindi ) stammt von der Sanskrit-Bezeichnung ab, die „(Land) des Bharata“ bedeutet und auf einen mythischen Herrscher verweist. Geschichte Vorgeschichte und klassisches Zeitalter Die Industal-Zivilisation, größtenteils im heutigen Pakistan gelegen, war eine der frühen Hochkulturen der Welt, mit einer eigenen Schrift, der bisher nicht entzifferten Indus-Schrift. Um etwa 2500 v. Chr. existierten dort geplante Städte wie Harappa, mit einer Kanalisation, Seehäfen und Bädern, während angenommen wird, dass in Südindien noch weniger entwickelte Verhältnisse herrschten. Weiter östlich machen sich andere archäologische Komplexe bemerkbar wie die so genannte Kupfer-Hort-Kultur. Ab 1700 v. Chr. setzte aus bislang unbekannten Gründen der Zerfall der Indus-Kultur ein. Eine für die weitere Entwicklung Indiens sehr wichtige Periode war die vedische Zeit (etwa 1500 bis 500 v. Chr.), in der die Grundlagen der heutigen Kultur geschaffen wurden. Über die politische Entwicklung ist weitaus weniger bekannt als über die religiöse und philosophische Entwicklung. Gegen Ende der vedischen Zeit wurden die Upanishaden geschaffen, die in vielerlei Hinsicht die Basis der in Indien entstandenen Religionen Hinduismus, Buddhismus und Jainismus bilden. In diese Zeit fallen die Urbanisierung in der Gangesebene und der Aufstieg regionaler Königreiche wie Magadha. Ab dem 6. Jahrhundert v. Chr. entfaltete sich der Buddhismus, der rund 500 Jahre lang neben dem Hinduismus die maßgebliche Geistesströmung Indiens darstellte. Im 4. Jahrhundert v. Chr. entstand mit dem Maurya-Reich erstmals ein indisches Großreich, das unter Ashoka fast den gesamten Subkontinent beherrschte. Ashoka wandte sich nach zahlreichen Eroberungszügen dem Buddhismus zu, den er im eigenen Land und bis nach Sri Lanka, Südostasien und im Mittleren Osten zu verbreiten suchte. Im 3. Jahrhundert v. Chr. blühten die Prakrit-Literatur und die tamilische Sangam-Literatur im südlichen Indien auf. Während dieser Zeit herrschten im südlichen Indien die drei tamilischen Dynastien Chola, Pandya und Chera. Nach dem Tod von Ashoka zerfiel das Maurya-Reich allmählich erneut in zahllose Kleinstaaten, die erst im 4. Jahrhundert n. Chr. von den Gupta wieder zu einem Großreich in Nordindien geeint werden konnten, deren Reich im frühen 6. Jahrhundert auch infolge der Angriffe der Hunas unterging. Mit dem Buddhismus übte Indien einen wesentlichen kulturellen Einfluss auf den gesamten Bereich von Zentral- und Ostasien aus. Die Ausbreitung des Hinduismus und Buddhismus über Indochina bis in das heutige Indonesien prägte Geschichte und Kultur dieser Länder. Als letzter großer Förderer des Buddhismus in Indien gilt Harshavardhana, dessen Herrschaft im Nordindien des 7. Jahrhunderts den Übergang zum indischen Mittelalter markiert. Indisches Mittelalter und Mogulzeit Arabische Eroberungszüge im 8. Jahrhundert brachten den Islam nach Nordwestindien. Als die Araber versuchten, nach Gujarat und darüber hinaus vorzudringen, wurden sie vom indischen König Vikramaditya II der westlichen Chalukya-Dynastie besiegt. Vom 8. Jahrhundert bis zum 10. Jahrhundert herrschten die drei Dynastien Rashtrakuta, Pala und Pratihara über einen großen Teil Indiens und kämpften untereinander um die Vorherrschaft in Nordindien. Im Süden Indiens herrschten die Chola-Dynastie und die Chalukya-Dynastie vom 10. Jahrhundert bis zum 12. Jahrhundert. Zu einer Dominanz muslimischer Staaten im Norden sowie zur Islamisierung größerer Teile der dortigen Bevölkerung kam es jedoch erst mit den Invasionen zentralasiatischer islamischer Mächte ab dem 12. Jahrhundert. Das Sultanat von Delhi weitete seine Macht sogar kurzzeitig auf den Süden aus, dennoch blieb sein kultureller Einfluss auf den Norden begrenzt. Der Mongoleneinfall des Jahres 1398 schwächte das Sultanat, so dass die hinduistischen Regionalreiche wiedererstarkten. Erholen konnten sich die muslimischen Herrscher erst im 16. Jahrhundert mit der Gründung des Mogulreiches, das für rund 200 Jahre zur bestimmenden Kraft des Nordens wurde und noch bis 1857 Bestand hatte. Herausragende Herrscher wie Akbar I., Jahangir, Shah Jahan und Aurangzeb dehnten nicht nur die Grenzen des Reiches bis auf den Dekkan aus, sondern schufen auch ein funktionierendes Verwaltungs- und Staatswesen und förderten die Künste. Auch die philosophische Bildung war hoch und ging von den konkurrierenden Schulen in Delhi und Lucknow aus. Während man in Delhi besonders eine Rückkehr zu den frühislamischen Lehren forderte, wurde in Lucknow Logik, Recht und Philosophie, insbesondere der Aristotelismus, gelehrt. Hinduistische Königtümer gab es während ihrer Zeit nur noch in Südindien, etwa in Vijayanagar. Im späten 17. Jahrhundert wurde das hinduistische Maratha-Reich gegründet, das im 18. Jahrhundert das Mogulreich überrannte und einen großen Teil Nordindiens eroberte. Geschwächt von den Angriffen der Marathen, war das Reich nach Aurangzebs Tod erheblich destabilisiert. Aus dem Niedergang der inneren Sicherheit und der schlechten Vernetzung von Zentrum und Provinzen resultierte eine politische Dezentralisierung, welche wiederum einherging mit ökonomischer Umorientierung. Regionale Märkte wurden gestärkt und eine neue soziale Gruppe aus erfolgreichen Händlern entstand. Durch sie wurde Indien auch intellektuell umgeprägt: Der Ruf nach sozialer Gleichheit wurde laut. Sie pflegten engen Kontakt mit Europa und standen in starkem Kontrast zu der hierarchisch-elitären Erbaristokratie des Landes. Somit wurde das 18. Jahrhundert in Indien zu einer Zeit des Umbruchs, in der regionale Herrscher, europäische Handelsmächte und der geschwächte Mogul um die Vorherrschaft über das Land rangen. Europäische Kolonialherrschaft und Unabhängigkeitsbewegung Nachdem Vasco da Gama 1498 den Seeweg nach Indien entdeckt hatte und so der lukrative Indienhandel für Europäer zugänglich wurde, begann Portugal ab 1505 kleinere Küstenstützpunkte zur Kontrolle der Handelsrouten zu erobern bzw. zu errichten (vgl. Portugiesisch-Indien). Im 17. Jahrhundert engagierten sich auch andere europäische Mächte in Indien, von denen sich die Briten am Ende durchsetzen konnten. Von 1756 an unterwarf die britische Ostindien-Kompanie (British East India Company) von ihren Hafenstützpunkten Calcutta (heute: Kolkata), Madras (heute: Chennai) und Bombay (heute: Mumbai) aus weite Teile Indiens. Der vorher bestehende Einfluss der europäischen Kolonialmächte Portugal, Niederlande und Frankreich wurde von ihr weitgehend beseitigt. Ein wichtiger Schritt war die Kartierung des Subkontinents. George Everest setzte den Great Trigonometric Survey, begonnen von Lambton 1806, ab 1823 bis 1841 fort. 1832 führte er die ebenfalls von Lambton begonnene indische Meridiangradmessung, The Great Arc, bis 1841 durch. Dieser umfasst mehr als 21° von der Südspitze Indiens bis Nepal nördlich von Dehradun (2.400 km). Loyale Fürsten behielten Staaten mit begrenzter Souveränität wie Hyderabad, Bhopal, Mysore oder Kaschmir. 1857/58 erhoben sich Teile der Bevölkerung Nordindiens im Sepoy-Aufstand gegen die Herrschaft der Ostindien-Kompanie. Nach der Niederwerfung des Aufstandes wurde diese aufgelöst und Indien der direkten Kontrolle durch Großbritannien unterstellt. Die britischen Monarchen trugen ab 1877 (bis 1947) zusätzlich den Titel Empress of India bzw. Emperor of India (Kaiser(in) von Indien). 1885 wurde in Bombay der Indian National Congress (Kongresspartei) gegründet. Er forderte zunächst nicht die Unabhängigkeit Indiens, sondern lediglich mehr politische Mitspracherechte für die einheimische Bevölkerung. Seine Mitglieder waren vorwiegend Hindus und Parsen. Die muslimische Oberschicht blieb auf Abstand, da ihr Wortführer Sayyid Ahmad Khan befürchtete, dass sie durch Einführung des Mehrheitsprinzips aus der Verwaltung gedrängt würden. Stattdessen wurde 1906 die Muslimliga als Interessenvertretung der Muslime gegründet. Die weitestgehende Aufteilung der Politik in religiöse Gruppen lag vor allem darin begründet, dass sich im 19. und 20. Jahrhundert aus unterschiedlichen Glaubensgemeinschaften mit fließenden Übergängen einheitliche Religionen (Hinduismus, Islam, …) mit bestimmten Inhalten und festen Abgrenzungen nach außen entwickelten. Auf der Suche nach einer einenden Idee in einer Kolonie mit vielen verschiedenen Völkern bot sich der Glaube als verbindende (schon immer existierende) Instanz an. Trotzdem gab es nicht ausschließlich religiösen Nationalismus, und auch dieser konnte in seinem Absolutheitsanspruch sehr unterschiedlich sein. Im Ersten Weltkrieg verhielt sich die große Mehrheit der Bevölkerung loyal. Aus Verärgerung darüber, dass die Briten an der Aufteilung des Osmanischen Reiches beteiligt waren, schlossen sich nun auch viele Muslime der Unabhängigkeitsbewegung an. Am Zweiten Weltkrieg nahm Indien mit einer zunächst 200.000 Mann starken Freiwilligenarmee, die im Laufe des Krieges auf über zwei Millionen Soldaten anwuchs, auf Seiten Großbritanniens teil. Bei Kriegsende waren mehr als 24.000 indische Soldaten gefallen, über 11.000 vermisst und zwei Millionen Menschen verhungert (siehe Hungersnot in Bengalen 1943). Auf der anderen Seite gab es aber auch Bestrebungen, vor allem vorangetrieben durch Subhash Chandra Bose, mit einer indischen Freiwilligenarmee im Bündnis mit den Achsenmächten gegen die britische Kolonialmacht die Freiheit Indiens zu erkämpfen. Der gewaltfreie Widerstand gegen die britische Kolonialherrschaft, vor allem unter Mohandas Karamchand Gandhi und Jawaharlal Nehru, führte 1947 zur Unabhängigkeit. Gleichzeitig verfügte die Kolonialmacht die Teilung der fast den gesamten indischen Subkontinent umfassenden Kolonie Britisch-Indien in zwei Staaten, die säkulare Indische Union sowie die kleinere Islamische Republik Pakistan. Die Briten erfüllten damit die seit den 1930er Jahren lauter werdenden Forderungen der Muslimliga und ihres Führers Muhammad Ali Jinnah nach einem eigenen Nationalstaat mit muslimischer Bevölkerungsmehrheit. Entwicklungen seit der Unabhängigkeit Die Teilung führte zu einer der größten Vertreibungs- und Fluchtbewegungen der Geschichte. Ungefähr 10 Millionen Hindus und Sikhs wurden aus Pakistan vertrieben, etwa 7 Millionen Muslime aus Indien. 750.000 bis eine Million Menschen kamen ums Leben. Die durch Schutzverträge an die Briten gebundenen Fürstenstaaten hatten schon vor der Unabhängigkeit ihren Beitritt zur Indischen Union erklärt. Lediglich zwei standen dem Eingliederungsprozess der Fürstentümer ernsthaft im Weg. Der muslimische Herrscher des fast ausschließlich hinduistischen Hyderabad wurde durch einen Einmarsch indischer Truppen zu Fall gebracht. In Kaschmir verzögerte der Maharadscha, selbst Hindu bei überwiegend muslimischer Bevölkerung, seine Entscheidung. Nachdem muslimische Kämpfer in sein Land eingedrungen waren, entschied er sich schließlich doch zum Beitritt zu Indien, welches daraufhin den größten Teil des ehemaligen Fürstentums besetzte. Pakistan betrachtete den Beitritt als unrechtmäßig, was zum Ersten Indisch-Pakistanischen Krieg um Kaschmir (1947 bis 1949) führte. Seitdem schwelt in der Grenzregion der Kaschmir-Konflikt, der 1965 auch den Zweiten Indisch-Pakistanischen Krieg und 1999 den Kargil-Krieg zur Folge hatte. Am 26. November 1949 trat Indien dem Commonwealth of Nations bei und am 26. Januar 1950 trat die vor allem von Bhimrao Ambedkar ausgearbeitete Verfassung in Kraft, durch die Indien zur Republik wurde. Grenzstreitigkeiten führten 1962 zu einem kurzen Krieg mit der Volksrepublik China, dem sogenannten Indisch-Chinesischen Grenzkrieg. Die indische Unterstützung einer Unabhängigkeitsbewegung im damaligen Ostpakistan führte 1971 zu einem dritten Krieg Indiens gegen Pakistan mit folgender Teilung Pakistans und Gründung des neuen, ebenfalls islamisch geprägten Staates Bangladesch. Innenpolitisch bestimmte unter Jawaharlal Nehru, Premierminister 1947 bis 1964, und danach noch bis Anfang der 1970er Jahre die Kongresspartei überlegen die junge, unabhängige Demokratie. Oppositionsparteien konnten bestenfalls auf Bundesstaaten- oder kommunaler Ebene ihren Einfluss geltend machen. Erst als Nehrus Tochter Indira Gandhi, die 1966 Premierministerin wurde, die Partei zentralisierte und ihre eigene Machtposition auszubauen versuchte, gelang es der Opposition, sich auf Bundesebene zu formieren. Ein Gericht in Allahabad befand Gandhi 1975 einiger Unregelmäßigkeiten bei den Wahlen des Jahres 1971 für schuldig. Anstatt den Rücktrittsforderungen ihrer politischen Gegner zu folgen, rief sie den Notstand aus und regierte bis 1977 per Dekret. Demokratische Grundrechte wie Presse- und Versammlungsfreiheit waren stark eingeschränkt. Die zunehmende Unzufriedenheit der Bevölkerung mit dem de facto diktatorischen Regime äußerte sich 1977 in einer deutlichen Wahlniederlage Indira Gandhis. Zwischen 1977 und 1979 stellte daher erstmals nicht die Kongresspartei, sondern eine Koalition unter Führung der Janata Party die Regierung Indiens. In den Wahlen von 1980 gelang es Indira Gandhi, an die Macht zurückzukehren. In ihre zweite Amtsperiode fällt die Zuspitzung des Konflikts im Punjab, wo sikhistische Separatisten einen eigenen Staat forderten. Als sich militante Sikhs im Goldenen Tempel in Amritsar verschanzten, ordnete Indira Gandhi 1984 die Operation Blue Star an. Indische Truppen stürmten den Tempel und beendeten dessen Besetzung. Daraufhin kam es zu blutigen Ausschreitungen, die in der Ermordung Indira Gandhis durch ihre Sikh-Leibwächter gipfelten. Ihr Sohn Rajiv Gandhi übernahm die Regierungsgeschäfte, war aber nicht in der Lage, die von ihm geplanten Reformvorhaben wirkungsvoll umzusetzen. Ein Bestechungsskandal im Zusammenhang mit dem schwedischen Rüstungskonzern Bofors schädigte sein Ansehen schließlich dermaßen, dass die Opposition 1989 einen klaren Sieg über Gandhis Kongresspartei erringen konnte. Nach zweijähriger Unterbrechung gelangte sie von 1991 bis 1996 jedoch erneut an die Macht. Die Regierung von P. V. Narasimha Rao leitete die wirtschaftliche Öffnung und außenpolitische Neuorientierung des seit Nehru sozialistisch ausgerichteten Landes ein. Zum Reformprogramm gehörten unter anderem die Privatisierung von Staatsbetrieben, die Aufhebung von Handelsbeschränkungen, die Beseitigung bürokratischer Investitionshemmnisse und Steuersenkungen. Die Wirtschaftsreformen wurden von späteren Regierungen fortgeführt. Seit den 1980er Jahren verzeichnet der Hindu-Nationalismus einen deutlichen Aufschwung. Die Auseinandersetzung um die anstelle eines bedeutenden Hindutempels errichtete Babri-Moschee in Ayodhya (Uttar Pradesh) entwickelte sich zu einer der bestimmenden innenpolitischen Streitfragen. 1992 zerstörten hinduistische Extremisten das muslimische Gotteshaus, was zu schweren Ausschreitungen in weiten Teilen des Landes führte. Der politische Arm der Hindu-Nationalisten, die Bharatiya Janata Party (BJP), führte zwischen 1998 und 2004 eine Regierungskoalition an und stellte mit Atal Bihari Vajpayee den Regierungschef. 2004 unterlag sie jedoch überraschend der neu aufgestellten Kongresspartei unter Sonia Gandhi. Die Witwe des 1991 während des Wahlkampfes ermordeten Rajiv Gandhi verzichtete nach Protesten der Opposition wegen ihrer italienischen Abstammung auf das Amt als Premierministerin. Stattdessen übernahm Manmohan Singh diese Stellung, der als Finanzminister unter Rao die wirtschaftliche Liberalisierung Indiens wesentlich mitgestaltet hatte. Bei der Wahl 2009 konnte die Kongresspartei ihre Mehrheit noch ausbauen und Singh blieb bis 2014 Premierminister. Bei der Wahl 2014 erreichte die oppositionelle BJP einen erdrutschartigen Sieg und ihr Spitzenkandidat Narendra Modi wurde zum Ministerpräsidenten gewählt. Heute sind die fundamentalen Probleme Indiens trotz des deutlichen wirtschaftlichen Aufschwungs noch immer die ausgedehnte Armut als auch die starke Überbevölkerung, die zunehmende Umweltverschmutzung sowie ethnische und religiöse Konflikte zwischen Hindus und Muslimen. Dazu tritt der fortdauernde Streit mit Pakistan um die Region Kaschmir. Besondere Brisanz erhält der indisch-pakistanische Gegensatz durch die Tatsache, dass beide Staaten Atommächte sind. Indien hatte 1974 erstmals einen Atomwaffentest durchgeführt. Auf weitere Kernwaffenversuche im Jahre 1998 reagierte Pakistan mit eigenen Atomwaffentests. In den letzten Jahren war eine Annäherung zwischen Indien und Pakistan zu bemerken. So fanden Gefangenenaustausche statt und wurden Verbindungen in der Kaschmirregion geöffnet. Terrorismus und ethnische Konflikte Seit 1986 kämpfen verschiedene Gruppierungen im mehrheitlich muslimischen Kaschmir mit gewaltsamen Mitteln für die Unabhängigkeit ihrer Region oder den Anschluss an Pakistan (Kaschmir-Konflikt). Immer wieder werden in der Region Anschläge auf Einrichtungen des indischen Staates, so im Oktober 2001 auf das Regionalparlament von Jammu und Kashmir in Srinagar, auf die in Kaschmir stationierten Streitkräfte oder gegen hinduistische Dorfbewohner und Pilger verübt. Doch nicht nur in Kaschmir, sondern auch in anderen Teilen Indiens kam es wiederholt zu terroristischen Anschlägen, die kaschmirischen Separatisten oder islamistischen Terrororganisationen wie Laschkar-e Taiba zugeschrieben wurden. Die bisher schlimmste Anschlagsserie fand am 12. März 1993 statt, als zehn Bombenexplosionen auf die Börse und Hotels in Mumbai sowie Züge und Tankstellen 257 Menschen töteten und 713 Personen verletzten. Im Dezember 2001 stürmten Islamisten das Parlament in Neu-Delhi, wobei 14 Menschen ums Leben kamen. 52 Tote gab es im August 2003, als zwei mit Sprengstoff beladene Taxis in Mumbai explodierten. Nach drei Bombenexplosionen auf Märkten in Neu-Delhi waren im Oktober 2005 62 Opfer zu beklagen. Im März 2006 starben bei einem Doppelanschlag auf den Bahnhof und einen Tempel in der Stadt Varanasi 20 Menschen. Bei Bombenanschlägen auf Züge in Mumbai wurden im Juli 2006 rund 200 Menschen getötet und mehr als 700 Personen verletzt. Am 18. Februar 2007 explodierten im „Freundschafts-Express“, der einzigen Zugverbindung zwischen Indien und Pakistan, 100 Kilometer nördlich von Delhi zwei Brandbomben. Dabei kamen mindestens 65 Menschen ums Leben. Am 25. August 2007 kam es in Hyderabad zu zwei Bombenexplosionen, bei denen mindestens 42 Personen starben und viele weitere verletzt wurden. Eine dritte Bombe wurde gefunden und konnte entschärft werden. Welches Ziel der oder die Attentäter mit den Bombenanschlägen in gut besuchten Freizeitorten verfolgten, wurde zunächst nicht bekannt. (Hyderabad hat mit fast 40 % den höchsten muslimischen Bevölkerungsanteil der indischen Metropolen.) Eine Serie von Bombenanschlägen erschütterte Indien 2008. Am 25. Juli explodierten zwei Bomben vor Polizeistationen und sechs weitere Bomben in Bengaluru (Bangalore). Innerhalb von 15 Minuten wurden bei den acht Bombenanschlägen zwei Menschen getötet und sechs Menschen verletzt. Eine Explosionsserie von 16 Bomben innerhalb von 90 Minuten in der Millionenmetropole Ahmedabad im westindischen Bundesstaat Gujarat forderte am 26. Juli 2008 mindestens 130 Tote und über 280 Verletzte. Eine mutmaßlich muslimische Terrorgruppe Indische Mudschaheddin, vermutlich eine Splittergruppe der radikal-islamischen Laschkar-e Taiba, bekannte sich zu den Terroranschlägen in Ahmedabad. Bei den Anschlägen in Mumbai am 26. November 2008 kam es in der indischen Metropole Mumbai innerhalb kurzer Zeit zu 17 Explosionen, Angriffen mit Schnellfeuerwaffen und zu Geiselnahmen an zehn verschiedenen Stellen der Stadt durch eine Gruppe von etwa zehn Angreifern, die sich in mehrere Gruppen aufgeteilt hatten. Nach Angaben der indischen Behörden hat es dabei mindestens 239 Verletzte und 174 Tote gegeben. Nach einer im Dezember 2019 erlassenen Staatsbürgerschaftsreform, die religiös verfolgten Flüchtlingen mit Ausnahme von Muslimen schneller Asyl in Indien gewährt, kam es im selben Monat und zu Beginn des Jahres 2020 zu starken Protesten der muslimischen Bevölkerung in Indien. Bevölkerung Demografie 2022 betrug die Einwohnerzahl Indiens 1.375.586.000. Damit war Indien nach der Volksrepublik China der bevölkerungsreichste Staat der Erde. Die Bevölkerungsdichte beträgt 388 Einwohner pro Quadratkilometer (Deutschland: 231 pro Quadratkilometer). Gleichwohl ist die Bevölkerung höchst ungleichmäßig verteilt. Sie ballt sich vor allem in fruchtbaren Landstrichen wie der Gangesebene, Westbengalen und Kerala, während der Himalaya, die Berggegenden des Nordostens sowie trockenere Regionen in Rajasthan und auf dem Dekkan nur eine geringe Besiedlungsdichte aufweisen. So leben in Bihar durchschnittlich 1106 Menschen auf einem Quadratkilometer, während es in Arunachal Pradesh nur 17 sind. Am 11. Mai 2000 überschritt Indiens Bevölkerungszahl offiziell die Milliardengrenze. Während es von 1920 – damals hatte Indien 250 Millionen Einwohner – 47 Jahre bis zu einer Verdoppelung der Bevölkerung dauerte, waren es von 1967 bis 2000 nur noch 33 Jahre. Das Wachstum der Bevölkerung hat sich in den letzten Jahrzehnten nur wenig abgeschwächt und liegt im Moment bei 1,4 % pro Jahr, was einem jährlichen Bevölkerungszuwachs von 15 Millionen Menschen entspricht. Damit verzeichnet Indien im Moment den größten absoluten Zuwachs aller Staaten der Erde. Der relative Zuwachs liegt jedoch nur wenig über dem Weltdurchschnitt. Schätzungen zufolge wird sich das Bevölkerungswachstum in Indien in den nächsten Jahrzehnten kaum abschwächen. Indien hat zum 14. April 2023 die Volksrepublik China als bevölkerungsreichstes Land der Erde abgelöst. Durch fortschreitende Modernisierung, Bildung, Wohlstand und Verstädterung sinkt die Geburtenrate zwar bereits, das Bevölkerungswachstum erklärt sich jedoch nicht aus einer gestiegenen Geburtenrate, sondern aus der in den letzten Jahrzehnten gestiegenen Lebensdauer. Dies ist unter anderem auf eine Verbesserung der Gesundheitsfürsorge zurückzuführen. In der Mortalität hatte Indien bereits 1991 mit Deutschland gleichgezogen (10 pro 1000), für 2006 wird sie auf 8,18 pro 1000 geschätzt. Die Geburtenziffer blieb allerdings hoch (1991: 30 pro 1000) und sinkt allmählich (2016: 19,3 pro 1000). Die Fruchtbarkeitsrate ging von 5,2 Kindern je Frau (1971) auf 3,6 (1991) zurück, im Jahr 2013 lag sie bei 2,3. Das durchschnittliche Alter der indischen Bevölkerung lag 2015 bei 26,7 Jahren, während die durchschnittliche Lebenserwartung für Männer 66,2 Jahre (1971 waren es nur 44 Jahre) und für Frauen 69,1 Jahre (1971 waren es nur 46 Jahre) betrug. In Deutschland sind es zum Vergleich bei Männern 78 Jahre und bei Frauen 83 Jahre. Ein Drittel der Bevölkerung ist jünger als 15 Jahre. Indien gehört auch zu den Ländern, in denen es deutlich mehr Männer gibt: Laut der Volkszählung 2011 kommen auf 1000 Männer 943 Frauen. Dieser Überschuss an Männern trägt in manchen Regionen des Landes zur Destabilisierung bei, wie Henrik Urdal von der Harvard Kennedy School zeigt. In den letzten dreißig Jahren wurde die Verstädterung Indiens zu 60 % von natürlichem Bevölkerungswachstum (in den Städten) getragen. Zuwanderung (aus ländlichen Gebieten) trug zu einem Fünftel des Wachstums städtischer Bevölkerung bei. Ein weiteres Fünftel des Wachstums verteilt sich gleichmäßig auf die Bildung neuer Städte durch statistische Umklassifizierung und durch die Ausdehnung von Grenzen oder Sprawl. Damit hat Indien heute 46 Städte mit mehr als einer Million Einwohnern (Stand: Volkszählung 2011). Allein der Ballungsraum Mumbai hat mittlerweile über 28 Millionen Einwohner und damit eine größere Bevölkerung als ganz Australien. Dennoch stellt die städtische Bevölkerung mit einem Anteil an der Gesamteinwohnerzahl von lediglich 31,2 % (Volkszählung 2011) eine Minderheit dar. Mit der wirtschaftlichen Entwicklung schreitet die Urbanisierung Indiens schnell voran und jährlich wächst die städtische Bevölkerung Indiens um knapp 10 Millionen an. In den Städten Indiens wird nahezu die gesamte Wirtschaftsleistung erbracht. Die Entstehung von Slums ist ein großes Problem in Indiens Städten. In Mumbais Slum Dharavi leben geschätzt 1 Million Menschen auf engstem Raum unter katastrophalen Bedingungen, womit es das größte Elendsviertel weltweit ist. Die Urbanisierung verläuft in Indien deutlich weniger geplant als z. B. in China ab, und geschätzt 30 % der städtischen Bevölkerung leben in ungeplanten Behausungen und Slums, insgesamt über 90 Millionen Menschen. Schätzungsweise bis zu 25 Millionen indische Staatsbürger und Personen indischer Herkunft (Non-resident Indians und Persons of Indian Origin) leben im Ausland. Während englischsprachige westliche Staaten wie die USA, Großbritannien und Kanada vor allem gut ausgebildete Fachkräfte anziehen, sind in den Golfstaaten (besonders Vereinigte Arabische Emirate, Kuwait und Saudi-Arabien) viele Inder als „Billigarbeitskräfte“ angestellt, seltener auch in höheren Positionen. Während der britischen Kolonialzeit wurden Inder als Arbeiter in anderen Kolonien angeworben, daher leben viele Personen indischer Abstammung in Malaysia, Südafrika, Mauritius, Trinidad und Tobago, Fidschi, Guyana und Singapur. Sie besitzen in der Regel die Staatsbürgerschaft des jeweiligen Landes. Überweisungen von Auslandsindern an ihre Angehörigen in Indien stellen einen bedeutenden Wirtschaftsfaktor dar. Nachfolgend sind die Einwohnerzahlen Indiens zwischen 1700 und 2050 aufgeführt (2025 und 2050 sind Prognosen) – zu beachten sind Veränderungen des Gebiets im Verlauf der Zeit: Zahlenangaben bis 1875 sind berechnet nach dem Gebietsstand von Britisch-Indien (einschließlich Bangladesch, Myanmar und Pakistan), ab 1900 in den heutigen Grenzen der Republik Indien: Ethnische Zusammensetzung Indien ist ein Vielvölkerstaat, dessen ethnische Vielfalt ohne weiteres mit der des gesamten europäischen Kontinents vergleichbar ist. Etwa 72 % der Bevölkerung sind Indoarier. 25 % sind Draviden, die hauptsächlich im Süden Indiens leben. 3 % entfallen auf sonstige Völkergruppen, vor allem tibeto-birmanische, Munda- und Mon-Khmer-Völker im Himalayaraum sowie Nordost- und Ostindien. 8,6 % der Einwohner gehören der indigenen Stammesbevölkerung an, die sich selbst als Adivasi bezeichnet, obwohl sie ethnisch höchst uneinheitlich ist. Die indische Verfassung erkennt mehr als 600 Stämme als sogenannte Scheduled Tribes an. Sie stehen meist außerhalb des hinduistischen Kastensystems und sind trotz bestehender Schutzgesetze sozial stark benachteiligt. Hohe Bevölkerungsanteile haben die Adivasi in der Nordostregion (besonders in Mizoram, Nagaland, Meghalaya, Arunachal Pradesh, Manipur, Tripura, Sikkim) sowie in den ost- und zentralindischen Bundesstaaten Jharkhand, Chhattisgarh, Odisha und Madhya Pradesh. Auf Grund der sozialen Diskriminierung genießen linksradikale Gruppierungen wie die maoistischen Naxaliten bei Teilen der Adivasi starken Rückhalt. Dazu kommen separatistische Bewegungen verschiedener Völker – etwa der mongoliden Naga, Mizo und Bodo, aber auch der indoarischen Assamesen – in Nordostindien, wo Spannungen zwischen der einheimischen Bevölkerung und zugewanderten Bengalen, größtenteils illegale Einwanderer aus Bangladesch, für zusätzliches Konfliktpotenzial sorgen. Im Jahre 2017 waren, laut offiziellen Zahlen, 0,4 % der Bevölkerung im Ausland geboren. Die Zahl der illegal eingewanderten Bangladescher in Indien wird auf bis zu 20 Millionen geschätzt. Die rund 100.000 in Indien lebenden Exiltibeter, die seit der chinesischen Besetzung Tibets in den 1950er Jahren aus ihrer Heimat geflohen sind, werden dagegen offiziell als Flüchtlinge anerkannt und besitzen eine Aufenthaltsgenehmigung. Des Weiteren leben etwa 60.000 tamilische Flüchtlinge aus Sri Lanka auf indischem Gebiet. Sprachen und Schriften In Indien werden weit über 100 verschiedene Sprachen gesprochen, die vier verschiedenen Sprachfamilien angehören. Neben den beiden überregionalen Amtssprachen Hindi und Englisch erkennt die indische Verfassung die folgenden 21 Sprachen an: Assamesisch, Bengalisch, Bodo, Dogri, Gujarati, Kannada, Kashmiri, Konkani, Maithili, Malayalam, Marathi, Meitei, Nepali, Oriya, Panjabi, Santali, Sanskrit, Sindhi, Tamil, Telugu und Urdu. Die meisten dieser Sprachen dienen in den Bundesstaaten, in denen sie von einer Bevölkerungsmehrheit gesprochen werden, auch als Amtssprachen. Englisch ist Verwaltungs-, Unterrichts- und Wirtschaftssprache. Von den Verfassungssprachen gehören 15 der indoarischen, vier der dravidischen (Telugu, Tamilisch, Kannada und Malayalam), zwei der tibetobirmanischen bzw. sinotibetischen Sprachfamilie (Bodo, Meitei) und jeweils eine der austroasiatischen (Santali) und der germanischen (englisch) an. In letzter Zeit gab es Versuche, den Gebrauch des Sanskrit wiederzubeleben. Sanskrit ist eine klassische, heute nicht mehr als Erst- oder Muttersprache verwendete Sprache, die in Indien einen ähnlichen Stellenwert besitzt wie das Lateinische in Europa. Sie gehört ebenfalls zu den offiziell anerkannten Verfassungssprachen, wird aber nirgends als Amtssprache verwendet. Das Central Board of Secondary Education (CBSE) hat in den Schulen, die es reguliert, Sanskrit zur dritten der unterrichteten Sprachen gemacht. In diesen Schulen ist der Sanskritunterricht für die fünften bis achten Schulklassen obligatorisch. Über die Beibehaltung des Status des Englischen als Amtssprache wird alle 15 Jahre neu entschieden. Englisch gilt weiterhin als Prestige-Sprache und wird nur von einer privilegierten Minderheit der Bevölkerung fließend gesprochen. Wenn sich Menschen unterschiedlicher Sprachgemeinschaften begegnen, sprechen sie im Norden entweder Hindi oder Englisch miteinander, im Süden eine der dravidischen Sprachen oder Englisch. Neben den Verfassungssprachen sind auch noch Hindustani, der im Norden Indiens weit verbreitete „Vorgänger“ von Hindi und Urdu, Rajasthani als Oberbegriff der Dialekte Rajasthans und Mizo erwähnenswert. Bihari ist der Oberbegriff für die Dialekte in Bihar, wozu auch Maithili, Bhojpuri und Magadhi gehören. Die meisten Sprachen weisen unterschiedliche Schriftsysteme auf. Während für Hindi, Marathi, Nepali, Konkani und Sanskrit eine gemeinsame Schrift verwendet wird (Devanagari), werden Telugu, Tamilisch, Kannada, Malayalam, Gujarati, Oriya, Panjabi und Santali durch eine jeweils eigene Schrift charakterisiert. Für Bengalisch, Asamiya und Meitei wird eine weitere Schrift (Bengalische Schrift) verwendet. Urdu wird in arabischer Schrift geschrieben, Kashmiri und Sindhi werden in arabischer Schrift oder auch in Devanagari geschrieben. Religionen Zusammensetzung Auf dem indischen Subkontinent entstanden vier der großen Religionen: Hinduismus, Buddhismus, Jainismus und Sikhismus. Der Islam kam infolge von Handel und Eroberungen durch das Mogulreich, das Christentum durch frühe Missionierungen im ersten Jahrhundert und dann durch den Kolonialismus, der Zoroastrismus (Parsismus) aufgrund von Einwanderungen ins Land. Indien bietet daher eine außerordentlich reichhaltige Religionslandschaft. Obwohl der Buddhismus über Jahrhunderte die bevorzugte Religion war, starb der Hinduismus nie aus und konnte seine Stellung als dominierende Religion langfristig behaupten. Im Mittelalter brachten indische Händler und Seefahrer den Hinduismus bis nach Indonesien und Malaysia. Obwohl Indien bis heute ein hinduistisch geprägtes Land ist, hat Indien nach Indonesien und Pakistan die weltweit drittgrößte muslimische Bevölkerung (etwa 140 Millionen), und nach dem Iran die zweitgrößte Anzahl von Schiiten. Die Religionen verteilen sich nach der Volkszählung 2011 wie folgt: 79,8 % Hindus, 14,2 % Muslime, 2,3 % Christen, 1,7 % Sikhs, 0,7 % Buddhisten, 0,4 % Jainas und 0,7 % andere (zum Beispiel traditionelle Adivasi-Religionen, Bahai oder Parsen). Insgesamt 0,2 % der Inder gaben bei der Volkszählung keine Religionszugehörigkeit an oder gaben an, ohne Religion zu sein. Die Wurzeln des Hinduismus liegen im Veda (wörtlich: Wissen), religiösen Texten, deren älteste Schicht auf etwa 1200 v. Chr. datiert wird. Die Bezeichnung „Hinduismus“ wurde jedoch erst im 19. Jahrhundert allgemein üblich. Er verbindet viele Strömungen mit ähnlicher Glaubensgrundlage und Geschichte, die besonders bei den Lehren von Karma, dem Kreislauf der Wiedergeburten (Samsara) und dem Streben nach Erlösung übereinstimmen. Er kennt keinen einzelnen Religionsstifter, kein einheitliches Glaubensbekenntnis und keine religiöse Zentralbehörde. Die wichtigsten populären Richtungen sind der Shivaismus, der Vishnuismus und der Shaktismus. Daneben ist die Indische Volksreligion regional und lokal weit verbreitet. Religiöse Lehrer (Gurus) und Priester haben einen großen Stellenwert für den persönlichen Glauben. Die Adivasi (Ureinwohner) widersetzten sich oft den Missionsversuchen der großen Religionen und behielten teilweise ihre eigene Religion. Die indigenen Völker Indiens haben einiges mit dem Hinduismus gemeinsam, so etwa den Glauben an die Reinkarnation, eine äußere Vielfalt von Göttern und eine Art von Kastenwesen. Nicht selten werden lokale Gottheiten oder Stammesgottheiten einfach in das hinduistische Pantheon integriert – eine Herangehensweise, die historisch zur Ausbreitung des Hinduismus beigetragen hat. Besonders heute besteht eine starke Tendenz der „Hinduisierung“ (in der Indologie „Sanskritisierung“), gesellschaftliche Sitten der Hindus und deren Formen der Religionsausübung werden übernommen. Der Buddhismus ist heute vor allem als Neobuddhismus bei den „Unberührbaren“ (Dalit) populär, besonders im Bundesstaat Maharashtra („Bauddha“). Die Dalit versuchen auf diese Art und Weise, den Diskriminierungen des Kastensystems zu entkommen. Mehr als 10 % der indischen Bevölkerung gehört der Kaste der Dalit an. Ins Leben gerufen wurde diese Bewegung durch den Rechtsanwalt Bhimrao Ramji Ambedkar (1891–1956), der selbst einer unberührbaren Kaste angehörte. Hinzu kommen kleinere Gruppen tibetischer Buddhisten in den Himalaya-Gebieten von Ladakh, Sikkim und Arunachal Pradesh sowie die tibetische Exilgemeinde in Dharamsala, dem Sitz des amtierenden Dalai Lama sowie der tibetischen Exilregierung. Aus der Sicht fundamentalistischer Hindus gehören auch Muslime, Buddhisten und Christen zu den Unberührbaren, die nach dieser Definition etwa 240 Millionen Menschen und damit fast 20 % der indischen Bevölkerung umfassen würden. Die Parsen, die heute hauptsächlich in Mumbai leben, bilden eine kleine, überwiegend wohlhabende und einflussreiche Gemeinschaft (etwa 70.000 Menschen). Nicht zuletzt auch durch ihr ausgeprägtes soziales Engagement spielen sie trotz geringer Bevölkerungsanzahl in der indischen Gesellschaft eine wichtige Rolle. In Europa sind sie durch ihre Bestattungsgepflogenheiten („Türme des Schweigens“) bekannt. Auch die Jainas sind oft wohlhabend, da sie aufgrund ihres Glaubens, der das Töten von Lebewesen verbietet, überwiegend Kaufleute und Händler sind. Parsen und Jainas gehören meist der Mittel- und Oberschicht an. Die Mehrheit der indischen Muslime gehört der sunnitischen Richtung an, außerdem leben mehr als 20 Millionen Schiiten in Indien. Darüber hinaus existieren kleinere Glaubensrichtungen innerhalb des Islam: Eher fundamentalistisch ist die Dar ul-Ulum in Deoband im nördlichen Bundesstaat Uttar Pradesh, auf die sich unter anderem die afghanischen Taliban berufen, wenn auch in radikal verkürzter Interpretation. Die Situation der Muslime in Indien ist schwierig. Sie sind ärmer und weniger gebildet als der Durchschnitt. In Politik und Staatsdienst sind sie unterrepräsentiert. Zu bemerken ist jedoch, dass der ehemalige Staatspräsident Indiens, A. P. J. Abdul Kalam, ein Muslim war. Die Anzahl der Muslime in Indien steigt schneller als die der restlichen Bevölkerung und bis 2050 könnte Indien über 300 Millionen muslimische Einwohner haben. Die Sikhs sind hauptsächlich im Nordwesten Indiens (Punjab) beheimatet. Ihre Stellung in der Gesellschaft ist geprägt durch den Erfolg vor allem im militärischen Bereich, aber auch im politischen Leben. Der ehemalige indische Premierminister Manmohan Singh ist ein Sikh. 53 n. Chr. soll ein Apostel Jesu, Thomas, nach Indien gekommen sein und dort entlang der südlichen Malabarküste mehrere christliche Gemeinden gegründet haben. Die „Thomaschristen“ in Kerala führen ihren Ursprung auf den Apostel Thomas zurück. Portugiesische Missionare führten im späten 15. Jahrhundert den römischen Katholizismus ein und verbreiteten ihn entlang der Westküste, etwa in Goa, so dass römische Katholiken heute den größten Anteil an der christlichen Bevölkerung Indiens stellen. Die Briten zeigten zwar wenig Interesse an der Missionierung, dennoch konvertierten viele Stammesvölker im Nordosten (Nagaland, Mizoram, Meghalaya, Manipur, Arunachal Pradesh) zur Anglikanischen Kirche oder anderen evangelischen Konfessionen. In jüngerer Zeit traten auch Angehörige unberührbarer Kasten sowie Adivasi zum Christentum über, um der Ungerechtigkeit des Kastensystems zu entkommen. Als Indien seine Unabhängigkeit erlangte, lebten auch noch rund 25.000 Juden in Indien. Nach 1948 verließen jedoch die meisten von ihnen ihre Heimat gen Israel. Heute wird die Zahl der in Indien verbliebenen Juden auf 5000 bis 6000 geschätzt, wovon die Mehrheit in Mumbai lebt. Religiöse Konflikte Der Laizismus, die Trennung von Staat und Religion, zählt zu den wesentlichsten Grundsätzen des indischen Staates und ist in seiner Verfassung verankert. Seit Jahrhunderten bestehen verschiedene Glaubensrichtungen zumeist friedlich nebeneinander. Dennoch kommt es manchmal zu regional begrenzten, religiös motivierten Auseinandersetzungen. Bei der Teilung Indiens 1947 und beim Bangladesch-Krieg 1971 kam es zwischen Hindus und Muslimen zu massiven Ausschreitungen. Unruhen zwischen Anhängern der beiden Glaubensrichtungen brechen in Indien in gewissen Zeitabständen immer wieder aus. Ein Konfliktpunkt ist nach wie vor Kaschmir, dessen überwiegend muslimische Bevölkerung teilweise gewalttätig für die Unabhängigkeit oder den Anschluss an Pakistan eintritt. Geschürt werden sie seit den späten 1980er Jahren durch den aufkeimenden Hindu-Nationalismus (Hindutva) und islamischen Fundamentalismus. Einer der Höhepunkte der Auseinandersetzungen war die Erstürmung und Zerstörung der Babri-Moschee in Ayodhya (Uttar Pradesh) durch extremistische Hindus im Dezember 1992, da das islamische Gotteshaus einst an der Stelle eines bedeutenden Hindu-Tempels errichtet worden war, der den Geburtsort Ramas markieren sollte. Die letzten Unruhen traten 2002 in Gujarat auf, als 59 Hindu-Aktivisten (kar sevaks) in einem Zug verbrannt wurden. Infolge der eskalierenden Gewalt kamen etwa 2000 Menschen um, hauptsächlich Moslems. Die politische Situation in Kaschmir kostete seit 1989 aufgrund der Aktivitäten islamistischer Terroristen über 29.000 Zivilpersonen das Leben. Auch bei anderen Religionen traten Konflikte auf. Die Forderungen sikhistischer Separatisten nach einem unabhängigen Sikhstaat namens „Khalistan“ gipfelten 1984 in der Erstürmung des Goldenen Tempels in Amritsar durch indische Truppen (Operation Blue Star) und der Ermordung der damaligen Premierministerin Indira Gandhi durch ihre eigenen Sikh-Leibwächter. Insgesamt kamen bei den Unruhen im Jahre 1984 mehr als 3000 Sikhs ums Leben. In einigen Bundesstaaten ist es zu Pogromen gegen Christen gekommen. So wurden in der zweiten Jahreshälfte 2008 bei religiös motivierten Unruhen in Orissa mindestens 59 Christen getötet. In ihrer Antwort auf eine parlamentarische Anfrage vom 4. Dezember 2008 nennt die deutsche Bundesregierung folgendes Ausmaß der Gewalt gegen Christen in Orissa (Odisha): 81 Christen sind ums Leben gekommen, 20.000 Menschen befinden sich in Flüchtlingslagern, 40.000 weitere haben sich in Wäldern versteckt. 4677 Häuser, 236 Kirchen und 36 weitere kirchliche Einrichtungen wurden zerstört. Soziale Probleme Nach Angaben der Weltbank haben heute 44 % der Einwohner Indiens weniger als einen US-Dollar pro Tag zur Verfügung. Auch wenn die Ernährungssituation seit den 1970er Jahren entscheidend verbessert werden konnte, ist noch immer mehr als ein Viertel der Bevölkerung zu arm, um sich eine ausreichende Ernährung leisten zu können. Unter- und Fehlernährung wie Vitaminmangel ist vornehmlich in ländlichen Gebieten ein weit verbreitetes Problem, wo der Anteil der Armen besonders hoch ist. Die regionale Aufteilung des Problems lässt sich am Hunger-Index für Indien klar erkennen, der Bundesstaat Madhya Pradesh fällt hier besonders ins Auge. 2007 waren 46 % der Kinder in Indien mangelernährt, nach Angaben von UNICEF sterben in Indien jährlich 2,1 Millionen Kinder vor dem fünften Lebensjahr. Kinderarbeit wird hauptsächlich auf dem Land geleistet, da das Einkommen vieler Bauernfamilien nicht zum Überleben ausreicht. Hoch verschuldete Bauern müssen oft nicht nur ihr Ackerland verkaufen, sondern auch ihre Dienstleistungen an die Grundherren verpfänden. Dieses als Schuldknechtschaft bezeichnete Phänomen stellt bis heute eines der größten Hindernisse in der Armutsbekämpfung dar. 2006 haben schätzungsweise 17.000 Bauern wegen hoher Verschuldung Selbstmord begangen. Die schlechten Lebensbedingungen im ländlichen Raum veranlassen viele Menschen zur Abwanderung in die Städte (Urbanisierung). Dabei sind die wuchernden Metropolen des Landes kaum in der Lage, ausreichend Arbeitsplätze für die Zuwanderer zur Verfügung zu stellen. Das Ergebnis sind hohe Arbeitslosigkeit und Unterbeschäftigung. Fast ein Drittel der Einwohner der Millionenstädte lebt in Elendsvierteln. Dharavi in Mumbai ist mit mehr als einer Million Menschen der größte Slum Asiens. Nach der Volkszählung 2011 werden 16,6 % der indischen Bevölkerung zu den so genannten Unberührbaren (Scheduled Castes) gerechnet, 8,6 % zählen zur indischen Stammesbevölkerung (Adivasi, offiziell Scheduled Tribes). Da beide Gruppen einem Missbrauch (Diskriminierung, wirtschaftliche Ausbeutung, teilweise auch Verfolgung und Gewalt) durch andere Kasten-Inder ausgesetzt sind, sieht die indische Verfassung eine Förderung der sozial Benachteiligten in Form von Quoten vor. Über diese „positive Diskriminierung“ werden in Universitäten, berufsbildenden Institutionen und Parlamenten bis zu 50 % der Plätze für die Scheduled Castes (Angehörige der unteren Kasten) reserviert. Die Kastenfrage nimmt in der indischen Innenpolitik eine höchst brisante Stellung ein. Eine Ausweitung der Quoten auf niedere Kasten auf Vorschlag der umstrittenen Mandal-Kommission rief 1990 heftige Proteste von Angehörigen höherer Kasten hervor und führte zum Sturz von Premierminister Vishwanath Pratap Singh. Unzureichende schulische Bildung sowie Beratung in Fragen der reproduktiven Gesundheit hatte zur Folge, dass die Zahl der HIV-Infizierten ab den 1980er und 1990er Jahren rasch angestiegen ist, seit 1986 die ersten Infektionsfälle bekannt wurden. 2008 trugen rund 2,27 Millionen Inder im Alter zwischen 15 und 49 Jahren das Virus. Die Zahl der Infizierten liegt damit weltweit an dritter Stelle hinter Südafrika und Nigeria. In den Jahren nach 2002 ist ein prozentualer Rückgang an Infizierten zu verzeichnen. 2002 waren 0,45 % der erwachsenen indischen Bevölkerung infiziert, 2007 waren es 0,34 % und 2008 0,29 %. Die Übertragungswege des HI-Virus werden für 2009/10 mit 87,1 % zwischen Heterosexuellen angegeben. Hierfür ist hauptsächlich der weitverbreitete ungeschützte Geschlechtsverkehr mit Prostituierten verantwortlich. Die Übertragung von Mutter zu Kind beträgt 5,4 % und zwischen Homosexuellen 1,5 %. Drogenabhängige sind mit 1,5 % an der Gesamtzahl der Übertragungsfälle beteiligt. Stellung der Frau In der vaterrechtlich geprägten indischen Gesellschaft sind Frauen trotz der rechtlichen Gleichstellung der Geschlechter nach wie vor sehr benachteiligt (siehe unten zum Frauenwahlrecht). Mitgift-Problematik Traditionell wurde Frauen zur Hochzeit eine Mitgift () zum Aufbau eines eigenen Haushalts mitgegeben. Obwohl dies seit 1961 gesetzlich verboten ist, wird auch heute noch häufig eine solche Mitgift aus rein wirtschaftlichen Erwägungen von den Brauteltern verlangt. In manchen Fällen übersteigt die geforderte „Aussteuer“ das Jahreseinkommen der Familie der Braut. Gelegentlich kommt es zu so genannten Mitgiftmorden, wenn die Angehörigen der Braut nicht in der Lage waren, die hohen Forderungen nach der Eheschließung zu erfüllen. Diese dowry-Problematik trägt in nicht unerheblichem Maße dazu bei, dass Mädchen meist geringer angesehen sind als Jungen oder gar als unerwünscht gelten. Die Praxis der Mitgiftforderung fördert zudem ausbeuterische Arbeitsverhältnisse wie das Sumangali-Prinzip (Kinderarbeit), da arme Eltern ihre Töchter in der Hoffnung auf eine selbst erwirtschaftete Mitgift bereitwillig den Rekrutierern mitgeben. Abtreibung weiblicher Föten In Indien werden deutlich mehr weibliche Föten abgetrieben als männliche: Laut der Volkszählung 2011 kamen auf 1000 Jungen nur 914 Mädchen (47,75 % = 109 Jungen zu 100 Mädchen) – im Jahr 2001 waren es noch 927 Mädchen (48,11 %, 108:100; jeweils unter 7 Jahren). In der Gesamtbevölkerung kamen im Jahr 2011 auf 1000 männliche 940 weibliche Inder (48,45 %, 106:100) – im Jahr 2001 waren es 933 weibliche (48,27 %, 107:100). Sexualisierte Gewalt Laut einer Studie der Thomson Reuters Stiftung war Indien im Jahr 2018 das gefährlichste Land für Frauen weltweit. Indien lag innerhalb der 10 gefährlichsten Länder (inklusive USA und Saudi-Arabien) auf Rang 1 in 3 von 6 Bereichen: kulturelle Unterdrückung und Misshandlung von Frauen, sexualisierte Gewalt gegen Frauen sowie Menschenhandel und Zwangsprostitution. Im Jahr 2016 wurden demnach 40.000 Vergewaltigungen in Indien gemeldet. Frauen-Indizes Im Global Gender Gap Report 2020 des Weltwirtschaftsforums, der die Gleichstellung von Männern und Frauen in 153 Ländern misst, liegt Indien nur auf Rang 112 mit einem Gender-Gap von 33,2 %: Frauen erreichen nur zwei Drittel des Stands der Männer in wirtschaftlicher und bildungsmäßiger Hinsicht sowie bezüglich Gesundheit und politischer Beteiligung. Das Entwicklungsprogramm der Vereinten Nationen (UNDP) ermittelte zum Jahr 2018 den Index der geschlechtsspezifischen Ungleichheit (GII: Gender Inequality Index) unter 162 Ländern: Indien lag auf Rang 122 mit nur 39 % Frauen mit sekundärer Schulbildung (Männer: 63,5 %) und 23,6 % Erwerbsbeteiligung (Männer: 78,6 %). Beim Index der geschlechtsspezifischen Entwicklung (GDI: Gender Development Index) lag Indien auf Rang 153 von 166 Ländern: Alleine beim Pro-Kopf-Einkommen bestand ein Unterschied von 75,5 % (2.625 $ Jahreseinkommen gegenüber 10.712 $ von Männern). Politik und Staat Politisches System Gemäß der Verfassung von 1950 ist Indien eine parlamentarische Demokratie. Indien ist, nach der Zahl der Bürger, die größte Demokratie der Erde. Das indische Parlament ist die gesetzgebende Gewalt und besteht aus zwei Kammern: dem Unterhaus (Lok Sabha) und dem Oberhaus (Rajya Sabha). Das Unterhaus wird auf fünf Jahre nach dem Prinzip des Mehrheitswahlrechtes gewählt. Wahlberechtigt ist jeder Staatsbürger, der das 18. Lebensjahr vollendet hat. Das Oberhaus ist die Vertretung der Bundesstaaten auf nationaler Ebene. Seine Mitglieder werden von den Parlamenten der Staaten gewählt. Die Parteienlandschaft des Landes ist äußerst vielfältig (vgl. Liste der politischen Parteien in Indien). Viele Parteien sind zwar auf bestimmte Bundesstaaten beschränkt, dennoch ergibt sich immer wieder die Notwendigkeit, Koalitionen zu bilden. Die National Democratic Alliance (NDA) war eine Koalition, die zu Beginn ihrer Regierungszeit 1998 aus 13 Parteien bestand (unter Führung der BJP). Der Präsident als Staatsoberhaupt wird von einem Gremium der Abgeordneten des Bundes und der Länder auf fünf Jahre gewählt. Seit 2022 hat Draupadi Murmu das Amt inne. Die Verfassung sieht vor, dass Bundesstaaten unter President’s rule gestellt werden können, wenn das Land als „unregierbar“ gilt. Dies war in der Vergangenheit in mehreren Bundesstaaten der Fall. Das Präsidentenamt ist jedoch überwiegend von zeremoniellen oder repräsentativen Aufgaben geprägt, die politische Macht liegt beim Premierminister. Üblicherweise erteilt der Premierminister dem Präsidenten einen entsprechenden „Rat“, der in der Regel befolgt wird. Zuletzt ließ Premierminister P. V. Narasimha Rao nach den Unruhen in Ayodhya 1993 alle vier BJP-Landesregierungen ihres Amtes entheben und die Länder unter President’s rule stellen. Der Präsident ist auch oberster Befehlshaber der Streitkräfte. Der Regierungschef in den Bundesstaaten sowie in drei von acht Unionsterritorien ist der Chief Minister, der vom Parlament des jeweiligen Gebiets gewählt wird. Politische Indizes Verwaltungsgliederung Indien ist in 28 Bundesstaaten (engl. States) und acht Unionsterritorien (engl. Union Territories) gegliedert, die sich in insgesamt über 600 Distrikte (engl. Districts) unterteilen. In einigen Bundesstaaten werden mehrere Distrikte zu Divisionen (engl. Divisions) zusammengefasst. Den Distrikten untergeordnet sind parallel und teils überlappend die Tehsils (oder auch Taluks), Blöcke und Subdivisions. Die unterste Verwaltungsebene stellen die Dörfer selbst dar, die mitunter in sogenannten Hoblis zusammengefasst sein können. Während die Unionsterritorien von der Zentralregierung in Neu-Delhi verwaltet werden, verfügt jeder Bundesstaat über ein eigenes Parlament und eine eigene Regierung. Der Regierung eines Bundesstaats steht der Chief Minister vor, der allerdings formal einem vom indischen Präsidenten ernannten Gouverneur mit weitgehend repräsentativen Aufgaben untergeordnet ist. Letzterem werden bei Anwendung der President’s rule die Regierungsgeschäfte übertragen. Die Kommunalverwaltung obliegt in größeren Städten mit mehreren hunderttausend Einwohnern den Municipal Corporations, in kleineren Städten den Municipalities. Im ländlichen Raum wird der dreistufige Panchayati Raj angewandt. Dieses System umfasst gewählte Räte (Panchayats) auf Dorf- und Block-, aber auch auf Distriktebene. Die Zuständigkeiten der Kommunalverwaltungen sind je nach Bundesstaat unterschiedlich gestaltet. Vor der Unabhängigkeit umfasste Indien sowohl selbstständige Fürstenstaaten unter britischer Aufsicht als auch britische Provinzen (englisch Presidencies), die von britischen Kolonialverwaltern regiert wurden. Nach der Unabhängigkeit wurden die ehemaligen Fürstenstaaten von einem ernannten Gouverneur, die ehemaligen Provinzen jedoch von einem gewählten Parlament und einem gewählten Gouverneur regiert. Im Jahre 1956 beseitigte der States Reorganisation Act die Unterschiede zwischen ehemaligen Provinzen und Fürstentümern und schuf einheitliche Bundesstaaten mit einer gewählten Regionalregierung. Bei der Neuordnung der Bundesstaaten wurde die jeweilige Muttersprache der Bewohner als Grundlage der Grenzziehung verwendet. Am 1. Mai 1960 wurde der bisherige Staat Bombay in die neuen ethnischen Staaten Gujarat und Maharashtra aufgeteilt. 2000 entstanden drei neue Bundesstaaten: Jharkhand aus den südlichen Teilen von Bihar, Chhattisgarh aus den östlichen Teilen von Madhya Pradesh und Uttarakhand (bis 2006 Uttaranchal) aus dem nordwestlichen Teil von Uttar Pradesh. Zum 2. Juni 2014 entstand aus Teilen des Bundesstaates Andhra Pradesh als neuer, 29. Bundesstaat Telangana; seine Hauptstadt ist Hyderabad. Zum 31. Oktober 2019 wurde der Bundesstaat Jammu und Kashmir aufgelöst und auf die Unionsterritorien Jammu und Kashmir und Ladakh aufgeteilt. Die Unionsterritorien Dadra und Nagar Haveli und Daman und Diu wurden am 28. Januar 2020 zu Dadra und Nagar Haveli und Daman und Diu zusammengelegt. Bundesstaaten Die folgende Liste zeigt die 28 Bundesstaaten Indiens, ihre Abkürzungen entsprechen der ISO-Norm (31766-2:IN) – wo das Autokennzeichen davon abweicht, ist es eingeklammert angehängt: Unionsterritorien Städte Hauptstadt Indiens ist Neu-Delhi innerhalb der Grenzen von Delhi, das mit rund 11 Millionen Einwohnern die zweitgrößte Stadt des Landes darstellt und mit mehr als 16 Millionen Einwohnern die zweitgrößte Agglomeration. Delhi ist kultureller Mittelpunkt der hindisprachigen Gemeinschaft des Nordens. Indiens größte Stadt und wirtschaftliches Zentrum ist jedoch Mumbai (Bombay). Die Metropole an der Westküste zählt mehr als 12,5 Millionen Einwohner, in der Agglomeration rund 18 Millionen. An dritter Stelle folgt Bengaluru (Bangalore). In der 8,5-Millionen-Stadt im südlichen Dekkan-Hochland sind zahlreiche Hochtechnologiefirmen angesiedelt, was ihr den Beinamen „Silicon Valley Indiens“ eingebracht hat. Viertgrößte Stadt ist das ebenfalls in Südindien gelegene Hyderabad mit 6,8 Millionen Einwohnern, gefolgt vom westindischen Ahmedabad mit 5,6 Millionen Einwohnern. Chennai (Madras), die mit 4,7 Millionen Einwohnern siebtgrößte Stadt Indiens, ist als kultureller Mittelpunkt Südindiens und insbesondere der Tamilen bekannt. Kalkutta, die wichtigste Metropole des Ostens, liegt mit 4,5 Millionen Menschen an achter Stelle. Sie gilt als intellektuelles Zentrum. Die folgende Liste zeigt die 20 größten städtischen Gebiete laut der Volkszählung in Indien 2011: Rechtssystem Die Geschichte des modernen indischen Rechts begann mit der Gründung der britischen East India Company zu Silvester 1600. Frauenwahlrecht 1950 wurde ein umfassendes Frauenwahlrecht eingeführt. Die Vorgeschichte dazu reicht aber bis ins 19. Jahrhundert zurück: Laut Berichten aus dem Jahr 1900 wurde die Beteiligung von Frauen an Lokalwahlen in Bombay mit einem Zusatz zum Bombay Municipal Act (1888) ermöglicht: Hausbesitzer durften dann unabhängig vom Geschlecht wählen. Es gibt aber Hinweise darauf, dass einige Frauen bei den Stadtratswahlen von Bombay schon viele Jahre vorher mit abstimmten. 1918 unterstützte der Nationale Indische Kongress die Einführung des aktiven Frauenwahlrechts, und die Verfassungsreformen von 1919 ermöglichten es den gesetzgebenden Versammlungen in den Provinzen, über die Einführung selbst zu entscheiden. Die Provinz Madras, in der die antibrahmanische Partei die Mehrheit hatte, war die erste, die Frauen 1921 das Stimmrecht gab; andere Provinzen folgten. Frauen, die das Wahlrecht auf Provinzebene besaßen, durften auch an den Wahlen zur Zentralen Gesetzgebenden Versammlung teilnehmen. 1926 erhielten Frauen auch das passive Wahlrecht. 1926 wurde Sarojini Naidu die erste Kongresspräsidentin. 1935 dehnte der Government of India Act, der 1937 in Kraft trat, das Wahlrecht für beide Geschlechter weiter aus. Er sah vor, dass Frauen wählen konnten, wenn sie eine von mehreren Bedingungen erfüllten: Grundeigentum, ein bestimmtes Maß an Bildung, das das Lesen und Schreiben einschloss oder der Status einer Ehefrau, falls der Mann wahlberechtigt war. Die Änderung einer weiteren Bestimmung zeigte einen wichtigen Wandel im Verständnis dessen an, was man unter Bürgerrechten verstand: Einige Sitze in den gesetzgebenden Versammlungen der Provinzen waren für Frauen reserviert; Männer konnten diese Mandate nicht übernehmen. Diese Vorschriften garantierten, dass Frauen auch tatsächlich gewählt wurden. Die Regelung hatte auch zur Folge, dass Frauen sich auch über diese Quote hinaus um Mandate bewarben, und sorgte dafür, dass fähige Frauen ihr Können als Abgeordnete und Ministerinnen unter Beweis stellen konnten. 1937 fanden die ersten Wahlen nach diesen neuen Regeln statt. Von den 36 Millionen Stimmberechtigten waren sechs Millionen Frauen. Ende 1939 hatten alle Provinzen das Frauenwahlrecht eingeführt. Zwar war dies ein grundsätzlicher Fortschritt, doch das Wahlrecht war an Grundeigentum gebunden. Da viele Inder kein Land besaßen, erhielten relativ wenige Männer und noch viel weniger Frauen infolge der Reformen von 1919 das Wahlrecht. 1947 erlangte Indien die Unabhängigkeit – bis dahin hatte es weder für Frauen noch für Männer ein allgemeines Wahlrecht gegeben. 1949 arbeitete die Konstituierende Versammlung eine neue Verfassung aus. Weibliche Abgeordnete, die selbst von der Quotenregelung profitiert hatten, sprachen sich gegen die Fortführung dieser Praxis aus. Die neue Verfassung, die am 26. Januar 1950 in Kraft trat, sah ein allgemeines aktives und passives Wahlrecht für alle Erwachsenen vor. Doch in den Landesteilen, die bei der Teilung zu Pakistan wurden, mussten Frauen jahrelang auf das allgemeine Wahlrecht warten. Siehe oben zur aktuellen Stellung der Frau Gewaltenteilung Da in Indien Gewaltenteilung herrscht, ist die Judikative streng von Legislative und Exekutive getrennt. Oberster Gerichtshof des Landes ist der Supreme Court in Neu-Delhi mit 26 Richtern, die vom Präsidenten ernannt werden. Den Vorsitz hat der Chief Justice of India. Streitigkeiten zwischen den Staaten und der Zentralregierung fallen in seine Zuständigkeit. Außerdem stellt er die höchste Berufungsinstanz des Landes dar. Dem Supreme Court untergeordnet sind 21 High Courts der Bundesstaaten. Ab der dritten Rechtsebene (Distriktebene) wird zwischen Zivil- und Strafgerichten unterschieden. Zivile Rechtsstreitigkeiten fallen in den Metropolitan Districts (Stadtdistrikten) in den Zuständigkeitsbereich der City Civil Courts, welche den District Courts der Landdistrikte entsprechen. Für das Strafrecht sind in Stadt- und Landdistrikten die Sessions Courts verantwortlich. Außerdem existieren Sondergerichte für spezielle Bereiche wie Familien- und Handelsrecht. Die Rechtsprechung einfach gelagerter Streitfälle der untersten Ebene findet in den Panchayati Rajs der Dörfer (Gram Panchayat) statt. Infolge der britischen Rechtspraxis der Kolonialzeit findet in Indien heute noch vielfach das Common Law Anwendung, das sich nicht allein auf Gesetze, sondern in hohem Maße auf maßgebliche Urteile hoher Gerichte in Präzedenzfällen stützt. Die Gerichtssprache ist Englisch, auf den unteren Ebenen kann aber auch in der jeweiligen regionalen Amtssprache verhandelt werden. Eine Besonderheit im sonst säkularen Indien ist seine Gesetzgebung im Familien- und Erbrecht, die jeweils eigene Regelungen für Hindus (diese gilt auch für Sikhs, Jains und Buddhisten), für Muslime, für Christen und für Parsen aufrechterhält (siehe hierzu Ehe im Hinduismus#Gesetzgebung und Islamische Ehe#Indien). Innenpolitik Während des Unabhängigkeitskampfes bildete sich der Nationalkongress, der die Kolonialherrschaft der Engländer beenden wollte. Nach der Unabhängigkeit 1947 wurde die Kongresspartei stärkste Partei und bildete unter Jawaharlal Nehru die erste Regierung. Bis Mitte der 1990er Jahre dominierte die Kongresspartei meist unter Führung der Nehru-Gandhi-Familie, mit nur zwei kurzen Unterbrechungen, die Politik des Landes. Erst im Zusammenhang mit der geplanten „Wieder“errichtung des Ram-Janmabhumi-Tempels anstelle der Babri-Moschee in Ayodhya gelang es der Bharatiya Janata Party (BJP, Indische Volkspartei, Symbol: Lotosblüte) mit nationalistischen Parolen Unterstützung auf breiter Ebene zu finden. Dies gipfelte in dem Marsch auf Ayodhya und dem Abriss der Moschee, der im ganzen Land zu gewalttätigen Ausschreitungen und Übergriffen, vor allem gegen Muslime, mit vielen Toten führte. Die polarisierende und pro-hinduistisch ausgerichtete Politik der BJP steht ganz im Zeichen der hindunationalistischen Hindutva-Bewegung, die – auch unter Beteiligung von paramilitärischen Gruppen, wie dem Nationalen Freiwilligencorps (Rashtriya Swayamsevak Sangh, kurz RSS) – die Hinduisierung Indiens und in ihren extremen Auswüchsen die Vertreibung der muslimischen und christlichen Bevölkerung zum Ziel hat. Von 1998 bis 2004 stellte die BJP die Regierung unter dem als eher gemäßigt geltenden Atal Bihari Vajpayee als Premierminister. Nach einem Anschlag auf einen Zug mit Pilgern im Jahre 2002 begannen Massaker in Gujarat, die von der dort regierenden BJP nur halbherzig bekämpft wurden. Diese Unruhen haben dann doch wohl viele moderate Hindus zu einem gewissen Umdenken gebracht, zumal die von der Indischen Volkspartei hochgehaltene Vision eines Shining India („Strahlendes Indien“) weite Teile der Bevölkerung, die nicht vom Boom der letzten Jahre profitierten, ob der hochgesteckten Ziele eher skeptisch werden ließ. Bei der Parlamentswahl 2004 erzielte die oppositionelle Kongresspartei unter Sonia Gandhi einen unerwarteten Sieg. Überraschend für ihre Parteienkoalition lehnte sie es ab, den Posten des Premierministers zu übernehmen, Manmohan Singh wurde am 22. Mai 2004 als Premierminister vereidigt. Bei der Parlamentswahl 2009 konnte die Parteienkoalition der United Progressive Alliance unter Führung des Indischen Nationalkongress ihren parlamentarischen Rückhalt deutlich ausbauen, so dass Manmohan Singh erneut zum Premierminister gewählt wurde. Bei der Wahl 2014 wurde Narendra Modi zum Premierminister gewählt, seine Bharatiya Janata Party errang mit großem Vorsprung 31 % der Stimmen. Außenpolitik Vier Jahrzehnte lang war die indische Außenpolitik durch das Engagement in der Bewegung der Blockfreien Staaten und das „besondere Freundschaftsverhältnis“ mit der Sowjetunion geprägt, die besonders Jawaharlal Nehru vorantrieb. Die drei Leitlinien indischer Blockfreiheit bestanden darin, Militärbündnissen mit amerikanischer oder sowjetischer Beteiligung fernzubleiben, außenpolitischen Herausforderungen sachgerecht und vollständig aus indischer Perspektive zu begegnen und freundschaftliche Beziehungen zu allen Ländern zu betreiben. Dabei betrachtete sich Indien nicht als äquidistant, sondern suchte bis zum Krieg gegen China 1962 die Führungsrolle innerhalb der blockfreien Bewegung. Dies drückte sich beispielsweise in der Entsendung von Friedenstruppen in den Gazastreifen 1956 und in den Kongo 1961 aus sowie in der Verurteilung der franko-britischen Intervention in der Sueskrise. Ebenso verurteilte es das sowjetische Vorgehen zu Beginn des Koreakrieges 1950 und 1956 als inakzeptable Einmischung. Nach dem Ende des Kalten Krieges orientierte Indien sich neu. Die historisch eher schwierigen Beziehungen zu den USA verbesserten sich; im März 2000 besuchte US-Präsident Bill Clinton Indien. Die USA bemühten sich nun stärker um Indien als strategischen Partner. Hinsichtlich des Kaschmir-Konflikts stützten die USA nun stärker die Haltung Indiens. Nach den Terroranschlägen am 11. September 2001 stellte sich Indien ohne Einschränkung auf die Seite der USA. Heute werden die außenpolitischen Ziele Indiens vor allem durch das Bemühen, einen ständigen Sitz im UN-Sicherheitsrat zu erlangen, charakterisiert. Hierbei zieht Indien China als Vergleichsmaßstab heran und strebt eine Statusaufwertung an. Indien beansprucht aufgrund seiner Größe und zivilisatorischen Bedeutung denselben Rang wie China, das als anerkannte Atommacht mit ständigem Sitz im Sicherheitsrat der Vereinten Nationen vertreten ist. Indien führte zwei Kernwaffentests durch, den ersten 1974 unter Indira Gandhi, den zweiten im Mai 1998 unter Atal Bihari Vajpayee. Zwei Wochen später, am 28. Mai, zündete Pakistan zum ersten Mal einen Atomtest. Den Atomwaffensperrvertrag haben weder Indien noch Pakistan unterschrieben. Die Beziehungen zwischen beiden Staaten sind seit dem Ende der Kolonialzeit durch den Kaschmir-Konflikt belastet. Einen letzten Höhepunkt der „Eiszeit“ zwischen Indien und Pakistan bildeten die Gefechte in Kargil 1999. Ein Friedensprozess begann 2004; er geriet aber 2008 nach Anschlägen im indischen Mumbai mit 166 Toten ins Stocken. Indien macht pakistanische Islamisten für die Tat verantwortlich. 2010 und 2011 kamen die beiden Außenminister zu Treffen zusammen. Die Atomtests im Mai 1998 wurden zwar stets mit dem Verweis auf die chinesische Bedrohung gerechtfertigt (Angriff Chinas von 1962), in erster Linie verfolgt Indien mit den Tests jedoch wohl eine internationale Statusaufwertung und versucht, eine Gleichrangigkeit mit China zu untermauern. Indien betreibt eine erhebliche konventionelle Aufrüstung, genauso wie China und andere asiatische Länder wie Pakistan. Tatsächlich stehen sich Indien und China mittlerweile eher freundschaftlich gegenüber. Zunehmende Handelsverflechtungen und die gegenseitige Anerkennung des Status quo in Tibet durch Indien 2003 und Sikkim durch China 2004 haben zu einer spürbaren Entlastung des politischen Verhältnisses beigetragen. Dennoch bestehen noch immer Grenzstreitigkeiten um den chinesisch besetzten Teil Kaschmirs (Aksai Chin) sowie den größten Teil des indischen Bundesstaats Arunachal Pradesh. Mit Bangladesch besteht seit Jahrzehnten Uneinigkeit über Fragen der Wasserverteilung. Auch Grenzverlauf und -verkehr waren lange Zeit umstritten. Bis zum Indisch-bangladeschischen Grenzvertrag von 2015 bestanden auf beiden Seiten der Grenze insgesamt mehr als 150 Enklaven, darunter ein „Stückchen indischen Landes innerhalb bangalischen Territoriums, das selber vollständig von einer indischen Besitzung umgeben ist, die wiederum innerhalb Bangladeshs liegt“ (Stand Mai 2015). Als belastend gilt zudem die illegale Einwanderung vieler Bangladescher nach Indien. Am 6. Juni 2015 wurde ein Abkommen unterzeichnet, demzufolge Bangladesch 111 indische Enklaven erhielt und Indien im Gegenzug 52 bangladeschische auf seinem Gebiet. Damit wurde eine „geregelte Grenze“ hergestellt. 53.000 Bewohner der betroffenen Gebiete konnten entscheiden, welchem der zwei Staaten sie angehören wollen. Indien ist eines der Gründungsmitglieder der Vereinten Nationen sowie Mitglied zahlreicher weiterer internationaler Organisationen, darunter Commonwealth, Internationaler Währungsfonds, Weltbank und Welthandelsorganisation (WTO). Indien ist Mitglied in der Gruppe der zwanzig wichtigsten Industrie- und Schwellenländer und der G33. Eine tragende Funktion hat es in der Südasiatischen Vereinigung für regionale Zusammenarbeit (SAARC). 2017 wurde Indien gemeinsam mit Pakistan in die Shanghaier Organisation für Zusammenarbeit aufgenommen. Indien bewarb sich für die Mitgliedschaft in der Organisation für Islamische Zusammenarbeit, wurde allerdings aufgrund eines Vetos Pakistans abgelehnt, obwohl Indien das Land mit den drittmeisten Muslimen weltweit ist. Die Beziehungen Indiens zur EU basieren auf einer umfassenden politischen Erklärung und einem Aktionsplan für eine strategische Partnerschaft, die auf dem EU-Indien-Gipfel im Herbst 2005 verabschiedet wurden und seitdem schrittweise umgesetzt werden. Damit sollen die Beziehungen zu Indien formal auf eine Ebene mit denen zu den Vereinigten Staaten, Kanada, Japan, Russland und China gestellt werden. Zukünftig will man das Potenzial für gemeinsame Kooperationen und Austausch noch stärker ausschöpfen. Dies gilt insbesondere auch für die Bereiche Konfliktprävention, Terrorismusbekämpfung und die Stärkung der Menschenrechte. Bildungswesen In Indien besteht allgemeine Bildungspflicht von 6 bis 14 Jahren, und das indische Parlament beschloss 2002 einstimmig, das Recht auf Bildung in die Verfassung aufzunehmen. Während dieses Zeitraumes ist der Besuch öffentlicher Schulen kostenlos. Insgesamt gab es in Indien 315 Millionen Schüler, mehr als in jedem anderen Land (Stand: Zensus 2011). Das Schulsystem umfasst vier Hauptstufen: auf die fünfjährige Grundschule folgt die Mittelschule von der sechsten bis achten Klasse, darüber die höheren Schulen und schließlich die Hochschulen sowie Universitäten. Allgemein hat der Staat in der Vergangenheit besonderes Augenmerk auf die Förderung von höheren Bildungseinrichtungen gelegt, was den aus der Kolonialzeit herrührenden elitären Charakter des Bildungswesens eher noch verstärkt hat. Dennoch ziehen viele Angehörige der Mittel- und Oberschicht gerade bei der höheren Bildung private Einrichtungen den staatlichen vor. In Indien stieg die mittlere Schulbesuchsdauer aller Personen über 25 von 3 Jahren 1990 auf 6,3 Jahre 2015 an. Die aktuelle Bildungserwartung beträgt bereits 11,7 Jahre. Heute werden zwar fast alle Kinder – zumindest Jungen – tatsächlich eingeschult, in den höheren Klassenstufen wird die Zahl der Abbrecher aber immer höher. Vor allem im ländlichen Raum erhalten daher viele Kinder nur eine äußerst rudimentäre Grundbildung. Weiterführende Schulen und höhere Bildungseinrichtungen stehen dagegen meist nur in Städten zur Verfügung. Immerhin konnten seit der Unabhängigkeit große Fortschritte bei der Alphabetisierung erzielt werden. 2011 lag die Alphabetisierungsrate im Landesdurchschnitt bei 74,0 % (Männer: 82,1 %, Frauen: 65,5 %). 2001 hatte sie noch 64,8 % betragen, 1951 sogar nur 18,3 %. Da das Bildungswesen größtenteils den Bundesstaaten obliegt, weist es dementsprechend große regionale Unterschiede auf. Dies äußert sich am deutlichsten in der sehr ungleichen Analphabetenquote. Während sie in Kerala, dem Staat mit der höchsten Alphabetisierungsrate, 2011 nur 6,1 % betrug, war sie im finanziell ärmsten Staat Bihar mit 36,2 % fast sechsmal so hoch. Ein weiteres Problem ist die Benachteiligung von Mädchen, deren Einschulungsrate geringer ist als die von Jungen (Durchschnitt 2000 bis 2004: Jungen: 90 %, Mädchen: 85 %). An höheren Bildungseinrichtungen liegt der Frauenanteil in der Regel deutlich unter dem der Männer. Ein großer Schwachpunkt ist auch das bisher wenig entwickelte Berufsschulwesen, welches allerdings stark im Wachsen begriffen ist. Indien verfügte 2016 über 750 Universitäten und 41.435 Colleges mit insgesamt 28,5 Millionen Studierenden. Nach der Volksrepublik China ist Indien damit das Land mit den meisten Hochschülern. Laut dem Ranking Times Higher Education von 2019 schaffen es das Indian Institute of Science Bangalore und Indian Institute of Technology Ropar unter die besten 400 Institutionen weltweit. Die folgende Liste zeigt die indienweite Entwicklung der Alphabetisierung von 1951 bis 2011; im Jahr 1901 konnten 5,1 % der Bevölkerung lesen und schreiben, ein Anteil der bis 1941 auf 16,1 % stieg: * ohne Assam** ohne Jammu und Kashmir Gesundheitswesen Das Gesundheitswesen ist überwiegend staatlich, obwohl es auch viele private Krankenhäuser gibt. Obwohl die Gesundheitsbetreuung auf dem Land bereits erheblich verbessert wurde, insbesondere durch Erste-Hilfe-Stationen in Dörfern, besteht noch ein großes Stadt-Land-Gefälle. In vielen Dörfern gibt es keine medizinischen Einrichtungen. Verschlimmert wird die Lage durch schlechte hygienische Bedingungen, wie fehlender Zugang zu sauberem Trinkwasser und Sanitäranlagen, sowie Unterernährung. Ähnliche Bedingungen herrschen in städtischen Elendsvierteln. Seuchen wie Malaria, Filariose, Tuberkulose und Cholera sind in manchen Regionen noch immer ein großes Problem. Trotz aller Schwierigkeiten und Hemmnisse stieg die Lebenserwartung bei Geburt von 53,3 Jahren 1980 auf 67,6 Jahre (Männer: 66,2 Jahre, Frauen: 69,1 Jahre) 2015. Früher war Indien eines der wenigen Länder der Erde, in denen Männer eine höhere Lebenserwartung aufwiesen als Frauen. In den letzten Jahren hat sich dies umgekehrt. Die Kindersterblichkeit (unter 5-jährige) in Indien lag 2018 bei 3,7 % (1960 betrug sie noch 24,2 %). Wegen der geringen Kosten und der guten Qualität der ärztlichen Behandlung in spezialisierten Krankenhäusern gewinnt der Medizintourismus aus nordamerikanischen und europäischen Industrieländern immer mehr an Bedeutung. Die folgende Liste zeigt die indienweite Entwicklung der Lebenserwartung von 1950 bis 2015 (Quelle: UN-DESA): COVID-19-Pandemie in Indien Die COVID-19-Pandemie führte zu Übergriffen auf medizinisches Personal, die als Überträger der Erkrankung angesehen wurden. Streitkräfte und Verteidigung Indiens Militär besteht aus Freiwilligen, eine Wehrpflicht gibt es nicht. Die offiziellen Streitkräfte sind die drittgrößten der Welt. Sie umfassen 1,3 Millionen Soldaten, wovon 1,1 Millionen im Heer, 150.000 bei der Luftwaffe und 53.000 bei der Marine dienen. Dazu kommen 800.000 Reservisten und 1,1 Millionen Mann in vor allem bei internen Konflikten eingesetzten paramilitärischen Verbänden. Zählt man Letztere hinzu, hat nur Chinas Militär eine größere Truppenstärke. Die indischen Streitkräfte hatten im Jahr 2005 3.264 Kampfpanzer, 733 Kampfflugzeuge, 199 Hubschrauber, 21 Kriegsschiffe und 17 U-Boote. Im Jahr 2004 war Indien der zweitgrößte Waffenkäufer der Erde mit einem Anteil von 10 % an allen Waffenkäufen; so ging ein Viertel der gesamten russischen Waffenexporte nach Indien. Die Militärausgaben im Jahr 2016 betrugen 55,9 Milliarden US-Dollar, das entsprach 2,5 % des Bruttoinlandsproduktes. Indien hatte damit das weltweit fünft-höchste Militärbudget. Seit 1974 ist Indien offiziell Atommacht. Es hat selbst entwickelte Kurzstreckenraketen sowie Mittelstreckenraketen mit Reichweiten von 700 bis 8000 km. 2012 standen 84 Nuklearsprengköpfe zur Verfügung. Bis heute hat Indien den Atomwaffensperrvertrag nicht unterzeichnet, verzichtet jedoch laut seiner Nukleardoktrin auf den nuklearen Erstschlag. Indiens einzige Militärbasis im Ausland ist seit 2004 der Luftstützpunkt Farkhor in Tadschikistan. Zudem besteht mit Mosambik ein Militärabkommen, das Ankerrechte und Versorgung von indischen Kriegsschiffen vorsieht. Mit Mauritius bestehen zudem enge militärische Bindungen. Die indischen Luftstreitkräfte kontrollieren den mauritischen Luftraum und es besteht eine Zusammenarbeit mit der indischen Marine (Stand 2007). Seit der Unabhängigkeit hat das indische Militär kaum Interesse an einer politischen Einflussnahme gezeigt. Es ist der Zivilverwaltung unterstellt; den militärischen Oberbefehl hat der Präsident. Wirtschaft Indien ist eine gelenkte Volkswirtschaft, die seit 1991 zunehmend dereguliert und privatisiert wird. Seither hat sich das Wirtschaftswachstum deutlich beschleunigt. Die Leistungsfähigkeit der indischen Wirtschaft hat nach Einschätzung vieler Beobachter in einigen Branchen (Informationstechnologie, Pharmazie) inzwischen internationales Spitzenniveau erreicht. Behindert wird das Wachstum der Produktion der indischen Wirtschaft insbesondere durch Mängel der vielfach veralteten Infrastruktur, vor allem durch Engpässe bei der Energieversorgung, die zu häufigen Stromausfällen führen. Trotz der 1991 begonnenen Liberalisierung der Wirtschaft leiden vor allem die Industrie und der Bankensektor nach wie vor unter häufigen staatlichen Eingriffen und den langsamen politischen Entscheidungsprozessen. Der Schutz ineffizienter Staatsunternehmen vor Wettbewerb bleibt ein Hemmschuh. Ein Belastungsfaktor ist auch die weitverbreitete Korruption. Zudem beeinträchtigen nach wie vor Arbeitsmarktregulierungen, die zum Beispiel Entlassungen von Arbeitskräften stark erschweren, das Investitionsklima. Ausländische Investoren werden so abgeschreckt. Indien verliert zudem eine große Zahl von qualifizierten Arbeitskräften ins Ausland (Braindrain). Andererseits ist es der größte Profiteur von Auslandsrücküberweisungen von Emigranten auf der Welt. 2016 betrugen sie 62,7 Milliarden US$ und trugen damit knapp 3 % der Wirtschaftsleistung bei. Die Integration Indiens in die Weltwirtschaft hat sich in den letzten Jahren verstärkt. Das Land profitiert zunehmend von den Vorteilen der internationalen Arbeitsteilung und der Globalisierung. Die indische Wirtschaft ist aber noch sehr stark binnenwirtschaftlich orientiert. Ihr Anteil an der Weltwirtschaft liegt noch bei knapp 3 %, obwohl Ein- und Ausfuhren in den letzten Jahren kräftig gewachsen sind. Die niedrigen Anteile der Aus- und Einfuhren am Bruttoinlandsprodukt signalisieren noch beträchtliches Wachstumspotenzial. 2016 entsprachen die Ausfuhren von Waren und Dienstleistungen nur gut 19,2 % des Bruttoinlandsprodukts, die Einfuhren 20,6 %. Die mittel- und langfristigen Wachstumsperspektiven Indiens werden vielfach sehr günstig beurteilt. Einige Studien rechnen damit, dass Indien künftig sogar stärker als China wachsen wird. Abgesehen vom großen Nachholbedarf, insbesondere im Bereich der Infrastruktur, spricht vor allem die Altersstruktur der Bevölkerung für ein anhaltend starkes Wirtschaftswachstum. Der hohe Anteil junger Menschen an der Bevölkerung wird in den nächsten Jahrzehnten für einen hohen Anteil von Menschen im erwerbsfähigen Alter sorgen. Die in Europa und auch in China zu erwartende „Vergreisung“ der Bevölkerung wird in Indien deutlich später einsetzen. Wachstumsstützen werden auch das schon heute große Angebot an qualifizierten Arbeitskräften und die enger werdende Integration in die Weltwirtschaft sein. Die hohen Währungsreserven und relativ niedrige Auslandsschulden dürften das Vertrauen ausländischer Investoren in die Entwicklung der indischen Wirtschaft stärken. Bisher waren die ausländischen Direktinvestitionen in Indien im internationalen Vergleich, insbesondere mit China, gering. Die als relativ wirtschaftsliberal eingeschätzte Regierung Narendra Modis versucht mit Reformen und Initiativen wie der Make-in-India-Kampagne ausländische Investitionen anzulocken. Im Ease of Doing Business Index der Weltbank belegte Indien 2017 Platz 100 von 190 Ländern. Indien konnte sich damit im Vergleich zum Vorjahr um 30 Plätze verbessern und gehörte erstmals zu den ersten 100 Ländern. Konfliktpotentiale bergen die teilweise große Armut, die ungleiche Einkommensverteilung und die hohe Arbeitslosigkeit. In Indien gab es 2017 104 Milliardäre, womit es hinter den USA, China und Deutschland die vierthöchste Anzahl an Milliardären weltweit hatte, während über 20 % der Bevölkerung in extremer Armut lebten und 96,2 % der Inder ein privates Vermögen von weniger als 10.000 US-Dollar besaßen. Bisher verzeichnet Indien jedoch eine bemerkenswert große soziale Stabilität. Im Global Competitiveness Index des Weltwirtschaftsforums, der die Wettbewerbsfähigkeit eines Landes misst, lag Indien im Jahr 2018 auf Rang 40 von 137 Ländern. Im Index für wirtschaftliche Freiheit der Heritage Foundation und des Wall Street Journal belegte Indien 2018 Rang 130 von 180 Ländern. Nach dem Korruptionswahrnehmungsindex von Transparency International lag Indien 2022 unter 180 Ländern zusammen mit Tunesien, den Malediven, Guyana, Suriname und Nordmazedonien auf Rang 85, mit 40 von maximal 100 Punkten. Aktuelle gesamtwirtschaftliche Entwicklung Von 2005 bis 2015 wuchs das Bruttoinlandsprodukt (BIP) Indiens inflationsbereinigt um rund sechs bis 7 % jährlich. Trotz des deutlich beschleunigten Wachstums lag die offizielle Arbeitslosenquote in jener Zeit aber noch bei 9 % – wobei mit einer erheblichen Zahl von Arbeitslosen zu rechnen ist, die von der Statistik nicht erfasst werden. Die Gesamtzahl der Beschäftigten wird für 2017 auf 521,9 Millionen geschätzt. Davon arbeitet ein großer Teil im informellen Sektor. 24,5 % der Arbeitskräfte sind weiblich, womit Frauen noch eine relativ geringe Arbeitsmarktbeteiligung aufweisen. Unbefriedigend bleibt auch die Entwicklung der Staatsfinanzen. Das gesamtstaatliche Haushaltsdefizit bewegt sich bei leicht rückläufiger Tendenz zwischen neun und 10 % des Bruttoinlandsprodukts. Davon entfällt rund die Hälfte auf das Defizit der Zentralregierung. Von den führenden Agenturen zur Bewertung von Kreditrisiken wird die Bonität Indiens vor dem Hintergrund der günstigen gesamtwirtschaftlichen Entwicklung aber zunehmend besser eingeschätzt. Nach der Rating-Agentur Moody’s hob Anfang August 2006 auch die Agentur Fitch ihre Bewertung der Kreditaufnahme des indischen Staates auf den niedrigsten sogenannten investment grade an. Im Zuge der zunehmenden internationalen wirtschaftlichen Verflechtung Indiens war das Land ab 2008 ebenfalls von der weltweiten Wirtschaftskrise betroffen. Das stetige jährliche Wirtschaftswachstum brach ein. Als Gründe werden der junge, global agierende indische Kapitalmarkt, hohe private Kreditverschuldung, steigende Arbeitslosenzahlen sowie sinkende Binnennachfrage und Exportzahlen genannt. Zur Bekämpfung der Krise wurden staatliche Konjunkturpakete aufgelegt, unter anderem Infrastrukturprogramme, Steuersenkungen sowie Subventionen für die Exportindustrie. Indiens Wirtschaft hat in den letzten Jahren an Dynamik zurückgewonnen. Das Wirtschaftswachstum lag im Haushaltsjahr 2015 bei 7,9 %. Das Bruttoinlandsprodukt betrug 2016 im gleichen Zeitraum circa 2.251 Mrd. US-Dollar, das nominale BIP pro Kopf etwa 1.723 US-Dollar. Die Inflation sank von zeitweise ca. 10 % auf ca. 5 % im Jahr 2018. Bei weiter wachsender Einwohnerzahl wird Indien laut Experten bis zur Mitte des Jahrhunderts voraussichtlich nicht nur das bevölkerungsreichste Land der Erde sein, sondern auch zur drittgrößten Volkswirtschaft der Welt (nach den USA und China) aufsteigen. Indien hat dennoch weiterhin mit einer hohen Armut in der Bevölkerung zu kämpfen. Etwa 30 % der Bevölkerung leben aktuell noch unterhalb der Armutsgrenze von 1 US-Dollar pro Kopf und Tag. Landwirtschaft Der weltweit zu beobachtende Wandel der Wirtschaftsstruktur von der Landwirtschaft zur Industrie und zum Dienstleistungssektor vollzieht sich auch in Indien, das aber im internationalen Vergleich, zum Beispiel mit China, immer noch sehr stark agrarisch geprägt ist. 59,4 % der Bevölkerung sind in der Landwirtschaft erwerbstätig. Die ländliche Bevölkerung bildet den ärmsten Teil der Bevölkerung. Vom Aufschwung der Wirtschaft profitiert bisher vorwiegend die Bevölkerung der Städte, wo sich eine kaufkräftige Mittelschicht oft hochqualifizierter Fachkräfte bildete. Dies birgt sozialen Konfliktstoff. Die Abwahl der letzten Regierung im Jahr 2004 wird wesentlich mit der Unzufriedenheit der ländlichen Bevölkerung mit der wirtschaftlichen Entwicklung erklärt. Der Anteil der Landwirtschaft am Bruttoinlandsprodukt ist indes stark rückläufig. Trug sie 1956 noch 56 % bei, so waren es 2016 nach Angaben der Weltbank noch rund 17,4 %. Entsprechend hoch ist die Abhängigkeit des jährlichen Wirtschaftswachstums von den Witterungsbedingungen. Ungünstige Erntebedingungen können es spürbar beeinträchtigen. Seit der Unabhängigkeit wurden große technische Fortschritte gemacht, vor allem im Zuge der sogenannten „Grünen Revolution“ seit Mitte der 1960er Jahre. Die großflächige Einführung von Hochertragssorten, der Einsatz von Dünge- und Schädlingsbekämpfungsmitteln, die teilweise Mechanisierung der Landwirtschaft und die Ausweitung der Bewässerungsflächen haben dazu beigetragen, dass sich das Land heute mit Nahrungsmitteln weitestgehend selbst versorgen kann. Dennoch ist Indiens Landwirtschaft noch vergleichsweise ineffizient. Im ländlichen Raum sind viele Menschen unterbeschäftigt, und eine umfassende Industrialisierung der Landwirtschaft steht weiten Teilen des Landes erst noch bevor. Lediglich im Punjab, der „Kornkammer Indiens“, ist sie bereits weiter fortgeschritten. Am wichtigsten ist der Anbau von Getreide, vor allem Reis. Dessen Hauptanbaugebiete liegen in den fruchtbaren Stromebenen des Nordens sowie entlang der Küsten und im östlichen Dekkan. Indien ist nach China der zweitgrößte Reisproduzent der Erde. Ungefähr ein Fünftel der weltweiten Erträge entfallen auf Indien. Auch beim Weizen, dem zweitwichtigsten Anbauprodukt, liegt Indien weltweit an zweiter Stelle. Weizen wird hauptsächlich in den nördlichen Bundesstaaten Punjab, Haryana und Uttar Pradesh angebaut, aber auch im Norden und Nordwesten des Dekkans sowie Gujarat und Bihar. In trockeneren Landstrichen, wie Rajasthan, Gujarat und großen Teilen des Dekkans, dominiert die Hirse. Mais und Gerste spielen eine geringere Rolle. Zur Nahrungsmittelproduktion trägt zudem der Anbau von Hülsenfrüchten, Kartoffeln, Zwiebeln, Ölsaaten (besonders Erdnüsse, Sojabohnen, Sesam, Raps, Kokosnüsse), Mangos und Bananen bei. Die wichtigsten kommerziellen Anbauprodukte sind Baumwolle, Zuckerrohr, Tee, Tabak, Kaffee, Jute, Cashewnüsse, Gewürze (vor allem Chili, Pfeffer, Kardamom, Ingwer, Koriander, Kurkuma, Zimt, Knoblauch) und Betelnüsse. Wenig effizient ist die indische Viehzucht, trotz des mit 222 Millionen Tieren (Stand: 2002) größten Rinderbestandes der Erde. Insgesamt 20 % der Inder sind Vegetarier, die Fleischproduktion steht daher je nach Region nicht immer im Vordergrund. Dafür werden Milch und Molkereierzeugnisse in großen Mengen hergestellt. Fischerei Nach der erfolgreichen Ertragssteigerung der Landwirtschaft setzte ab den 1980er Jahren die Förderung der Fischerei ein. Parallel zur „Grünen Revolution“ wurde dafür der Begriff der „Blauen Revolution“ geprägt. Nachdem zunächst Kleinfischer mit Außenbordmotoren versorgt worden waren, begann der Aufbau einer modernen Schleppnetzflotte. Dies führte zwar zu einer wesentlichen Erhöhung der Erträge, aber auch zur Überfischung vieler Küstenabschnitte. Indiens wichtigste Fischgründe liegen an der Westküste, wo rund 70 % der Fangerträge erzielt werden. 2001 lag Indien mit einer Fangmenge von 3,8 Millionen Tonnen weltweit an siebter Stelle. Fisch und Garnelen werden heute in großen Mengen exportiert. Die Garnelenzucht wird besonders gefördert. So stammt mittlerweile etwa die Hälfte der Garnelen aus Aquakulturen, die seit den 1990er Jahren vor allem an der Ostküste angelegt worden sind. Die traditionelle Binnenfischerei in Flüssen, Teichen und Seen spielt besonders im Osten und Nordosten Indiens eine Rolle. Im Umland von Delhi etabliert sich nun auch die kommerzielle Zucht von Fischen, vor allem Karpfen. Bergbau und Bodenschätze Indien hat reichliche Vorkommen an hochwertigen Eisen- und Manganerzen, Steinkohle, Bauxit und Chrom. Die größten Rohstofflagerstätten befinden sich in Ostindien, vor allem Jharkhand, Chhattisgarh und Odisha. Eisenerz, bei dessen Förderung das Land 2003 mit 100 Millionen Tonnen an weltweit vierter Stelle lag, kommt außerdem in Goa, Karnataka und Tamil Nadu vor. Indien ist mit über zehn Millionen Tonnen der fünftgrößte Förderer von Bauxit, dem wichtigsten Rohstoff für Aluminium, der hauptsächlich in küstennahen Gebieten Gujarats und Maharashtras sowie in Madhya Pradesh und Jharkhand abgebaut wird. Bei Kupfer ist Indien trotz gesteigerter Ausbeute weiterhin auf Importe angewiesen. Obwohl Indien der weltweit drittgrößte Produzent von Steinkohle ist, deckt es einen Teil seines Bedarfs mit qualitativ hochwertigerer und billigerer Importkohle. Steinkohle ist der wichtigste Energieträger des Landes. Die Vorkommen an Erdöl und Erdgas reichen bei Weitem nicht aus, um die stetig steigende Nachfrage zu decken. Nennenswerte Ölvorkommen gibt es nur in Assam, Gujarat, im Golf von Khambhat und vor der Küste von Maharashtra. Die eigene Produktion deckt nur ein Drittel des Verbrauchs. Erdgaslagerstätten finden sich im Golf von Khambhat und werden erst seit den 1980er Jahren ausgebeutet. Industrie Während der Kolonialherrschaft wurde die Entwicklung der Industrie – mit Ausnahme der schon frühzeitig bedeutsamen Textilindustrie – eher gehemmt denn gefördert. Nach der Unabhängigkeit forcierte man daher besonders den Ausbau von kapitalintensiven Schlüsselindustrien. Dazu gehörten Stahl-, Maschinen- und chemische Industrie. Die Konsumgüterherstellung wurde vernachlässigt und sollte durch Kleinindustrien gedeckt werden. Um die ehrgeizigen Ziele zu erreichen, setzte man nach dem Vorbild der Sowjetunion auf den Ausbau der Schlüsselindustrien durch den Staat mittels Fünfjahresplänen. 2001 waren 21,9 % der erwerbstätigen Bevölkerung im Industriebereich tätig. Die Wertschöpfung der Industrie betrug 2016 nach Weltbankangaben 28,8 % des Bruttoinlandsproduktes, womit die Industrieproduktion Indiens inzwischen zu den größten der Welt gehört. Ein Wachstumsmotor im Industriebereich sind die Deregulierungen auf den Energie-, Chemie- und Rohstoffmärkten. Wachstumsimpulse kommen auch von der rasch steigenden Inlandsnachfrage nach langlebigen Konsumgütern. Die Textilindustrie zählt dank der riesigen Inlandsnachfrage und der Produktion für den Export auch heute noch zu den größten und wichtigsten Wirtschaftszweigen Indiens. Leder wird sowohl industriell als auch handwerklich in großen Mengen hergestellt und verarbeitet. Da Hindus die Berührung und Verwertung von Tierkadavern als unreine Arbeit ansehen, sind die meisten Angestellten der Lederbranche Muslime oder „Unberührbare“. Auch Kinderarbeit ist in der Branche verbreitet. Viele Beschäftigte sind häufig gesundheitsgefährdenden Arbeitsbedingungen ausgesetzt, Unternehmen unterwanderten in der Vergangenheit mehrfach den gesetzlichen Mindestlohn. Auch gewerkschaftliche Tätigkeiten werden unterdrückt. Neben diesen eher traditionellen Industrien dominieren die Eisen- und Stahlerzeugung, Maschinen-, Kraftfahrzeug- und chemische Industrie. Unter ihnen ist der staatliche Anteil besonders hoch. Allerdings nimmt der Anteil privater Betriebe seit der Liberalisierung der Wirtschaft in den 1980er und vor allem frühen 1990er Jahren zu. Die indische Pharmaindustrie gehört zu den größten und fortgeschrittensten unter den Entwicklungsländern. Wegen der indischen Patentschutzgesetzgebung, der Arzneimittel nur bedingt unterlagen, kam es immer wieder zu Streitigkeiten mit den Industriestaaten, allen voran den Vereinigten Staaten von Amerika. Mittlerweile hat Indien seine Patentgesetze angepasst. Ein wichtiger Träger des wirtschaftlichen Aufschwunges der letzten Jahre ist die Informationstechnologiebranche, die teils dem industriellen, teils dem Dienstleistungssektor zuzurechnen ist. Vor allem der Softwarebereich hat sich zu einem bedeutenden Wirtschaftszweig entwickelt. Viele indische Städte verfügen inzwischen über „Softwareparks“. Auch die Herstellung von Hardware erlebt einen rasanten Aufschwung. Mit zweistelligen jährlichen Wachstumsraten gewinnt auch die Biotechnologie an Bedeutung. Die industrielle Produktion konzentriert sich auf wenige städtische Großräume. Die wichtigsten Industriezonen sind die Ballungsgebiete Mumbai-Pune, Ahmedabad-Vadodara-Surat, Delhi, Kanpur-Lucknow, Chennai, Kalkutta-Asansol sowie der Punjab und der Osten Jharkhands. Die Spitzentechnologie ist vor allem im Süden des Landes angesiedelt: Das Zentrum der Informationstechnologiebranche ist Bengaluru, als neues Wachstumszentrum der Biotechnologie hat sich Hyderabad etabliert, besonders mit der Gründung des Biotechnologiezentrums Genome Valley. Dienstleistungen Ungewöhnlich hoch für ein Entwicklungsland ist der Beitrag der Dienstleistungen zur gesamtwirtschaftlichen Produktion Indiens. Rund 53,8 % des Bruttoinlandsprodukts wurden 2016 bereits durch Dienstleistungen erbracht. Insbesondere bei Dienstleistungen im Bereich der Informationstechnologie, sonstigen Ingenieurleistungen, Forschungs- und Entwicklungsarbeiten sowie Verwaltungsaufgaben hat Indien bedeutende Marktpositionen erreicht. 2005 wurde Indien zum weltweit führenden Exporteur von Software und IT-Services, 2007 kam bereits über ein Drittel aller Computer-Dienstleistungen von hier. Diese Dienstleistungen erfolgen auch zunehmend im Auftrag ausländischer Kunden und werden häufig unter dem Begriff Business Process Outsourcing (BPO) bzw. auch als Knowledge Process Outsourcing (KPO) bezeichnet. Beispiele sind Callcenter und Dienstleistungen im Gesundheitswesen. Außenhandel Im Verhältnis zu seiner Wirtschaftskraft sind Indiens Außenhandelsverflechtungen eher gering. Dies ist in erheblichem Maße auf die starke Binnenmarktorientierung in den Jahrzehnten nach der Unabhängigkeit zurückzuführen. Seit der wirtschaftlichen Öffnung Anfang der 1990er Jahre, die unter anderem auch die Aufhebung vieler Importbeschränkungen zur Folge hatte, verzeichnet der Außenhandel jedoch einen deutlichen Aufschwung. Zwischen 1991 und 2004 hat sich der Warenaustausch mit dem Ausland mehr als vervierfacht. Indien ist ein wichtiger Exporteur von Rohstoffen und Fertigprodukten, aber auch Arbeitskräften und Dienstleistungen. Aus Indien kommen Softwareprodukte und Softwareentwickler; es verfügt über eine große Zahl gut ausgebildeter Fachkräfte. Die wichtigsten Exportgüter sind Textilien, Bekleidung, geschliffene und verarbeitete Edelsteine, Schmuck, Chemikalien, Erdölerzeugnisse, Lederwaren und Softwareprodukte. Indien importiert vor allem Rohöl, elektronische Erzeugnisse, Edelsteine (z. B.: Diamanten), Maschinen, Edelmetalle, Chemikalien und Düngemittel. Nach ersten Angaben des Statistischen Bundesamtes wuchs der Handel zwischen Indien und Deutschland in den ersten sieben Monaten des Jahres 2006 noch einmal deutlich. Deutschland importierte Waren im Wert von 2,4 Milliarden Euro, 30,5 % mehr als im gleichen Vorjahreszeitraum, und exportierte Waren für 3,3 Milliarden Euro, 39,7 % mehr als in den ersten sieben Monaten 2005. Bis 2016 stieg das gesamte Handelsvolumen auf 17,4 Milliarden Euro an, womit Indien auf Platz 24 der wichtigsten Handelspartner Deutschlands steht. Die folgenden Listen zeigen den Umfang und die Handelspartner von Indiens Außenhandel (Quelle: ITC): Fremdenverkehr Der Tourismus hat sich zu einem der wichtigsten Devisenbringer Indiens entwickelt. Im Jahr 2014 verzeichnete Indien mit 7,6 Millionen ausländischen Besuchern einen größeren Touristenzustrom als je zuvor. Darunter sind allerdings auch viele Ausländer indischer Herkunft, die vor allem in Nordamerika und Großbritannien leben und ihren Verwandten in Indien regelmäßig längere Besuche abstatten. Nichtsdestoweniger erzielte der Fremdenverkehrssektor 2014 Einnahmen von 10,7 Milliarden US-Dollar aus der Ankunft ausländischer Gäste. In Indien gibt es im Juli 2019 insgesamt 38 UNESCO-Welterbestätten, darunter 30 Weltkulturerben, 7 Weltnaturerben und 1 gemischtes Kultur- und Naturerbe. Die mit Abstand meistbesuchte Touristenattraktion ist das weiße Grabmal Taj Mahal in der nordindischen Großstadt Agra. Weitere beliebte Ziele sind im Norden der Bundesstaat Rajasthan mit seinen Wüsten und Kamelen, die Hauptstadt Neu-Delhi, die ehemalige portugiesische Kolonie Goa an der Westküste und ganz im Süden der Bundesstaat Kerala mit seinen Backwaters unter Kokospalmen. Neben dem Kultur-, Strand- und Naturtourismus gewinnen auch Abenteuerurlaub wie Trekking oder Rafting und Gesundheitstourismus (Yoga, Ayurveda) zunehmend an Bedeutung. Staatshaushalt Der Staatshaushalt umfasste 2016 Ausgaben von umgerechnet 283,1 Milliarden US-Dollar, dem standen Einnahmen von umgerechnet 200,1 Milliarden US-Dollar gegenüber. Daraus ergab sich ein Haushaltsdefizit in Höhe von 3,6 % des BIP, die Staatsverschuldung betrug 1.177 Milliarden US-Dollar oder 52,3 % des BIP. 2014 betrug der Anteil der Staatsausgaben (in Prozent des Bruttoinlandprodukts) folgender Bereiche: Bildung: 3,8 % (2012) Gesundheit: 3,6 % Militär: 2,5 % Am 2. August 2016 wurde im Oberhaus beschlossen, statt bisher regional geprägter Steuersätze in den 29 Bundesstaaten eine einheitliche Güter- und Dienstleistungssteuer (Goods and Services Tax, GST) einzuführen, um nahtlosen Warenverkehr zu fördern. Der Beschluss muss noch durch die Bundesstaaten ratifiziert werden und sollte Frühjahr 2017 in Kraft treten. Ende März 2017 unterzeichnete der indische Präsident Pranab Mukherjee die Gesetze, die ab 1. Juli 2017 eine indien-weit einheitliche Mehrwertsteuer wirksam werden lassen sollen. Infrastruktur Energie Indien hat weltweit den drittgrößten Energieverbrauch hinter China und den USA. Indien hatte ebenfalls die drittgrößten CO2-Emissionen weltweit, die dazu auch noch stark anwachsen. 2014 verfügten 79,2 % der indischen Haushalte über einen Stromanschluss (im ländlichen Bereich 70,0 %, in den Städten 98,3 %). Häufige Stromausfälle beeinträchtigen jedoch immer wieder die Verfügbarkeit von Elektrizität. Der gegenwärtige Energiebedarf von 560 Kilowattstunden pro Einwohner und Jahr ist einer der niedrigsten der Welt. Die Hälfte der Energie liefern Kohle, ein Viertel Erdöl, -gas und Wasserkraft, ein Fünftel wird durch Verbrennung von Viehdung, Feuerholz und anderen Materialien gedeckt. Indien steht hinsichtlich der Entwicklung im Bereich Windenergie weltweit an vierter Stelle. Im Februar 2021 lag die Leistung der installierten Windkraftanlagen bei 38,789 GW (2017: 32,8 GW; 2020: 38,625 GW, das waren 5,2 % der weltweiten Windkraftleistung). Im Vorfeld der UN-Klimakonferenz in Paris 2015 erklärte die Regierung, die Windenergieleistung bis 2022 auf 60 GW zu erweitern. Auch die Solarenergie wird seit Anfang der 2010er Jahre nennenswert ausgebaut. Noch im Herbst 2011 waren gerade einmal 45 Megawatt Photovoltaik-Leistung installiert, durch den starken Zubau wurde bereits im März 2018 die 20-Gigawatt-Marke erreicht. Landesweites Ziel sind 100 GW installierter Leistung bis zum Jahr 2022. Davon waren bis Februar 2021 39,54 GW erreicht. Insgesamt hatte sich Indien das Ziel gesetzt, die erneuerbaren Energien bis 2022 auf 225 GW auszubauen. Davon wurden im Anfang 2021 mit großen Wasserkraftwerken 46,06 GW erreicht, und mit den weiteren Erneuerbaren 92,97 GW. Die Kernenergie hatte 2011 einen Anteil von etwa 3,7 % an der elektrischen Stromversorgung. Im August 2012 befanden sich in Indien sechs Kernkraftwerke mit 21 Reaktorblöcken und einer installierten Bruttogesamtleistung von 5780 MW am Netz. Sechs weitere Reaktorblöcke mit einer Bruttogesamtleistung von 4300 MW sind im Bau. Da Indien den Atomwaffensperrvertrag nicht unterzeichnet hat, sind zahlreiche Länder bei der Beteiligung an der Konstruktion sehr zurückhaltend. Bisher hat Indien zur friedlichen Nutzung der Kernenergie eine Zusammenarbeit mit Russland, der Europäischen Union und Kanada vereinbart (siehe auch die Liste der Kernreaktoren in Indien). Indien ist der drittgrößte Verbraucher von Erdöl weltweit und hatte einen Bedarf von 4,1 Millionen Barrel pro Tag (Stand 2015). Indien ist auf Ölimporte angewiesen, die aufgrund Indiens wachsender Bevölkerung und Wirtschaft in Zukunft vermutlich stark ansteigen werden. Die größten indischen Petroleumkonzerne sind Reliance Industries und Indian Oil Corporation. Verkehr Luftverkehr Auf Grund der riesigen Entfernungen innerhalb Indiens und der vielerorts noch immer unterentwickelten Landinfrastruktur kommt dem Luftverkehr eine immer bedeutendere Rolle zu. Die wichtigsten Drehkreuze für Binnenflüge sind Delhi (Indira Gandhi International Airport), Mumbai (Flughafen Mumbai), Kalkutta (Flughafen Kolkata) und Chennai (Flughafen Chennai) als Kernpunkte ihrer jeweiligen Region. Flugverbindungen zwischen den größten Städten Indiens bestehen mehrmals täglich. Eine große Schwierigkeit stellen die geringe Größe und schlechte Anbindung der zunehmend überlasteten Flughäfen dar. Früher wurde der Luftverkehr von den beiden staatlichen Fluggesellschaften Air India (internationale Flüge) und Indian Airlines (Inlandsflüge) dominiert. Mittlerweile existieren mehrere private Fluggesellschaften, die innerhalb Indiens bereits einen Marktanteil von 40 % erobert haben. Schienenverkehr Indiens erster Zug verkehrte am 16. April 1853 zwischen Mumbai und Thane. Bereits vier Jahrzehnte später verband die Eisenbahn alle wichtigen Landesteile miteinander. Auch heute noch spielt sie eine wichtige Rolle bei der Güter- und Personenbeförderung. Knapp 30 % des Güter- und 15 % des Personenverkehrs werden über die Schiene abgewickelt. Die indische Staatsbahn (Indian Railways) ist in 16 Regionalgesellschaften aufgeteilt und beschäftigt mit 1,6 Millionen Menschen mehr Angestellte als jedes andere Staatsunternehmen des Landes. Es gibt 7200 Bahnhöfe. Die Superlative können jedoch kaum über den teils desolaten Zustand des Bahnnetzes hinwegtäuschen. Hauptprobleme sind die ungleichmäßige und großmaschige Erschließung des Landes, die zumeist veraltete Technik, und für den heutigen Standard ein geringer Elektrifizierungsgrad: nur 19.000 der insgesamt 64.000 Kilometer Streckenlänge (Stand: 2011) sind elektrifiziert. Das Schienennetz besteht zu 54.257 Kilometer aus Breitspurgleisen mit dem Maß von 1676 Millimetern, die restlichen 10.000 Kilometer verteilen sich auf drei verschiedene Schmalspur-Weiten. Indiens Eisenbahnnetz ist damit zwar knapp hinter China das zweitlängste, aber keineswegs das dichteste Asiens. Im weltweiten Maßstab liegt Indiens Eisenbahnnetz an fünfter Stelle. Der Staat legt sein Hauptaugenmerk vor allem auf die Elektrifizierung und den doppelgleisigen Ausbau der Hauptstrecken, die Umwandlung von Meterspurstrecken in Breitspur und die Modernisierung der technischen Einrichtungen. Tatsächlich kann der Ausbau der Eisenbahn mit den steigenden Anforderungen durch Bevölkerungs- und Industriewachstum kaum Schritt halten, was zur schnellen Entwicklung des Straßenverkehrs beiträgt. Ein Versuch, den Schienenpersonenverkehr attraktiver zu machen, sind die Shatabdi Expresszüge, die die drei Metropolen Chennai, Mumbai und Neu-Delhi mit wichtigen Großstädten und Wirtschaftsregionen verbinden. Seeverkehr Da Indien durch seine geografische Lage von den Handelspartnern in den Nachbarregionen Ost-, Südost- und Vorderasien abgeschnitten ist, und die unmittelbaren Nachbarn beim gegenseitigen Güteraustausch aus wirtschaftlichen oder politischen Gründen nur eine untergeordnete Stellung einnehmen, wird der Außenhandel fast ausschließlich über Seehäfen abgewickelt. Rund 90 % des Warenumschlags im Überseeverkehr entfallen auf Indiens zwölf größte Häfen. Daneben existieren viele mittlere und kleinere Häfen, die aber nicht für große Schiffe und Containerumschlag geeignet sind und daher fast nur von Küstenschiffen angelaufen werden. Straßenverkehr Der wichtigste Verkehrsweg in Indien ist heute die Straße. Schon in den 1970er Jahren hat der Straßenverkehr bei der Güter- und Personenbeförderung die Eisenbahn überholt. Heute werden rund 70 % des Gütertransports und sogar 85 % des Personenverkehrs auf der Straße abgewickelt. Indiens Straßennetz umfasst rund 3,3 Millionen Kilometer, wovon nur etwa die Hälfte asphaltiert ist. Am wichtigsten sind die National Highways, die über 65.000 Kilometer umfassen. Sie verbinden die größten Städte des Landes untereinander. Als Schlagader gilt die Grand Trunk Road, die von Amritsar an der pakistanischen Grenze über Delhi nach Kalkutta führt. Tatsächlich ist der weitaus größte Teil der National Highways aber nur zweispurig und zudem oft in einem katastrophalen Zustand. Problematisch bleiben die mehr als 130.000 Kilometer State Highways der Bundesstaaten, die sehr unterschiedlichen Standards genügen und in ärmeren Staaten teilweise nur einspurig sind. 2013 kamen im indischen Straßenverkehr insgesamt 238.562 Menschen ums Leben, womit Indien, hinter der Volksrepublik China, das Land mit der zweithöchsten Anzahl an Verkehrstoten weltweit ist. Zum Vergleich: In Deutschland gab es im selben Jahr 3.540 Tote im Straßenverkehr. Als Gründe für die hohe Unsicherheit gelten die ungenügende Infrastruktur und rücksichtslose Fahrweise. In Indien herrscht Linksverkehr. Telekommunikation In Indien haben bereits mehr Menschen ein Mobiltelefon als einen Festnetzanschluss. Im Juni 2006 hat die Zahl der Handynutzer die 100-Millionen-Marke überschritten. 2011 waren bereits 900 Millionen Mobiltelefone im Umlauf. Die Abdeckung lag damit bei über 70 % und Indien war der zweitgrößte Markt für Mobiltelefone weltweit. Die Verbreitung von Telekommunikation und Computern ist in Indien auch heute noch von einem starken Stadt-Land-Gefälle geprägt. Häufig sieht man in den Straßen ein sogenanntes Public Call Office (PCO). Dies sind öffentliche Telefone, die in der Regel an einem kleinen Straßenstand betrieben werden. Dabei handelt es sich meist nicht um einen Münzfernsprecher, sondern um ein normales Telefon, für dessen Benutzung persönlich kassiert wird. Von den üblichen PCO sind nur nationale Gespräche (STD) möglich, weshalb für internationale Gespräche (ISD) besondere, internationale PCOs aufgesucht werden müssen. 2016 nutzten 462 Millionen bzw. 34,8 % der Einwohner das Internet in Indien. Damit war Indien nach China das Land mit den zweitmeisten Internetnutzern weltweit. 2021 waren es bereits 624 Millionen oder 45 % der Einwohner. Kultur Die indische Kultur gehört zu den ältesten und mannigfaltigsten Kulturen der Erde. Sie war prägend für ganz Süd- und Südostasien. Der Glaube spielt in Indien, dem Ursprungsland mehrerer Religionen (Hinduismus, Buddhismus, Jainismus, Sikhismus), von jeher eine herausragende Rolle und hat so auch die Kultur des Landes entscheidend geprägt. Die geradezu unüberschaubare Vielfalt an Sprachen und Völkern hat zudem regionale Besonder- und Eigenheiten hervorgebracht. Aber auch fremde Einflüsse wie etwa der Islam oder europäische Kolonialmächte hinterließen ihre Spuren. Indien verfügt über eine enorme kulturelle Vielfalt und regionale beziehungsweise lokale Identitäten, Bräuche und Kulturen können sich sehr stark unterscheiden. Verschiedene Kulturwissenschaftler haben sich mit der typisch indischen Mentalität befasst, Selbstbild und Fremdbilder verglichen und daraus sogenannte Kulturstandards des Verhaltens formuliert. Indische Kleidung und Schmuck: Bindi, Dhoti, Kurta, Lungi, Mehndi, Salwar Kamiz, Sari Architektur In der Architektur Indiens spiegeln sich die verschiedenen kulturellen Einflüsse, die das Land prägten, wider. Neben Palast- und Festungsbauten ragt vor allem die Sakralarchitektur heraus. In frühester Zeit wurden Holz, Lehm und gebrannte Ziegel als Baumaterialien verwendet. Die ältesten erhaltenen Überreste indischer Architektur stammen aus der Induskultur, die sich hauptsächlich auf dem Gebiet des heutigen Pakistan, aber auch in Gujarat und dem indischen Teil des Punjab ausbreitete. Die ältesten vollständig erhaltenen Bauwerke sind buddhistische Stupas. Stupas sind auf einer rechteckigen Plattform stehende kuppelförmige Bauten. Im Inneren wird in der Regel eine Reliquie aufbewahrt. Tatsächlich entwickelte sich der Stupa aus Grabhügeln, wie sie schon in vedischer Zeit üblich waren. Jeder Teil des Stupa hat eine symbolische Bedeutung, als Ganzes stellt er den Weltenberg Meru dar. Als herausragendstes Beispiel gilt der Große Stupa von Sanchi (Madhya Pradesh) aus dem 3. vorchristlichen Jahrhundert. Des Weiteren entstanden buddhistische Klosteranlagen mit Gebetshallen (Chaitya-Halle) und Wohnzellen für Mönche (Vihara), wie in den Höhlen von Ajanta und Ellora (Maharashtra, 2. Jahrhundert v. Chr. bis 7. Jahrhundert n. Chr.). Mit dem Niedergang des Buddhismus in Indien, mit Ausnahme der Himalayaregion, ab dem 10. Jahrhundert kam die Entwicklung der buddhistischen Architektur zum Ende. Sie wurde in Ost- und Südostasien sowie Sri Lanka und Tibet fortgeführt. Zeitgleich zur buddhistischen Baukunst bildete sich die jainistische Architektur heraus. Jainistische Tempel sind meist nach außen geöffnet, um Licht einzulassen. Außerdem weisen sie besonders kunstvolle, filigrane Steinmetzarbeiten auf. Zu den schönsten Beispielen gehören der Tempel von Ranakpur (15. Jahrhundert) in Rajasthan und die unzähligen Bauten der Pilgerstadt Palitana in Gujarat. In Südindien entwickelten sich eigenständige Stilelemente. Berühmt ist das eindrucksvolle Monolithstandbild eines Asketen in Shravanabelagola (Karnataka) aus dem 10. Jahrhundert. Für hinduistische Tempel wurden bis in die ersten nachchristlichen Jahrhunderte ausschließlich wenig dauerhafte Baustoffe, vor allem Holz und Lehm, verwendet. Die ersten Steintempel griffen jedoch den Stil ihrer Vorgänger auf. Grundsätzlich hat jeder Bestandteil eine symbolische Bedeutung. Alle hinduistischen Tempel versinnbildlichen den Kosmos, während der Tempelturm den mythologischen Berg Meru darstellt. Dennoch entstanden ab dem 7. Jahrhundert zwei verschiedene Hauptstilrichtungen, die sich am deutlichsten in der Form des Turmes unterscheiden. Der nordindische Nagara-Stil zeichnet sich durch den bienenkorbförmigen Turm über dem Allerheiligsten aus, der als Shikhara bezeichnet wird. In Südindien dominiert der Dravida-Stil, der durch einen Vimana genannten, treppenförmig aufsteigenden Turm gekennzeichnet ist. Später bildete sich als weiteres Merkmal das stilistisch ähnliche Gopuram (auch Gopura) über dem Eingangstor heraus. Herausragende Baudenkmäler im Nagara-Stil sind der im 10. Jahrhundert erbaute Mukteshvara-Tempel in Bhubaneswar (Odisha), der Sonnentempel von Konark (Odisha) aus dem 13. Jahrhundert und der Tempelbezirk von Khajuraho (Madhya Pradesh) aus dem 10. und 11. Jahrhundert. Die berühmtesten Dravida-Tempel stehen in den tamilischen Städten Thanjavur (Brihadishvara-Tempel, 11. Jahrhundert) und Madurai (Minakshi-Tempel, 16. bis 17. Jahrhundert). In Hampi (Karnataka) sind zahlreiche Sakral- und Profanbauten erhalten. Frühe Vorläufer des Dravida-Stils aus dem 7. und 8. Jahrhundert befinden sich in Mamallapuram (Tamil Nadu). Mit dem Vordringen des Islam nach Nordindien ab dem 12. Jahrhundert entstand die indo-islamische Architektur. Frühe Moscheen wurden häufig anstelle hinduistischer Tempel errichtet oder bezogen sogar Teile davon mit ein. Das berühmteste Bauwerk dieser Zeit ist das Minarett Qutb Minar (12. Jahrhundert) in Delhi. Im Laufe der Zeit vermischte sich die islamische Architektur mit hinduistischen Elementen zu einer eigenständigen indisch-islamischen Baukunst, die unter den Moguln zu höchster Blüte gelangte. Die prunkvolle Mogularchitektur hat einige der bedeutendsten Bauwerke Indiens hervorgebracht, etwa das Taj Mahal in Agra (Uttar Pradesh), das Shah Jahan im 17. Jahrhundert als Grabmal für seine Frau errichten ließ, oder die Paläste von Fatehpur Sikri. Auch in anderen muslimischen Staaten Indiens entstanden kunstvolle Bauten, etwa das Mausoleum Gol Gumbaz in Bijapur (Karnataka) aus dem 17. Jahrhundert. Die britische Kolonialzeit gab der indischen Architektur ab dem 19. Jahrhundert neue Anstöße. Aus der Verschmelzung europäischer, islamischer und indischer Elemente ging der indo-sarazenische Stil hervor. Beispiele dafür sind der Chhatrapati Shivaji Terminus in Mumbai, die meisten Gebäude der indischen High Courts und auch unzählige Bauten in der ehemaligen Kolonialhauptstadt Kalkutta. In Goa stehen Kirchen und Klöster aus der portugiesischen Kolonialzeit, die bedeutendsten davon in Velha Goa. Unter europäischem Einfluss standen auch neuere Palastbauten indischer Herrscher, wie der Amba Vilas in Mysuru (Karnataka). Bei der modernen Architektur Indiens ragen die Planstadt Chandigarh des Architekten Le Corbusier, der Campus des Indian Institute of Management in Ahmedabad (Gujarat) und der lotusförmige Bahai-Tempel in Neu-Delhi heraus. Literatur Die indische Literatur ist eine der ältesten der Welt. Allerdings ist zu beachten, dass es zu keiner Zeit nur eine „indische“ Literatur gegeben hat, sondern im Gegenteil viele Literaturen der zahllosen alten und modernen Sprachen Indiens. Die ältesten Werke wurden in Sanskrit, Pali und Tamil verfasst. Zu den herausragendsten Sanskrit-Werken gehören die Veden aus dem 13. bis 5. Jahrhundert v. Chr., die Upanishaden (etwa 700 bis 500 v. Chr.) sowie die beiden großen Epen Mahabharata und Ramayana. Sie haben mythologisch-religiöse Themen des Hinduismus zum Inhalt. Darüber hinaus entstanden viele andere bedeutende Werke auf den verschiedensten Gebieten, etwa Religion, Philosophie, Staatskunst und Wissenschaft. Mit dem Aufstieg des Buddhismus ab dem 5. vorchristlichen Jahrhundert wurde Pali zu einer bedeutenden Literatursprache, die unter anderem die Schriften des Theravada-Buddhismus hervorbrachte. In Südindien entwickelte sich als erstes Tamil zur klassischen Literatursprache. Die ältesten Werke entstanden vor rund 2000 Jahren. Aus der Blütezeit des frühen Tamil stammt die Sangam-Literatur. Sie enthält neben heroischen Werken über Könige und Kriege vor allem Liebeslyrik. Später traten Kannada, Telugu und Malayalam als bedeutende Schriftsprachen hervor. Im Mittelalter trat mit dem Islam eine neue Geistesströmung auf, die großen Einfluss auf die Literatur Indiens ausübte. Sanskrit verlor mehr und mehr an Bedeutung. Aus ihm bzw. den mittelindischen Prakritsprachen gingen neue Sprachen wie Hindustani, Bengalisch, Panjabi und Marathi hervor, die allesamt ihre eigene Literaturtradition entwickelten. Religiöse Dichtungen des Hinduismus wurden nun in den Regionalsprachen verfasst, die auch vom Volk verstanden werden konnten, und widmeten sich zunehmend der Bhakti, der hingebungsvollen Verehrung Gottes. Herausragende Vertreter dieser neuen Literatur sind unter anderem Tulsidas, Kabir und Mirabai im Hindi, Dnyaneshwar im Marathi oder Narasinh Mehta im Gujarati. Bemerkenswert ist die Verschmelzung von islamisch-persischen und indischen Elementen in der Urdu-Dichtung. Einige der schönsten Liebesgedichte wurden in dieser Sprache geschrieben, die schließlich zur Hofsprache der Moguln wurde und ab dem 17. Jahrhundert zur Blüte kam. Höchsten Ruhm erlangten die Ghaseln des Dichters Mirza Ghalib und die Werke des heute vor allem in Pakistan verehrten Muhammad Iqbal. Im 19. Jahrhundert verstärkte sich der westliche Einfluss auf die indische Literatur. Unter diesen Umständen erlebte vor allem die bengalische Literatur einen Aufschwung. Ihr bekanntester Vertreter ist sicher Rabindranath Tagore, der heute als Nationaldichter verehrt wird und bisher als einziger Inder den Nobelpreis für Literatur erhielt. Zwei seiner Gedichte wurden später die Nationalhymnen von Indien und Bangladesch. Seit dem frühen 20. Jahrhundert verwenden viele indische Schriftsteller auch das Englische für ihre Werke. Die zeitgenössische Literatur Indiens umfasst nicht nur alle großen Schriftsprachen des Landes, sondern hat auch eine breite Palette von Themen zum Gegenstand. Berühmte moderne Autoren sind Salman Rushdie, Arundhati Roy, R. K. Narayan, Mulk Raj Anand, Rohinton Mistry, Ruskin Bond, Amrita Pritam, Mahasweta Devi, Vikram Seth, Amitav Ghosh, Anita Desai und Dom Moraes. Musik Die klassische indische Musik spaltet sich in zwei Hauptrichtungen: die hindustanische und die karnatische Musik. Die hindustanische Musik stammt aus Nordindien und ist stark vom persischen Kulturraum beeinflusst. Die karnatische Musik ist der vorherrschende klassische Stil Südindiens. Beiden liegen aber als wesentliche Konzepte Raga und Tala zugrunde. Der Raga stellt die melodische Grundstruktur dar. Jeder Raga beruht auf einer gewissen Tonfolge, die eine Gefühlsstimmung vermittelt. Gespielt wird er zu einem bestimmten Tala, einer Art Taktsystem, welches den Rhythmus des Musikstückes angibt. Typische Instrumente umfassen Saiteninstrumente wie Sitar, Vina, Sarod, Tanpura und Sarangi sowie Blasinstrumente (Flöte, Shehnai). Als Rhythmusinstrumente dienen beispielsweise die Tabla oder – in Südindien – der Mridangam. Der Sitarspieler und Komponist Ravi Shankar gilt als berühmtester Interpret der klassischen indischen Musik. Neben der klassischen Musik verfügt Indien über reiche Volksmusiktraditionen in den verschiedenen Landesteilen. Bekannt sind die Bhangra-Musik aus dem Punjab oder die bengalischen Baul-Musiker. Heute ist die traditionelle Volksmusik eher auf ländliche Gebiete beschränkt. Größter Beliebtheit unter der gesamten Bevölkerung erfreut sich hingegen die indische Popmusik, die Merkmale sowohl westlicher als auch volkstümlicher und klassischer indischer Musik aufweist. Eingängige Ohrwürmer aus populären Kinofilmen finden besonderen Anklang. Zu den erfolgreichsten und bekanntesten Sängern indischer Filmmusik zählen Lata Mangeshkar, Kishore Kumar, Mohammed Rafi, Manna Dey und Asha Bhosle. Tanz Im Hinduismus haben Tänze von jeher eine wichtige Rolle gespielt, einerseits als getanzte Version des Gebetes, andererseits um mythologische Themen darzustellen. So ist es nicht verwunderlich, dass sich in Indien eine ungeheure Vielfalt von klassischen Tänzen, die meist Züge des Schauspiels tragen, herausgebildet hat. Der Tanz ist eine der am höchsten entwickelten Kunstformen Indiens. Oft haben selbst kleinste Bewegungen und Gesichtsausdrücke eine sinnbildliche Bedeutung. Klassische Tänze beruhen in der Regel auf literarischen Grundlagen. Unter den klassischen Stilen ragt der Bharatanatyam hervor, ein im Ursprung tamilischer, heute aber in ganz Indien geschätzter Einzeltanz. Ihm ähnlich ist der aus Andhra Pradesh stammende Kuchipudi-Tanz, der jedoch mehr schauspielerische Bestandteile hat. Eine der ausdrucksstärksten Formen des Tanztheaters entstand in Kerala mit dem von Männern ausgeübten Kathakali. Mohiniyattam, ein Fraueneinzeltanz, stammt ebenfalls aus Kerala. Odissi ist der klassische Tempeltanz Odishas. Auch der nordindische Kathak war ursprünglich ein Tempeltanz, der aber unter den Mogulherrschern islamischen Einflüssen ausgesetzt war und sich zum höfischen Tanz entwickelte. Der Manipuri aus dem nordostindischen Manipur weist dagegen Einflüsse aus dem birmanischen Kulturkreis und regionale Besonderheiten auf. Er wird in der Gruppe dargeboten. Darüber hinaus besteht in Indien eine Vielzahl von regionalen Volkstänzen. Diese werden zu den unterschiedlichsten Anlässen dargeboten, etwa zu Hochzeiten, regionalen Festen, bei der Ernte oder zu Beginn des Monsuns. Sehr bekannt sind etwa der Bhangra aus dem Punjab und der Garba aus Gujarat. Malerei Obwohl die Bildhauerei in Indien lange Zeit als die höhere Kunstform galt, gab es schon früh eine hoch entwickelte Tradition der Malerei. Abgesehen von vorgeschichtlichen Malereien und verzierten Keramiken aus der Induskultur stammen die frühesten Beispiele aus der Guptazeit. Die buddhistischen Felsmalereien in den Höhlen von Ajanta gelten als Meisterwerke dieser Epoche. Spätere Werke in Ajanta sowie hinduistische, jainistische und buddhistische Darstellungen in den Höhlen von Ellora setzten den Guptastil fort. Mit dem Auftreten des Islams ab dem 12. Jahrhundert gewann die Malerei als höfische Kunst in persischer Tradition allmählich an Bedeutung. Den Höhepunkt ihrer Entwicklung erreichte sie mit dem Mogulstil des 16. bis 18. Jahrhunderts. Vor allem die Miniaturmalerei erlebte eine Blüte. Abgebildet wurden fast ausschließlich weltliche Dinge, daher überwiegen Porträts wichtiger Persönlichkeiten des Reiches sowie Darstellungen des höfischen Lebens und bedeutender geschichtlicher Ereignisse. Auch in anderen islamisch geprägten Teilen Indiens blühte die Miniaturmalerei. So entwickelte sich an den Höfen der Dekkan-Sultanate eine eigenständige Stilrichtung. Der Mogulstil nahm auch Einfluss auf die Entstehung der rajputischen Malerei an den Höfen der vielen Fürstenstaaten Rajasthans. Diese widmete sich allerdings vorwiegend hinduistischen Themen, etwa der Illustration der großen Hindu-Epen Mahabharata und Ramayana, der Puranas sowie der Literatur mit einem historischen Verfasser. Besonders beliebt waren Darstellungen aus dem Leben Krishnas. Auf Grund der Vielzahl der rajputischen Fürstenhöfe entstanden verschiedene Malschulen. Jede Schule entwickelte zwar eigene Besonderheiten, allen sind aber die großflächige Zeichnung und die leuchtenden Farben gemein. Figuren wurden oft ohne Schatten dargestellt. Eine thematisch eigene Gattung bildeten die Ragamala genannten musikinspirierten Miniaturen. Im westlichen Himalaya blühte im 18. und 19. Jahrhundert die Pahari-Malerei. Auch sie wird von hinduistischen Motiven beherrscht. Kennzeichnend sind Landschaftsdarstellungen mit nur wenigen Figuren. Westliche Einflüsse während der britischen Kolonialzeit brachten umwälzende Veränderungen mit sich. Gegen Ende des 19. Jahrhunderts befand sich die traditionelle indische Malerei im Niedergang. Stattdessen versuchten Maler wie Raja Ravi Varma europäische Stile, allen voran den Realismus, nachzuahmen. Erst nach der Jahrhundertwende fanden althergebrachte Stilelemente wieder Eingang in die Werke indischer Künstler, darunter der Bengalischen Schule um Abanindranath Tagore. Die moderne Malerei Indiens greift westliche Kunstrichtungen auf, führt aber auch indische Traditionen fort und entwickelt sie weiter. Der bekannteste moderne Künstler ist Maqbul Fida Husain. Außerdem hat es in Indien schon immer eine starke Tradition der volkstümlichen Malerei gegeben. Auf dem Land werden oft Häuser aufwändig bemalt. Besonders bekannt ist die Madhubani-Malerei aus Bihar. Zunehmend findet auch die Kunst der indischen Stammesbevölkerung Anerkennung. Film Der Film ist zweifellos einer der wichtigsten Bestandteile der modernen Alltagskultur Indiens. Mit mehr als 1000 Produktionen jährlich ist die indische Filmindustrie die größte der Welt. Die kulturelle, vor allem sprachliche, Vielfalt spiegelt sich daher auch in diesem Genre wider. So hat jede der großen Regionalsprachen ihre eigene Filmindustrie. Der Hindi-Film bringt die meisten Produktionen hervor. Er wird in Mumbai produziert und ist bezüglich seines Kommerzkinos unter dem Namen „Bollywood“ bekannt. Shah Rukh Khan, Amitabh Bachchan und Rani Mukerji sind beliebte und berühmte Bollywood-Schauspieler. Auch das bengalische, Kannada-, tamilische, Telugu- und Malayalam-Kino sind sehr beliebt und haben große Massenwirksamkeit. Die wesentlichsten Merkmale der Unterhaltungsfilme ähneln einander in allen regionalen Produktionen. Die oft mehr als drei Stunden langen Filme enthalten viele Musik- und Tanzszenen, ohne die kein kommerzieller Film vollständig wäre. Bisweilen wird die Filmmusik schon im Voraus veröffentlicht. Ist sie ein Erfolg, wird auch der Film mit hoher Wahrscheinlichkeit zum Kassenschlager. Von den Schauspielern wird erwartet, dass sie tanzen können, während die Gesangseinlagen von professionellen Sängern übernommen werden. Auffällig ist auch die Mischung aus komischen, romantischen, dramatischen und Actionelementen. Darüber hinaus findet auch das Autorenkino viel Anerkennung. International bekannt sind etwa die beiden bengalischen Regisseure Satyajit Ray und Mrinal Sen. Sport Viele der in Indien ausgeübten Sportarten stammen aus England und haben sich während der britischen Kolonialherrschaft verbreitet. Die zweitbeliebteste Sportart ist Hockey, das als Nationalsport Indiens gilt und auch für Indien die erfolgreichste olympische Sportart ist: Die indische Hockeynationalmannschaft der Herren gewann bisher acht Gold-, eine Silber- und zwei Bronzemedaillen bei Olympischen Sommerspielen. Indien gewann die Feldhockey-Weltmeisterschaft der Herren 1975 und schloss die Feldhockey-Weltmeisterschaft der Herren 1973 auf dem zweiten Platz ab. Indien war auch viermal Gastgeber dieses Turnieres: 1982, 2010, 2018 und 2023. Das aus England stammende Cricket ist die mit Abstand beliebteste Sportart. Die indische Cricket-Nationalmannschaft gewann den Cricket World Cup bisher zweimal: 1983 und 2011, außerdem beendete man den Cricket World Cup 2003 auf dem zweiten Platz. Die Cricket World Cups 1987, 1996 und 2011 wurden unter anderem in Indien ausgetragen und der Cricket World Cup 2023 wird wieder in Indien gastieren. Die Nationalmannschaft gewann auch die ICC World Twenty20 2007 in Südafrika, teilte sich die ICC Champions Trophy 2002 mit Sri Lanka und gewann die ICC Champions Trophy 2013, ebenso die Asia Cups der Jahre 1984, 1988, 1990, 1995, 2010, 2016 und 2018. Indien erreichte auch zweimal das Finale der ICC World Test Championship, unterlag jedoch 2021 gegen Neuseeland und 2023 gegen Australien. Die Indian Premier League (IPL) gilt als die beliebteste Cricketliga weltweit und zieht vor allem Zuschauer vom Indischen Subkontinent, aber auch aus Südafrika, den Britischen Inseln und der Karibik an. Aufgrund des Zeitunterschiedes zu Australien und Neuseeland und der nächtlichen Übertragung findet die IPL dort jedoch kaum Beachtung. Im November 2021 wurde Indien zum Gastgeber des T20 World Cup 2026 (mit Sri Lanka), der Champions Trophy 2029 und des Cricket World Cup 2031 (mit Bangladesch) ernannt. In einigen Landesteilen wie Goa, Kerala oder Westbengalen ist auch Fußball sehr populär. Narain Karthikeyan aus Chennai war Indiens erster Formel-1-Pilot. Von 2011 bis 2013 wurde der Große Preis von Indien auf dem Buddh International Circuit ausgetragen; Sebastian Vettel gewann alle drei Rennen. Schon im Jahr 2007 entstand mit Force India ein eigenes indisches Formel-1-Team. Einige der besten Schachspieler der Welt hat Indien hervorgebracht, darunter den ehemaligen Schachweltmeister Viswanathan Anand. Rohan Bopanna ist einer der bekanntesten und erfolgreichsten Tennisspieler Indiens. Bei Olympischen Spielen errangen indische Sportler insgesamt 28 Medaillen. Indien war mit seiner Hockey-Nationalmannschaft von 1928 bis 1964 unangefochten dominierend; bei diesen 8 Spielen gewann man 7-mal Gold und einmal Silber. Als einziger Einzelsportler errang Abhinav Bindra eine weitere Goldmedaille für das Land. Norman Pritchard, Khashaba Jadhav, Leander Paes, Karnam Malleswari, Rajyavardhan Singh Rathore, Sushil Kumar und Vijender Kumar gewannen ebenfalls Medaillen (3x Silber, 5x Bronze) für Indien. Special Olympics Indien wurde gegründet und nahm mehrmals an Special Olympics Weltspielen teil. Der Verband hat seine Teilnahme an den Special Olympics World Summer Games 2023 in Berlin angekündigt. Die Delegation wird vor den Spielen im Rahmen des Host Town Programs von Frankfurt am Main betreut. Im Jahre 2010 wurden die Commonwealth Games in Neu-Delhi ausgetragen. Die Südasienspiele 1951 und 1982 fanden ebenfalls in Indien statt. Yoga Die Körperstellungen (Asanas) des etwa 2000 Jahre alten Yoga sind der im Westen bekannteste Teil des Yoga (vgl. Hatha Yoga). Autogenes Training und andere verwandte Übungsarten sind daraus abgeleitet. Yoga bereitet Meditation vor und ergänzt Religionen, obwohl es selbst keine ist. Ein Beispiel: Der Sonnengruß (auch Sonnengebet), ist eine dynamische Abfolge von Bewegungen, die auch der symbolischen indischen Sonnenanbetung (Surya) entspricht. Asanas und Ayurveda sind ein Bestandteil alter indischer Praktiken, die weitaus mehr als westliche die ganzheitliche Gesundheit und spirituelle Erfahrung einschließen. Küche Die indische Küche spiegelt sowohl die regionale Vielfalt als auch die unterschiedlichen historischen und religiösen Prägungen des Landes wider. Von einer einheitlichen Kochkultur kann daher nicht die Rede sein. Vielmehr unterscheiden sich Zutaten und Essgewohnheiten ähnlich stark voneinander wie in Europa. Allgemein nimmt Fleisch einen geringeren Stellenwert als in den westlichen Küchen ein. Die meistverzehrte Fleischsorte ist Huhn. Am beliebtesten sind Fleischgerichte noch bei Muslimen, die aber kein Schweinefleisch zu sich nehmen, während einige Hindus ganz vegetarisch leben. Rindfleisch lehnen die meisten von ihnen – ebenso wie die Sikhs – strikt ab. Jainas ist sogar der Genuss jeglicher tierischer Nahrungsmittel strengstens untersagt. Als Bratfette sind Pflanzenöle weitaus üblicher als tierische Fette. Als Grundnahrungsmittel dienen in Nord- und Westindien neben Reis verschiedene Weißbrotsorten (Roti), deren verbreitetste Variante Chapati, ein ungesäuertes Fladenbrot aus Weizenvollkornmehl, ist. Im Gegensatz dazu wird das im Nordwesten verbreitete Naanbrot mit Hefe gebacken. In Süd- und Ostindien ist Reis das wichtigste Nahrungsmittel schlechthin. Als Beilagen sind Hülsenfrüchte wie Linsen, Kichererbsen, Straucherbsen, Urdbohnen und Mungbohnen üblich. Das in der westlichen Welt als Gewürzmischung bekannte und als Sinnbild der indischen Küche angesehene Wort „Curry“ ist in Indien ein Begriff für die Zubereitungsart einer Vielzahl vegetarischer oder fleischhaltiger Gerichte in einer oft stark gewürzten Soße. Tatsächlich sind die Masala genannten Gewürzmischungen in der indischen Küche unentbehrlich, ihre Rezeptur und Verwendung variiert jedoch je nach Region beträchtlich. Zu Currys werden häufig gewürzte süß-saure Chutneys aus Gemüse und Obst gereicht. Milchprodukte, beispielsweise Ghee (Butterschmalz) und Joghurt, sind ebenfalls gängige Zutaten vieler Speisen und Soßen. Beliebte Getränke sind Kaffee, Tee, Masala Chai (Milchtee mit Gewürzen), Fruchtsäfte und Getränke auf Milchgrundlage wie Lassi (ein Joghurtgetränk). Alkoholische Getränke werden von vielen Indern aus religiösen Gründen abgelehnt. In einigen Bundesstaaten ist Alkohol sogar generell nicht erhältlich. Feiertage und Feste Als Nationalfeiertage werden der Republic Day (Tag der Republik) am 26. Januar, dem Tag des Inkrafttretens der Verfassung im Jahre 1950, und der Independence Day (Tag der Unabhängigkeit) am 15. August, der an das Ende der britischen Kolonialherrschaft 1947 erinnert, begangen. Letzterer wird jedoch nicht so aufwändig zelebriert wie der Tag der Republik, an dem in Delhi eine große Parade stattfindet, die vom Staatspräsidenten abgenommen wird. Auch der Geburtstag des Führers der Unabhängigkeitsbewegung Mohandas Karamchand („Mahatma“) Gandhi am 2. Oktober (Gandhi Jayanti) sowie mehrere religiöse Feste sind landesweite gesetzliche Feiertage. Religiöse Festtage nehmen in Indien einen außerordentlich hohen Stellenwert ein. Zu den wichtigsten hinduistischen Feierlichkeiten gehören das Lichterfest Diwali, Dashahara (der Tag des Sieges von Rama über den Dämonen Ravana), die Frühlingsfeste Holi und Vasant Panchami, Ganesh Chaturthi zu Ehren Ganeshas, Raksha Bandhan (Fest der „Schützenden Verbindung“ zwischen Geschwistern) sowie viele weitere Pujas zu Ehren einzelner Gottheiten. Muslime feiern etwa das Opferfest (Id al-Adha) zum Höhepunkt der Pilgerfahrt (Haddsch) nach Mekka und Id al-Fitr zum Ende des Fastenmonats Ramadan. Der wichtigste Feiertag der Sikhs, Buddhisten und Jainas ist der Geburtstag ihres jeweiligen Glaubensstifters (Nanak Dev bzw. Buddha bzw. Mahavira). Christen feiern vor allem Ostern und Weihnachten. Daneben existiert eine unüberschaubare Vielzahl regionaler Feste. In der Erntezeit feiert man in ländlichen Gegenden Erntedankfeste wie das tamilische Pongal, Lohri im Punjab oder Onam in Kerala (rund im Kochi), während die Menschen in anderen Landesteilen am selben Tag Makar Sankranti feiern. Das Onam-Festival war anfangs religiöser Natur, heutzutage steht die Kultur und Tradition Keralas im Mittelpunkt. Ende Februar bis Anfang März findet ein siebentägiges Tanzfestival vor der Kulisse der Khajuraho Tempel, die zum Weltkulturerbe der UNESCO gehören, statt. Medien Gemäß der Verfassung von 1950 gelten in Indien Meinungs- und Pressefreiheit, auch wenn diese in Krisengebieten wie Kaschmir und Teilen Nordostindiens eingeschränkt sind. Auf Grund seiner pluralistischen Gesellschaft besitzt Indien jedoch eine überaus breit gefächerte Medienlandschaft. Bei der Rangliste der Pressefreiheit 2017, welche von Reporter ohne Grenzen herausgegeben wird, belegte Indien Platz 130 von 180 Ländern und war damit besser als die Nachbarn Pakistan (139) und Bangladesch (146). Im Jahr 2017 sind vier Journalisten in Indien getötet worden. Laut dem Bericht von Reporter ohne Grenzen steht der Tod der Opfer in direktem Zusammenhang mit deren journalistischer Tätigkeit. Printmedien Indiens erste Zeitung, die englischsprachige Bengal Gazette, erschien 1780 in Kalkutta. Heute weist Indien eine äußerst vielfältige Presselandschaft auf. Die indische Presse gilt als kritisch, auch die thematische Bandbreite ist außerordentlich groß. Im Land erscheinen etwa 55.000 Zeitungen und Zeitschriften – mehr als in jedem anderen Land der Welt – mit einer Gesamtauflage von über 140 Millionen. Darunter sind mehr als 5000 Tageszeitungen. Die meisten Printmedien werden auf Hindi verlegt, das 45 % des gesamten Pressemarktes ausmacht. Englischsprachige Zeitungen haben einen Anteil von 17 %. Der Rest verteilt sich auf über 100 Sprachen und Dialekte. Die wichtigsten Nachrichten- und Presseagenturen sind Press Trust of India (PTI) und United News of India (UNI). Die folgende Liste zeigt die 10 meistgelesenen Tageszeitungen in Indien 2013, laut Indian Readership Survey (IRS) – die größte englischsprachige Zeitung ist The Times of India mit über 7 Millionen Lesern (vergleiche die Liste indischer Zeitungen): Hörfunk Bis in die frühen 1990er Jahre war der Hörfunk das dominierende elektronische Medium. Mit knapp 200 Millionen Zuhörern erreicht er jedoch inzwischen nur noch halb so viele Menschen wie das Fernsehen. Auch die Monopolstellung des staatlichen All India Radio, das in 23 Sprachen und 179 Dialekten sendet und im ganzen Land empfangen und darüber hinaus über Kurzwellenrundfunk, Satellit und per Livestream über das Internet gehört werden kann, ist durch die steigende Zahl privater UKW-Sender längst gebrochen. In den großen Städten haben private Hörfunksender das Staatsradio bereits überholt. Fernsehen Das Fernsehen wurde erstmals am 15. September 1959 im Raum Delhi eingeführt. Ein regelmäßiges Programm besteht jedoch erst seit 1965. Aus Anlass der Asienspiele im Jahre 1982 in Neu-Delhi wurde das Farbfernsehen eingeführt. Im selben Jahr begann die Ausstrahlung von Fernsehprogrammen über Satellit. Zunächst blieb das Fernsehen einer kleinen, wohlhabenden Minderheit vorbehalten, erlebte aber in den 1980er Jahren einen rasanten Zuschauerzuwachs und ist heute das mit Abstand beliebteste Massenmedium in Indien. Dem Staatsfernsehen Doordarshan, das bis 1991 eine Monopolstellung innehatte, stehen mittlerweile zahlreiche private Satelliten- und Kabelsender gegenüber. Letztere finden ihr Publikum vor allem unter der jüngeren Stadtbevölkerung. Inzwischen verfügt etwa die Hälfte der rund 100 Millionen Fernsehhaushalte über einen Kabelanschluss. Die zuschauerstärksten Privatsender sind STAR Plus, Sony Entertainment Television, Sab TV, India TV, Colors TV und Zee TV. Internet Das Internet ist in der indischen Mittel- und Oberschicht stark verbreitet. 2016 hatten 34 % der Bevölkerung einen Zugang zum Internet. Die Zahl der Benutzer steigt allerdings rapide an, nicht zuletzt dank der Internetcafés, die sich zusehends verbreiten. Die größeren der indischen Tageszeitungen sind mit einer Online-Version im Internet präsent. Die Zahl der Social-Media-Nutzer liegt bei 153 Millionen und ist gemessen an der Bevölkerungsgröße noch recht gering, verzeichnet dafür mit über 45 % im Vergleich zum Vorjahr eine sehr hohe Wachstumsrate, und die Zahl der Nutzer steigt kontinuierlich. Verlagswesen und Buchmarkt In 12.000 Verlagen erscheinen jährlich rund 90.000 Titel in über 18 Sprachen. Indien ist der drittgrößte Markt für englischsprachige Publikationen, der stark vom Wegfall eines investitionsbeschränkenden Gesetzes profitiert. Zunehmend wird Verlagsarbeit vor allem aus den Abteilungen Herstellung, Englisch und Online aus Industrieländern nach Indien verlagert (gemäß ValueNotes mit 122 Milliarden INR Umsatz) besonders im Bereich wissenschaftlicher, technischer und medizinischer Fachliteratur. Zwei der weltgrößten Buchmessen finden jährlich in Indien statt, die Kolkata Book Fair in Kalkutta und die New Delhi World Book Fair in Neu-Delhi. Siehe auch Literatur Überblicksdarstellungen Sven Hansen (Hrsg.): Indien. Die barfüßige Großmacht. (= Le Monde diplomatique. Heft 7). TAZ, Berlin 2010, ISBN 978-3-937683-27-0. Michael von Hauff (Hrsg.): Indien. Herausforderungen und Perspektiven. Metropolis-Verlag, Marburg 2008, ISBN 978-3-89518-720-9. Klaus Voll, Doreen Beierlein: Rising India – Europe’s partner? Weißensee Verlag, Berlin 2006, ISBN 3-89998-098-0. Geschichte Arthur Llewellyn Basham: The wonder that was India. Band 1: A survey of the history and culture of the Indian sub-continent before the coming of the Muslims. Band 2: From the coming of the Muslims to the British conquest: 1200–1700. Sidgwick & Jackson, London 1954/1987, ISBN 0-283-35457-7. Helmut Gregor: Das Indienbild des Abendlandes (bis zum Ende des 13. Jahrhunderts). Wien 1964. Andreas Hilger, Corinna R. Unger (Hrsg.): India in the world since 1947. National and transnational perspectives. Lang, Frankfurt am Main u. a. 2012, ISBN 978-3-631-61178-4. Hermann Kulke: Indische Geschichte bis 1750. (= Oldenbourg Grundriss der Geschichte. 34). München 2005, ISBN 3-486-55741-6. Hermann Kulke, Dietmar Rothermund: Geschichte Indiens. Von der Induskultur bis heute. 3. aktualisierte Auflage der Sonderausgabe. Verlag C.H. Beck, München 2018, ISBN 978-3406720635 Michael Mann: Geschichte Indiens. Vom 18. bis zum 21. Jahrhundert. (= UTB. 2694). Verlag Ferdinand Schöningh, Paderborn u. a. 2005, ISBN 3-8252-2694-8. Bernd Rosenheim: Die Welt des Buddha. Frühe Stätten buddhistischer Kunst in Indien. Verlag Philipp von Zabern, Mainz 2006, ISBN 3-8053-3665-9. Shashi Tharoor: Eine kleine Geschichte Indiens. Suhrkamp, Frankfurt am Main 2005, ISBN 3-89331-635-3. Michael Witzel: Das alte Indien. (= C.H. Beck Wissen). 2., durchges. Auflage. C.H. Beck Verlag, München 2010, ISBN 978-3-406-59717-6. Politik Olaf Ihlau: Weltmacht Indien. Die neue Herausforderung des Westens. Siedler Verlag, München 2006, ISBN 3-88680-851-3. Harald Müller: Weltmacht Indien – Wie uns der rasante Aufstieg herausfordert. S. Fischer Verlag, Frankfurt am Main 2006, ISBN 3-596-17371-X. Clemens Six: Hindi – Hindu – Hindustan. Politik und Religion im modernen Indien. 2. Auflage. Wien 2007, ISBN 978-3-85476-212-6. Christian Wagner: Das politische System Indiens. Eine Einführung. Wiesbaden 2006, ISBN 3-531-90248-2. Klaus Voll: Globale asiatische Großmacht? Indische Außen- und Sicherheitspolitik zwischen 2000 und 2005. Weißensee Verlag, Berlin 2005, ISBN 3-89998-075-1. Anant Kumar: Indien Eine Weltmacht mit inneren Schwächen, 13 kulturpolitische Essays. Verlag Der Neue Morgen, Rudolstadt 2012, ISBN 978-3-95480-021-6. Oliver Schulz: Neue Weltmacht Indien. Geostratege, Wirtschaftsriese, Wissenslabor. Westend-Verlag, Frankfurt/M. 2023, ISBN 978-3-86489-420-6. Religion Umfassender Überblick mit Literaturangaben: Paul Gäbler: Indische Religionen. In: Evangelisches Kirchenlexikon – Kirchlich-theologisches Handwörterbuch. Band: H–O. 2., unveränderte Auflage. Vandenhoeck & Ruprecht, Göttingen 1962, Spalte 298–302. Für das koloniale Indien: Swami Vivekananda: The Complete Works of Swami Vivekananda. Reprint. Mayavati Memorial Edition, Advatia Ashrama, Calcutta 1991/1992. Christian W. Troll: Sayyid Ahmand Khan. A Reinterpretation of Muslim Theology. Vikas Publ. House, New Delhi 1978. Gesellschaft Maren Bellwinkel-Schempp: Dalits. Religion und Menschenrechte der ehemaligen Unberührbaren in Indien. (= Studienheft Weltmission heute. Heft 67). Hamburg 2009. Robert Deliège: Les castes en Inde aujourd’hui. Presses Univ. de France, Paris 2005, ISBN 2-13-054034-1. Michael Schied: Nationalismus und Fundamentalismus in Indien: Der Ayodhya-Konflikt. VDM-Verlag, Saarbrücken 2008, ISBN 978-3-639-00541-7. Yves Thoraval: The Cinemas of India (1896–2000). MacMillan, 2000, ISBN 0-333-93410-5. Dorothee Wenner u. a. (Hrsg.): Import/Export. Wege des Kulturtransfers zwischen Indien und Deutschland/Österreich. Parthas Verlag, 2005, ISBN 3-86601-910-6. Surinder S. Jodhka, Aseem Prakash: Die indische Mittelschicht – aufstrebende politische und wirtschaftliche Kultur. In: KAS-Auslandsinformationen 12/2011. Berlin 2011, S. 44–59. Oliver Schulz: Indien zu Fuß – Eine Reise auf dem 78. Längengrad. Deutsche Verlags-Anstalt, München 2011, ISBN 978-3-421-04474-7. François Maher Presley: Indien – Farben und Gesichter. in-Cultura.com, Hamburg 2017, ISBN 978-3-930727-36-0. Hanns Wienold: Indien heute. 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Piper, München/ Zürich 2006, ISBN 3-492-27552-4. Klaus-Dieter Hupke, Ulrike Ohl: Auf Tour: Indien. Spektrum Akademischer Verlag, Heidelberg 2011, ISBN 978-3-8274-2609-3. Martin Kolozs: Nie wieder Indien. Der andere Reisebericht. Edition Baes, 2013, ISBN 978-3-9503559-3-2. Weblinks Wikimedia Regierung und Regierungsorganisationen Website der indischen Regierung (englisch) Website der Indischen Botschaft in Berlin (englisch) Verzeichnis indischer Regierungsseiten (englisch) Indien-Berichte internationaler Organisationen (englisch) Landesinformationen Länderinformation des Auswärtigen Amtes Länderprofil des Statistischen Bundesamtes Länderprofil Indien Korruption Regierungsunabhängige Informationen des Südasien-Informationsnetzes Portal der GIZ zu Indien Länderprofil Atomwaffen, Länderbericht Amnesty international zur Menschenrechtslage (englisch) Nachrichtenportal (englisch) Beziehungen zwischen Indien und Deutschland auf www.auswaertiges-amt.de Dossiers Online-Dossier der Bundeszentrale für politische Bildung, 2014 Indien. Informationen zur politischen Bildung. Heft 296, 2007 Neue Macht Indien. Textsammlung, in: Das Parlament Nr. 32/33, 2006, 7./14. August 2006 Online-Dossier des GIGA – German Institute for Global and Area Studies Kultur Herrscherlisten Ernst Kausen: Die Sprachen des indischen Subkontinents (Microsoft-Word-Dokument, 120 kB; DOC-Datei) Kultur, Architektur, Kunst, Astronomie, Kalender Einzelnachweise Staat in Asien Parlamentarische Bundesrepublik (Staat) Mitgliedstaat der Vereinten Nationen Mitgliedstaat des Commonwealth of Nations
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https://de.wikipedia.org/wiki/Lithium
Lithium
Lithium ist ein chemisches Element mit dem Symbol Li und der Ordnungszahl 3. Es ist ein Element der 1. IUPAC-Gruppe, der Gruppe der Alkalimetalle, und gehört zur zweiten Periode des Periodensystems der Elemente. Lithium ist ein Leichtmetall und besitzt die geringste Dichte der unter Standardbedingungen festen Elemente. Lithium kommt in der Natur aufgrund seiner hohen Reaktivität nicht elementar vor. Bei Raumtemperatur ist es nur in völlig trockener Luft über längere Zeit stabil, reagiert aber langsam zu Lithiumnitrid (Li3N). In feuchter Luft bildet sich an der Oberfläche schnell eine mattgraue Lithiumhydroxid-Schicht. Wie alle Alkalimetalle reagiert elementares Lithium schon bei Berührung mit der Hautfeuchtigkeit und führt so zu schweren Verätzungen und Verbrennungen. Viele Lithiumverbindungen, die in wässriger Lösung Lithiumionen bilden, sind im Gegensatz zu den entsprechenden Natrium- und Kaliumverbindungen als gesundheitsschädlich eingestuft. Als Spurenelement ist Lithium in Form seiner Salze ein häufiger Bestandteil von Mineralwasser. Im menschlichen Organismus sind geringe Mengen Lithium vorhanden; das Element ist jedoch nicht essenziell und hat keine bekannte biologische Funktion. Einige Lithiumsalze haben aber eine medizinische Wirkung und werden in der Lithiumtherapie bei bipolaren Affektstörungen, Manie, Depressionen und Cluster-Kopfschmerzen eingesetzt (siehe Medizin). Geschichte Als Entdecker des Lithiums gilt der Schwede Johan August Arfwedson, der im Jahr 1817 die Anwesenheit eines fremden Elements in Petalit (Li[4]Al[4][Si4O10]) und bald darauf auch in Spodumen (LiAl[Si2O6]) und Lepidolith (K(Li,Al)3[(Al,Si)4O10](F,OH)2) feststellte, als er Mineralienfunde von der Insel Utö in Schweden analysierte. Sein akademischer Lehrer Jöns Jakob Berzelius schlug Lithion, eine Ableitung zu , als Namen vor, der entsprechend den Bezeichnungen der andern beiden damals bekannten Alkalimetalle Natrium und Kalium auf das Material hinweist, aus dem es gewonnen wurde. Die latinisierte Form Lithium hat sich durchgesetzt. 1818 bemerkte der deutsche Chemiker Christian Gottlob Gmelin, dass Lithiumsalze eine rote Flammenfärbung ergeben. Beide Wissenschaftler scheiterten in den folgenden Jahren mit Versuchen, dieses Element zu isolieren. Im Jahr 1818 gelang dies erstmals William Thomas Brande und Sir Humphry Davy mittels eines elektrolytischen Verfahrens aus Lithiumoxid (Li2O). Robert Bunsen und Augustus Matthiessen stellten 1855 durch Elektrolyse von Lithiumchlorid (LiCl) größere Mengen reinen Lithiums her. Im Jahr 1917 synthetisierte Wilhelm Schlenk aus organischen Quecksilberverbindungen die ersten lithiumorganischen Verbindungen. Mit der ersten kommerziellen Produktion begann 1923 die deutsche Metallgesellschaft in der Hans-Heinrich-Hütte in Langelsheim im Harz, indem eine Schmelze aus Lithium- und Kaliumchlorid (KCl) elektrolysiert wurde. Bis kurz nach dem Zweiten Weltkrieg gab es bis auf die Anwendung als Schmiermittel (Mineralöl, angedickt mit Lithiumstearat) und in der Glasindustrie (Lithiumcarbonat oder Lithiumoxid) kaum Anwendungen für Lithium. Dies änderte sich, als in den Vereinigten Staaten Tritium, das sich aus Lithium gewinnen lässt, für den Bau von Wasserstoffbomben benötigt wurde. Man begann mit einer breit angelegten Förderung, vor allem in Kings Mountain (North Carolina). Durch die auf Grund der kurzen Tritium-Halbwertszeit benötigten großen Lithium-Mengen wurde zwischen 1953 und 1963 ein großer Vorrat von Lithium angehäuft, das erst nach dem Ende des Kalten Krieges ab 1993 auf den Markt gebracht wurde. Neben dem Bergbau wurde nun auch die billigere Gewinnung aus Salzlaugen wichtig. Größere Mengen Lithium werden mittlerweile für Batterien, für die Polymerisation von Elastomeren, in der Bauindustrie und für die organische Synthese von Pharmazeutika und Agrochemikalien eingesetzt. Seit 2007 sind Primärbatterien und Akkumulatoren (Sekundärbatterien) das wichtigste Segment. Vorkommen und Abbau Vorkommen auf der Erde Lithium hat an der Erdkruste einen Anteil von etwa 0,006 %. Es kommt damit etwas seltener als Zink sowie häufiger als Kobalt, Zinn und Blei in der Erdkruste vor. Obwohl Lithium häufiger als beispielsweise Blei ist, ist seine Gewinnung durch die stärkere Verteilung schwierig. Im Trinkwasser und einigen Nahrungsmitteln wie Fleisch, Fisch, Eiern und Milchprodukten ist Lithium enthalten. So enthalten 100 g Fleisch etwa 100 μg Lithium. Verschiedene Pflanzen wie beispielsweise Tabak oder Hahnenfuß nehmen Lithiumverbindungen aus dem Boden auf und reichern sie an. Der durchschnittliche Anteil an der Trockenmasse von Pflanzen liegt zwischen 0,5 ppm und 3 ppm. Meerwasser enthält durchschnittlich 180 µg/L und Flusswasser etwa 3 µg/L. Abbau und Reserven Mengenmäßig wurden 2015 außerhalb der USA 35.000 Tonnen Lithium gewonnen und überwiegend als Lithiumcarbonat (Li2CO3) gehandelt. Im Jahr 2016 war Chile der größte Produzent. Australien verdreifachte seine Produktion zwischen 2016 und 2017 und steigerte sie bis 2018 nochmals um fast 50 %. Derzeit (2018) werden fast zwei Drittel des Lithiumvorrats in Australien im Hartgesteinsbergbau und nur etwa ein Drittel aus Solen gewonnen. Die Reserven in den vorhandenen Minen werden auf rund 17 Millionen Tonnen geschätzt (Stand: Januar 2020). Das Weltvorkommen aus kontinentalen Solen, geothermischen Solen, aus dem Hectorit-Mineral, Ölfeld-Solen und aus dem magmatischen Gestein Pegmatit ist auf 80 Millionen Tonnen geschätzt worden. Ein anderes Bild ergibt sich bei der Analyse der Unternehmen, die Lithiumminen verwalten. Laut einer Reportage des Fachmagazins „illuminem“, Chinesische Investoren kontrollieren mehrere Bergbauunternehmen, auf die 33,1 % der Gesamtproduktion (und die Hälfte der Produktion großer Unternehmen) von Lithium in der Welt entfallen. Ressource = (geschätztes) Gesamtvorkommen des Rohstoffs Reserve = der Teil der Ressource, der in einem überschaubaren Zeithorizont unter ökonomischen Bedingungen abgebaut werden kann Primäre Lagerstätten Lithium kommt in einigen Mineralien in Lithium-Pegmatiten vor. Die wichtigsten Minerale sind dabei Amblygonit (LiAl[PO4]F), Lepidolith (K(Li,Al)3[(Al,Si)4O10](F,OH)2), Petalit (Kastor; LiAl[Si4O10]) und Spodumen (Triphan; LiAl[Si2O6]). Diese Minerale haben einen Lithiumgehalt von bis zu 9 % (bei Amblygonit). Andere, seltenere Lithiumerze sind Kryolithionit (Li3Na3[AlF6]2), das den größten Lithiumgehalt aller Mineralien aufweist, Triphylin (Li(FeII,MnII)[PO4]) und Zinnwaldit (K(Li,Fe,Al)3[(Al,Si)4O10](F,OH)2). Lithiummineralien kommen in vielen Silikat-Gesteinen vor, aber meist nur in geringen Konzentrationen. Eine der großen Lagerstätten liegt in Serbien im Jadartal, wo das Mineral Jadarit gefunden wurde. Es gibt keine großen Lagerstätten. Da die Gewinnung von Lithium aus diesen Mineralien mit großem Aufwand verbunden ist, spielen sie heutzutage bei der Gewinnung von Lithium oder Lithiumverbindungen eine untergeordnete Rolle, dies könnte sich jedoch aufgrund der erwartet hohen Nachfrage ändern. Abbauorte sind vor allem die Greenbushes- und Mt.-Cattlin-Minen in Western Australia, in deren Pegmatit-Gesteinen eine hohe Lithiumkonzentration vorliegt und in denen Lithium als Nebenprodukt der Tantalgewinnung anfällt. Auch in einigen anderen Ländern wie Kanada und Russland, bis 1998 auch in Bassemer City, North Carolina, wird Spodumen zur Lithiumgewinnung abgebaut. Europa besitzt Li-reiche Pegmatitfelder auf der Kärntner Weinebene im Bezirk Wolfsberg, in der finnischen Region Österbotten, im Erzgebirge sowie zwischen Spanien (Almendra) und Portugal (Distrikt Guarda, Boticas). Während die erste kommerzielle Produktion von Lithiumverbindungen an sich bereits 1923 im Harz begann, könnte die Förderung in den nun neu erschlossenen bedeutenden Lagerstätten in Österreich und Finnland ab 2025 beginnen. Sie werden durch Global Strategic Metals bzw. Keliber betrieben. In Österreich an der Koralpe im Lavanttal haben Probestollen ein viel größeres Vorkommen von lithiumhaltigem Grundgestein ergeben, das auf 22 Millionen Tonnen geschätzt wird. Damit ist es eines der ersten groß angelegten Lithium-Abbauprojekte Europas und könnte 20 Jahre lang betrieben werden. Das Vorkommen bei Zinnwald im Erzgebirge wird durch die Deutsche Lithium exploriert. Sekundäre Lagerstätten Lithiumsalze, insbesondere Lithiumchlorid, kommen verbreitet auch in Salzlaugen, meist Salzseen, vor. Die Konzentration kann bis zu einem Prozent betragen. Neben der Konzentration des Lithiums ist für die Qualität der Salzlauge das Mengenverhältnis von Magnesium zu Lithium wichtig. Derzeit wird Lithium vor allem in Chile (Salar de Atacama, die mit 0,16 % mit den höchsten bekannten Lithiumkonzentration aufweist), Argentinien (Salar del Hombre Muerto), den Vereinigten Staaten von Amerika (Silver Peak, Nevada) und der Volksrepublik China (Chabyêr Caka, Tibet; Taijinaier-See, Qinghai) gewonnen. Im bolivianischen Salzsee Salar de Uyuni mit geschätzt 5,4 Millionen Tonnen Lithium lagern möglicherweise die größten Ressourcen. Das Staatsunternehmen Yacimientos de Litio Bolivianos investiert seit 2018 mit deutschen und chinesischen Partnern verstärkt in seine Industrialisierung, einschließlich der benachbarten Salar de Coipasa und Laguna Pastos Grandes. Es gibt weitere lithiumhaltige Salzseen, die (Stand April 2019) noch nicht zum industriellen Abbau genutzt werden, beispielsweise in China, Argentinien und Afghanistan. 2016 wurde bekannt, dass im Paradox-Becken im US-Bundesstaat Utah schon in den 1960er Jahren bei Ölexplorationsbohrungen hochsalinares Tiefengrundwasser (Sole) angetroffen wurde, aus dem sich, nach damaligen Analysen, bis zu 1700 mg/l reines Lithium gewinnen ließe. Als Kuppelprodukte bei der Lithiumgewinnung werden häufig Kaliumcarbonat (Pottasche), Borax, Caesium und Rubidium gewonnen. Aufgrund der erwarteten starken Nachfrage nach Lithium für Batterien von Elektrofahrzeugen prüften 2010 einige Unternehmen den Abbau von lithiumhaltigen Mineralien und Salzlaugen in verschiedenen Regionen der Welt inklusive Europa. Erforscht wird auch die Lithiumgewinnung aus Meerwasser. In den Weltmeeren sind ca. 230 Mrd. Tonnen Lithium gelöst. 2018 stellten Forscher eine Extraktionsmethode vor, bei der Lithium über solarbetriebene Elektrolyse aus Meerwasser gewonnen werden kann. Als einen Vorteil gegenüber herkömmlicher Gewinnung nannten sie, dass bei dem Prozess direkt metallisches Lithium anfällt und deshalb auf die (komplexe und energieaufwändige) Weiterverarbeitung verzichtet werden kann, wie sie bei der traditionellen Lithiumgewinnung aus Erzen notwendig ist. Beim Leibniz-Institut für Neue Materialien startete im November 2020 das auf zwei Jahre angesetzte Forschungsprojekt MERLIN (mining water lithium extraction), mit dem die Gewinnung von Lithium aus Grubenwasser getestet werden soll. Vorkommen außerhalb der Erde Nach dem Urknall ist neben Wasserstoff- und Heliumisotopen auch eine nennenswerte Menge des Isotops 7Li entstanden. Dieses ist aber zum größten Teil heute nicht mehr vorhanden, da in Sternen Lithium mit Wasserstoff im Prozess der Proton-Proton-Reaktion II fusioniert und so verbraucht wurde. In Braunen Zwergen sind Masse und Temperatur jedoch nicht hoch genug für eine Wasserstofffusion; ihre Masse erreicht nicht die dazu notwendige Größe von etwa 75 Jupitermassen. Das beim Urknall entstandene Lithium blieb somit in größeren Mengen nur in Braunen Zwergen erhalten. Lithium ist aus diesem Grund auch extraterrestrisch ein verhältnismäßig seltenes Element, kann aber zum Nachweis Brauner Zwerge dienen. Die Verteilung von Lithium in verschiedenen Sternen ist stark unterschiedlich, auch wenn das Alter, die Masse und die Metallizität ähnlich sind. Es wird angenommen, dass Planeten einen Einfluss auf den Lithiumgehalt eines Sterns besitzen. Besitzt ein Stern keine Planeten, so ist der Lithiumgehalt hoch, während Sterne wie die Sonne, die von Planeten umgeben sind, einen nur geringen Lithiumgehalt aufweisen, was auch als Lithium Dip bezeichnet wird. Als Ursache wird vermutet, dass die Gezeitenkräfte von Planeten zu einer stärkeren Durchmischung von äußeren und inneren Schichten in Sternen beitragen, so dass mehr Lithium in einen Bereich gelangt, der heiß genug ist, um dieses zu fusionieren. Produktionsprozess Lithium wird In Australien vorwiegend aus Gesteinen im offenen Tagebau, in Südamerika häufig aus Salzwasser (Grundwasser, Salzseen) durch Verdunstung gewonnen. Seltener ist die Gewinnung aus Thermal- oder Grubenwasser in Europa. Aus Salzwasser Zur Lithiumgewinnung wird salzhaltiges Grundwasser an die Oberfläche gepumpt und über eine Kette von Verdunstungsteichen geleitet, in denen über mehrere Monate die Verdunstung an der Sonne stattfindet. Hat das Lithiumchlorid in den Teichen die nötige Konzentration erreicht, wird die Lösung in eine Aufbereitungsanlage gepumpt, wo unerwünschtes Bor oder Magnesium extrahiert und ausgefiltert werden. Dann wird sie mit Natriumcarbonat behandelt. Das dabei ausgefällte Lithiumcarbonat wird gefiltert und getrocknet. Überschüssige Rest-Sole wird in den Salzsee zurückgepumpt. In trockenen Gegenden wie Chile wird durch die Grundwasserverwendung das Austrocknen der Landschaft gefördert. Aus Thermalwasser In Mitteleuropa wird das Lithium aus kilometertiefem, heißen Thermalwasser gewonnen. An der Geothermie-Forschungsbohrung Groß Schönebeck wurde in vier Kilometern Tiefe eine Konzentration von Litiumionen von 200 bis 230 mg/l nachgewiesen. Die Temperatur von 150 °C ist dabei ebenso entscheidend, da das Lithium zu einem Nebenprodukt der Geothermie wird. Das Verfahren besteht aus drei Schritten: Anlagern, Ablösen und Raffinieren. Im ersten Schritt wird das Thermalwasser in einen Behälter mit einem Adsorptionsmaterial gefüllt, das die freien Lithiumionen einfängt. Nach der Anlagerung wird das Thermalwasser abgepumpt und dem Geothermiekreislauf wieder zugeführt. Im zweiten Schritt wird der Behälter mit einem sauren Lösungsmittel wie etwa Essigsäure befüllt, das die Lithiumionen aus dem Adsorptionsmaterial herauswäscht. Die mit Lithium angereicherte Lösung wird sodann abgepumpt und im dritten Schritt zu Lithiumchlorid veredelt. Eine Pilotanlage ist am Geothermiekraftwerk Insheim in Rheinland-Pfalz in Betrieb. Das Unternehmen Vulcan Energie fördert dort Lithiumchlorid aus 2.000 bis 5.000 Metern Tiefe und wandelt es in einer Elektrolyse-Anlage zu Lithiumhydroxid. Je nach anderen gelösten Ionen wie Kochsalz oder Eisen können bis zu 95 Prozent des gelösten Lithiums gewonnen werden. Im Jahr 2021 konnten jedoch nur einige Kilogramm Lithiumhydroxid pro Monat gewonnen werden. Darstellung Aus lithiumhaltigen Salzlösungen wird durch Verdunsten des Wassers und Zugabe von Natriumcarbonat (Soda) Lithiumcarbonat ausgefällt. Dazu wird die Salzlake zunächst so lange an der Luft eingeengt, bis die Lithiumkonzentration 0,5 % überschreitet. Durch Zugabe von Natriumcarbonat fällt daraus das wenig lösliche Lithiumcarbonat aus: . Zur Gewinnung von metallischem Lithium wird das Lithiumcarbonat zunächst mit Salzsäure umgesetzt. Dabei entstehen Kohlenstoffdioxid, das als Gas entweicht, und gelöstes Lithiumchlorid. Diese Lösung wird im Vakuumverdampfer eingeengt, bis das Chlorid auskristallisiert: Die Apparate und Anlagen für die Lithiumchlorid-Gewinnung müssen aus Spezialstählen oder Nickellegierung sein, da die Salzlauge sehr korrosiv wirkt. Metallisches Lithium wird durch Schmelzflusselektrolyse eines bei 450–500 °C schmelzenden eutektischen Gemisches aus 52 Massenprozent Lithiumchlorid und 48 Massenprozent Kaliumchlorid hergestellt: Das Kalium wird bei der Elektrolyse nicht abgeschieden, weil es in der Chlorid-Schmelze ein niedrigeres Elektrodenpotential hat. Spuren von Natrium werden jedoch mit abgeschieden und machen das Lithium besonders reaktiv (vorteilhaft in der organischen Chemie, schlecht für Li-Batterien). Das flüssige Lithium sammelt sich an der Elektrolytoberfläche und kann so relativ einfach aus der Elektrolysezelle ausgeschleust werden. Es ist ebenfalls möglich, Lithium per Elektrolyse von Lithiumchlorid in Pyridin zu gewinnen. Diese Methode eignet sich besonders gut im Labormaßstab. Wirtschaftliche Bedeutung und Rohstoffhandel Nach seiner Gewinnung gelangt Lithium als Rohstoff über den Handel zu den weiterverarbeitenden Industrien. Im Rohstoffhandel, speziell an den Börsen für Metalle, wird kein reines Lithium gehandelt, das chemisch zu instabil wäre. Gehandelt werden stattdessen stabile Lithiumverbindungen, i. d. R. mit Lithiumsalzen bzw. Lithium-basierenden Kristallhaufwerken, überwiegend Lithiumkarbonat oder Lithiumhydroxidmonohydrat. Diese Stoffe werden u. a. an der London Metal Exchange gehandelt. 2020 wurden für Lithiumkarbonat (Minimalgehalt 99,5%) ein Preis von 8,75 USD / kg verzeichnet, für Lithiumhydroxidmonohydrat (Minimalgehalt 56,5%) 10,25 USD / kg. In der Folgezeit stieg der Preis und lag Mitte 2022 bei ca. 70 USD/kg. Indexfonds Neben der Quotierung des Lithiums als Rohstoff existieren seit 2010 Lithium-Indexfonds (ETFs), die börslich handelbar sind. Mit diesen ETFs wird der Börsenwert von Unternehmen abgebildet, die an der Lithium-Wertschöpfungskette beteiligt sind. Seit 2010 gibt es einen Aktien-Performance-Index von Solactive, der die Marktkapitalisierung der größten börsennotierten Unternehmen nachzeichnet, die an Erkundung und Bergbau von Lithium sowie der Produktion von Lithium-Batterien beteiligt sind. Zu den zehn größten Werten in diesem Index zählen (nach Größe absteigend, Stand April 2020): Albemarle, SQM, Tesla, BYD, Samsung, Simplo Technology, LG Chem, Panasonic, GS Yuasa und Enersys. Die wenigen Lithium-ETFs bilden überwiegend diesen Index ab. Weltmarkt Lithium ist laut der Bundesanstalt für Geowissenschaften und Rohstoffe (BGR) der „Schlüsselrohstoff der Verkehrswende“, der derzeit in Lithiumionenbatterien unabhängig von der Batteriekomposition „nicht ersetzbar ist. Gegenwärtig werden global jährlich rund 82.000 Tonnen Lithium produziert. Für 2030 prognostiziert die BGR einen Bedarf von bis zu 560.000 Tonnen.“ Zudem ist die „Veredelung der Rohstoffe zu gebrauchsfertigen Substanzen […] sehr stark auf China konzentriert, bei seltenen Erden zu fast 90 Prozent, […] bei Lithium zu 58 Prozent.“ Das Bergbau-Unternehmen Imerys kündigte die Eröffnung einer Lithium-Mine in Zentralfrankreich an. Untersuchungen ergaben, dass das Vorkommen ausreiche, „um ab 2028 jährlich 34.000 Tonnen Lithiumhydroxid zu produzieren.“ Eigenschaften Physikalische Eigenschaften Lithium ist ein silberweißes, weiches Leichtmetall. Es ist bei Raumtemperatur das leichteste aller festen Elemente (Dichte 0,534 g/cm³). Nur fester Wasserstoff bei −260 °C ist mit einer Dichte von 0,0763 g/cm³ noch leichter. Lithium kristallisiert – wie die anderen Alkalimetalle – in einer kubisch-raumzentrierten Kugelpackung in der mit dem Gitterparameter a = 351 pm und zwei Formeleinheiten pro Elementarzelle. Bei tiefen Temperaturen von 78 K ändert sich die Kristallstruktur durch Spontanumwandlung in eine hexagonale Struktur des Magnesium-Typs mit den Gitterparametern a = 311 pm und c = 509 pm oder nach Verformung in eine kubische Struktur des Kupfer-Typs (kubisch flächenzentriert) mit dem Gitterparameter a = 438 pm um. Die genauen Ursachen, welche Struktur gebildet wird, sind unbekannt. Lithium hat unter den Alkalimetallen den höchsten Schmelz- und Siedepunkt sowie die größte spezifische Wärmekapazität. Lithium besitzt zwar die größte Härte aller Alkalimetalle, lässt sich bei einer Mohs-Härte von 0,6 dennoch mit dem Messer schneiden. Als typisches Metall ist es ein guter Strom- (Leitfähigkeit: etwa 18 % von Kupfer) und Wärmeleiter. Lithium weist weitgehende Ähnlichkeit zu Magnesium auf, was sich auch in der Tatsache des Auftretens von heterotypen Mischkristallen aus Lithium und Magnesium, der sogenannten Isodimorphie zeigt. Obwohl Magnesium in der hexagonal dichtesten, Lithium dagegen in der kubisch raumzentrierten Kugelpackung kristallisiert, sind beide Metalle weitgehend heterotyp mischbar. Dies erfolgt aber nur in einem beschränkten Konzentrationsbereich, wobei die im Überschuss vorhandene Komponente der anderen ihr Kristallgitter „aufzwingt“. Das Lithium-Ion weist mit −520 kJ/mol die höchste Hydratationsenthalpie aller Alkalimetallionen auf. Dadurch ist es in Wasser vollständig hydratisiert und zieht die Wassermoleküle stark an. Das Lithiumion bildet zwei Hydrathüllen, eine innere mit vier Wassermolekülen, die sehr stark über ihre Sauerstoffatome an das Lithiumion gebunden sind, und eine äußere Hülle, in der über Wasserstoffbrücken weitere Wassermoleküle mit dem Li[H2O]4+-Ion verbunden sind. Dadurch ist der Ionenradius des hydratisierten Ions sehr groß, sogar größer als diejenigen der schweren Alkalimetalle Rubidium und Caesium, die in wässriger Lösung keine derart stark gebundenen Hydrathüllen aufweisen. Als Gas kommt Lithium nicht nur in einzelnen Atomen, sondern auch molekular als Dilithium Li2 vor. Das einbindige Lithium erreicht dadurch ein volles s-Atomorbital und somit eine energetisch günstige Situation. Dilithium hat eine Bindungslänge von 267,3 pm und eine Bindungsenergie von 101 kJ/mol. Im gasförmigen Zustand liegt etwa 1 % (nach Masse) des Lithiums als Dilithium vor. Chemische Eigenschaften Lithium ist – wie alle Alkalimetalle – sehr reaktiv und reagiert bereitwillig mit sehr vielen Elementen und Verbindungen (wie Wasser) unter Wärmeabgabe. Unter den Alkalimetallen ist es allerdings das reaktionsträgste. Eine Besonderheit, die Lithium von den anderen Alkalimetallen unterscheidet, ist seine Reaktion mit molekularem Stickstoff zu Lithiumnitrid, die bereits bei Raumtemperatur langsam stattfindet: . Dies wird durch die hohe Ladungsdichte des Li+-Ions und damit durch eine hohe Gitterenergie des Lithiumnitrids ermöglicht. Lithium hat mit −3,04 V das niedrigste Normalpotential im Periodensystem und ist somit das unedelste aller Elemente. Wie alle Alkalimetalle wird Lithium unter Petroleum oder Paraffinöl aufbewahrt, da es sonst mit dem in der Luft enthaltenen Sauerstoff und Stickstoff reagiert. Da die Ionenradien von Li+- und Mg2+-Ionen vergleichbar groß sind, gibt es auch Ähnlichkeiten in den Eigenschaften von Lithium beziehungsweise Lithiumverbindungen und Magnesium oder Magnesiumverbindungen. Diese Ähnlichkeit in den Eigenschaften zweier Elemente aus benachbarten Gruppen des Periodensystems ist als Schrägbeziehung im Periodensystem bekannt. So bildet Lithium, im Gegensatz zu Natrium, viele metallorganische Verbindungen (Organolithium-Verbindungen), wie Butyllithium oder Methyllithium. Ähnliche Beziehungen bestehen auch zwischen Beryllium und Aluminium sowie zwischen Bor und Silicium. Isotope In der Natur kommen die beiden stabilen Isotope 6Li (7,6 %) und 7Li (92,4 %) vor. Daneben sind instabile Isotope, beginnend bei 4Li über 8Li bis 12Li, bekannt, die nur künstlich herstellbar sind. Ihre Halbwertszeiten liegen alle im Millisekundenbereich. 6Li spielt eine wichtige Rolle in der Technologie der Kernfusion. Es dient sowohl im Kernfusionsreaktor als auch in der Wasserstoffbombe als Ausgangsmaterial für die Erzeugung von Tritium, das für die energieliefernde Fusion mit Deuterium benötigt wird. Tritium entsteht im Blanket des Fusionsreaktors oder in der Wasserstoffbombe neben Helium durch Beschuss von 6Li mit Neutronen, die bei der Fusion anfallen, nach der Kernreaktion . Die ebenfalls mögliche Reaktion ist weniger geeignet (siehe Blanket). Die Trennung kann beispielsweise über einen Isotopenaustausch von Lithiumamalgam und einer gelösten Lithiumverbindung (wie Lithiumchlorid in Ethanol) erfolgen (sogenannter COLEX-Prozess). Dabei werden Ausbeuten von etwa 50 % erreicht. Ist in einer Dreistufenbombe neben 6Li auch 7Li vorhanden (wie es beispielsweise bei Castle Bravo unerwarteterweise der Fall war), reagiert dieses mit einigen der bei der Fusion erzeugten schnellen Neutronen. Dadurch entstehen wieder Neutronen, außerdem Helium und zusätzliches Tritium. Dies führt, obwohl die 7Li-Neutron-Reaktion zunächst Energie verbraucht, im Endergebnis zu erhöhter Energiefreisetzung durch zusätzliche Fusionen und mehr Kernspaltungen im Bombenmantel aus Uran. Die Sprengkraft ist deshalb höher, als wenn nur der 6Li-Anteil der Isotopenmischung in der Bombe umgewandelt worden wäre. Da vor dem Castle-Bravo-Test angenommen wurde, das 7Li würde nicht mit den Neutronen reagieren, war die Bombe etwa 2,5-mal so stark wie erwartet. Das Lithiumisotop 7Li entsteht in geringen Mengen in Kernkraftwerken durch eine Kernreaktion des (als Neutronenabsorber verwendeten) Borisotops 10B mit Neutronen. Die Isotope 6Li, 7Li werden beide in Experimenten mit kalten Quantengasen verwendet. So wurde das erste Bose-Einstein-Kondensat mit dem (Boson) Isotop 7Li erzeugt. 6Li dagegen ist ein Fermion, und im Jahr 2003 ist es gelungen, Moleküle dieses Isotops in ein Suprafluid zu verwandeln. Verwendung Die heute wichtigste und am schnellsten wachsende Anwendung für Lithium ist die Verwendung in Lithium-Ionen-Akkumulatoren (oft auch als wiederaufladbare Batterien bezeichnet), die z. B. in Smartphones, Laptops, Akkuwerkzeugen oder elektrisch betriebenen Fahrzeugen, wie Hybridautos, Elektroautos oder E-Bikes verwendet werden (siehe Diagramm rechts). Der größte Teil der produzierten Lithiumsalze wird nicht zum Metall reduziert, sondern entweder direkt als Lithiumcarbonat, Lithiumhydroxid, Lithiumchlorid, Lithiumbromid eingesetzt oder zu anderen Verbindungen umgesetzt. Das Metall wird nur in einigen Anwendungen benötigt. Die wichtigsten Verwendungszwecke von Lithiumverbindungen findet man im Abschnitt „Verbindungen“. Metall Ein Teil des produzierten Lithiummetalls wird für die Gewinnung von Lithiumverbindungen verwendet, die nicht direkt aus Lithiumcarbonat hergestellt werden können. Dies sind in erster Linie organische Lithiumverbindungen wie Butyllithium, Lithium-Wasserstoff-Verbindungen wie Lithiumhydrid (LiH) oder Lithiumaluminiumhydrid sowie Lithiumamid. Lithium wird wegen seiner Fähigkeit, direkt mit Stickstoff zu reagieren, zu dessen Entfernung aus Gasen verwendet. Metallisches Lithium ist ein sehr starkes Reduktionsmittel; es reduziert viele Stoffe, die mit anderen Reduktionsmitteln nicht reagieren. Es wird bei der partiellen Hydrierung von Aromaten (Birch-Reduktion) eingesetzt. In der Metallurgie wird es zur Entschwefelung, Desoxidation und Entkohlung von Metallschmelzen eingesetzt. Da Lithium ein sehr niedriges Normalpotential besitzt, kann es in Batterien als Anode verwendet werden. Diese Lithium-Batterien haben eine hohe Energiedichte und können eine besonders hohe Spannung erzeugen. Nicht zu verwechseln sind die nicht wiederaufladbaren Lithium-Batterien mit den wiederaufladbaren Lithium-Ionen-Akkumulatoren, bei denen Lithiummetalloxide wie Lithiumcobaltoxid als Kathode und Graphit oder andere Lithiumionen einlagernde Verbindungen als Anode geschaltet sind. Kernfusion Das für den Betrieb von Kernfusionsreaktoren nötige Tritium soll im Blanket des Reaktors aus Lithium-6 erbrütet werden. Legierungsbestandteil Lithium wird mit einigen Metallen legiert, um deren Eigenschaften zu verbessern. Oft reichen dafür schon geringe Mengen Lithium aus. Es verbessert als Beimischung bei vielen Stoffen die Zugfestigkeit, Härte und Elastizität. Ein Beispiel für eine Lithiumlegierung ist Bahnmetall, eine Bleilegierung mit circa 0,04 % Lithium, die als Lagermaterial in Eisenbahnen verwendet wird. Auch bei Magnesium-Lithium-Legierungen und Aluminium-Lithium-Legierungen werden die mechanischen Eigenschaften durch Zusatz von Lithium verbessert. Gleichzeitig sind Lithiumlegierungen sehr leicht und werden deshalb viel in der Luft- und Raumfahrttechnik verwendet. Forschung (Atomphysik) In der Atomphysik wird Lithium gerne verwendet, da es mit 6Li als einziges Alkalimetall ein stabiles fermionisches Isotop besitzt, weshalb es sich zur Erforschung der Effekte in ultrakalten fermionischen Quantengasen eignet (siehe BCS-Theorie). Gleichzeitig weist es eine sehr breite Feshbach-Resonanz auf, die es ermöglicht, die Streulänge zwischen den Atomen nach Belieben einzustellen, wobei die Magnetfelder aufgrund der Breite der Resonanz nicht besonders präzise gehalten werden müssen. Medizin Bereits 1859 wurde Lithium in der westlichen Medizin als Mittel gegen Gicht erstmals eingesetzt. Es erwies sich jedoch als unwirksam. Erst 1949 beschrieb der australische Psychiater John Cade (1912–1980) ein mögliches Anwendungsgebiet für Lithiumsalze. Er hatte Meerschweinchen verschiedene chemische Verbindungen, darunter auch Lithiumsalze, injiziert, woraufhin diese weniger stark auf äußerliche Reize reagierten, ruhiger, aber nicht schläfrig wurden. Im Nachhinein stellte sich heraus, dass der bei den Versuchstieren beobachtete Effekt auf eine Intoxikation zurückzuführen war. Nach einem Selbstversuch von Cade wurde 1952–1954 die Verwendung von Lithiumcarbonat als Medikament zur Behandlung manisch-depressiver Patienten in einer Doppelblindstudie am Psychiatrischen Krankenhaus in Aarhus-Risskov (Dänemark) untersucht. Damit war der Grundstein für die Lithiumtherapie gelegt. Bei dieser wird Lithium in Form von Salzen, wie dem Lithiumcarbonat, gegen bipolare Affektstörungen, Manie und Depression aber auch außerhalb der Psychiatrie bei der Behandlung von Cluster-Kopfschmerz oder Infektionen mit Herpes simplex eingesetzt. Dabei ist die geringe therapeutische Breite zu beachten, die zwischen 0,6 mmol/L und 0,8 mmol/L liegt und Spiegelbestimmungen während der Therapie damit erforderlich macht. Bereits wenn sich der Lithiumblutspiegel an der oberen Grenze der therapeutischen Breite bewegt, kann es bei empfindlichen Menschen zu beherrschbaren, reversiblen Nebenwirkungen kommen. Liegt der Lithiumblutspiegel jedoch deutlich über der therapeutischen Breite – also über 2,0 mmol/L – steigt die Gefahr deutlicher bis schwerer Nebenwirkungen wie Tremor, Rigor, Übelkeit, Erbrechen, Herzrhythmusstörungen und Leukozytose rasant an. Über 3,5 mmol/L besteht Lebensgefahr. Der Grund ist, dass der Stoffwechsel von Lithium und Natrium ähnlich ist. Ein zu hoher Lithiumspiegel kann durch Schwitzen oder Natrium-ausschwemmende Medikamente (natriuretische Diuretika) mit sinkendem Natriumspiegel entstehen. Der Körper versucht, den Natriumverlust zu kompensieren, indem in den Nieren dem Primärharn Natrium entzogen und in das Blut zurücktransportiert wird (Natriumretention). Neben Natrium wird dabei auch Lithium reteniert, das normalerweise gleichmäßig von den Nieren ausgeschieden wird. Die Folge ist ein erhöhter Lithiumspiegel, was bei der Einnahme von Lithium ein Drug monitoring bedingt, bei dem regelmäßig der Lithiumspiegel bestimmt und die Dosis entsprechend angepasst wird. Auch bei korrekter Dosierung kann es unter Langzeit-Behandlung mit Lithium zu Wasser- und Natrium-Verlusten (Diabetes insipidus), Übersäuerung des Blutes (Azidose) und zur Lithium-Nephropathie mit Einschränkung der Nierenfunktion kommen. Eine Studie, die 1990 in den USA veröffentlicht wurde, beschreibt eine erhebliche Verringerung von Straftaten und Suiziden in Regionen mit erhöhten Lithiumkonzentrationen im Trinkwasser. Eine österreichische Studie kam zu ähnlichen Ergebnissen. Die Wirkungsweise des Lithium als Psychopharmakon ist noch nicht hinreichend erforscht. Derzeit werden insbesondere die Beeinflussung des Inositol-Stoffwechsels durch Hemmung der myo-Inositol-1-Phosphatase (Enzymklasse 3.1.3.25) und die Hemmung der Glykogensynthasekinase-3 (GSK-3) in Nervenzellen als mögliche Mechanismen diskutiert. Die antidepressive Wirkung von Lithium beruht wahrscheinlich ebenfalls auf einer Verstärkung der serotonergen Neurotransmission, also einer erhöhten Ausschüttung von Serotonin in den Synapsen, während die antimanische Wirkung mit einer Hemmung dopaminerger Rezeptoren erklärt wird. Eine weitere interessante Auswirkung von Lithiumsalzen auf den Menschen und Säugetiere wie Ratten ist die wohl damit zusammenhängende Veränderung der Circadianen Rhythmik. Diese Wirkung konnte sogar bei Pflanzen wie der Kalanchoe nachgewiesen werden. Andere serotonerge Substanzen wie LSD, Meskalin und Psilocybin zeigen ebenfalls solche Auswirkungen beim Menschen. Durch Lithium ist es im Tierversuch an Fruchtfliegen (Drosophila melanogaster) gelungen, Symptome der Alzheimer-Krankheit – wie Vergesslichkeit – zu bekämpfen. In Regionen mit höheren Lithiumgehalten scheint Demenz in geringerem Maße aufzutreten. Die neuroprotektive Wirkung ist möglicherweise auf die durch Lithium verstärkte Autophagie zurückzuführen. Der Altersforscher Michael Ristow zeigte 2011 einen möglichen Zusammenhang zwischen dem Gehalt an Lithium in der Umwelt und der Lebenserwartung des Menschen: in einer japanischen Bevölkerungsstudie bestand danach zwischen einem höheren Gehalt von Lithium und einer höheren Lebenserwartung ein statistisch signifikanter Zusammenhang; des Weiteren verlängerten hohe Lithiumkonzentrationen die Lebenserwartung des Fadenwurms und Modellorganismus Caenorhabditis elegans. Aufgrund der zahlreichen Effekte auf die menschliche Gesundheit wird diskutiert, ob Lithium womöglich ein essentielles Spurenelement darstellt. Analytik Qualitative Analytik Im Kationentrennungsgang findet sich Lithium in der löslichen Gruppe wieder. Nach einem vollständigen Trennungsgang sind folglich nur noch Ammonium -, Natrium -, Kalium -, Lithium -, und Magnesiumionen vorhanden. Nach dem Entfernen der Ammoniumionen durch Abrauchen der festen Substanz über einer offenen Flamme und dem Entfernen von Magnesiumionen durch deren Fällung als Hydroxid, bleiben noch Natrium -, Kalium - und Lithiumionen übrig, die nebeneinander nachgewiesen werden können: Lithiumionen ergeben, ähnlich wie Natriumionen, mit Kaliumhexahydroxoantimonat(V), einen weißen, kristallen Lithiumhexahydroxoantimonat(V) - Niederschlag, der jedoch in Wasser wesentlich löslicher ist als die betreffende Natriumverbindung. Carbonat-Ionen ergeben bei Zugabe zu Lithiumionen einen weißen Lithiumcarbonat - Niederschlag, der bei Anwesenheit von Ammoniumsalzen ausbleiben würde. Dinatriumhydrogenphosphat in NaOH-Lösung liefert beim Kochen mit Lithiumionen einen weißen Lithiumphosphat - Niederschlag. Die Natronlauge dient als Protonenfänger. Da das Lithiumphosphat in Säuren leicht löslich ist, würde ohne die Natronlauge die Fällung nicht vollständig ablaufen. In schwach alkalischem, etwa 95%igem Ethanol können Lithiumionen auf Zusatz von Oxin in Lithiumoxinat übergeführt werden und durch dessen grünliche Fluoreszenz nachgewiesen werden. Eine weitere Möglichkeit ist die Verwendung des Eisenperiodatreagenz. Die Lithiumsalze ergeben hierbei einen gelblich-weißen Niederschlag wechselnder Zusammensetzung. Lithiumverbindungen zeigen eine karminrote Flammenfärbung, die charakteristischen Spektrallinien liegen als Hauptlinien bei 670,776 und 670,791 nm; kleinere Linien liegen bei 610,3 nm. Darüber kann Lithium mit Hilfe der Flammenphotometrie nachgewiesen werden. Quantitative Analytik Ein quantitativer Nachweis mit nasschemischen Methoden ist schwierig, da die meisten Lithiumsalze leicht löslich sind. Eine Möglichkeit besteht über das Ausfällen des schwerlöslichen Lithiumphosphats. Dazu wird die zu untersuchende Probe zum Beispiel mit Natronlauge alkalisch gemacht und mit etwas Dinatriumhydrogenphosphat Na2HPO4 versetzt. Beim Erhitzen fällt bei Anwesenheit von Li+ ein weißer Niederschlag aus: Gefahrenhinweise Elementares Lithium in Form von Metallstaub entzündet sich an der Luft bereits bei Normaltemperatur. Aus diesem Grund muss metallisches Lithium auch unter Luftausschluss, meist in Petroleum gelagert werden. Bei höheren Temperaturen ab 190 °C wird bei Kontakt mit Luft sofort überwiegend Lithiumoxid gebildet. In reinem Sauerstoff entzündet sich Lithium ab etwa 100 °C. In einer reinen Stickstoffatmosphäre reagiert Lithium erst bei höheren Temperaturen schneller zu Lithiumnitrid. Beim Kontakt mit sauerstoff- oder halogenhaltigen Substanzen kann Lithium explosionsartig reagieren. Da Lithium mit gängigen Feuerlöschmitteln wie Wasser, Kohlendioxid, Stickstoff oder dem inzwischen verbotenen Tetrachlorkohlenstoff stark exotherm reagiert, müssen Brände mit inerten Gasen wie Argon oder anderen Metallbrandbekämpfungsmitteln wie Salz (z. B. NaCl) gelöscht werden. Elementares Lithium verursacht wie alle Alkalimetalle bei Hautkontakt Schäden durch Verbrennungen oder alkalische Verätzungen, weil es mit Wasser unter starker Wärmeabgabe Lithiumhydroxid bildet; dafür genügt schon die Hautfeuchtigkeit. Verbindungen Lithium ist sehr reaktiv und bildet mit den meisten Nichtmetallen Verbindungen, in denen es immer in der Oxidationsstufe +I vorliegt. Diese sind in der Regel ionisch aufgebaut, haben aber im Gegensatz zu Verbindungen anderer Alkalimetalle einen hohen kovalenten Anteil. Das zeigt sich unter anderem darin, dass viele Lithiumsalze – im Gegensatz zu den entsprechenden Natrium- oder Kaliumsalzen – gut in organischen Lösungsmitteln wie Aceton oder Ethanol löslich sind. Es existieren auch kovalente organische Lithiumverbindungen. Viele Lithiumverbindungen ähneln in ihren Eigenschaften auf Grund der ähnlichen Ionenradien den entsprechenden Magnesiumverbindungen (Schrägbeziehung im Periodensystem). Die folgende Grafik bietet eine Übersicht über die wichtigsten Reaktionen des Lithiums. Auf Stöchiometrie und genaue Reaktionsbedingungen ist hier nicht geachtet: Wasserstoffverbindungen Wasserstoff bildet mit Lithium Hydride. Die einfachste Lithium-Wasserstoff-Verbindung Lithiumhydrid LiH entsteht aus den Elementen bei 600–700 °C. Es wird als Raketentreibstoff und zur schnellen Gewinnung von Wasserstoff, beispielsweise zum Aufblasen von Rettungswesten, verwendet. Es existieren auch komplexere Hydride wie Lithiumborhydrid LiBH4 oder Lithiumaluminiumhydrid LiAlH4. Letzteres hat in der organischen Chemie als selektiver Wasserstoffspender etwa zur Reduktion von Carbonyl- und Nitroverbindungen eine große Bedeutung. Für die Erforschung der Kernfusion spielen Lithiumdeuterid (LiD) und Lithiumtritid (LiT) eine wichtige Rolle. Da reines Lithiumdeuterid die Energie der Wasserstoffbombe herabsetzt, wird dafür ein Gemisch aus LiD und LiT eingesetzt. Diese festen Substanzen sind leichter zu handhaben als Tritium mit seiner großen Effusionsgeschwindigkeit. Sauerstoffverbindungen Mit Sauerstoff bildet Lithium sowohl Lithiumoxid Li2O als auch Lithiumperoxid Li2O2. Wenn Lithium mit Wasser reagiert, bildet sich Lithiumhydroxid, eine starke Base. Aus Lithiumhydroxid werden Lithiumfette hergestellt, die als Schmierfette für Autos verwendet werden. Da Lithiumhydroxid auch Kohlenstoffdioxid bindet, dient es in U-Booten zur Regenerierung der Luft. Weitere Lithiumverbindungen Lithium bildet mit den Halogeniden Salze der Form LiX. Dies sind Lithiumfluorid, Lithiumchlorid, Lithiumbromid und Lithiumiodid. Da Lithiumchlorid sehr hygroskopisch ist, wird es – außer als Ausgangsmaterial für die Lithiumgewinnung – auch als Trockenmittel eingesetzt. Es dient zum Trocknen von Gasen, beispielsweise von Erdgas, bevor es durch die Pipeline geführt wird oder bei Klimaanlagen zur Herabsetzung der Luftfeuchte (bis 2 % relativer Luftfeuchte). Lithiumchlorid dient ferner noch zur Herabsetzung von Schmelztemperaturen, in Schweiß- und Hartlötbädern und als Schweißelektroden-Ummantelung für das Schweißen von Aluminium. Lithiumfluorid findet als Einkristall in der Infrarotspektroskopie Verwendung. Die technisch wichtigste Lithiumverbindung ist das (in Wasser) wenig lösliche Lithiumcarbonat. Es dient zur Gewinnung der meisten anderen Lithiumverbindungen und wird in der Glasindustrie und bei der Herstellung von Email als Flussmittel eingesetzt. Auch in der Aluminiumherstellung wird es zur Verbesserung von Leitfähigkeit und Viskosität der Schmelze zugesetzt. Lithiumseifen sind Lithiumsalze von Fettsäuren. Sie finden vor allem als Verdickungsmittel in hochwertigen Mineralöl-basierten Schmierfetten und -wachsen sowie zur Herstellung von Bleistiften Verwendung. Weitere Lithiumsalze sind: Lithiumperchlorat LiClO4, Lithiumsulfat Li2SO4, Lithiumnitrat LiNO3, wird mit Kaliumnitrat in der Gummiindustrie für die Vulkanisation verwendet, Lithiumnitrid Li3N, entsteht bei der Reaktion von Lithium mit Stickstoff, Lithiumniobat LiNbO3, ist in einem großen Wellenlängenbereich transparent und wird in der Optik und für Laser verwendet, Lithiumamid LiNH2, ist eine starke Base und entsteht bei der Reaktion von Lithium mit flüssigem Ammoniak. Lithiumstearat C18H35LiO2, ist ein wichtiger Zusatz für Öle, um diese als Schmierfette einzusetzen. Diese werden in Automobilen, in Walzenstraßen und bei Landmaschinen verwendet. Lithiumstearate sind in Wasser sehr schwer löslich, dadurch bleibt der Schmierfilm erhalten, wenn sie mit wenig Wasser in Berührung kommen. Die erhaltenen Schmierfette weisen eine hervorragende Temperaturstabilität (>150 °C) auf und bleiben bis −20 °C schmierfähig. Lithiumacetat C2H3LiO2 Lithiumcitrat C6H5Li3O7 Lithiumhexafluorophosphat LiPF6 findet als Leitsalz in Lithium-Ionen-Akkus Verwendung. Lithiumphosphat Li3PO4, wird als Katalysator für die Isomerisation von Propylenoxid eingesetzt. Lithiummetaborat LiBO2 und Lithiumtetraborat Li2B4O7 Lithiumbromid LiBr ist ein Reagenz zur Herstellung von Pharmazeutika, es wird als hygroskopische wässrige Salzlösung auch in Absorptionskälteanlagen eingesetzt. Organische Lithiumverbindungen Im Gegensatz zu den meisten anderen Alkalimetallorganylen spielen Lithiumorganyle eine beachtliche Rolle insbesondere in der organischen Chemie. Von besonderer Bedeutung sind n-Butyllithium, tert-Butyllithium, Methyllithium und Phenyllithium, die in Form ihrer Lösungen in Pentan, Hexan, Cyclohexan beziehungsweise gegebenenfalls Diethylether auch kommerziell verfügbar sind. Man kann sie durch direkte Umsetzung metallischen Lithiums mit Alkyl-/Arylhalogeniden gemäß oder durch Transmetallierung zum Beispiel aus Quecksilberorganylen gemäß herstellen. Mit elementarem Lithium in Tetrahydrofuran (THF) anstelle von Magnesium in Diethylether lassen sich Grignard-analoge Additionsreaktionen von Alkylhalogeniden an Carbonylverbindungen mit meist besserer Ausbeute durchführen. Auf Grund des deutlich kovalenten Charakters ist die Struktur von Lithiumorganylen nur selten durch eine einfache Li–C-Bindung zu beschreiben. Es liegen meist komplexe Strukturen, aufgebaut aus dimeren, tetrameren oder hexameren Einheiten, beziehungsweise polymere Strukturen vor. Lithiumorganyle sind hochreaktive Verbindungen, die sich an der Luft teilweise von selbst entzünden. Mit Wasser reagieren sie explosionsartig. Infolge ihrer extremen Basizität reagieren sie auch mit Lösungsmitteln, deren gebundener Wasserstoff kaum sauer ist, wie etwa THF, was die Wahl geeigneter Lösungsmittel stark einschränkt. Reaktionen mit ihnen sind nur unter Schutzgas und in getrockneten Lösungsmitteln möglich. Daher ist im Umgang mit ihnen eine gewisse Erfahrung erforderlich und große Vorsicht geboten. Eine weitere Gruppe organischer Lithiumderivate sind die Lithiumamide des Typs LiNR2, von denen insbesondere Lithiumdiisopropylamid (LDA) und Lithium-bis(trimethylsilyl)amid (LiHMDS, siehe auch HMDS) als starke Basen ohne nukleophile Aktivität Verwendung finden. Lithiumorganyle finden vielseitige Verwendung, so als Initiatoren für die anionische Polymerisation von Olefinen, als Metallierungs-, Deprotonierungs- oder Alkylierungsmittel. Von gewisser Bedeutung sind die sogenannten Gilman-Cuprate des Typs R2CuLi. Literatur N. N. Greenwood, A. Earnshaw: Chemie der Elemente. 1. Auflage. VCH Verlagsgesellschaft, Weinheim 1988, ISBN 3-527-26169-9, S. 83–129. M. Binnewies: Allgemeine und Anorganische Chemie. Spektrum Akademischer Verlag, Heidelberg 2004, ISBN 3-8274-0208-5, S. 334–336. Ernst Henglein: Technologie außergewöhnlicher Metalle. 1991, ISBN 3-8085-5081-3. Harry H. Binder: Lexikon der chemischen Elemente – das Periodensystem in Fakten, Zahlen und Daten. S. Hirzel Verlag, Stuttgart 1999, ISBN 3-7776-0736-3. Richard Bauer: Lithium – wie es nicht im Lehrbuch steht. In: Chemie in unserer Zeit. 19, Nr. 5, 1985, S. 167–173, doi:10.1002/ciuz.19850190505. N. J. Birch: Inorganic Pharmacology of Lithium. In: Chem. Rev. 99, Nr. 9, 1999, S. 2659–2682, PMID 11749496. Jürgen Deberitz, Gernot Boche: Lithium und seine Verbindungen – Industrielle, medizinische und wissenschaftliche Bedeutung. In: Chemie in unserer Zeit. 37, Nr. 4, 2003, S. 258–266, doi:10.1002/ciuz.200300264. Michael Bauer, Paul Grof, Bruno Muller-Oerlinghausen (Hrsg.): Lithium in Neuropsychiatry: The Comprehensive Guide. 1. Auflage. Informa Healthcare, 2006, ISBN 1-84184-515-9. Weblinks Zusammenfassung über Alkalimetalle von wiley-vch (PDF; 2,2 MB) Einzelnachweise Antidepressivum Elektrochemie Elektrotechnischer Werkstoff Metallischer Werkstoff Psychotroper Wirkstoff Werkstoff der Halbleiterelektronik
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https://de.wikipedia.org/wiki/Orchideen
Orchideen
Orchideen (Singular: Orchidee, ) oder Orchideengewächse (Orchidaceae) sind eine weltweit verbreitete Pflanzenfamilie. Die zwei hodenförmigen Wurzelknollen der Knabenkräuter (von griechisch ὄρχις orchis ‚Hoden‘) haben der gesamten Pflanzenfamilie ihren Namen gegeben. Nach den Korbblütlern (Asteraceae) stellen die Orchideen die zweitgrößte Familie unter den bedecktsamigen Blütenpflanzen dar. Sie gehören innerhalb der Klasse der Bedecktsamer zu den Einkeimblättrigen Pflanzen (Monokotyledonen). Etwa 1000 Gattungen mit 15.000 bis 30.000 Arten werden von den Botanikern anerkannt. Merkmale Allgemeines Die Pflanzentaxa der Familie Orchideen unterscheiden sich nur durch einige wenige eindeutige Merkmale von anderen verwandten Pflanzenfamilien der Einkeimblättrigen Pflanzen. Dabei gibt es trotz der vielfachen Merkmale, die bei den meisten Orchideenarten zu finden sind, nur sehr wenige, die bei allen vorkommen. Orchideen weisen folgende spezifische Merkmale auf: Orchideenblüten besitzen in der Regel eine Säule (Gynostemium). Durch das teilweise oder vollständige Zusammenwachsen des einzigen fruchtbaren Staubblattes (Stamen) und des Stempels entsteht ein einziges Blütenorgan(Pflanzen der Unterfamilie Cypripedioideae mit zwei Stamina und Apostasioideae mit zwei oder drei Stamina). Die Pollenkörner sind zu den sogenannten Pollinien zusammengeballt. Orchideen bilden zahlreiche sehr kleine Samen, die in der Regel nicht ohne Symbiosepilze keimfähig sind. Das in der Symmetrieachse gelegene Blütenhüllblatt des inneren Hüllblattkreises (drittes Kronblatt = Petalum) unterscheidet sich meist deutlich von den anderen und wird Lippe oder Labellum genannt. Es steht dem fruchtbaren Staubblatt (Teil der Säule) gegenüber. Die Blüten sind in der Regel zygomorph (monosymmetrisch, dorsiventral). Ausnahmen finden sich beispielsweise in den Gattungen Mormodes, Ludisia und Macodes. Die Blüten der meisten Orchideenarten zeichnen sich dadurch aus, dass sie sich von der Knospenbildung bis zur Blütenentfaltung um 180° drehen. Dies wird als Resupination bezeichnet. Es gibt auch Arten, bei denen sich der Blütenstiel um 360° dreht (hyper-resupiniert). Orchideen sind in der Regel ausdauernde Pflanzen, könnten theoretisch je nach Wuchsform unbegrenzt lange weiterwachsen (jedes Jahr ein oder mehrere Neutriebe oder permanentes Weiterwachsen eines Sprosses). Tatsächlich ist aber nur sehr wenig darüber bekannt, welches Alter Orchideen erreichen können. Wuchsformen Orchideen können auf verschiedene Art und Weise wachsen. Man unterscheidet dabei folgende Formen: epiphytisch, auf anderen Pflanzen wachsend (nicht als Schmarotzer) terrestrisch, auf dem Boden wachsend lithophytisch, auf Felsen oder Steinen wachsend Mehr als die Hälfte aller tropischen Arten wachsen als Epiphyten auf Bäumen. Sie besitzen spezielle morphologische (Velamen radicum, Pseudobulben) und physiologische (CAM-Mechanismus) Besonderheiten, um mit den teilweise widrigen Bedingungen wie Trockenheit und Nährstoffmangel im Kronenraum zurechtzukommen. Ihre Größe ist sehr unterschiedlich, sie kann nur wenige Millimeter (Platystele jungermannioides, Anathalis manausesis) bis zu einigen Metern (Tiger-Orchidee) betragen. Habitus Man unterscheidet monopodial wachsende Orchideen, die eine an der Spitze weiterwachsende einheitliche Sprossachse besitzen (teilweise auch mit Verzweigungen) und sympodial wachsende Orchideen, die durch Verzweigung nacheinanderfolgende Sprossglieder mit begrenztem Spitzenwachstum ausbilden. Bei den monopodial wachsenden Orchideen dienen Blätter und/oder Wurzeln als Speicherorgane, während die sympodial wachsenden Orchideen dazu mehr oder weniger dicke ein- oder mehrgliedrige Pseudobulben ausbilden. Einige Orchideengattungen bilden auch unterirdische Speicherorgane (Kormus). Neben den beiden angeführten Wachstumsformen gibt es aber auch seltene Abwandlungen, die nicht dem normalen Schema monopodialen vs. sympodialen Wachstums entsprechen. So bilden etwa viele Arten der Pleurothallidinae (z. B. Pleurothallis, Lepanthes) trotz sympodialen Wuchses keine Pseudobulben aus, sondern haben stattdessen fleischige Blätter. Wurzeln Orchideen bilden keine Primärwurzel (Pfahlwurzel) aus, sondern nur sekundäre Wurzeln, die dem Spross entspringen. In ihrer Dicke unterscheiden sie sich teilweise ziemlich deutlich. Beim überwiegenden Teil der Orchideen weisen die Wurzeln ein Velamen auf. Neben ihrer Funktion als Aufnahmeorgan für Wasser und Nährstoffe dienen sie oft auch als Haft- und Halteorgan. Dies ist besonders bei epiphytisch wachsenden Arten von Bedeutung. Die Form der Wurzeln hängt im Wesentlichen davon ab, wo sie wachsen. Während die frei in der Luft hängenden Wurzeln der Epiphyten bzw. die Wurzeln, die völlig in den Boden wachsen, meist zylindrisch sind, weisen die Haft- und Haltewurzeln, die auf den Oberflächen wachsen, eine eher abgeflachte Form auf. Bei einigen Arten sind die Wurzeln chlorophylltragend, um auch während klimatisch bedingtem Blattabwurf weiterhin Nährstoffe verarbeiten zu können. Die Wurzeln der Orchideen verzweigen eher selten. Sie haben eine Lebensdauer, die von verschiedenen Umweltfaktoren abhängt und kürzer ist als die des Sprosses. Die Neubildung von Wurzeln erfolgt in der Regel mit dem Wachstum des neuen Sprosses zum Ende der Vegetationsperioden oder auch während der Wachstumsphase. Bei vielen terrestrischen Orchideenarten bilden sich an den Wurzeln Speicherorgane oder knollenähnliche Gebilde. Bei einigen Gattungen ist es möglich, dass sich an den Wurzeln Adventivknospen bilden, aus denen neue Sprosse entstehen. Neben der Mykorrhiza, die für die embryonale Entwicklung aus einem Samen notwendig ist, gibt es auch in den Wurzeln Mykorrhiza. Dabei wachsen die Pilzfäden in die äußeren oder unteren Zellschichten der Wurzeln oder Rhizome. Die Orchideen nehmen auch in diesem Fall durch Verdauung von Pilzteilen oder -ausscheidungen Nährstoffe auf. Da der Pilz, der das Protokorm (Keimknöllchen) befällt, in der Regel nicht mit den neuen Wurzeln nach außen wächst, muss die Mykorrhiza jedes Jahr von neuem (mit der Bildung neuer Wurzeln) ausgebildet werden. Bei ausreichendem Angebot von Licht und Nährstoffen sind Orchideen in der Regel nicht auf diese Mykorrhiza angewiesen. Ausnahmen sind die myko-heterotroph lebenden Orchideen. Blätter Der überwiegende Teil der Orchideen besitzt parallelnervige Blätter mit kaum sichtbaren Querverbindungen. Sie sitzen in der Regel zweireihig, abwechselnd an den entgegengesetzten Seiten des Sprosses. Viele Orchideen bilden nur ein einziges richtiges Blatt aus, die Anlagen der Blätter sind jedoch ebenfalls zweireihig. Die Form der Blätter und Blattspitzen, die Festigkeit, die Färbung und der Blattaufbau variieren sehr stark. Blattformen (Auswahl): kreisrund, elliptisch, eiförmig, verkehrt-eiförmig, nierenförmig, spatelig, spießförmig, länglich, borstenförmig Form der Blattspitzen (Auswahl): abgerundet, stumpf, spitz, dreispitzig, eingekerbt, eingeschnitten, ungleich scharf gezähnt Blattränder: in der Regel glatt, teilweise leicht gewellt, nur selten deutlich gekräuselt (Lepanthes calidictyon) Blattaufbau: mit und ohne Blattstiel Festigkeit der Blätter: variiert von dünn und weich über fleischig fest bis hin zu sukkulenten Blättern Blattfarbe: in der Regel Grün in den unterschiedlichsten Abstufungen (von Hell- bis tiefem Dunkelgrün), aber auch vollständig bzw. zum Teil (Unterseiten) rötlich bis rotbraun, oder chlorophyllarm oder -frei vollständig oder zum Teil hell bis weiß Viele Arten verlieren klimatisch bedingt ihre Blätter, um sie zu Beginn des nächsten Vegetationszyklus neu auszubilden. Während bei dem überwiegenden Teil dieser Arten die Blätter tatsächlich nur einjährig sind, gibt es ebenso Arten, die ihre Blätter nur unter widrigen Standortbedingungen abwerfen bzw. unter günstigen Bedingungen behalten. Es gibt aber auch Arten, die völlig blattlos wachsen (Dendrophylax lindenii). Dafür besitzen sie chlorophylltragende Wurzeln. Blütenstand Die Blütenstände der Orchideen sind in der Regel traubenförmig, an denen sich je nach Art bis zu hundert und mehr Blüten ausbilden können. Wachsen verzweigte Blütenstände (rispenförmig), so ist die Traubenform jeweils an den äußersten Zweigen zu finden. Neben den trauben- oder rispenförmigen Blütentrieben gibt es aber auch eine Vielzahl von Orchideen, die nur einblütig sind. Bei einigen Arten bilden sich nacheinander mehrere Blüten an demselben Blütentrieb, wobei jedoch nie mehr als eine Blüte geöffnet ist (z. B. Psychopsis papilio). Die Blütenstände können an jeder Stelle des Sprosses der Orchidee entspringen. Dabei wird zwischen endständigen (terminal (an der Triebspitze), apikal (zentral am Triebansatz)) und seitenständigen (lateral) Blütenständen unterschieden. Meist entspringen die Blütentriebe einer Blattachsel. Aufgrund der Wuchsrichtung sind die Blütenstände der monopodialen Orchideen immer seitenständig. Die einzelnen Blüten werden stets von einer Braktee (Tragblatt) gestützt, die meist unauffällig ist. Blüte Keine andere Pflanzenfamilie hat ein solches Spektrum, was Formen und Farben der Blüten anbelangt, wie die Familie der Orchideen. Die Größe der Blüten variiert von einigen Millimetern (Beispiel Lepanthes calodictyon) bis zu 20 Zentimetern und mehr pro Blüte (Beispiel Paphiopedilum hangianum). Das Farbspektrum reicht dabei von zartem Weiß über Grün- und Blautöne bis zu kräftigen Rot- und Gelbtönen. Viele der Orchideenblüten sind mehrfarbig. Außer bei einigen Gattungen (zum Beispiel Catasetum) sind die dreizähligen Blüten der Orchideen zwittrig. Die Blütenhülle (Perianth) besteht aus zwei Kreisen. Es gibt einen äußeren Hüllblattkreis, der aus drei Kelchblättern (Sepalen) besteht und einen inneren Hüllblattkreis, der aus drei Kronblättern (Petalen) besteht. Die Blütenblätter können frei oder zu einem gewissen Grad miteinander verwachsen sein. Bei einigen Orchideengattungen, so etwa in der Unterfamilie Cypripedioideae oder bei Acriopsis, sind die unteren beiden Sepalen komplett verwachsen. Das in der Symmetrieachse gelegene Blütenhüllblatt des inneren Hüllkreises ist in der Regel deutlich abweichend was Größe, Farbe und Form betrifft. Es bildet die Lippe (Labellum) der Orchideenblüte. Bei vielen Orchideen ist die Lippe auf der Rückseite zu einem schlauchigen bis sackigen Gebilde verlängert, dem so genannten Sporn (Beispiele Aeranthes, Aerangis). In ihm befindet sich entweder Nektar oder er ist leer. Andere Arten bilden aus der Lippe einen „Schuh“ (zum Beispiel die Gattungen der Unterfamilien Cypripedioideae). Außerdem sind Säule (Gynostemium) und der Fruchtknoten wesentliche Bestandteile der Blüten. Im Grundaufbau unterscheidet man monandrische (ein fertiles Staubblatt, Beispiele Cattleya, Phalaenopsis) und diandrische (zwei fertile Staubblätter, Beispiel Paphiopedilum, Cypripedium) Orchideen. Der Fruchtknoten ist bei Orchideen unterständig. Die anderen Blütenteile (Sepalen und Petalen, Säule, Lippe) sind mit diesem vollständig verwachsen und stehen über ihm. In der Regel ist der Fruchtknoten nur sehr schmal und schwillt erst nach der Bestäubung an (Ausbildung der Samenkapsel). Die Blüten der Orchideen sind mit Ausnahme einiger Gattungen (Beispiel Ludisia und Mormodes mit asymmetrischen Blüten) bilateral-symmetrisch (zygomorph). Das heißt, dass man durch die Mitte der Blüte eine Spiegelachse legen kann, und zwar nur eine einzige (monosymmetrisch). Eine zentrale Rolle in der Fortpflanzung von Orchideen spielen die besonderen Pollenanhäufungen. Die von den Staubblättern gebildeten Pollen sind zu zwei lockeren oder festen Bündeln verklebt (Pollinien). Diese beiden Klumpen hängen auf einem mehr oder weniger langen Schaft mit einer Klebscheibe (Viscidium), sie haftet an dem Bestäuber durch eine Flüssigkeit aus der Klebdrüse (Rostellum). Früchte Fast alle Orchideenfrüchte sind Kapseln. Sie unterscheiden sich in Größe, Form und Farbe deutlich. Epiphyten besitzen eher dickere Früchte mit fleischigen Wänden, terrestrische Arten oft dünnwandige trockene Früchte. Es gibt dreieckige, rundliche mit einer mehr (bis 9) oder weniger (bis 3) großen Anzahl von Rippen oder auch geschnäbelte Früchte. Manche sind behaart oder stachelig oder besitzen eine warzige Oberfläche. Die Früchte entwickeln sich aus dem bereits im Knospenstadium am Boden der Blüte vorgebildeten Fruchtknoten, welcher aus drei Fruchtblättern besteht. Bei eintretender Reife platzen die meisten Orchideenfrüchte der Länge nach auf, ohne sich an der Spitze vollständig zu trennen. Dabei bilden sich in der Regel drei oder sechs Längsspalten, bei manchen auch nur eine oder zwei. Fast immer werden die Samen dabei trocken verstreut. Vermehrung Orchideen können auf unterschiedliche Weise vermehrt werden. Es gibt die Vermehrung durch Samen als auch die vegetative Vermehrung. Unter künstlichen Bedingungen ist auch die Vermehrung durch Meristeme möglich. Samen Fast alle Orchideen haben winzige Samen. Jede Pflanze produziert Hunderttausende bis Millionen von Samen in einer Samenkapsel. Durch ihre geringe Größe sind die Samen von Orchideen nur noch auf eine Hülle und den in ihr liegenden Embryo reduziert. Im Gegensatz zu anderen Samen fehlt ihnen das Nährgewebe oder Endosperm, das für eine erfolgreiche Keimung nötig ist. Nur bei wenigen Gattungen ist dieses noch vorhanden (z. B. Bletilla). Orchideen sind deshalb auf eine Symbiose mit Pilzen angewiesen. Bei diesem als Mykorrhiza bezeichneten Vorgang wird der mit der Keimung beginnende Embryo durch das Eindringen von Pilzfäden in den Samen infiziert. Der Embryo bezieht über diese Verbindung Nährstoffe (Mykotrophie), indem er Teile des Pilzkörpers oder Ausscheidungen des Pilzes verdaut. Sobald der Sämling zur Photosynthese fähig ist, übernimmt diese die Versorgung der Pflanze mit Nährstoffen und die Mykotrophie ist zur weiteren Entwicklung nicht mehr notwendig. Es gibt aber einige Orchideenarten, die aufgrund des fehlenden oder nur in unzureichenden Mengen vorhandenen Chlorophylls zeitlebens auf die Mykotrophie angewiesen sind (Bsp. Korallenwurz). Dies betrifft alle vollkommen myko-heterotroph lebenden Arten. Während der überwiegende Teil der Orchideen trockene Samen verstreut, gibt es einige Gattungen (Bsp. Vanilla), bei denen die Samen von einer feuchten Masse umgeben sind. Bestäubung Die Bestäubung der Orchideen erfolgt in der Natur hauptsächlich durch Insekten (z. B. Ameisen, Käfer, Fliegen, Bienen, Schmetterlinge), aber auch durch Vögel (z. B. Kolibris), Fledermäuse oder Frösche. Dabei haben sich teilweise Art-Art-Bindungen (z. B. Drakea glyptodon und Zapilothynus trilobatus oder die einheimische Orchis papilionacea und Eucera tuberculata) oder Gattungs-Gattungs-Bindungen (z. B. wird die Orchideengattung Chloraea von Bienen der Gattung Colletes bestäubt) herausgebildet. Diese Spezialisierung ist in der Regel nur einseitig, da keine Insektenart auf die Bestäubung einer einzigen Orchideenart beschränkt ist. Innerhalb der Familie gibt es aber auch einige Gattungen, bei denen sich einige oder alle Arten auf asexuellem Weg durch Selbstbestäubung fortpflanzen. Dazu zählen unter anderem die Gattungen Apostasia, Wullschlaegelia, Epipogium und Aphyllorchis. Von der Art Microtis parviflora ist bekannt, dass sie sich ebenfalls selbstbestäuben kann, wenn die Bestäubung durch Ameisen ausbleibt. Die Bestäuber sind bei einer Vielzahl von Orchideengattungen jedoch unbekannt oder nur wenig erforscht. Orchideen sind in der Regel nicht selbststeril. In der Natur entstehen teilweise durch die Bestäuber Hybriden zwischen zwei verwandten Arten (seltener über Gattungsgrenzen hinweg), diese werden Naturhybriden genannt. Bestäubungsmechanismen Im Vergleich zu anderen Blütenpflanzen fällt auf, dass beispielsweise nicht-tropische Orchideen häufig keine Belohnung in Form von Nahrung anbieten, sondern ihr Ziel durch Mimikry oder Täuschung erreichen. Werden Belohnungen angeboten, bestehen diese oft nicht aus Nahrung, sondern aus Duftstoffen (zum Beispiel Sexuallockstoffe für Insekten wie es bei manchen Wespenarten der Fall ist) oder Wachs. Durch die evolutionäre Entwicklung verschiedener Blütenformen ergab sich eine zunehmende Spezialisierung auf bestimmte Bestäubergruppen und somit auch auf die Art und Weise, wie die Blüten bestäubt werden. Im Folgenden werden einige Bestäubungssysteme und -mechanismen erläutert. „Röhrenblüten“: Der Aufbau der Blüte ist so gestaltet, dass der Bestäuber eine „Röhre“ unterhalb der Säule betreten muss und so der Pollen meist auf den Rücken der Insekten geheftet wird. Manchmal auch an den Kopf oder an die Unterseite. (Bsp. Cattleya) „Schlüssellochblüten“: Die Blüte ist so gebaut, dass der Bestäuber in oder auf der Blüte eine ganz bestimmte Stellung einnehmen muss, bei der der Pollen meist am Kopf oder manchmal sogar direkt am Schnabel oder Rüssel des Bestäubers angeheftet wird. (Bsp. Epidendrum) „Fallenblüten“: In dieser Kategorie unterscheidet man in Klapp- oder Kippfallen (Bsp. Porroglossum, Bulbophyllum) und Kesselfallen (Gattungen der Unterfamilie Cypripedioideae). Allen diesen Fallen ist gemein, dass sie die Bestäuber zwingen, durch einen bestimmten Ausgang zu kriechen, bei dem sie meist zuerst die Narbe streifen und danach die Pollinien, die ihnen angeheftet werden. Somit wird eine Selbstbestäubung beim ersten Durchgang verhindert. „Pheromonblüten“: Die Form der Blüte ähnelt einem weiblichen Insekt und strömt ggf. auch Pheromone aus. Dadurch werden paarungswillige männliche Insekten angelockt und eine Bestäubung findet während des vermeintlichen Versuchs der Kopulation statt. Pseudokopulation ist eine Variante der Mimese und bekannt bei der heimischen Gattung Ophrys. „Alarmstoffblüten“: Die Blüten senden Alarmstoffe entweder einer vermeintlichen Beute (z. B. der Honigbiene) aus oder produzieren pflanzeneigene Signalstoffe, die normalerweise anzeigen, dass ein Pflanzenfresser die Pflanze bedroht (z. B. eine Schmetterlingsraupe). Vor allem Wespen- und Hornissenweibchen lassen sich davon täuschen und reagieren darauf, indem sie sich auf die Orchideenblüte in Erwartung einer leichten Beute stürzen. Die Pollen sind bei Orchideen zu Pollinien mit angehefteten Viscidien (Viscidium = Klebscheibe, Klebkörper) zusammengeballt (eine Ausnahme bilden dabei beispielsweise die Cypripedioideae). Dies ermöglicht es, die Pollenpakete exakt zu positionieren, so dass es möglich ist, dass an einem Bestäuber die Pollinien verschiedener Arten befestigt werden können, ohne dass es zu falschen Bestäubungen kommt. An verschiedenen Bienenarten (Euglossinae) konnten bis zu 13 Anheftungsstellen festgestellt werden. Im Gegensatz zu anderen Blütenpflanzen dient der Orchideenpollen nicht als Nahrung. Eine ungewöhnliche Bestäubungstechnik wendet die epiphytisch lebende chinesische Orchideenart Holcoglossum amesianum an: die Antherenkappe öffnet sich und die männlichen Staubfaden drehen sich aktiv und ohne jedes Hilfsmittel um fast 360 Grad in Richtung der weiblichen Narbe. Die an dem biegsamen Staubfaden befestigten Pollenkörner werden anschließend bei Berührung der Narbe freigegeben, so dass eine Selbstbefruchtung erfolgen kann. Es wird vermutet, dass es sich bei dieser Technik um eine Anpassung der Orchidee an ihren trockenen und insektenarmen Lebensraum handelt, die womöglich bei Pflanzen vergleichbarer Biotope gar nicht so selten ist. Die bereits bekannte Selbstbestäubung der Bienen-Ragwurz (Ophrys apifera) folgt einem ähnlichen Schema. Orchideen und Prachtbienen: Die bestuntersuchten Blumendüfte sind die von Stanhopea und Catasetum, die durchdringend nach Ananas, Vanille, Zimt, Kümmel oder Menthol riechen und Prachtbienenmännchen anziehen, wobei diese die Blüten beim Einsammeln der von der Pflanze produzierten Öle bestäuben. Die gesammelten Duftstoffe dienen den männlichen Bienen bei der Balz. Es gibt sowohl unzählige Prachtbienen- als auch jeweils dazugehörige Orchideen-Arten. Vegetative Vermehrung Verschiedene Arten haben die Möglichkeit, sich durch die Bildung von Stolonen (Bsp. Mexipedium xerophyticum), Knollen (Bsp. Pleionen) oder Kindeln (Adventiv-Pflanzen; Bsp. Phalaenopsis lueddemanniana) auf vegetativem Weg fortzupflanzen. Die entstehenden Pflanzen sind genetisch identisch. Meristeme Die Vermehrung über Meristeme erfolgt vor allem im Erwerbsgartenbau zur Erzeugung großer Mengen von Orchideen für den Schnitt wie auch zum Verkauf als Topfpflanze, die man häufig in Gartencentern oder Baumärkten erwerben kann. Große Produzenten findet man vor allem in den Niederlanden oder in Thailand. Außerdem ist es die einzige Möglichkeit, von bestimmten Klonen, beispielsweise prämierten Pflanzen, identische Nachkommen in großen Mengen zu erzeugen, die auch den gleichen Kultivarnamen tragen dürfen. Im Erwerbsgartenbau geht man bei der Massenvermehrung aber immer mehr dazu über, mittels In-vitro-Aussaat von Orchideensamen und Clusterbildung durch Hormongaben den Bedarf zu decken. Verbreitung Orchideen wachsen mit Ausnahme der Antarktis auf jedem Kontinent. Aufgrund ihrer enormen Vielfalt gibt es Orchideen fast in jeder Ökozone (nicht in Wüsten). Selbst oberhalb des nördlichen Polarkreises oder in Patagonien und den dem ewigen Eis des Südpols vorgelagerten Inseln, z. B. Macquarie Island gibt es Orchideen. Der Großteil der Arten wächst allerdings in den Tropen und Subtropen, hauptsächlich in Südamerika und Asien. In Europa gibt es etwa 250 Arten. Einen groben Überblick über die Häufigkeit auf den einzelnen Kontinenten bietet die folgende Auflistung: Eurasien – etwa 40 bis 60 Gattungen Nordamerika – etwa 20 bis 30 Gattungen Neotropis (Mittel- und Südamerika und Karibische Inseln) – etwa 300 bis 350 Gattungen tropisches Afrika – etwa 125 bis 150 Gattungen tropisches Asien – etwa 250 bis 300 Gattungen Ozeanien – etwa 50 bis 70 Gattungen Systematik In den Anfängen der botanischen Systematik finden sich bei Linné 1753 acht Gattungen, die zu den Orchideen gehören. Jussieu fasste sie 1789 erstmals als Familie Orchidaceae zusammen. In der Folge wurden rasch sehr viele tropische Arten bekannt; so unterschied Swartz im Jahr 1800 schon 25 Gattungen, von denen er selbst zehn neu aufstellte. Swartz publizierte im selben Jahr eine Monographie der Familie und gilt als einer der ersten Spezialisten für die Systematik der Orchideen. Im 19. Jahrhundert erschienen, bedingt durch die Kenntnis immer neuer tropischer Orchideen, weitere wichtige Arbeiten. Lindley veröffentlichte von 1830 bis 1840 The Genera and Species of Orchidaceaous Plants mit fast 2000 Arten und einer wegweisenden Einteilung in Unterfamilien und Triben. In England erschien 1881 Benthams Systematik, die auch in seinem zusammen mit Hooker herausgegebenen Werk Genera Plantarum verwendet wurde. Am Heidelberger botanischen Garten entstand 1887 Pfitzers Entwurf einer natürlichen Anordnung der Orchideen. 1926 erschien posthum Schlechters Arbeit Das System der Orchidaceen mit 610 Gattungen; es wurde für die nächsten Jahrzehnte das Standardwerk. Im 20. Jahrhundert waren die Publikationen Dresslers einflussreich, vor allem The Orchids. Natural History and Classification von 1981. Die weitere Entwicklung verläuft über die kladistische Analyse äußerer Merkmale zur Auswertung genetischer Untersuchungen, die zahlreich etwa von Mark W. Chase publiziert wurden. Aus phylogenetischer Sicht existieren die fünf primären monophyletischen Linien Apostasioideae, Cypripedioideae, Vanilloideae, Orchidoideae und Epidendroideae, deren Verwandtschaftsverhältnisse in einem Kladogramm wie folgt dargestellt werden können: Danach gibt es keine genetischen Anhaltspunkte für die Existenz der Unterfamilien Vandoideae oder Spiranthoideae. Die Unterfamilie Vandoideae ist nach diesen Untersuchungen ein Bestandteil innerhalb der Epidendroideae, die Spiranthoideae ein Bestandteil der Orchidoideae. Die separate Unterfamilie Vanilloideae war „klassisch“ Bestandteil der Epidendroideae. Innerhalb der einkeimblättrigen Pflanzen werden die Orchideen in die Ordnung der Spargelartigen (Asparagales) gestellt. Auf Basis äußerer Merkmale ließ sich die Frage nach den nächsten Verwandten der Orchideen nur unsicher beantworten, Alstroemeriaceae, Philesiaceae oder Convallariaceae wurden vermutet, auch eine Einordnung in die Ordnung der Lilienartigen (Liliales) schien möglich. Genetische Untersuchungen bestätigten die Zuordnung zu den Spargelartigen und sehen die Orchideen als Schwestergruppe zu allen anderen Spargelartigen, das heißt, sie haben sich schon früh von den anderen Pflanzen dieser Ordnung entfernt. Evolution Die Orchideen wurden häufig als besonders junge Familie angesehen. Anhand eines fossilen Polliniums von Meliorchis caribea wurde das Mindestalter des letzten gemeinsamen Vorfahren aller Orchideen auf 76 bis 84 Millionen Jahre bestimmt. Bis zum Ende der Kreidezeit vor 65 Millionen Jahren spalteten sich schon die fünf Unterfamilien auf. Im Tertiär fand eine große Zunahme der Artenvielfalt der Orchideen statt. Nach der Methode der „molekularen Uhr“ datiert der Ursprung der Orchideen noch früher, vor mindestens 100, wenn nicht sogar 122 Millionen Jahren. Es wird angenommen, dass sie sich in einem tropischen Gebiet als erstes entwickelten. Die Verbreitung verschiedener primitiver Orchideen (Bsp. Vanilla, Corymborkis) und das Vorkommen der primitiven Gattungen (Bsp. Cypripedium, Epistephium) in nahezu allen tropischen Gebieten ist ein Indiz dafür, dass die Entwicklung der Orchideen in einer Zeit begonnen haben muss, in der Afrika und Südamerika enger beieinanderlagen (Kontinentaldrift). Der Hauptteil der Evolution der Orchideen hat allerdings erst begonnen, als sich die wichtigsten tropischen Regionen schon weiter voneinander entfernt hatten. Die epiphytische Lebensweise vieler Orchideen, vor allem der tropischen und subtropischen Arten, ist das Resultat einer evolutionären Anpassung an verschiedene Bedingungen. Periodisch trockenes Klima oder gut entwässerte Standorte, die bereits zur Entstehung der Orchideen vorhandene Neigung zur Insektenbestäubung sowie der zumindest kurzzeitige Zyklus einer myko-heterotrophen Lebensweise und der damit einhergehenden Entwicklung von kleinen Samen scheinen wesentliche Faktoren gewesen zu sein, dass Orchideen Bäume besiedelten. Andererseits scheint auch die Ausbildung von fleischigen Wurzeln mit Velamen oder von fleischigen Blättern als Anpassung an die periodisch trockenen Standortbedingungen eine Voraussetzung oder eine Möglichkeit gewesen zu sein, von Felsen oder anderen gut entwässerten Standorten auf Bäume überzusiedeln. Ob dabei der Weg über Humusepiphyten und anschließende Besiedlung der ökologischen Nischen in den Baumkronen oder die direkte Besiedlung der Bäume erfolgte, konnte bis heute nicht geklärt werden. Bei der Wuchsform der Orchideen geht man davon aus, dass sich die Vielfalt der heutigen Orchideen aus einer sehr primitiven Form entwickelt hat, die man noch ansatzweise in fast allen Unterfamilien findet. So werden die ersten Orchideen einen sympodialen Wuchs mit schmalen Rhizomen, fleischigen Wurzeln (keine Speicherorgane), gefaltete Blätter und endständige Blütenstände besessen haben. Aufgrund der fehlenden Fossilien lässt sich nur schwer ableiten, auf welchem Weg sich die verschiedenen Wuchsformen herausgebildet haben und welches die Hauptrichtungen der Wuchsevolution sind. Ähnlich verhält es sich bei der evolutionären Entwicklung der verschiedenen Blütenformen. Es wird davon ausgegangen, dass die Entwicklung und Anpassung der Blüten vor allem mit den bestäubenden Insekten in Verbindung zu bringen ist. Am Anfang stand sicherlich eine lilienähnliche Blüte, die nach und nach ihre ventralen Staubbeutel verloren hat. Dies hängt wahrscheinlich mit der Art zusammen, wie die Bestäuber in die röhrenförmige Blüte eingedrungen sind. Dabei konnten wohl nur die dorsalen Staubbeutel ihre Pollen an eine für die Bestäubung sinnvolle Position heften. Die Ausbildung der Lippe resultierte ziemlich wahrscheinlich daraus, dass die Insekten immer wieder auf die gleiche Art und Weise auf den Blüten „gelandet“ sind. Vermutlich konnten Pflanzen mit lippenförmigem unterem Petalum (medianes Blütenhüllblatt des inneren Blütenhüllblattkreises) die jeweiligen Bestäuber besser unterstützen, was ein entscheidender Vorteil in ihrer Evolution gewesen sein dürfte. Gattungen und Arten Siehe auch: Liste der Orchideengattungen Die Schätzungen über die Artenzahl der Orchideen reichen von 15.000 bis 35.000. Govaerts, der für die Kew Gardens eine Checkliste führt, stellte 2005 einen Stand von 25.158 Arten in 859 Gattungen fest. Im Zeitraum von 1990 bis 2000 wurden pro Jahr 200 bis 500 neue Arten beschrieben. Die artenreichsten Gattungen besitzen eine hauptsächlich tropische Verbreitung, dies sind: Bulbophyllum (1800 Arten), Pleurothallis (1250), Dendrobium (1200), Epidendrum (1120), Lepanthes (970), Habenaria (845), Maxillaria (560), Masdevallia (545), Stelis (525) und Liparis (425) In der gemäßigten Zone ist die Artenvielfalt geringer, je etwa 250 Arten sind in Europa, Ostasien und Nordamerika verbreitet. Gattungen der gemäßigten Zone sind unter anderen: Frauenschuhe (Cypripedium), Dingel (Limodorum), Händelwurzen (Gymnadenia), Hohlzungen (Coeloglossum), Hundswurzen (Anacamptis), Knabenkräuter (Dactylorhiza, Orchis), Kohlröschen (Nigritella), Kugelorchis (Traunsteinera), Nestwurzen (Neottia), Nornen (Calypso), Ragwurzen (Ophrys), Stendelwurzen (Epipactis), Waldhyazinthen (Platanthera), Waldvöglein (Cephalanthera), Zweiblatt (Listera), Zwergstendel (Chamorchis) Gefährdung der Habitate und Artenschutz Nur für die wenigsten Gattungen liegen gesicherte Informationen über die Stärke der Populationen vor. Trotzdem muss davon ausgegangen werden, dass die Bestände vieler Arten in der Natur stark gefährdet sind. Dies gilt für die Habitate in allen Regionen der Welt. Vor allem die Abholzung der Regenwälder und die landwirtschaftliche Nutzung von Gebieten mit Orchideenhabitaten reduzieren die Bestände stetig. Zusätzlich werden sie durch das unkontrollierte Sammeln gefährdet. Zum Schutz der Pflanzen wurden Vorschriften erlassen, die den Handel und den Umgang mit ihnen regeln. Alle Orchideenarten stehen mindestens im Anhang II des Washingtoner Artenschutz-Übereinkommens (WA). Folgende Gattungen und Arten stehen aufgrund besonders umfangreicher Aufsammlungen in der Vergangenheit und/oder der Gegenwart im Anhang I und unterliegen somit noch strengeren Auflagen: Aerangis ellisii, Dendrobium cruentum, Laelia jongheana, Laelia lobata, Peristeria elata, Renanthera imschootiana; alle Arten der Gattungen Paphiopedilum und Phragmipedium. Der Rückgang vieler europäischer Arten ist auch auf eine veränderte ländliche Bewirtschaftung zurückzuführen. Durch den enormen Rückgang der Beweidung (Schafe usw.), vor allem in Mitteleuropa, gehen die v. a. durch menschlichen Eingriff entstandenen Habitate (Trockenrasen) in ihren vermuteten ursprünglichen, bewaldeten Zustand zurück. Orchideenarten, die auf Trockenrasen wachsen, treten in diesen Wäldern kaum noch auf. Aus Sicht der Megaherbivorenhypothese jedoch wäre diese Wiederbewaldung als nur bedingt natürlicher Prozess zu verstehen, und Weidelandschaften wie Trockenrasen hätten auch vor dem Eintreffen des Menschen in Europa natürlicherweise existiert. Geschichte Siehe auch: Liste bedeutender Orchideenforscher Orchideen faszinieren und beschäftigen die Menschen schon seit mehr als 2500 Jahren. Sie wurden als Heilmittel, Dekoration und Aphrodisiakum verwendet oder sie spielten im Aberglauben eine große Rolle. China Die ältesten Überlieferungen über Orchideen stammen aus dem Kaiserreich China und beziehen sich auf die Kultur von Orchideen aus der Zeit um 500 v. Chr. (Tsui Tsze Kang: Orchideenkultur im Kum Cheong (erschienen in der Song-Dynastie 1128–1283)). Der chinesische Philosoph Konfuzius (551–478 v. Chr.) berichtete über ihren Duft und verwendete sie als Schriftzeichen »lán« (), was so viel wie Anmut, Liebe, Reinheit, Eleganz und Schönheit bedeutet. Allgemein gilt die Orchidee in der chinesischen Gartenkunst als Symbol für Liebe und Schönheit oder auch für ein junges Mädchen. Orchideen in der Vase stehen dort für Eintracht. Die ersten monographischen Abhandlungen über Orchideen entstanden in China bereits während der Song-Dynastie (Tsui Tsze Kang: Orchideenkultur im Kum Cheong, Wong Kwei Kok Die Orchideenkultur des Herrn Wong). Anhand der Schilderungen in diesen Werken kann man ablesen, dass sich die Orchideenkultur in China damals bereits auf einer hohen Stufe befand. Amerika Auch in Amerika (Mexiko) werden Orchideen schon lange kultiviert. Noch bevor die Spanier das Land eroberten, wurden vor allem die Früchte von „Tlilxochitl“ (Vanilla planifolia) als Gewürz geschätzt. Die Azteken verehrten »Coatzontecomaxochitl« (Stanhopea-Arten) als heilige Blumen und kultivierten diese in den Gärten ihrer Heiligtümer. Europa Die ältesten europäischen Überlieferungen, in denen Orchideen erwähnt werden, stammen aus der griechischen Spätklassik von Theophrastus von Lesbos (etwa 372–289 v. Chr.). In seinem Werk Historia plantarum beschrieb er eine Pflanze mit zwei unterirdischen Knollen und bezeichnete sie als orchis, was dem griechischen Wort ὄρχις „Hoden“ entspricht. Kurt Sprengel deutete sie als die Art Orchis morio. Die älteste erhalten gebliebene Schrift über Orchideen stammt von Pedanios Dioscurides (1. Jh.). Er beschrieb vier Arten (Orchis, anderes Orchis, Satyrion und rotes Satyrion), die nach seinen Angaben botanisch nur schwer zu bestimmen sind. Medizinisch sollten sie wundheilend, stuhlstopfend und gegen Atemnot wirken. Unter Anwendung der Signaturenlehre unterschied Dioscurides bei den rundknolligen Orchideen zwei Arten von Wurzelknollen: die großen diesjährigen und die kleinen letztjährigen. Die großen, von Männern verzehrt, sollten die Geburt von Knaben bewirken, die kleinen, von Frauen genossen, die Geburt von Mädchen. Allgemein sollten die Orchideenwurzeln als Aphrodisiakum wirken. Die Orchideenbeschreibungen bei Plinius (1. Jh.) und Galen (2. Jh.) sowie bei späteren Autoren weichen nur unwesentlich von denen des Dioscurides ab. Seit dem Spätmittelalter wurden flache, handförmige Orchideenwurzeln von runden Wurzeln unterschieden. Die flachen, handförmigen Wurzeln wurden „palma christi“, „manus christi“, „stendel wurcz das wyblin“ oder „hendel wurcz“ genannt. Ab der ersten Hälfte des 16. Jh. setzte man sich auch in Europa stärker mit den Orchideen auseinander. So in den Werken der Väter der Botanik, die die bisher bekannten Pflanzen ordneten, indem sie verwandte Arten zusammenstellten, Wuchsformen, Blüten und Wurzelknollen beschrieben. Mit dem Erscheinen von Species plantarum von Carl von Linné (1753) erhielten auch verschiedene Orchideenarten erstmals Namen nach der binären Nomenklatur. Jussieu begründete 1789 mit der Herausgabe des Werkes Genera Plantarum die Grundlagen der botanischen Klassifikation und somit auch die Schaffung der Orchidaceae als Pflanzenfamilie. Der schwedische Botaniker O. Swartz gliederte 1800 als erster die Orchideenfamilie in zwei verschiedene Gruppen (ein oder zwei fruchtbare Staubblätter). Mit seinem Werk The Genera and Species of Orchidaceous Plants (London, 1830 bis 1840) und unzähligen Einzelbearbeitungen wurde J. Lindley zum eigentlichen Begründer der Orchideenkunde. Sein Hauptwerk lag in der Gliederung und Beschreibung von Arten. Seine Arbeiten wurden später durch H. G. Reichenbach (Rchb. f.), J. D. Hooker, R. Schlechter und andere ergänzt, erweitert und zum Teil wesentlich überarbeitet. Bevor man in Europa begann, aus Übersee tropische Orchideen einzuführen, kultivierte man schon lange Zeit heimische Orchideen in den Gärten. Die erste tropische Orchidee in Europa erblühte 1615 in Holland (Brassavola nodosa). 1688 wurde Disa uniflora aus Südafrika nach Europa eingeführt. Vor allem durch seine weltweite Vormachtstellung als Kolonialmacht und die daraus resultierenden Verbindungen gelangten viele Arten nach England, wo im 19. Jahrhundert zahlreiche Sammlungen entstanden. Vor allem C. Loddiges war ausgesprochen erfolgreicher Kultivateur. Als 1818 bei W. Cattley die erste Cattleya labiata (später als Cattleya labiata var. autumnalis bezeichnet) erblühte, war die große lavendelblaue Blüte eine Sensation in Europa und führte zu einem immer stärkeren Bedarf an weiteren tropischen Orchideen. Es wurden immer mehr Sammler und Forschungsreisende (darunter John Gibson, William und Thomas Lobb, D. Burke, J. H. Veitch) in alle Welt geschickt, um neue unbekannte Arten zu finden und diese Pflanzen in die Sammlungen der zahlenden Gärtnereien (zum Beispiel C. Loddiges, J. Linden, F. Sander, L. van Houtte, Veitch and Sons) und Privatpersonen (zum Beispiel W. Cattley, A.L. Keferstein, Senator Jenisch) einzugliedern. Die Anzahl der Importe verringerte sich erst wieder, als die Orchideenzüchtung immer mehr an Bedeutung gewann (Anfang 20. Jahrhundert). Mit dem Beginn der stärkeren wissenschaftlichen Untersuchung der Familie Orchidaceae – unter anderem zur Klärung offener Verwandtschaftsverhältnisse – und dem wachsenden Interesse von Amateuren stieg der Bedarf und das Interesse an den Naturformen wieder. Auch heute noch sind Gärtnereien in aller Welt daran interessiert, Wildformen in ihre Bestände einzugliedern, um durch Einkreuzungen vorhandenes Pflanzenmaterial aufzufrischen. Auch heute werden bisher unbekannte Arten neu entdeckt. In den letzten Jahrzehnten wurde die Orchideenkultur immer populärer, das Angebot und die Verfügbarkeit von Kulturhybriden wurde größer und so versuchten sich immer mehr Amateure daran, in den heimischen Zimmern, Vitrinen und Gewächshäusern Orchideen zu kultivieren. Heute ist die Kultur dieser Pflanzen nichts Ungewöhnliches mehr. Vor allem der Massenproduktion von Orchideen in Taiwan, Thailand und den Niederlanden ist es zu verdanken, dass die Preise der Pflanzen so gesunken sind, dass eine blühende Orchidee im Topf (zum Beispiel in Deutschland) zum Teil preiswerter ist als ein durchschnittlicher Blumenstrauß. Diese Popularität hat aber auch dazu geführt, dass die Jagd nach dem Besonderen, dem Einzigartigen, dem Besitz besonders hochwertiger Pflanzen wieder aktueller denn je ist. Die Folge ist zum einen, dass für besonders rare Exemplare oder prämierte Pflanzen exorbitante Preise in Japan oder den USA gezahlt werden, und zum anderen, dass aus Geldgier besonders bei neuentdeckten Arten häufig die natürlichen Bestände geplündert werden, nur um die Nachfrage sogenannter „Sammler“ zu befriedigen. So führte die Entdeckung von Phragmipedium kovachii neben einem Streit um die Erstbeschreibung auch dazu, dass die bekanntgewordenen Habitate in Peru stark dezimiert wurden. Orchideen standen zudem im Mittelpunkt des künstlerischen Schaffens der amerikanischen Malerin Georgia O’Keeffe, die Blumenmotive mit der Sexualität weiblicher Körper assoziierte. Zu nennen wären etwa die Bilder An Orchid oder Narcissa’s Last Orchid, jeweils aus dem Jahr 1941. Wirtschaftliche Bedeutung Orchideen als Nutzpflanzen Trotz ihrer großen Vielfalt werden nur wenige Orchideenarten als kultivierte Nutzpflanze verwendet. Dazu zählt die Gewürzvanille (Vanilla planifolia) zur Gewürzproduktion. Einige Arten werden auch zur Aromatisierung/Bereitung von Tee (Bsp. Jumellea fragrans) oder auch als Parfümierungsmittel für Parfüm und Tabak (Bsp. Vanilla pompona) genutzt. Wo nationale Naturschutzgesetze dies nicht unterbinden, werden verschiedene Arten der Gattungen Orchis und Ophrys (Bsp. Orchis morio) durch Naturentnahmen zur Gewinnung von Gallerte aus „Salep“ genutzt. Die ausgegrabenen Wurzelknollen werden in der Türkei zur Aromatisierung von Speiseeis verwendet. Orchideen als Zierpflanze Große wirtschaftliche Bedeutung erlangen die Orchideen als Zierpflanzen oder Schnittblumen. Viele können in weitem Umfang, auch über Gattungsgrenzen hinweg, zur Kreuzung verwendet werden. So entstanden im Lauf der letzten etwa 150 Jahre ungefähr 100.000 Hybriden. Von diesen werden wiederum einige Tausende als Zierpflanzen kommerziell vermehrt und verkauft. Den größten Anteil daran haben im Zierpflanzenbereich die Züchtungen von Hybriden der Gattungen Phalaenopsis, Cattleya, Dendrobium, Paphiopedilum und Cymbidium. Außer als getopfte Pflanzen werden die Blütentriebe der Gattungen Phalaenopsis, Dendrobium und Cymbidium häufig auch als Schnittblumen vermarktet. Im südostasiatischen Raum erwirtschaftet Thailand mit dem Export von Orchideen jährlich ca. 2 Milliarden Baht (etwa 40 Mio. Euro), wobei die Hauptmärkte in den USA, Japan, Europa, Hongkong, Taiwan und Südkorea liegen. Dies sorgte 2002 für den Export von über 3,1 Mio. Orchideenpflanzen. Da laut thailändischer Landwirtschaftsbehörde ein Trend mit großem Umsatzpotenzial erkannt wurde, wird versucht, die Qualität und Attraktivität der thailändischen Orchideen mit Zertifikaten weiter zu steigern. In Europa werden große Mengen von Orchideenhybriden vor allem in den Niederlanden für den Massenmarkt (Baumärkte, Pflanzen- und Blumencenter) produziert. So gab es 2003 dort etwa 216 ha überglaste Anbaufläche alleine für die Produktion von Orchideen für den Schnittblumenverkauf. In den USA betrug der Umsatz durch getopfte Orchideen etwa 121 Millionen US-$ (2003). Der Massenmarkt wird vorwiegend mit in vitro erzeugten Pflanzen bedient. Die Bedeutung dieses Geschäftszweiges lässt sich anhand der Entwicklung der Produktionsmengen belegen. Innerhalb von 10 Jahren (1991–2000) hat sich die Menge der in Deutschland in vitro produzierten Orchideen fast verfünffacht (1991: ca. 2,5 Millionen Pflanzen, 2000: über 12 Millionen Pflanzen). Den größten Anteil hatten daran Pflanzen (größtenteils Hybriden) der Gattungen Phalaenopsis (2000: über 9 Millionen Pflanzen). Sonstiges Darwins Entdeckungen Schon Charles Darwin war fasziniert von einer madagassischen Orchideen-Blüte Angraecum sesquipedale mit einem bis zu 35 cm langen Sporn. Auch diese Blüte muss irgendwie bestäubt werden, und irgendein Tier muss in diesen Sporn hineinkommen. Tatsächlich fand man 1903 das zu der Pflanze passende Insekt, den Schwärmer Xanthopan morgani praedicta. Orchideen als psychoaktive Pflanze Die Trichocentrum cebolleta ist eine Orchideenart mit gelb-braun getupften Blüten, die im tropisch-subtropischen Amerika und in der Karibik wächst. In Europa wird sie schon seit langem als Zierpflanze kultiviert. Die Blätter enthalten als wirksame Inhaltsstoffe verschiedene Phenanthrene. Diese wirken halluzinogen und werden von den Tarahumara (einem mexikanischen Indianerstamm) als Ersatz für den Peyotekaktus Lophophora williamsii gebraucht (Hauptwirkstoff Meskalin). Orchidee als Metapher in der Sprache Die besondere Stellung der Orchidee unter den Blumen macht das Wort Orchidee zu einer beliebten Metapher in der Sprache. Die Orchidee gilt als ausnehmend schön und als selten zu finden. Daher steht einerseits „Orchidee“ oft für etwas besonders Schönes. In Verbindung mit der sexuellen Konnotation wird daher oft eine äußerst hübsche Frau als Orchidee bezeichnet, so im Film Wilde Orchidee. Andererseits steht „Orchidee“ für etwas besonders Seltenes. Diese zweite Metapher kann auch spöttisch sein; so wird eine selten studierte Studienrichtung mit außergewöhnlichen Inhalten als Orchideenfach bezeichnet. Literatur James Bateman: Hundert Orchideen. Lithographien von Walter Hood Fitch. Nach der Buchausgabe von 1867. Mit einem Nachwort von Edmund Launert. Harenberg, Dortmund (= Die bibliophilen Taschenbücher. Band 136). R. Schlechter: Die Orchideen. 4 Bände und Register. Überarb. K. Senghas. 3. Auflage. Blackwell, Berlin/Wien 2003, ISBN 3-8263-3410-8 (Das Standardwerk zum Thema Orchideen) Robert L. Dressler: Die Orchideen. Bechtermünz, Augsburg 1997, ISBN 3-86047-413-8. Gertrud Fast (Hrsg.): Orchideenkultur. Botanische Grundlagen, Kulturverfahren, Pflanzenbeschreibungen. Eugen Ulmer, Stuttgart 1995, ISBN 3-8001-6451-5. Helmut Bechtel, Philip Cribb, Edmund Launert: Orchideen-Atlas. Lexikon der Kulturorchideen. 3. Auflage. Ulmer, Stuttgart 1993, ISBN 3-8001-6199-0 (umfangreiches, gut bebildertes Nachschlagewerk) Filme Verborgene Schönheit – Die Orchideen des Saaletals (2017) Regie: David Cebulla. Naturfilm, 19 Min. Weblinks Allgemein Beschreibung der Familie der Orchidaceae bei der APWebsite (englisch) Weltweite Suche und Links: Orchideen The Internet Orchid Photo Encyclopedia (die umfangreiche Orchideen-Enzyklopädie im Netz, englisch) Orchideenfotos die im USENET veröffentlicht wurden (gesammelt in einem durchsuchbaren Archiv) RBO – Reproduktionsbiologie der Orchideen (Web-Portal) Übersicht: Im Internet verfügbare historische Literatur zu Orchideen Orchideenkonservation Private Initiative zur Rettung wilder Orchideen Orchideenforum.de Orchideenportal mit vielen Informationen zur Pflege und Haltung. Orchideenmantis: Hymenopus coronatus Vereine und Gesellschaften Arbeitskreise Heimische Orchideen (AHO) Deutsche Orchideen Gesellschaft (DOG) Verein Deutscher OrchideenFreunde (VDOF) Oesterreichische Orchideengesellschaft Schweizerische Orchideenstiftung am Herbarium Jany Renz Arbeitsgruppe Einheimische Orchideen Aargau (AGEO Schweiz) Einzelnachweise Zierpflanze
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https://de.wikipedia.org/wiki/R%C3%BCsseltiere
Rüsseltiere
Die Rüsseltiere (Proboscidea) sind eine Ordnung der Säugetiere, der heute nur noch die Familie der Elefanten angehört. Diese vereint mit dem Afrikanischen Elefanten, dem Waldelefanten und dem Asiatischen Elefanten drei Arten. Benannt wurde die Ordnung nach ihrem Rüssel als auffälligstem äußerem Merkmal. Weitere Charakteristika finden sich bei den heutigen Vertretern in dem generell großen und massiven Körperbau mit säulenförmigen Beinen, dem voluminösen Kopf und kurzen Hals sowie den Stoßzähnen, die aus den vergrößerten oberen Schneidezähnen entstanden. Die rezenten Elefanten sind in den tropischen Regionen Afrikas südlich der Sahara, in Süd- und Südostasien wie auch in Teilen Ostasiens verbreitet und nutzen eine Vielzahl unterschiedlicher Landschaftsräume. Sie leben in komplexen Sozialverbänden mit Herden aus Mutter- und Jungtieren sowie einzelgängerischen männlichen Tieren, die mitunter aber auch Junggesellenverbände bilden können. Zwischen den einzelnen Individuen findet eine komplexe Kommunikation statt. Die Nahrung besteht überwiegend aus Pflanzen, hierbei sowohl Gräser als auch Blätter, Früchte und Ähnliches. Die genaue Zusammensetzung variiert mit den Jahreszeiten. In der Regel wird in einem Abstand von mehreren Jahren ein Junges geboren, das in der Herde aufwächst. Der Ursprung der Ordnung reicht bis in das Paläozän vor rund 60 Millionen Jahren zurück. Die ältesten Formen sind aus dem nördlichen Afrika bekannt. Hierbei handelt es sich um noch relativ kleine, teils aquatisch lebende Tiere ohne Rüssel und Stoßzähne. Beide Merkmale bildeten sich erst später heraus. Es entstanden im Laufe der Stammesgeschichte verschiedene Familien, von denen die Deinotheriidae, die Mammutidae, die Gomphotheriidae und die Stegodontidae die bekanntesten sind. Die Familien und deren Mitglieder spiegeln die Vielgestaltigkeit der Rüsseltiere wider. Spätestens vor rund 20 Millionen Jahren erreichten die Rüsseltiere über eine Landbrücke Eurasien und breiteten sich dort aus. Einige Vertreter wanderten bis nach Amerika, sodass die Rüsseltiere eine fast weltweite Verbreitung aufwiesen, ausgenommen waren Australien, Antarktika und die meisten weit vom Festland entfernten Inseln. Dabei passten sich die Tiere unterschiedlichsten Lebensräumen an, die von den tropischen und waldreichen Ursprungsgebieten bis hin zu Hochgebirgslandschaften und arktischen Offenlanden reichen. Die Elefanten stellen das jüngste Glied der stammesgeschichtlichen Entwicklung dar und traten erstmals vor rund 7 Millionen Jahren im Oberen Miozän in Erscheinung. Zum Ende des Pleistozäns starb ein Großteil der Rüsseltiere aus. Die wissenschaftliche Bezeichnung der Rüsseltiere als Proboscidea stammt aus dem Jahr 1811. Anfänglich wurde die Gruppe mit den unterschiedlichsten Huftieren assoziiert. Eine angenommene nähere verwandtschaftliche Beziehung zu den Seekühen und den Schliefern kam erstmals in der zweiten Hälfte des 19. Jahrhunderts auf. Diese Gemeinschaft, später unter der Bezeichnung Paenungulata bekannt, konnte in der Folgezeit sowohl skelettanatomisch als auch genetisch und biochemisch untermauert werden. Vor allem die Molekulargenetik stellte im Übergang vom 20. zum 21. Jahrhundert heraus, dass die Rüsseltiere näher mit anderen originär afrikanischen Tieren in Beziehung stehen. Die sich daraus ergebende Verwandtschaftsgruppe, der neben den Paenungulata auch verschiedene insektenfressende Tiere wie die Rüsselspringer, die Tenrekartigen und das Erdferkel angehören, wurde daher mit Afrotheria benannt. Herausragende Arbeit bei der Erforschung der Rüsseltiere leistete im ersten Drittel des 20. Jahrhunderts Henry Fairfield Osborn. Merkmale Allgemein und Habitus Die heutigen Rüsseltiere stellen die größten landlebenden Tiere dar. Das Körpergewicht reicht von 2 bis über 6 t bei einer Schulterhöhe von 2 bis 4 m. Die Tiere zeichnen sich durch einen massigen Körperbau, einen wuchtigen Kopf auf kurzem Hals und säulenförmige Beine aus. Die auffälligsten äußeren Merkmale finden sich in dem namensgebenden, überaus langen Rüssel sowie in den Stoßzähnen und den großen, lamellenartig aufgebauten Mahlzähnen. Der Körper ist in der Regel nur wenig behaart. Eine Besonderheit der Weichteilanatomie stellt die Temporaldrüse seitlich der Augen dar, die nur bei den Elefanten vorkommt. In ihrer stammesgeschichtlichen Vergangenheit zeigten die Rüsseltiere eine recht hohe Variabilität. Die Körpergröße reichte von rund 8 kg kleinen Tieren aus der frühesten Phase der Ordnung bis hin zu riesenhaften Formen mit bis zu 16 t Körpergewicht. Hinsichtlich Körpergröße und einzelner äußerer Merkmale wie der Stoßzahnausprägung liegt bei den heutigen Arten ein deutlicher Geschlechtsdimorphismus vor, der sich auch bei einigen ausgestorbenen Formen nachweisen lässt. Sowohl der Rüssel als auch die Stoßzähne entwickelten sich evolutiv erst nach und nach. Als gemeinsame Kennzeichen (Synapomorphie) aller Rüsseltiere können daher unter anderem die generell vergrößerten mittleren Schneidezähne der oberen Zahnreihe – aus denen heraus später die Stoßzähne entstanden –, der Verlust des vordersten Prämolaren sowie Zahnschmelzprismen mit einem schlüssellochartigen Querschnitt herausgestellt werden. Skelettmerkmale Schädel Als anatomische Besonderheit weist der sehr große Kopf der Rüsseltiere ein mit luftgefüllten Hohlräumen durchsetztes Schädeldach auf. Diese bienenwabenartig geformten Kammern, die durch dünne Knochenplättchen voneinander getrennt sind, durchziehen das Stirn-, Scheitel- und Nasenbein sowie den Mittelkieferknochen. Sie verringern das Gewicht des Schädels, der nur so ausreichend groß werden konnte. Der Schädel musste ausreichend Ansatzfläche für die mächtige Nackenmuskulatur entwickeln, um den Halt des Kopfes inklusive der evolutiv immer größer werdenden Stoßzähne zu gewährleisten, ebenso, um der kräftigen Kaumuskulatur für den massiven Unterkiefer Ansatzfläche zu geben. Die Entwicklung eines derartigen luftgefüllten Schädels begann stammesgeschichtlich schon sehr früh bei den Rüsseltieren und ist bei einigen Vertretern wie Barytherium schon im Oligozän, möglicherweise auch schon im späten Eozän nachgewiesen. Der Unterkiefer zeichnet sich bei zahlreichen frühen Rüsseltieren durch eine verlängerte Symphyse aus, welche am vorderen Ende die beiden Kieferhälften miteinander verbindet. Die Streckung des Unterkieferkörpers resultierte dabei häufig aus der Bildung der unteren Stoßzähne, deren Alveolen seitlich an der Symphyse anlagen. Dadurch weisen diese frühen Rüsseltiere einen eher gestreckten Gesichtsbereich aus und können so als longirostrin („langschnauzig“) betrachtet werden. In mehreren Linien der Rüsseltiere, so bei den Mammutidae, den Gomphotheriidae und den Elephantidae, kam es im weiteren Verlauf der Stammesgeschichte zur Kürzung der Symphyse und damit des Gesichtsbereiches, meist verbunden mit der Reduktion der unteren Stoßzähne. Diese Formen werden als brevirostrin („kurzschnauzig“) bezeichnet. Gebiss Allgemein Das ursprüngliche permanente Rüsseltiergebiss besaß noch die vollständige Bezahnung der Höheren Säugetiere mit 44 Zähnen bestehend aus drei Schneidezähnen, einem Eckzahn, vier Prämolaren und drei Molaren je Kieferast. Daher kann für ursprüngliche Rüsseltiere folgende Zahnformel angegeben werden: . Im Laufe der stammesgeschichtlichen Evolution reduzierte sich die Zahnanzahl kontinuierlich. Dies führte über den Verlust des Eckzahns, der hinteren Schneidezähne und der vorderen Prämolaren hin zum Gebiss der heutigen Elefanten, das nur einen Schneidezahn in der oberen Zahnreihe (Stoßzahn) und drei Molaren je Kieferbogen aufweist. Hinzu kommen drei Milchprämolaren. Die Zahnformel der modernen Rüsseltiere lautet demzufolge: . Zusätzlich wiesen einige ältere Vertreter der Kronengruppe der Rüsseltiere (Loxodonta, Elephas und Mammuthus) noch zwei dauerhafte Prämolaren auf. Der Verlust der Dauerprämolaren erfolgte in den jeweiligen Linien unabhängig voneinander. Die drei Milchprämolaren werden von einigen Experten aufgrund der starken Ähnlichkeit zu den Molaren auch als Milchmolaren angesprochen, sind aber aus ontogenetischer Sicht Prämolaren. Vorderes Gebiss und Stoßzähne Das markanteste Skelettelement bilden die Stoßzähne, welche die heutigen Elefanten generell in der oberen Zahnreihe tragen. Viele frühe Vertreter der Rüsseltiere wiesen zusätzlich auch Stoßzähne im Unterkiefer auf. Im Fall der Deinotheriidae und einzelner anderer Vertreter kamen sie nur dort vor. Ihre Form ist sehr variabel. So können sie nach oben oder unten gebogen sowie gedrillt sein, beziehungsweise mehr oder weniger gerade verlaufen oder eine Schaufelform aufweisen. Mitunter stehen sie eng beieinander oder weit auseinander. Auch die Länge ist verschieden. Bei frühen Rüsseltieren glichen sie eher Hauern, die oben senkrecht, unten vielfach horizontal aus dem Kiefer herausragten, bei einigen Mammuten und Mammutiden wiesen sie demgegenüber Längen von 4 bis 5 m auf. Prinzipiell handelt es sich bei den Stoßzähnen um Bildungen der Schneidezähne, die im Verlauf der Stammesgeschichte in Verbindung mit der allgemeinen Reduktion der Zahnanzahl im Gebiss der Rüsseltiere hypertrophierten und so zu den größten Zähnen aller bekannten ausgestorbenen oder noch lebenden Tiere heranwuchsen. Dabei entstanden die oberen Stoßzähne aus dem jeweils zweiten Schneidezahn (I2) des Kieferastes, während der Ursprung der Unterkieferstoßzähne unter Experten lange diskutiert, mittlerweile aber mit dem ersten Schneidezahn (I1) des Kieferastes identifiziert wurde. Ausnahmen finden sich unter anderem in den Moeritheriidae, bei denen auch die unteren Stoßzähne den zweiten Schneidezähnen entstammen, während bei den Barytheriidae jeder Kieferast zwei Stoßzähne trug, insgesamt also acht ausgebildet waren. Diese entsprachen jeweils den ersten beiden Schneidezähnen des Kieferbogens. Die graduelle Verlängerung der Stoßzähne während der fortlaufenden Stammesgeschichte zog auch funktionale Veränderungen nach sich. Heute setzen Elefanten ihre großen Stoßzähne auf vielfältige Weise ein, etwa unterstützend bei der Nahrungsaufnahme, zum Transport schwerer Gegenstände oder bei Rivalenkämpfen. Ursprünglich aber dienten die Stoßzähne wohl primär der Nahrungsaufnahme. Durch die senkrechte Stellung in der oberen Zahnreihe und die horizontale in der unteren entstand eine Art Schere, mit der Nahrungspflanzen zerschnitten werden konnten. Da die Stoßzähne der Rüsseltiere häufig einen relativ ähnlichen Bau aufweisen, ist eine genaue Zuweisung bei Einzelfunden eher schwierig. Unterschiede finden sich jedoch im Detail. Strukturell bestehen die Stoßzähne aus drei Einheiten. Im Innern befindet sich die Pulpa, die hauptsächliche Wachstumszone. Diese wird vom Zahnbein umhüllt, welches den Großteil eines Stoßzahns ausmacht und dem eigentlichen „Elfenbein“ entspricht. Es handelt sich um ein Gemisch aus Carbonat-Hydroxylapatit-Kristallen, die mit Kollagenfasern verbunden sind. Erstere sind hauptsächlich für die Härte der Stoßzähne verantwortlich, letztere für die Elastizität. Das Zahnbein ist dadurch stark mineralisiert und frei von Zellen. Gebildet wird es in kleinen Kanälchen, die radial um das Zentrum des Stoßzahns angeordnet sind. In der Regel haben diese Kanälchen variierende Formen, stoßen aber in spitzen Winkeln aneinander. Die näher zum Zentrum gelegenen Kanälchen sind zumeist größer als die randlich gelagerten. Dadurch treten innerhalb eines Stoßzahns Unterschiede in Dichte und absoluter Anzahl der Kanälchen auf. Teilweise werden diese Kanälchen von Zahnbeinrippeln durchbrochen, die parallel zum Stoßzahnkern verlaufen. Dieser generelle Zahnbeinaufbau zeigt innerhalb der Rüsseltiere einzelne Variationen. So haben Vertreter der Mammutidae einen höheren Anteil an Zahnbeinrippeln zum Stoßzahnkern hin, während bei den Gomphotheriidae und Elephantidae die Stoßzähne sowohl nahe der Pulpa als auch zum Rand hin eher homogen aufgebaut sind. Unklar ist hierbei, welche von beiden die ursprünglichere Variante darstellt. Die äußere Hülle des Stoßzahns wird durch eine dünne Lage aus Zahnzement gebildet. Auch hier ergeben sich einzelne Abweichungen zwischen den verschiedenen Rüsseltieren. Vor allem bei stammesgeschichtlich älteren Linien ist häufig noch eine umgebende Schicht aus Zahnschmelz ausgebildet, die den Stoßzahn bandförmig umgibt. Bei den Elephantidae fehlt diese Zahnschmelzschicht zumeist vollständig. Die Stoßzähne heutiger Elefanten besitzen als weitere Auffälligkeit ein internes Muster aus abwechselnd hell und dunkel gefärbten Bereichen. In Zahnlängsrichtung ergeben sie ein Bandmuster, im Zahnquerschnitt hingegen sind sie schachbrettartig angeordnet. Bedingt durch die rundliche Form des Stoßzahns besteht das Schachbrettmuster dadurch aus rhombischen Flächen mit radialer bis tangentialer Anordnung, wodurch optisch der Eindruck eines komplexen spiraligen Gebildes entsteht. Die Winkel, mit denen die Rhomben aneinander anliegen, unterscheiden sich zwischen den Arten und haben somit taxonomischen Wert. Das Muster wird als „Schreger-Linien“ bezeichnet und ist bei Säugetieren anderer Ordnungen mit stoßzahnartigen Bildungen nicht bekannt. Der Ursprung der „Schreger-Linien“ wird kontrovers diskutiert. Nach verschiedenen Theorien entstehen sie entweder durch die Anordnung der Zahnbein-Kanälchen oder durch die spezielle Orientierung der Kollagenfasern. Histologische Untersuchungen konnten die „Schreger-Linien“ auch bei anderen Rüsseltieren wie Anancus und Stegodon nachweisen, die alle in ein näheres Verwandtschaftsumfeld der Elefanten gehören. Bemerkenswerterweise kommen sie aber bei stammesgeschichtlich älteren Formen wie etwa Deinotherium nicht vor. Einige Forscher gehen daher davon aus, dass es sich um ein einzigartiges Merkmal elephantoider Rüsseltiere handelt, das sich nur einmal während der Rüsseltier-Evolution herausbildete. Allerdings sind „Schreger-Linien“ auch bei Gomphotherium und Mammut dokumentiert. Hinteres Gebiss und Zahnwechsel Zur systematischen Einteilung der Rüsseltiere wird hauptsächlich der Aufbau der Molaren herangezogen. Die Kaufläche dieser Mahlzähne ist sehr vielgestaltig und der jeweiligen Lebensweise der Tiere angepasst. Die wichtigsten Grundtypen sind folgende: Daneben gibt es einzelne Übergangsformen wie bunolophodont, bunozygodont oder zygolophodont. Die frühesten Rüsseltiere wie Eritherium besaßen ein bunodontes Muster. Die einzelnen Zahnformen bildeten sich dann innerhalb der verschiedenen Rüsseltierlinien unabhängig voneinander heraus. Dadurch wiesen Stammformen einiger Linien wie etwa Losodokodon bei den Mammutidae noch deutlicher bunodonte Molaren auf, aus denen sich dann das typisch zygodonte Muster der Spätformen entwickelte. Die Rüsseltiermolaren lassen sich dabei von den ursprünglich tribosphenischen Zähnen der Höheren Säugetiere herleiten, deren Kauoberfläche stark topographisch gegliedert ist. Die tribosphenischen Zähne bestehen aus einem erhabenen Bereich, Trigon bei den Oberkiefer- und Trigonid bei den Unterkiefermahlzähnen genannt, auf dem sich die drei Haupthöcker befinden. Diese Haupthöcker werden wiederum als Para-, Proto- und Metaconus an den oberen und als Paraconid, Protoconid und Metaconid an den unteren Molaren bezeichnet; in zahlreichen Ableitungen von der tribosphenischen Grundstruktur der Mahlzähne hat sich in vielen Säugetierlinien auf den oberen Molaren ein vierter Höcker, der Hypoconus zumeist unabhängig voneinander herausgeformt. Dem Trigon schließt sich ein niedriger gelegener Abschnitt mit den Nebenhöckern an, der wiederum das sogenannte Talon bei den Oberkiefer- und das Talonid bei den Unterkiefermahlzähnen bildet. Auf den häufig voluminöseren Mahlzähnen des Unterkiefers trägt das Talonid einige größere Höcker, wie das Hypoconid und das Entoconid. Bei den Zähnen der Rüsseltiere umfasst der vordere Teil das Trigon beziehungsweise das Trigonid, der hintere das Talon beziehungsweise das Talonid. Bezogen auf die Oberkiefermolare entspricht das vordere Höckerpaar dem Paraconus und dem Protoconus mit dem Protoloph als Querleiste oder -joche (an den Unterkiefermolaren demzufolge das Protoconid und das Metaconid sowie das Protolophid). Das zweite Höckerpaar wird durch den Metaconus und den Hypoconus gebildet, beide verbindet das Metaloph (an den Unterkiefermolaren entsprechend das Hypoconid und Entoconid sowie das Hypolophid). Die nach hinten folgenden Höckerpaare entstehen dann aus dem Talon/Talonid heraus. Eine Längsrille, die mittig über die gesamte Zahnlänge verläuft, unterteilt die Höckerpaare beziehungsweise Leisten oder Joche in je zwei Halbleisten/Halbjoche, deren zungenseitiger Bereich als Entoloph (Entolophid) und der wangenseitige Bereich als Ectoloph (Ectolophid) bezeichnet wird. Besonders deutlich ist dies bei den bunodonten und zygodonten, weniger jedoch bei den lophodonten und lamellodonten Molaren erkennbar. Alle Rüsseltiermolaren besitzen aber dadurch zwei Zahnteilflächen, die aufgrund des Kaumechanismus der Tiere stärker oder schwächer beansprucht werden. Der stärker abgenutzte Teil wird prätrit, der schwächere posttrit benannt. Im Oberkiefer ist der stärker abgekaute Zahnteil immer zungenseitig, der weniger starke wangenseitig ausgebildet. Bei den Unterkiefermolaren verhält es sich genau umgekehrt. Eine weitere Besonderheit ist die zunehmende Komplexität und relative sowie absolute Vergrößerung der Molaren. Die ersten beiden Mahlzähne der frühesten Rüsseltiere verfügten über insgesamt zwei Höckerpaare, waren also bilophodont (mit zwei Leisten oder Jochen) gestaltet. Der dritte Mahlzahn wies häufig drei Leisten auf, wenn auch die dritte teils schwach entwickelt war. Die Höcker der beiden (vorderen) Leisten entsprechen dem Trigon beziehungsweise dem Trigonid. Im weiteren Verlauf erhöhte sich die Anzahl der Leisten auf den ersten beiden Molaren zunächst auf drei, wodurch trilophodonte Zähne (mit drei Leisten oder Jochen) entstanden. Hier setzte dann auch eine Differenzierung der beiden vorderen Molaren zum hintersten ein, da letzterer in der Regel eine höhere Anzahl an Leisten aufweist, so anfänglich zwischen vier und fünf (generell hat der hinterste untere Molar mehr Leisten als der hinterste obere). Die neuen zusätzlichen Höckerpaare entstanden aus dem Talon beziehungsweise Talonid, jede weitere Leiste stellt prinzipiell nur eine Vervielfältigung der vorhergehenden dar. Bei den modernen Elefanten entwickelte sich dies bis ins Extreme, da beispielsweise innerhalb der Mammute der hinterste Backenzahn bis zu 30 Leisten aufweisen kann. Die Mahlzähne der moderneren Rüsseltierlinien stellen mit Längen von teils über 20 cm und einem Gewicht von mitunter mehr als 5 kg die größten unter den Säugetieren dar. Die heutigen Rüsseltiere haben hochkronige (hypsodonte) Backenzähne, das heißt, die Kronenhöhe eines Molars übertrifft deren Weite deutlich, teilweise um das Doppelte. Die massive Zunahme der Kronenhöhe ist eine Entwicklung der modernen Elefanten und stellt eine Anpassung an harte Grasnahrung dar, begünstigt durch die Ausbreitung der Gräser im Verlauf des Miozäns. Trotzdem ist auch in einzelnen älteren Rüsseltierlinien wie den Gomphotheriidae eine gewisse Zunahme der Kronenhöhe zu verzeichnen. Der größte Teil der Vertreter der Rüsseltiere wies jedoch niederkronige, also brachyodonte Mahlzähne auf. Als eine Besonderheit der entwickelten Rüsseltiere ist die Ausformung des Zahnschmelzes zu betrachten, der aus drei Lagen besteht: einer äußeren Schicht aus radial ausgerichteten Prismen, einer mittleren Schicht aus Hunter-Schreger-Bändern (variabel hell oder dunkel gestreifte Zahnschmelzbänder mit jeweils unterschiedlich gerichteten Prismen) und einer inneren Schicht aus einem dreidimensionalen Geflecht aus miteinander verwobenen Prismenbündeln. Unterschiede bestehen zu den frühesten Rüsseltieren wie den Phosphatheriidae, den Moeritheriidae oder den Phiomiidae bei denen der Zahnschmelz in der Regel nur aus zwei Lagen aufgebaut ist, wobei häufig, aber nicht in jedem Fall, die beiden oberen Lagen vorkommen. Davon abweichend wurden für die Zähne der Deinotheriidae weitgehend nur die verwobenen Prismenbündel berichtet, neuere Studien aus dem Jahr 2021 lassen jedoch annehmen, dass diese einen ähnlich komplexen Zahnschmelzaufbau wie die meisten anderen Rüsseltiere besaßen. Vor allem die dreidimensional verwobenen Bündel werden als besondere Aushärtungsstufe des Zahnschmelzes angesehen, wodurch dieser den horizontal wirkenden Kräften beim Kauvorgang besser widerstehen kann. Demnach entstand bei den Rüsseltieren die besonders harte Variante des Zahnschmelzes weit vor dem Zeitpunkt, zu dem sich höhere Zahnkronen ausbildeten, was als eine Art der Präadaption aufgefasst werden kann. Der Zahnwechsel der heutigen Elefanten erfolgt nicht vertikal wie bei den meisten Säugetieren, sondern horizontal. Dadurch sind von den drei Prämolaren und drei Molaren je Kieferbogen in der Regel nur einer bis anderthalb gleichzeitig in Funktion. Diese durchgebrochenen Zähne werden beim Kauen der Pflanzennahrung stark abgenutzt. Im hinteren Teil des Gebisses bildet sich währenddessen neues Zahnmaterial, das kontinuierlich nach vorn geschoben wird. So steht den Elefanten beim Verlust eines Zahnes jeweils wieder ein neuer zur Verfügung. Dieser Prozess kann nach dem Durchbruch des ersten Milchprämolaren insgesamt fünfmal wiederholt werden, was sechs Zahngenerationen entspricht (drei Milchoprämolaren und drei Molaren). Der horizontale Zahnwechsel entstand durch die Vergrößerung der Zähne infolge der Herausbildung zusätzlicher Leisten und durch die Verkürzung des Kiefers im Verlauf der Rüsseltierevolution, so dass nicht mehr alle Zähne gleichzeitig Platz fanden. Erstmals aufgetreten ist dieses Merkmal im Verlauf des Oligozän. Vor dieser einschneidenden Veränderung wechselten die Rüsseltiere vergleichbar zu anderen Säugetieren ihre Zähne im vertikalen Modus. Bei diesen Vertretern waren demgemäß dann alle Zähne des Dauergebisses gleichzeitig in Funktion. Die Umstellung des Zahnwechsels ist möglicherweise mit einer generellen Änderung im Ernährungsverhalten und im Kauprozess verbunden. Die Deinotheriidae wechselten ihre Zähne vertikal, die gleichzeitig auftretenden und nahezu gleich großen Gomphotheriidae dagegen horizontal. Letztere hatten gegenüber ersteren deutlich größere Zähne mit mehr Leisten, was hinsichtlich Abnutzungserscheinungen und Ähnlichem eine größere Bandbreite an Nahrung ermöglichte. Körperskelett Besondere skelettanatomische Merkmale sind die säulenförmigen Gliedmaßen, die senkrecht unter dem Körper stehen, wobei die oberen und unteren Partien der Extremitäten einen Winkel von 180° bilden. Dies unterscheidet die Rüsseltiere von zahlreichen anderen Säugetieren, deren Beine in einem leichten Winkel angeordnet sind. Die deutlich vertikale Stellung, die schon bei den Deinotheriidae vollständig ausgebildet war, unterstützte dabei die enorme Gewichtszunahme der frühen Vertreter dieser Ordnung. Urtümliche Rüsseltiere aus dem Eozän wie Numidotherium und Barytherium besaßen noch deutlich angewinkeltere Beine. Darüber hinaus zeigen die Gliedmaßen mit ihren langen oberen Extremitätenabschnitten gegenüber kurzen unteren Anpassungen an das hohe Gewicht (graviportal). Elle und Speiche sind nicht miteinander verwachsen, fixieren sich allerdings bei Drehung des Vorderbeins gegenseitig. Der Oberschenkelknochen ist vorn und hinten verschmälert. Weiterhin besitzen die Langknochen keine Knochenmarkhöhle, sondern der Raum ist mit Spongiosa gefüllt, was den Beinen eine größere Festigkeit gibt. Die Blutbildung findet dabei in den Zwischenräumen statt. Die einzelnen Hand- und Fußwurzelknochen sind seriell angeordnet, das heißt, sie überschneiden sich an den Gelenkflächen nicht gegenseitig, sondern liegen hintereinander (taxeopod). Vorder- und Hinterfüße weisen in der Regel je fünf Strahlen auf. Als weitere Besonderheit an den Füßen besitzen Rüsseltiere einen sechsten „Zeh“, der jeweils hinter dem Daumen beziehungsweise dem großen Zeh ansetzt. Die Ansatzstelle befindet sich jeweils am oberen (proximalen), nach hinten innen zeigenden Gelenkende des Metacarpus I (Daumen) beziehungsweise des Metatarsus I (großer Zeh) und besteht aus Knorpelmaterial, das teilweise verknöchert ist. Er dient zur Unterstützung der anderen Zehen bei der Stabilisierung des hohen Körpergewichtes. Die Bildungen werden am Vorderfuß als Präpollex („Vordaumen“) beziehungsweise am Hinterfuß als Prähallux („Vorzehe“) bezeichnet. Auch diese sind schon bei den Deinotheriidae nachweisbar und gehen so bis ins frühe Miozän zurück. Die Entwicklung dieser anatomischen Besonderheit hängt mit der enormen Körpergrößenzunahme der Rüsseltiere in jener Zeit zusammen, die verbunden ist mit der Abkehr von der eher amphibischen Lebensweise der frühen Proboscidea-Vertreter hin zu einer rein terrestrischen. Dadurch änderte sich auch die generelle Fußposition. Ursprüngliche Rüsseltiere wiesen eher horizontal orientierte Fußknochen auf und waren funktionell an den Sohlengang angepasst. Bei den heutigen Elefanten bilden die Zehen einen Halbkreis und stehen deutlicher senkrecht gerichtet. Dadurch können die Elefanten als Zehenspitzengänger angesehen werden. Der jeweils sechste „Zeh“ bildete sich dabei wohl als Stützelement während der Umgestaltung der Fußanatomie und der gleichzeitig massiv zunehmenden Körpermasse heraus. Weichteilanatomie Rüssel Auffälligstes Kennzeichen der Rüsseltiere ist der Rüssel, der aus der Verwachsung der Oberlippe mit der Nase entsteht und bei den heutigen Elefanten bereits im Embryonalstadium herausgebildet wird. Am unteren Ende des Rüssels treten die beiden Nasengänge heraus. Er besteht aus bis zu 150.000 längs, zirkular oder schräg verlaufenden Muskelfasern einer Vielzahl verschiedener Muskeln und übt als feinfühliges Greiforgan zahlreiche Funktionen aus. Primär überbrückt er die Distanz zwischen dem Kopf und dem Boden, was der kurze Nacken der Tiere nicht mehr leisten kann. Dadurch ist er essenziell bei der Nahrungsaufnahme, indem er bodenbewachsende Pflanzen abreißt oder aber Wasser aufnimmt und zum Maul führt. Umgekehrt kann er auch zum Erreichen höher gelegener Objekte wie etwa Blätter in den Baumkronen eingesetzt werden. Darüber hinaus dient er als Atmungs- und Transportorgan und hat zudem als Tast- und Sinnesorgan eine hohe Bedeutung in der sozialen Kommunikation. Als rein muskuläre Bildung beansprucht der Rüssel einen größeren Teil des Gesichtsbereichs des Schädels. Durch seine Herausformung kam es zu einer massiven Umstrukturierung und Kürzung des knöchernen Unterbaus. Dies beinhaltet vor allem eine deutliche Reduktion des Nasenbeins, das meist nur noch als kurzer Fortsatz besteht. Die Nasenöffnung ist dagegen extrem groß ausgebildet. Durch die Umgestaltung des Gesichtsschädels erhielt die massive Rüsselmuskulatur großflächige Ansatzstellen. Bei fossilen Rüsseltieren ist das Vorhandensein eines Rüssels nur indirekt über die Gesichtsanatomie, hauptsächlich der Nasenregion, ableitbar. Die frühesten Formen wiesen demgemäß wohl noch keinen Rüssel auf. Erste Anzeichen für einen Rüssel finden sich bei Numidotherium aus dem Unteren bis Mittleren Eozän. Die Entwicklung begann möglicherweise über nur kurze, eher tapirartige Rüssel, die aus einer sehr beweglichen Oberlippe hervorgingen und sich erst allmählich im Zuge der Körpergrößenzunahme verlängerten. Auch für die teils riesigen Vertreter von Deinotherium wird aufgrund der hohen Lage der Nasenöffnung hin zur Oberseite des Schädels ein eher kurzer Rüssel vermutet, der aber ausreichend lang gewesen sein muss, um damit den Boden zu erreichen. Einige Forscher nehmen an, dass sich der Rüssel innerhalb der Rüsseltiere mehrfach unabhängig herausgebildet hat. Gehirn Die Rüsseltiere gehören zu den wenigen Säugetiergruppen, bei denen sich ein Gehirn von mehr als 700 g ausbildete vergleichbar den Primaten und den Walen. Heutige Elefanten besitzen ein Gehirnvolumen von 2900 bis 9000 cm³. Bezogen auf ein Körpergewicht von 2,2 bis 6,6 t entspricht dies einem Enzephalisationsquotienten von 1,1 bis 2,2, der Durchschnittswert liegt bei 1,7. Im Vergleich dazu beträgt der Enzephalisationsquotient beim Menschen etwa 7,5. Der Aufbau des Gehirns der Elefanten ist komplex. Es besteht aus rund 257 Milliarden Nervenzellen, was der 3fachen Menge gegenüber dem Gehirn des Menschen entspricht. Abweichend von diesem sind rund 98 % der Nervenzellen bei den Elefanten im Kleinhirn ausgebildet. Außerdem ist der Schläfenlappen stärker entwickelt als beim Menschen. Die Gehirne ausgestorbener Rüsseltiere sind nur selten überliefert, Ausnahmen bilden hier einzelne Eismumien vom Wollhaarmammut (Mammuthus primigenius). Von anderen Fossilformen liegen nur ausnahmsweise Informationen zu den Ausmaßen des Gehirns vor, die dann weitgehend anhand von Ausgüssen des Innenraums des Hirnschädels gewonnen wurden. Hier ließ sich zeigen, dass bei einigen verzwergten Elefanten wie dem Sizilianischen Zwergelefanten (Palaeoloxodon falconeri) ein vergleichsweise großes Gehirn ausgebildet war, das bei einem Körpergewicht von 190 kg rund 1800 cm³ erreichte und so zu einem Enzephalisationsquotienten von etwa 3,75 führte. Der älteste bekannte Schädelausguss gehört zu Moeritherium, welches in den Übergang vom Oberen Eozän zum Unteren Oligozän gehört. Dessen Gehirnvolumen betrug schätzungsweise 240 cm³, bei einem vermuteten Körpergewicht von 810 kg. Der Enzephalisationsquotient kann somit mit rund 0,2 angegeben werden. Ein proportional vergleichbares Verhältnis zwischen Gehirngröße und Körpergewicht war beim etwa gleichalten Palaeomastodon ausgebildet. Dessen Gehirnvolumen betrug 740 cm³, das Körpergewicht lag bei 2,5 t und der Enzephalisationsquotient bei 0,3. Das Gehirnvolumen vergrößerte sich dann im Verlauf der Stammesgeschichte schrittweise, was offensichtlich parallel zur Körpergewichtszunahme stattfand. Dabei lässt sich aber ein gegenüber der Körpergröße schnelleres Gehirnwachstum feststellen, da sich auch der Enzephalisationsquotient erhöhte. Jedoch erfolgte dies nicht in allen Linien der Rüsseltiere im gleichen Tempo. Die Mammutidae, die eine relativ ursprüngliche Linie innerhalb der Rüsseltiere bilden, aber etwa zeitgleich mit den modernen Elefanten auftraten und erst im Pleistozän verschwanden, hatten ein verhältnismäßig kleines Gehirn. Zygolophodon besaß nur einen Enzephalisationsquotienten von 0,5, resultierend aus einem rund 5130 cm³ großen Gehirn und einem Körpergewicht von bis zu 16 t. Das Amerikanische Mastodon (Mammut americanum) als Endglied der Mammutiden-Entwicklung besaß dementsprechend Werte von 3860 bis 4630 cm³ für das Gehirnvolumen, 6,4 bis 8,0 t für das Körpergewicht und dementsprechend 0,30 bis 0,74 für den Enzephalisationsquotienten. Was die deutliche Volumenzunahme des Gehirns bei den Rüsseltieren verursachte, ist ungeklärt. Im Vergleich zu den frühesten Rüsseltieren aus dem Eozän und Oligozän zeigen alle moderneren Linien aus dem Miozän deutlich größere Gehirne, auch in Bezug auf das Körpergewicht. Die Zeitphase war in Afrika durch eine zunehmende Austrocknung aufgrund einer Klimaänderung charakterisiert. Zusätzlich entstand eine Landbrücke nach Eurasien, die einen Faunenaustausch ermöglichte und in dessen Folge die Rüsseltiere auch mit anderen größeren Pflanzenfressern in Konkurrenz traten. Haarkleid Die drei heute lebenden Elefantenarten besitzen nur ein spärliches Fellkleid. Längere und dichtere Haarbüschel sind lediglich am Kinn, an der Rüsselspitze und am Schwanzende ausgebildet. Die nahezu fehlende Haarbedeckung ist ein Resultat aus der enormen Körpergröße der Tiere, ihrer Verbreitung in tropisch-warmen Klimazonen und aus der sich daraus ergebenden Thermoregulation. Sie erfolgt in der Regel über die Haut, die Ohren und teilweise über eine fluktuierende Körpertemperatur. Ein dichtes Fell hingegen war beim Wollhaarmammut durch sein weit nördliches Vorkommen in arktischen und subarktischen Regionen notwendig und ist über zahlreiche mumifizierte Kadaver aus dem Permafrostgebiet belegt. Das Fell setzt sich aus einer dichten, krausen Unterwolle und langen Deckhaaren zusammen. Strukturell ähneln sich die Haare der heutigen Elefanten und des Wollhaarmammuts. Sie weisen eine konische, zum Ende hin spitzer werdende Form auf und zeichnen sich durch eine weitgehend fehlende Markröhre aus. Ihre Länge variiert von 10 bis 13 cm, ihre Farbgebung von gelblich-braun über dunkelbraun bis schwärzlich, wobei eine variierende Haarfarbe beim Wollhaarmammut auch genetisch feststellbar ist. Inwiefern stammesgeschichtlich ältere und mitunter deutlich kleinere Rüsseltiere über ein Fell verfügten, kann derzeit nicht mit Sicherheit gesagt werden, ein Großteil der bekannten Formen lebte unter tropischen Klimaverhältnissen. Für das Amerikanische Mastodon, das in den temperierten Nadel- und Mischwäldern Nordamerikas heimisch war, sind Fellreste überliefert, die offensichtlich ebenfalls aus dichtem Unter- und langem Deckhaar bestehen. Verbreitung Die heutigen Elefanten sind in den weitgehend tropisch geprägten Landschaften Afrikas südlich der Sahara und Süd-, Südost- und Ostasiens verbreitet. Ihr Lebensraum ist vielgestaltig und umfasst je nach Art dichte tropische Wälder, offene Savannen- und Buschgebiete sowie wüstenartige Regionen. Der Ursprung der Gruppe liegt höchstwahrscheinlich in Afrika, wo sie erstmals im Paläozän vor rund 60 Millionen Jahren nachweisbar ist. Zum damaligen Zeitpunkt bildete der Kontinent eine gemeinsame Landmasse mit der Arabischen Halbinsel, war aber noch nicht über Landbrücken mit anderen Erdteilen verbunden. Solche Landbrücken entstanden erst im Unteren Miozän vor mehr als 20 Millionen Jahren, als sich der nördlich gelegene Tethys-Ozean schloss und so eine Verbindung zum heutigen Eurasien entstand. Zu den ersten Auswanderern gehörten die Mammutidae und die Gomphotheriidae, die erstmals eurasischen Boden betraten. Einige Vertreter, wie zum Beispiel Zygolophodon oder Gomphotherium, erreichten über Nordasien auch den nordamerikanischen Kontinent, wo sich dann eigenständige Entwicklungslinien herausbildeten. Den ersten Auswanderern folgten die Deinotheriidae, allerdings verbreiteten sie sich nicht so weit, wie die Mammutidae und Gomphotheriidae, sondern blieben auf Eurasien beschränkt. Die erste Auswanderungswelle ging vor rund 20 bis 22 Millionen Jahren vonstatten. Das Auftreten der Rüsseltiere außerhalb Afrikas wird als Proboscidean datum event bezeichnet, wobei dieses ursprünglich als singulär angesehene Ereignis nach neueren Untersuchungen aus mindestens einem halben Dutzend einzelnen Phasen bestand. In Nordamerika sind Rüsseltiere seit dem Mittleren Miozän vor gut 16 Millionen Jahren belegt. Im Zuge der Bildung des Isthmus von Panama und der Entstehung einer geschlossenen amerikanischen Landmasse im Pliozän vor 3 Millionen Jahren kam es zum Großen Amerikanischen Faunenaustausch, in dessen Folge einige Vertreter der Gomphotheriidae auch Südamerika besiedelten. Die Rüsseltiere waren somit einst über einen Großteil der Alten und Neuen Welt verbreitet, lediglich den australischen und antarktischen Kontinent sowie die meisten weit vom Festland entfernten Inseln, wie Madagaskar und Neuguinea haben sie niemals erreicht. Dabei umfasste ihr Lebensraum nicht nur die tropisch geprägten Landschaftsräume wie bei den heutigen Vertretern, er erstreckte sich vor allem im Pleistozän weit nach Norden bis in den arktischen Bereich hinein. In der Regel nutzten die verschiedenen Rüsseltiere Tiefländer als Habitate, einige Angehörige wie Cuvieronius hatten zusätzlich auch gebirgiges Hochland erschlossen. Einige küstennahe Inseln wurden ebenfalls erreicht, wo die Rüsseltiere dann typische Zwergformen ausbildeten. Noch bis ins späte Pleistozän waren die Rüsseltiere mit mehreren Familien über Amerika, Eurasien und Afrika verbreitet. Heute findet man sie nur noch mit einer Familie in Afrika und Südasien in Form der Elefanten. Lebensweise und Ökologie Sozialverhalten und Fortpflanzung Die Lebensweise der Elefanten ist relativ gut dokumentiert. Es besteht innerhalb der einzelnen Arten ein komplexes Sozialsystem. Die Basis bildet die Mutter-Jungtier-Gemeinschaft. Mehrere dieser kleinen Einheiten formen eine Familiengruppe oder Herde bestehend aus überwiegend miteinander verwandten Tieren. Darüber hinaus gibt es übergeordnete Zusammenschlüsse wie Familienverbände, Clans und ähnliches, die aber im Unterschied zur Herde häufig nur temporären Charakter tragen. Männliche Tiere hingegen sind weitgehend Einzelgänger oder sammeln sich in Junggesellenverbänden. Inwiefern sich eine derartige Gruppenbildung auf die ausgestorbenen Vertreter übertragen lässt, ist in vielen Fällen ungewiss und allenfalls für die Mitglieder der jüngsten Linien in Teilen dokumentiert. Dass zumindest eine gewisse Sozialstruktur bereits im Miozän vor rund 8 bis 9 Millionen Jahren ausgebildet war, zeigen Spurenfossilien aus der Baynunah-Formation in den Vereinigten Arabischen Emiraten. Hier finden sich wenigstens 13 Fährten von Rüsseltieren, die auf einer Breite von 20 bis 30 m über eine Distanz von 190 m parallel zueinander verlaufen. Aufgrund der Größe der einzelnen Trittsiegel und der Schrittlänge können mehrere größere und ein relativ kleines Individuum auseinandergehalten werden, die individuelle Größe der Verursacher liegt in der Variationsbreite der heutigen Elefanten. Die Spurengruppe wird von einer einzelnen Fährte eines extrem großen Tieres gekreuzt, die mit einer Länge von 260 m eine der längsten durchgehenden der Welt darstellt. Die zusammenhängenden parallelen Spuren repräsentieren wohl eine Herde bestehend aus Alt- und Jungtieren, die einzelne quer verlaufende kann demnach auf ein solitäres männliches Tier zurückgeführt werden. Da die Trittsiegel selbst keine weiteren anatomischen Details verraten und die Baynunah-Formation verschiedene Rüsseltiere wie Deinotherium und Stegotetrabelodon birgt, ist unklar, zu welcher Form sie gehören (zudem besteht die Möglichkeit, dass sie von verschiedenen Arten oder Gattungen herrühren). Ein ähnliches Bild vermitteln Trittsiegel aus Matalascañas in Spanien, die der Gattung Palaeoloxodon zugewiesen werden, mit einer Altersstellung im beginnenden Oberpleistozän aber deutlich jünger sind. Innerhalb der einzelnen Sozialstrukturen der Elefanten findet eine intensive Kommunikation auf verschiedenen Ebenen statt. Diese wird unter anderem durch optische Signale wie Körperhaltung und Gestik oder durch chemische Reize etwa aus dem Kot und Urin beziehungsweise über Sekretausscheidungen gesteuert. So dienen chemische Signale zur Unterscheidung von Familienmitgliedern und fremden Individuen. Hinzu kommt die taktile Kommunikation mittels des Rüssels. Eine herausragende Bedeutung hat aber die Lautkommunikation, die sehr vielfältig ist und in vielen Fällen den Infraschall nutzt. Hier kann vor allem das soziale Grollen hervorgehoben werden, das Frequenzen von 10 bis 200 Hz abdeckt und der gegenseitigen Kontaktaufnahme dient. Darüber hinaus sind Elefanten für ihre kognitiven Leistungen bekannt, die neben dem Langzeitgedächtnis auch das Erlernen artfremder Geräusche, Manipulation der Umwelt, soziales Einfühlungsvermögen bis hin zum Umgang mit verstorbenen Artgenossen und Selbstreflexion beinhalten. In der Regel lassen sich solche komplexen Verhaltensweisen bei Fossilformen nur schwer ermitteln. Der Bau des Innenohres kann aber zumindest Rückschlüsse auf die möglicherweise wahrgenommenen Frequenzen und damit die Lautkommunikation liefern. Heutige Elefanten besitzen eine Hörschnecke mit doppelter Windung, was kombiniert 670 bis 790 ° ergibt. Die Anzahl der Windungen wird häufig mit der Befähigung zur Wahrnehmung bestimmter Frequenzen in Verbindung gebracht. Außerdem fehlt an der Basiswindung die Lamina spiralis secundaria, wodurch die Basilarmembran recht weit ausgedehnt ist, was wiederum als eine Anpassung an das Hören im Infraschallbereich gilt. Für einige der frühesten Vertreter mit bekanntem Innenohr, etwa Eritherium, Phosphatherium und Numidotherium aus dem Paläozän beziehungsweise Eozän, lässt sich ein leicht anderer Bau rekonstruieren. Ihre Hörschnecke weist nur anderthalb Windungen auf und verfügt über eine entwickelte sekundäre Lamina. Daher gehen Wissenschaftler davon aus, dass die frühen Rüsseltiere wohl nur für höhere Frequenzen empfindlich waren. Möglicherweise schon mit den Mammutidae, spätestens aber mit dem Aufkommen der Verwandtschaft um die modernen Elefanten war das heute bekannte Innenohr ausgebildet. Die chemische Kommunikation hat des Weiteren eine hohe Bedeutung bei Fortpflanzung der Elefanten. Weibliche Tiere strömen Pheromonsignale aus, die den Status ihres Brunftzyklus angeben und vor allem Einfluss auf Bullen in der Musth haben. Die Musth tritt bei ausgewachsenen männlichen Tieren einmal jährlich auf. Hierbei handelt es sich um eine hormongesteuerte Phase, gekennzeichnet durch einen erheblichen Anstieg des Testosterons. Äußerlich wirkt sich die Musth durch einen starken Ausstoß von Duftsekreten aus der Temporaldrüse aus. Während der Musth sind Bullen stark aggressiv und es kommt zu Dominanzkämpfen um das Paarungsvorrecht, die mitunter tödlich oder in schweren Verletzungen enden können. Dass die Temporaldrüse als äußerer Marker der Musth und damit eines komplexen Fortpflanzungsverhaltens auch bei ausgestorbenen Formen vorkam, konnte durch Eismumien der Gattung Mammuthus belegt werden. Für andere Vertreter der Rüsseltiere ohne Weichteilüberlieferung ist dies nur bedingt ableitbar. Bei rezenten Elefanten speichert sich der variierende Testosteronspiegel, der während der Musth auftritt, in den Wachstumsringen der Stoßzähne ab. Der gleiche Prozess ist auch für die Gattung Mammuthus dokumentiert. Andere Indizien für die Musth finden sich bei einigen Skelettfunden der Gattung Mammut. Hier lassen sich Knochenbeschädigungen in Form von Rippenbrüchen und ähnlichem nachweisen, die teilweise den Tod des entsprechenden Individuums verursachten und vergleichbar mit Verletzungen bei heutigen Elefantenkämpfen sind. Die Tiere starben nach weiteren Analysen weitgehend im ausgehenden Frühjahr, also zu einer bestimmten Jahreszeit, so dass hier eventuell ein Hinweis auf die Ausprägung eines hormongesteuerten Sexualverhaltens bereits sehr früh im Rüsseltierstammbaum vorliegt. Das Auftreten der Musth wird auch für Notiomastodon als südamerikanischen Vertreter der Gomphotheriidae angenommen, wofür periodisch einsetzende Wachstumsanomalien am Stoßzahn eines männlichen Individuums sprechen, die jeweils im Frühsommer begannen. Die Stoßzähne weiblicher Individuen der Mammutidae zeigen wiederum längeranhaltende Wachstumsphasen, die aber etwa alle drei bis vier Jahre unterbrochen wurden. Dies stimmt mit dem Geburtenintervall bei den Kühen der heutigen Elefanten überein, die alle 4 bis 8 Jahre ein Kalb zur Welt bringen. Die phasenweise aufkommende Unterbrechung des Wachstumsschubs an den Stoßzähnen von Mammut wird mit höheren Investitionskosten bei der Aufzucht des Nachwuchses beispielsweise durch die Produktion der Muttermilch erklärt, wodurch wichtige Mineralien zur Stoßzahnbildung nicht zur Verfügung standen. Das erste Einsetzen der Wachstumsanomalien nach rund zehn Jahren korrespondiert zur Geschlechtsreife junger weiblicher und männlicher Elefanten. Wiederum Isotopenanalysen an Stoßzähnen ausgewachsener männlicher Tiere der Gattung Mammut lassen eine Bevorzugung bestimmter Fortpflanzungsareale vermuten, was mit längeranhaltenden Wanderungen verbunden war. Da dies auch bei den heutigen Elefanten anzutreffen ist, handelt es sich auch hierbei wohl um eine schon in einem sehr ursprünglichen Stadium der Evolution der Rüsseltiere erworbene Eigenschaft. Ernährung Allgemein sind Rüsseltiere auf pflanzliche Kost spezialisiert. Die variable Gestaltung der Backenzähne ermöglichte den verschiedenen Vertretern die Erschließung zahlreicher pflanzlicher Nahrungsquellen. Die heutigen Elefanten mit ihren lamellodonten Zähnen ernähren sich sowohl von weichen Pflanzenbestandteilen wie Blätter, Zweige, Früchte oder Rinde als auch von harter Pflanzenkost wie Gräser. Der jeweilige Anteil der einzelnen Komponenten variiert mit der Jahreszeit. Dabei nimmt hauptsächlich während der Regenzeit der Grasanteil erheblich zu. Eine wahrscheinlich noch stärkere gras- und krautbasierte Ernährungsweise zeigten die Mammute, vor allem das Wollhaarmammut, das in den arktischen Steppenlandschaften lebte. Hinweise darauf liefern nicht nur die Zähne mit ihrer extrem hohen Lamellenanzahl, sondern auch die Mageninhalte und Kotreste einiger gut überlieferter Eismumien Sibiriens. Die auf Gräser spezialisierte Lebensweise ist eine relativ moderne Entwicklung innerhalb der Stammesgeschichte der Rüsseltiere und geht mit der Austrocknung des Klimas und der dadurch bedingten Ausbreitung offener Steppen- und Savannenlandschaften im Miozän einher. In diesem Zusammenhang steht nicht nur die zunehmende Anzahl der Lamellen an den Elefantenmolaren, sondern auch die markante Erhöhung der Zahnkronen, die es ermöglichten dem starken Abrieb beim Kauen der Gräser zu widerstehen. Phylogenetisch ältere Rüsseltierlinien ernährten sich zumeist von weicherer Pflanzenkost, was unter anderem aus den Kauoberflächen der Molaren hergeleitet werden kann. Hier sprechen die bunodonten Zahnmuster für eine weitgehend generalisierte Pflanzenkost, zygodonte und lophodonte Zähne verweisen eher auf Laubfresser. Zudem können die niedrigen Zahnkronen als Indiz auf eine derartige Präferenz gewertet werden. Des Weiteren helfen neben fossilisierten Nahrungsresten auch Isotopenanalysen und charakteristische Abrasionsspuren an den Zähnen bei der Klärung der Ernährungsweise ausgestorbener Formen. Die anhand des zygodonten Zahnmusters der Mammutidae vermutete Bevorzugung von Blättern und Zweigen wird durch verschiedene Dung- und Darminhalte von Mammut bestätigt. In diesen dominieren Baum- und Strauchreste sowie solche von Wasserpflanzen, untergeordnet sind aber auch Gräser enthalten. Ein vergleichbares Ergebnis lieferten Isotopenuntersuchungen. Als bevorzugte Lebensräume dienten vor allem Nadel-Mischwälder. Die ursprünglichsten Vertreter der Rüsseltiere wie Barytherium und Moeritherium lebten dagegen vorwiegend in sumpf- oder wasserreichen Gegenden und fraßen überwiegend Wasserpflanzen, was ebenfalls anhand von Isotopenanalysen ermittelt wurde. Bereits vor den Elephantidae nutzten einige Formen der Gomphotheriidae die sich ausbreitenden Offenlandschaften. Ihre Ernährung blieb aber weitgehend gemischt, wie dies auch ihr bunodonter Zahnbau verrät. Allerdings gingen offensichtlich einzelne Angehörige der Rüsseltierlinie zu einer stärker grasbasierten Ernährung über und nahmen hier die Entwicklung der Elefanten vorweg, ohne dabei aber deren zahnanatomische Anpassungen auszuprägen. Im Vergleich zu den trilophodonten Gomphotherien und einigen stammesgeschichtlich jüngeren tetralophodonten Formen wie Anancus besaßen innerhalb der modernen Elefanten bereits die frühen Vertreter von Loxodonta und Mammuthus eine deutlich flexiblere Nahrungsaufnahme. Ermittelt wurde dies über Analysen zu den Isotopenverhältnissen an Zähnen aus der Fundstelle Langebaanweg im südwestlichen Afrika. Möglicherweise sicherte diese Anpassungsfähigkeit das Überleben der Gattungen bis in das ausgehende Pleistozän und darüber hinaus. Zu einem ähnlichen Ergebnis kam eine Studie zur Ernährungsweise des eher waldbewohnenden Stegodon im Vergleich zu den offeneren Landschaften nutzenden frühen Vertretern von Elephas in Ostasien. Ökologische Einflüsse Die Rüsseltiere haben einen großen Einfluss auf ihr unmittelbares Biotop. Durch das Entrinden von Bäumen, Fressen von Blättern, Abknicken von Zweigen und Ästen, das Herausreißen von Büschen und kleinen Bäumen oder das Spalten größerer wirken beispielsweise die heutigen Elefanten stark auf die Landschaft ein. Sie können dadurch geschlossene Gebiete öffnen, Waldränder zurückdrängen oder offene Landschaften frei halten. Eine große Bedeutung hat dies für die Savannen Ost- und Südafrikas. Zudem transportieren die Tiere Samen über nennenswerte Strecken und tragen so zur Verbreitung von Pflanzen bei. Aber auch im kleineren Maßstab wirken Elefanten, indem in ihren Trittsiegel oder in ihrem Kot eng begrenzte Lebens- und Entwicklungsräume für andere Lebewesen entstehen. Aus diesem Grund gelten Elefanten als ecosystem engineers. Eine ähnliche Funktion kann auch für ausgestorbene Formen wie den Mammuten der Mammutsteppe angenommen werden. Möglicherweise trat dieses Verhalten aber schon sehr früh im Rüsseltier-Stammbaum auf, das bis in das frühe Miozän oder gar Oligozän zurückreicht. Zu diesem Zeitpunkt erschienen unter anderem mit den Deinotheriidae die ersten größeren Rüsseltiere mit sehr großen Stoßzähnen, deren überlieferten Abnutzungsspuren und Beschädigungen auf das großflächige Abschaben von Rinde oder auf ein Spalten von Bäumen schließen lassen. Systematik Äußere Systematik Die Rüsseltiere sind eine Ordnung innerhalb der Überordnung der Afrotheria, welche wiederum eine der vier Hauptlinien der Höheren Säugetieren darstellen. Den Afrotheria werden verschiedene Gruppen zugewiesen, deren Ursprungsgebiet mehr oder weniger auf dem afrikanischen Kontinent liegt oder die zu dessen ursprünglichen Bewohnern zählen. Ihre Zusammengehörigkeit beruht dabei weniger auf anatomischen Gemeinsamkeiten, sondern mehrheitlich auf Ergebnissen molekulargenetischer Untersuchungen. Es lassen sich innerhalb der Afrotheria zwei Großgruppen unterscheiden: die Paenungulata und die Afroinsectiphilia. Zu letzteren zählen die Rüsselspringer und die Tenrekartigen, manchmal wird ihnen auch das Erdferkel zugeordnet. Die Paenungulata demgegenüber schließen die Rüsseltiere, die Seekühe und die Schliefer ein. Im Gegensatz zu den Afrotheria als gesamte Gruppe findet die engere Verwandtschaft von Elefanten, Sirenen und Schliefern sowohl genetisch als auch morphologisch-anatomisch Unterstützung. Jedoch sind die genaueren Beziehungen der drei Gruppen zueinander in Diskussion. Einerseits fungieren die Schliefer als die Schwestergruppe der beiden anderen Linien. In diesem Fall werden die Elefanten und Seekühe in die gemeinsame Übergruppe der Tethytheria eingegliedert. In einer weiteren Auffassung stehen die Schliefer und Elefanten in einem Schwestergruppenverhältnis, während die Seekühe die Position der Außengruppe einnehmen. Als dritte Konstellation kommt eine engere Bindung der Schliefer an die Seekühe in Betracht mit den Elefanten als Schwestertaxon zu beiden. Der Ursprung der Afrotheria liegt den molekulargenetischen Untersuchungen zufolge in der Oberkreide vor 90,4 bis 80,9 Millionen Jahren. Gut 15 Millionen Jahre später trennten sich die Paenungulata und die Afroinsectiphilia voneinander ab. Die Rüsseltiere differenzierten sich nur wenig später heraus. Die gewonnenen genetischen Daten decken sich relativ gut mit dem Fossilbericht, wonach die ältesten Vertreter der Rüsseltiere bereits im Paläozän vor mehr als 60 Millionen Jahren nachweisbar sind. Innere Systematik Die Rüsseltiere stellen eine relativ formenreiche Gruppe innerhalb der Afrotheria dar. Es sind heute rund 160 Arten bekannt, davon mehr als 130 aus Afrika, Asien und Europa, die sich auf über 50 Gattungen verteilen. Diese können wiederum rund einem Dutzend unterschiedlicher Familien zugewiesen werden. Der weitaus größte Teil der bekannten Formen ist ausgestorben und nur über Fossilfunde bekannt. Von diesen wurden einige erst nach dem Jahr 2000 entdeckt, darunter auch bedeutende frühe Formen wie Eritherium oder Daouitherium. Neben den Elefanten (Elephantidae) als einzige heute noch fortbestehende Familie mit den drei heutigen Arten stellen die Stegodontidae, die Gomphotheriidae, die Mammutidae und die Deinotheriidae die bekanntesten Familienvertreter dar. Bis auf letztgenannte handelt es sich weitgehend um recht moderne Entwicklungslinien der Rüsseltiere, die teilweise noch bis in das ausgehende Pleistozän überlebt hatten. Sehr urtümliche Angehörige der Ordnung werden hingegen in die Phosphatheriidae, die Numidotheriidae, die Moeritheriidae oder in die Barytheriidae eingegliedert. Es gibt verschiedene Ansätze, die Familien der Rüsseltiere auf höherer systematischer Ebene zu ordnen, als Grundlage wird vielfach die Morphologie der Backenzähne herangezogen. Diese Einteilung in einzelne Großgruppen ist allerdings nicht ganz eindeutig, was hauptsächlich für die frühen Vertreter gilt. Relativ unumstritten sind die Elephantiformes. Diese definieren sich anhand des Zahnaufbaus der ersten beiden Molaren, welche drei, vier oder mehr querstehende Leisten aufweisen (tri-, tetra-, pentalophodonte Zähne). Einige Autoren wie Jeheskel Shoshani trennen von diesen die urtümlicheren Plesielephantiformes ab, die sich durch nur zwei Leisten auf den ersten beiden Dauermolaren auszeichnen (bilophodonte Zähne). Beide Gruppen können als Unterordnungen aufgefasst werden. Dabei ist die Stellung der Deinotheriidae innerhalb der Plesielephantiformes problematisch, da ihr zweiter Molar zwar einen bilophodonten Aufbau hat, ihr erster dem gegenüber jedoch trilophodont ist. Ersteres stellt hier möglicherweise kein ursprüngliches, sondern ein abgeleitetes Merkmal dar. Aus diesem Grund werden die Plesielephantiformes von einigen Wissenschaftlern als paraphyletisch eingestuft. Andere Autoren wie Emmanuel Gheerbrant unterscheiden die frühen Rüsseltiere nach der Kauflächenstruktur der Molaren. Sie trennen eine lophodonte Gruppe von einer bunodonten Gruppe ab. Zu ersterer zählen Formen wie Barytherium, Numidotherium, Phosphatherium oder Daouitherium, zu letzterer solche wie Moeritherium und Saloumia. Arcanotherium wiederum vermittelt durch die eher bunolophodonten Zähne zwischen beiden Formenkreisen. Nach ihrer Charakterform Barytherium wird die lophodonte Gruppe auch als „barytherioide Gruppe“ bezeichnet. Allerdings scheint auch dies keine natürliche Gemeinschaft zu sein. Die frühesten Elephantiformes traten mit Dagbatitherium bereits im Mittleren Eozän des westlichen Afrikas auf. Innerhalb dieser bilden die Elephantimorpha eine Teilordnung, in welcher alle Rüsseltiere vereinigt sind, die über das Merkmal des horizontalen Zahnwechsels verfügen. Sie schließt somit die Mammutidae, Gomphotheriidae, Stegodontidae und Elephantidae ein, während andere Gruppen wie die Palaeomastodontidae und Phiomiidae außerhalb stehen. Den Übergang bildet wohl die Gattung Eritreum aus dem Oberen Oligozän des nordöstlichen Afrikas, bei der dieser besondere Zahnaustausch stammesgeschichtlich erstmals belegt ist. Bei den stammesgeschichtlich jüngeren Formen bestehen gegenwärtig einzelne Schwierigkeiten. So sind die Gomphotheriidae als Gesamtgruppe (Überfamilie der Gomphotherioidea) höchstwahrscheinlich paraphyletisch, da sie aus phylogenetischer Sicht auch die Stegodontidae und die Elefanten als jüngste Entwicklungslinien beinhalten. Um die Elephantidae, Stegodontidae und Gomphotheriidae als monophyletische Gruppe zu vereinen, führten Jeheskel Shoshani und Pascal Tassy im Jahr 1998 die Elephantida als übergeordnetes Taxon ein mit den Gomphotherioidea und Elephantoidea als Mitglieder. Gleichzeitig wurden einige tetralophodonte Gomphotherien (Anancus, Tetralophodon und andere) aus den Gomphotherioidea ausgegliedert und den Elephantoidea zugewiesen. Den Elephantida stehen die Mammutida gegenüber, in denen aber lediglich die Familie der Mammutidae geführt wird. Die hier vorgestellte systematische Gliederung fußt weitgehend auf den Ausarbeitungen von Jeheskel Shoshani und Pascal Tassy, die beide Autoren im Jahr 2005 vorstellten, aber auf langjährigen Untersuchungen beruhen. Während die Gliederung der ältesten Rüsseltiere allgemein problematisch erscheint, unterteilen einige andere Autoren wie unter anderem Malcolm C. McKenna und Susan K. Bell 1997 die jüngeren Entwicklungslinien der Elephantimorpha lediglich in die Mammutoidea und die Elephantoidea, letztere schließen dann die Gomphotherien, Stegodonten und Elefanten jeweils auf Familienebene ein. Ein weiteres Modell wurde im Jahr 2010 von William J. Sanders präsentiert, der hier – allerdings bezogen nur auf afrikanische Rüsseltiere – einzig die Elephantoidea herausstellt, welche neben den bereits genannten Gruppen auch die Mammutiden enthalten. Zunehmend gewinnen molekulargenetische und biochemische Methoden Bedeutung bei der systematischen Gliederung der Rüsseltiere. Bereits Ende des 20. Jahrhunderts ließ sich die anatomisch begründete enge Bindung zwischen den rezenten Elefanten und den ausgestorbenen Mammuten auch genetisch belegen, allerdings mit dem vorläufigen Ergebnis einer näheren Verwandtschaft von Mammuthus zu Loxodonta, der Gruppe der Afrikanischen Elefanten. In späteren und vielfach wiederholten Analysen verschob sich das Verhältnis dann hin zu einer engeren Beziehung zwischen den Mammuten und der Gattung Elephas, welche den Asiatischen Elefanten einschließt. Diesen vertiefenden Studien zufolge diversifizierten sich die Elefanten als jüngstes Glied der Rüsseltierentwicklung im ausgehenden Miozän. Dabei spalteten sich zuerst Loxodonta und Elephas vor gut 7,6 Millionen Jahren voneinander ab, die Trennung von letzterem und Mammuthus vollzog sich vor etwa 6,7 Millionen Jahren. Später wurden noch andere Vertreter der Elefanten wie Palaeoloxodon mit einbezogen. Dadurch eröffnete sich eine komplexe Frühgeschichte der Elefanten, die wahrscheinlich zahlreiche Hybridisierungsereignisse während der initialen Aufspaltung beinhaltete. Allerdings kam es auch in stammesgeschichtlich jüngerer Zeit häufig zur Vermischung, wie dies einzelne genetische Studien an nordamerikanischen Mammuten darlegen. Ebenfalls schon Ende des 20. Jahrhunderts konnte das Erbgut der im Vergleich zu den Elefanten wesentlich urtümlicheren Rüsseltiergattung Mammut sequenziert werden. Dieses erste Ergebnis und auch nachfolgende Untersuchungen bestätigten die zuvor durch Fossilfunde ermittelte lange eigenständige Entwicklung der Mammutida und der Elephantida als Großgruppen der Elephantimorpha. Die Abspaltung von Mammut von der Linie, die zu den heutigen Elefanten führte, reicht bis in das ausgehende Oligozän vor rund 26 Millionen Jahren zurück. Die Daten fanden auch mit Kollagenanalysen Unterstützung. Eine im Jahr 2019 veröffentlichte Studie gewährte erstmals Einblick in die biochemischen Verwandtschaftsverhältnisse von Notiomastodon als einem südamerikanischen Repräsentanten der Gomphotheriidae. Entgegen der oftmals postulierten näheren Stellung der Gomphotherien und Elefanten ergab sich hier jedoch eine engere Beziehung zu den Mammutidae. Abweichend davon sehen genetische Analysen aus dem Jahr 2021 Notiomastodon wiederum in einem Schwestergruppenverhältnis zu den Elefanten. Überblick über die Familien und Gattungen der Rüsseltiere Die Gliederung basiert auf den Bearbeitungen von Shoshani und Tassy aus dem Jahr 2005 und einzelne, teils darauf aufbauende jüngere Darstellungen. Berücksichtigung finden hierbei sowohl in der Folgezeit neu eingeführte Gattungen und höhere taxonomische Gruppen, als auch weitere systematische Arbeiten. Vor allem die Gomphotheriidae, und hier insbesondere der amerikanische Strang, wurden mehrfach revidiert. Stärkere Aufmerksamkeit erhielten dabei die südamerikanischen Vertreter. Ordnung: Proboscidea Illiger, 1811 Plesielephantiformes Shoshani, 2001 Eritherium Gheerbrant, 2009 Daouitherium Gheerbrant, Sudre, Cappetta, Iarochène, Amaghzaz & Bouya, 2002 Saloumia Tabuce, Sarr, Adnet, Lebrun, Lihoreau, Martin, Sambou, Thiam & Hautier, 2020 Familie: Phosphatheriidae Gheerbrant, Sudre & Tassy, 2005 Phosphatherium Gheerbrant, Sudre & Cappetta, 1996 Überfamilie: Barytherioidea Andrews, 1906 Familie: Numidotheriidae Shoshani & Tassy, 1992 Numidotherium Mahboubi, Ameur, Crochet & Jaeger, 1986 Familie: Barytheriidae Andrews, 1906 Barytherium Andrews, 1901 Arcanotherium Delmer, 2009 Omanitherium Seiffert, Nasir, Al-Harthy, Groenke, Kraatz, Stevens & Al-Savigh, 2012 Überfamilie: Deinotherioidea Bonaparte, 1845 Familie: Deinotheriidae Bonaparte, 1841 Unterfamilie: Chilgatheriinae Sanders. Kappelmann & Rasmussen, 2004 Chilgatherium Sanders, Kappelman & Rasmussen, 2004 Unterfamilie: Deinotheriinae Sanders, Kappelman & Rasmussen, 2004 Deinotherium (+ Prodeinoterium) Kaup, 1829 Überfamilie: Moeritherioidea Andrews, 1906 Familie: Moeritheriidae Andrews, 1906 Moeritherium Andrews, 1901 Elephantiformes Tassy, 1988 Hemimastodon Pilgrim, 1912 Dagbatitherium Hautier, Tabuce, Mourlam, Kassegne, Amoudji, Orliac, Quillévéré, Charruault, Johnson & Guinot, 2021 Familie: Palaeomastodontidae Andrews, 1906 Palaeomastodon Andrews, 1901 Phiomia Andrews & Beadnell, 1902 Elephantimorpha Tassy & Shoshani, 1997 Mammutida Tassy & Shoshani, 1997 Überfamilie: Mammutoidea Hay, 1922 Familie: Mammutidae Hay, 1922 Losodokodon Rasmussen & Gutiérrez, 2009 Eozygodon Tassy & Pickford, 1983 Miomastodon Osborn, 1922 Zygolophodon Vacek, 1877 Sinomammut Mothé, Avilla, Zhao, Xie & Sun, 2016 Mammut Blumenbach, 1799 Elephantida Tassy & Shoshani, 1997 Überfamilie: Gomphotherioidea Hay, 1922 Familie: Gomphotheriidae Hay, 1922 Eritreum Shoshani, Walter, Abraha, Berhe, Tassy, Sanders, Marchant, Libsekal, Ghirmai & Zinner, 2006 Pediolophodon Lambert, 2007 Unterfamilie: Choerolophodontinae Gaziry, 1976 Choerolophodon Schlesinger, 1917 Afrochoerodon Pickford, 2001 Unterfamilie: Amebelodontinae Barbour, 1927 Progomphotherium Pickford, 2003 Archaeobelodon Tassy, 1984 Afromastodon Pickford, 2003 Protanancus Arambourg, 1945 Serbelodon Frick, 1933 Amebelodon Barbour, 1927 Konobelodon Lambert, 1990 Torynobelodon Barbour, 1929 Eurybelodon Lambert, 2016 Platybelodon Borissiak, 1928 Aphanobelodon Wang, Deng, Ye, He & Chen, 2017 Unterfamilie: Gomphotheriinae Hay, 1922 Gomphotherium Burmeister, 1837 Serridentinus Osborn, 1923 Unterfamilie: Rhynchotheriinae Hay, 1922 Eubelodon Barbour, 1912 Rhynchotherium Falconer, 1868 Stegomastodon Pohlig, 1912 Cuvieronius Osborn, 1923 Notiomastodon (+ Amahuacatherium, Haplomastodon) Cabrera, 1929 Gnathabelodon Barbour & Sternberg, 1935 Blancotherium May, 2019 Unterfamilie: Sinomastodontinae Wang, Jin, Deng, Wei & Yan, 2012 Sinomastodon Tobien, Chen & Li, 1986 Überfamilie: Elephantoidea Gray, 1821 Tetralophodon (+ Morrillia) Falconer; 1857 Anancus Aymard, 1855 Paratetralophodon Tassy, 1983 Familie: Stegodontidae Osborn, 1918 Stegolophodon Pohlig, 1888 Stegodon Falconer, 1847 Selenotherium Mackaye, Brunet & Tassy, 2005 Familie: Elephantidae Gray, 1821 Unterfamilie Stegotetrabelodontinae Aguirre, 1969 Stegotetrabelodon Petrocchi, 1941 Stegodibelodon Coppens, 1972 Unterfamilie Elephantinae Gray, 1821 Primelephas Maglio, 1970 Loxodonta Anonymous, 1827 Stegoloxodon Kretzoi, 1950 Palaeoloxodon Matsumoto, 1924 Elephas Linnaeus, 1758 Mammuthus Brookes, 1828 Die Stellung von Khamsaconus innerhalb der Rüsseltiere ist nicht eindeutig. Bekannt über einen Milchprämolaren aus dem Unteren Eozän des Ouarzazate-Becken in Marokko, wurde der Fund ursprünglich von Jean Sudre und Kollegen 1993 zu den Louisinidae geordnet, eine wohl mit den Rüsselspringern näher verwandte Gruppe. Der Verweis zu den Rüsseltieren stammt hauptsächlich von Emmanuel Gheerbrant, was teilweise andere Autoren übernahmen. Später wurde auch eine Beziehung zu den Schliefern in Betracht gezogen. Stammesgeschichte Ursprünge und Evolutionstrends Die Rüsseltiere sind eine relativ alte Ordnung der Säugetiere, erste Vertreter traten bereits im Paläozän vor mehr als 60 Millionen Jahren auf. Der Ursprung der Gruppe ist nicht vollständig geklärt. Es bestehen aber einzelne Übereinstimmungen mit einigen „Condylarthra“-artigen Huftieren des frühen Paläogens Afrikas. Zu nennen wäre hier Ocepeia aus dem Ouled-Abdoun-Becken in Marokko, das unter anderem den vergrößerten zweiten und den reduzierten dritten oberen Schneidezahn mit den Rüsseltieren teilt, ebenso die luftgefüllten Schädelknochen wie auch den bilophodonten Aufbau der Mahlzähne. Letzteres gilt zusätzlich für Abdounodus aus der gleichen Fundregion. Strukturelle Unterschiede in der Höckerausbildung stellt beide Formen jedoch nicht in die direkte Vorfahrenlinie der Rüsseltiere, sondern in den eher entfernten Verwandtenkreis. Hier zeigen auch weitergehende Schädelanalysen, etwa am Innenohr, dass die frühen Vertreter der Paenungulata sich phänomorphologisch stark ähnelten und eine größere Differenzierung erst später stattfand. Im Eozän des heutigen Süd- und Südostasien waren die Anthracobunidae verbreitet, die über den Zahn- und Fußaufbau einige Ähnlichkeiten zu den Rüsseltieren zeigen. Abweichend von den meisten Rüsseltieren kam allerdings noch ein vorderster Prämolar vor. Teilweise wurden die Anthracobunidae innerhalb der Rüsseltiere geführt, heute stufen sie zahlreiche Forscher als Stammformen der Tethytheria ein. Einer anderen Auffassung zufolge stehen die Anthracobunidae aber eher den Unpaarhufern näher. Ihre Vielgestaltigkeit, der reiche Fossilbeleg und die weite räumliche und zeitliche Verbreitung verleihen den Rüsseltieren eine hohe Bedeutung für die Biostratigraphie. Die stammesgeschichtliche Entwicklung kann grob in drei Stufen eingeteilt werden, verbunden mit einer jeweiligen Auffächerung in zahlreiche Gattungen und Arten sowie Anpassung an unterschiedliche ökologische Nischen (adaptive Radiation). Generelle Trends in der Evolution der Rüsseltiere sind eine markante Größenzunahme – die ältesten Formen waren weniger als einen Meter groß, während spätere Formen bis zu mehr als 4 m Schulterhöhe erreichten –, Vergrößerung des Schädels, vor allem des Schädeldaches als Ansatzstelle für eine mächtige Nacken- und Kaumuskulatur, verbunden mit der Verkürzung des Kieferbereiches, Verkürzung des Halsbereiches, Ausbildung eines Rüssels, Hypertrophie der jeweils zweiten beziehungsweise ersten Schneidezähne mit Ausbildung großer Stoßzähne ebenso wie die Tendenz zur Ausformung großer Molaren bei gleichzeitigem Verlust der vorderen Prämolaren und weitgehend auch des vorderen Gebisses sowie die Änderung des Zahnaustausches vom für Säugetiere typischen vertikalen hin zum horizontalen Wechsel. Weiterhin bedeutend ist, dass frühere Rüsseltiere eher Blattfresser (browser) waren, während die späteren Formen stärker auf Grasnahrung (grazer) spezialisiert waren. Erste Radiation Die erste Radiation erfolgte vor 61 bis etwa 24 Millionen Jahren und fand nahezu vollständig in Afrika und auf der Arabischen Halbinsel statt, die damals mit dem Kontinent verbunden war. Alle bisher bekannten Formen sind aus Nordafrika (einschließlich der Arabischen Halbinsel) und untergeordnet auch aus Westafrika und Ostafrika belegt. Die Vertreter dieser urtümlichsten Rüsseltiere hatten noch deutlich bunodont aufgebaute Zähne mit zwei Querleisten auf den ersten beiden und maximal vier auf dem dritten Molaren, die jeweils einen hohen Zahnschmelzhöcker an den Enden aufwiesen. Einige Formen besaßen auch noch einen Eckzahn je Kieferast. Charakteristisch ist der hier noch vorkommende vertikale Zahnwechsel, so dass alle Zähne gleichzeitig in Gebrauch waren. Als ältestes Rüsseltier gilt derzeit Eritherium, das 2009 anhand einzelner Schädelfragmente erstmals beschrieben wurde. Es war ein nur 3 bis 8 kg schweres Tier, das im nördlichen Afrika lebte, wo es im Ouled-Abdoun-Becken von Marokko nachgewiesen ist. Charakteristisch für diesen Vertreter sind die schwach ausgebildeten Leisten auf dem Kauflächen der somit bunodonten Molaren, allerdings deutet sich auf dem letzten Molar bereits eine dritte Leiste an. Von Phosphatherium wurden seit 1996 mehrere Gebissreste gleichfalls im Ouled-Abdoun-Becken ausgegraben. Es lebte vor etwa 55 Millionen Jahren und war kaum größer als ein Fuchs. Rein äußerlich hatten die Tiere wenig mit späteren Rüsseltieren gemeinsam, ihr Zahnbau, der dem von Eritherium ähnelte aber stärker ausgebildete Leisten zwischen den Zahnhöckern besitzt und so eine Tendenz zur Lophodontie aufweist, spricht für eine enge Verwandtschaft. Eine noch stärkere Tendenz zu lophodonten Zahnformen zeigen unter anderem Numidotherium und Daouitherium, welche etwa gleich alt sind. Ersteres wurde mit zahlreichen Schädel- und Körperskelettteilen in El-Kohol in Algerien, letzteres wiederum über einen Unterkiefer im Ouled-Abdoun-Becken dokumentiert. Moeritherium aus dem Eozän Nordafrikas war ein weiteres frühes Mitglied der Rüsseltiere. Es war etwa so groß wie ein Tapir und besaß einen schweineähnlichen Kopf mit einer verlängerten Nasen-Oberlippe sowie leicht verlängerten Schneidezähnen im Ober- und Unterkiefer. Neben Elefantenmerkmalen trägt der Schädel auch gemeinsame Kennzeichen mit dem der Seekühe. Des Weiteren zeichnet sich die Gattung durch einen sehr langen Körper aus. Mit Barytherium fand die erste enorme Körpergrößenzunahme innerhalb der Rüsseltier-Linie statt. Die Tiere erreichten eine Schulterhöhe von 2,5 bis 3 m und besaßen insgesamt acht kurze Stoßzähne, je zwei pro Kieferast. Beide Formen sind in nennenswerter Fundanzahl aus der Fundregion des Fayyum in Ägypten dokumentiert, die dortigen Fossilreste datieren in den Übergang vom Oberen Eozän zum Unteren Oligozän. Mit Moeritherium nahe verwandt ist Saloumia, von dem aber bisher nur ein Backenzahn aus dem Senegal vorliegt. Aufgrund der zahlreichen beschriebenen Formen des Paläozäns und des Eozäns können die Rüsseltiere eine der vollständigsten Fossilsequenzen aus der Frühgeschichte einer Ordnung der Höheren Säugetiere vorweisen. Ebenfalls in die erste Radiationsphase gehören die Deinotheriidae, die erstmals im Verlauf des Oligozän erschienen und eine frühe Abspaltung darstellen. Charakteristisch für diese Rüsseltiergruppe sind die Stoßzähne, die nur im Unterkiefer vorkommen und abwärts biegen. Sie dienten als Werkzeuge zum Abschaben von Baumrinde. Der früheste Vertreter, Chilgatherium aus dem nordöstlichen Afrika, war noch relativ klein, bisher sind aber nur Zähne geborgen worden. Dagegen verfügt Deinotherium über einen reichhaltigen Fossilbeleg. Die Angehörigen der Gattung nahmen im Laufe ihrer Stammesgeschichte kontinuierlich an Größe zu und wuchsen so vor allem im Pliozän und Pleistozän teilweise auf über 4 m Schulterhöhe heran. Im Untere Miozän mit der Schließung der Tethys und der Entstehung einer Landbrücke nach Norden wanderten die Deinotheriidae auch in Eurasien ein. In Europa starben sie im Verlauf des Pliozäns, in Afrika im Unteren Pleistozän vor rund einer Million Jahren aus. Aufgrund ihres langen Bestands und weiten Verbreitung stellen die Deinotheriidae eine der ersten erfolgreichen Rüsseltiergruppen dar. Aus forschungsgeschichtlicher Sicht sind die Schädelfunde von Eppelsheim in Rheinland-Pfalz von Bedeutung, da hier Deinotherium erstmals 1829 wissenschaftlich beschrieben und später auch die Position der Stoßzähne korrekt erkannt wurden. Einige Autoren stellen die Zugehörigkeit der Deinotheriidae zu den Rüsseltieren aufgrund der Zahn- und Gebissmorphologie in Frage und möchten sie eher in näherer Verwandtschaft zu den Seekühen sehen, diese Auffassung wird aber nur wenig geteilt. Palaeomastodon und Phiomia waren weitere sehr frühe Rüsseltiergattungen aus dem Eozän und Oligozän Nordafrikas, vorrangig aus dem Fayyum. Sie gehören ebenfalls noch zu Vertretern der ersten Radiation, sind aber mit den späteren Rüsseltierarten schon deutlich näher verwandt als mit den früheren. Es bereitet derzeit noch Probleme, die frühen Formen mit diesen beiden Gattungen zu verbinden, da offensichtlich noch Zwischenglieder fehlen. Wahrscheinlich umfasst Phiomia die Schwesterlinie zu den späteren Gomphotherien (Gomphotheriidae), während Palaeomastodon jene der Mammutiden (Mammutidae) darstellt. Unterschiede zwischen beiden Vertretern finden sich im Zahnbau. So besitzt Phiomia jeweils drei Leisten auf den vorderen Molaren, Palaeomastodon hat hingegen nur auf den unteren drei, auf den oberen hingegen zwei. Die Mammutidae stellen die letzte und eine der wichtigsten Gruppen innerhalb der ersten Radiation dar. Ihre Entwicklungslinie begann laut molekulargenetischen Untersuchungen bereits vor wenigstens 26 Millionen Jahren. Die Molaren sind zygodont mit maximal vier Schmelzleisten auf dem letzten Zahn. Der spezielle Aufbau der Backenzähne kennzeichnet sie als weitgehende Blattfresser. Weiterhin waren diese Rüsseltiere durch zwei obere Stoßzähne charakterisiert, während ältere Formen ebenfalls zwei kleinere Stoßzähne im Unterkiefer hatten, die im Laufe der weiteren Evolution erst reduziert und später verloren gingen. Ihren Ursprung hat die Rüsseltiergruppe in Afrika. Die älteste Gattung findet sich hier mit Losodokodon aus dem Oberen Oligozän, die aber nur anhand einiger Backenzähne aus Kenia überliefert ist. Über einen häufigeren Nachweis verfügt Eozygodon, das ebenfalls weitgehend auf Afrika beschränkt blieb. Das bedeutendste Fundmaterial liegt mit einem fragmentierten Teilskelett von der untermiozänen Fundstelle der Meswa Bridge ebenfalls in Kenia vor, woher auch das Erstbeschreibungsmaterial stammt. Vereinzelten Hinweisen nach trat Eozygodon eventuell im Mittleren Miozän auch in Eurasien auf, wie der Unterkiefer eines nicht ausgewachsenen Tieres aus der Lengshuigou-Formation in der chinesischen Provinz Shaanxi vermuten lässt. Dagegen ist Zygolophodon ähnlich den Deinotheriidae seit dem Unteren Miozän auch aus Eurasien überliefert, während die bekannteste Gattung, Mammut, als einer der ersten Rüsseltiervertreter über Nordasien auch Nordamerika erreichte. Hier formte sich das Amerikanische Mastodon (Mammut americanum) heraus, das noch zeitgleich mit den Vertretern der späteren Gattung Mammuthus lebte und gegen Ende der letzten Kaltzeit im Oberen Pleistozän ausstarb. In Eurasien sind seit dem Oberen Miozän mehrere Arten von Mammut nachgewiesen. Die bekannteste dürfte Mammut borsoni sein, ein riesiges Tier, dessen nahezu gerade verlaufende Stoßzähne bis zu 5 m lang und damit die längsten unter den Rüsseltieren sind. Ein nahezu vollständiges Skelett ist unter anderem aus Milia in Griechenland dokumentiert. Die eurasische Linie von Mammut verschwand aber weitgehend im Pliozän und Unteren Pleistozän wieder. Der Gattungsname Mammut führt häufig zur Verwirrung, da dessen Vertreter mit den eigentlichen Mammuten, deren Gattungsname Mammuthus lautet, nicht näher verwandt sind. Zweite Radiation Die zweite Radiationsphase setzte im Miozän ein. Bei den Angehörigen dieser Gruppe ist erstmals der horizontale Zahnwechsel nachweisbar. Hervorzuheben ist aber, dass die Mammutidae zwar überwiegend in die erste Radiationsphase eingegliedert werden, die späteren Vertreter wie Mammut das Merkmal des horizontalen Zahnwechsels aber ebenfalls besitzen. Der neue Modus des Zahnaustausches resultiert in der Verkürzung der Kieferknochen und der zunehmenden Komplexität der Backenzähne. Diese beinhaltet, dass die Molaren unter anderem durch die Erhöhung der Leistananzahl auf bis zu sechs deutlich größer werden. Darüber hinaus entwickelt sich das bunodonte Grundmuster der Kaufläche weiter und es entstehen wiederum lophodonte und bedingt zygodonte Zähne. Möglicherweise an der Basis der zweiten Radiation steht Eritreum aus dem späten Oligozän Nordostafrikas. Der bisher aufgefundene Unterkieferrest vermittelt in seiner Zahnmorphologie noch zwischen Phiomia beziehungsweise Palaeomastodon und den späteren Rüsseltieren, weist aber schon den horizontalen Zahnwechsel auf. Die wichtigsten Gruppen der zweiten Radiationsphase sind die Gomphotheriidae und die Stegodontidae, zwei Rüsseltierfamilien, die ursprünglich zusammen mit den Mammutidae zur Überfamilie der „Mastodonten“ (Mastodontoidea) zusammengefasst wurden. Die „Mastodonten“ prägten aus forschungshistorischer Sicht die zweite Radiationsphase, der Begriff wird aber heute nur noch als Bestandteil eines Gattungsnamens oder umgangssprachlich für das Amerikanische Mastodon gebraucht. Als die bedeutendste Rüsseltierlinie der zweiten Radiationsphase können die Gomphotheriidae hervorgehoben werden. Auch diese ist zuerst in Afrika nachweisbar, die Angehörigen verbreiten sich aber spätestens ab dem Unteren Miozän vor gut 22 Millionen Jahren über Eurasien bis nach Nordamerika. Die Gomphotheriidae bilden eine der erfolgreichsten Gruppen innerhalb der Rüsseltiere, da sie sich im Zuge der Auskühlung des Klimas und der damit einhergehenden Ausbreitung offener Landschaften im Miozän in zahlreiche Untergruppen aufspalteten. So vereinen sie heute fast die Hälfte aller bekannten Taxa, die sich wiederum in mehrere Unterfamilien aufteilen lassen. Allgemein handelt es sich bei den Gomphotheriidae um Rüsseltiere mit vier Stoßzähnen, je zwei im Ober- und im Unterkiefer. Ein weiteres Merkmal sind ein weitgehend bunodonter, aber variantenreicher Zahnbau der Molaren, wobei die Milchzähne und die ersten beiden Dauermolaren drei Schmelzleisten besitzen – weswegen sie ursprünglich auch als trilophodonte Gomphotherien bezeichnet wurden –, während der letzte Backenzahn vier, fünf und mehr Rippen hat. Zur Unterteilung der Gomphotheriidae werden unter anderem die Stoßzähne herangezogen. So weisen die Gomphotheriinae in der oberen Zahnreihe zwei deutlich nach unten gerichtete Stoßzähne auf, während jene des Unterkiefers langgestreckt und abgeflacht sind. Ihre Angehörigen zählen zu den Basalformen der gesamten Familie. Die Charakterform Gomphotherium erreicht von Afrika kommend vor rund 20 Millionen Jahren weite Teile Eurasiens und setzt wenig später auch nach Nordamerika über. Als einer der bedeutendsten Funde gilt das Skelett von Gweng bei Mühldorf am Inn östlich von München, das ein nahezu vollständiges Individuum von rund 3 m Körperhöhe repräsentiert. Die auf Afrika und Eurasien beschränkten Choerolophodontinae wiederum haben dagegen kurze, in ihrer Länge deutlich reduzierte Unterkieferstoßzähne, während die Amebelodontinae wie Platybelodon aus Asien und Amebelodon aus Nordamerika mit stark verlängerten und verbreiterten, schaufelartig umgebildeten Unterkieferstoßzähnen ausgestattet sind. Die oberen Stoßzähne weisen bei den Amebelodontinae nur eine geringe Größe auf. Diese Entwicklung geht teilweise so weit, dass sich im Gegensatz zu den meisten Rüsseltieren die oberen Stoßzähne ganz verlieren, wie es etwa Aphanobelodon aus dem östlichen Asien zeigt. Die Rhynchotheriinae wiederum ähneln den Gomphotheriinae, haben aber seitlich abgeflachte Unterkieferstoßzähne. Sie bilden einen teilweise amerikanischen Zweig, der aus den ursprünglich Gomphotherium-artigen Formen hervorgeht, ein typischer Vertreter ist hier Stegomastodon. Im weiteren Verlauf und begünstigt durch den Großen Amerikanischen Faunenaustausch vor rund 3 Millionen Jahren besiedeln sie auch Südamerika, wo sich dann eigenständige Formen herausentwickeln. Die südamerikanischen Gomphotherien unterscheiden sich von ihren Verwandten in Eurasien und Nordamerika durch ihr vergleichsweise kurzes Rostrum und den höher aufgewölbten Schädel. Dadurch entstehen aus den einst langschnauzigen (longirostrinen) Gomphotherien kurzschnauzige (brevirostrine) Formen. Die Schädelumgestaltung entstand aus dem weitgehend vollständigen Verlust der unteren Stoßzähne. Die aus Südamerika bekannten Gattungen Notiomastodon und Cuvieronius werden daher manchmal auch in die eigene Unterfamilie der Cuvieroniinae eingeordnet. Eine vergleichbare Entwicklung durchlaufen die Sinomastodontinae in Ostasien. Einige der zu den Gomphotheriidae gezählten Arten überlebten bis ins späte Pleistozän. Aus den trilophodonten Gomphotherien entwickelten sich die tetralophodonten Formen heraus, welche auf den Milchzähnen und den vorderen Dauermolaren je vier Schmelzleisten besaßen. Bedeutend sind hier Tetralophodon und Anancus, die im Mittleren beziehungsweise im Oberen Miozän erstmals in Afrika und Eurasien in Erscheinung treten. Ihre etwas moderneren Schädelmerkmale rücken beide Gattungen in die nähere Verwandtschaft zu den Stegodontidae und Elephantidae und damit der Überfamilie der Elephantoidea. Beide Gattungen zeichnen sich durch stark reduzierte Unterkieferstoßzähne aus, die teils nur noch im Milchgebiss ausgeprägt sind. Für Anancus ist zudem die seitlich zueinander versetzte Leistenstruktur der Molaren charakteristisch. Vermutlich ist Anancus ein eurasischer Abkömmling von Tetralophodon, der später wieder nach Afrika einwanderte. Unabhängig von dieser altweltlichen Entwicklungslinie entstanden in Amerika offensichtlich auch Gomphotherien-artige Formen mit einer höheren Anzahl an Schmelzleisten wie das spätmiozäne Pediolophodon aus Nebraska, welches allerdings nur auf dem zweiten Mahlzahn vier Schmelzfalten aufweist, auf dem ersten dagegen drei. Die zweite große Gruppe innerhalb der zweiten Radiationsphase umfasst die Stegodontidae, die sich im Mittleren Miozän vor etwa 15 Millionen Jahren in Ost- beziehungsweise Südostasien aus Gomphotherien mit bunodonten Molaren entwickelten. Die älteste Form ist Stegolophodon. Aus dieser ging dann die spätere und dominante Gattung Stegodon hervor, die typische gerippte, aus bis zu neun Leisten bestehende und mitunter hochkronige Molaren besitzt. In der Regel haben die Stegodonten nur obere, eng stehende Stoßzähne, die unteren sind in den verkürzten Unterkiefern weitgehend reduziert oder nicht mehr ausgebildet. Die Rüsseltiergruppe war über einen Großteil Eurasiens verbreitet. Der Schwerpunkt findet sich aber im östlichen und südöstlichen Asien, hier entstanden auf einzelnen Inseln wie etwa auf Flores zudem verzwergte Formen. Im späten Miozän und frühen Pliozän tritt sie auch in Afrika auf, bleibt dort aber ein rares Faunenelement. Amerika erreichten die Stegodontidae hingegen nicht. Dritte Radiation Die dritte Radiationsphase begann im Oberen Miozän vor 7 Millionen Jahren und umfasst die Gruppe der Elefanten, die einzige Rüsseltierfamilie, die bis heute überlebt hat. Typisch für die Tiere sind deutlich verkürzte und stark aufgewölbte Schädel. Die Molaren zeigen sich auffallend verlängert und sind lamellenartig aufgebaut mit einer zwischen acht und 30 variierenden Lamellenzahl. Dabei sind die Lamellen flach ausgebildet und nicht mehr so prominent erhöht wie bei den vorhergehenden Rüsseltiergruppen. Im Laufe der Radiationsphase erhöht sich nicht nur die Zahnkrone beständig, auch nimmt die Lamellenanzahl zu, während sich die Zahnschmelzdicke je Lamelle reduziert. Es handelt sich hierbei um typische Anpassungen an eine zunehmend von Gräsern dominierte Ernährungsweise. Auch sind die unteren Stoßzähne weitgehend zurückentwickelt und den oberen fehlt als charakteristisches Kennzeichen eine Zahnschmelzhülle. Als ursprünglichere Gruppe gelten die Stegotetrabelodontinae, die vom ausgehenden Miozän vor etwas mehr als 7 Millionen Jahren bis zum Pliozän weitgehend nur in Afrika verbreitet ist. Die älteste Form der moderneren Elephantinae findet sich Primelephas, welcher nahezu zeitgleich im östlichen und zentralen Afrika in Erscheinung tritt. Ihm folgen in relativ engem zeitlichen Abstand Mammuthus, Loxodonta und Palaeoloxodon. Weitgehend problematisch bei diesen frühen Elefanten ist der Umstand, dass das nur stark fragmentiert überlieferte Fundmaterial eine sichere Unterscheidung nicht in jedem Fall zulässt. Loxodonta, die Gattung der heutigen Afrikanischen Elefanten, bleibt während ihrer gesamten Stammesgeschichte auf Afrika beschränkt, Mammuthus und Palaeoloxodon hingegen betreten vor rund 3 Millionen Jahren auch eurasischen Boden. Hier formen sich eigenständige Entwicklungslinien heraus, die bekanntesten Vertreter sind bei Mammuthus das Wollhaarmammut (Mammuthus primigenius), bei Palaeoloxodon der Europäische Waldelefant (Palaeoloxodon antiquus). Für beide Arten gibt es einen umfassenden Fossilbericht. So liegen von ersterer neben Einzelfunden bis hin zu ganzen „Mammutfriedhöfen“ auch verschiedentlich Eismumien aus dem Permafrost Nordasiens vor, die sich begünstigt durch die Anpassung der Tiere an das arktische Klima bis heute erhalten haben. Von letzterer kamen unter anderem mehrere, teils vollständige Skelettreste im Geiseltal zu Tage. Mammuthus wanderte als einzige Elefantenform vor knapp 2 Millionen Jahren nach Amerika, wo wiederum eine eigenständige Entwicklung einsetzte. Elephas und damit die Gattung der Asiatischen Elefanten hingegen lässt sich erstmals im ausgehenden Pliozän in Südasien nachweisen. Generell handelt es sich bei den Elefanten um sehr große Tiere. Mit dem Steppenmammut (Mammuthus trogontherii) und dem Präriemammut (Mammuthus columbis) entstanden einige der größten dokumentierten Rüsseltierformen, deren Schulterhöhe jeweils rund 4,5 m betrug. Dem gegenüber beherbergten zahlreiche Inseln des Mittelmeers und einige des Pazifiks verschiedene verzwergte Formen, wobei bei manchen Zwergelefanten die Körpergrößenreduktion soweit fortschritt, dass sie nur rund 2 bis 7 % der Größe der Ausgangsformen aufweisen. Ausklang Im Neogen, besonders im Pleistozän, fand eine weltweite Verbreitung der Rüsseltiere auf alle Kontinente, außer Australien und Antarktika, mit zahlreichen Arten statt. Diese Verbreitung kann nur durch die Annahme ausgedehnter Wanderungen über Landbrücken stattgefunden haben, die vor rund 20 Millionen Jahren zwischen Afrika und Eurasien und vor rund 3,5 Millionen Jahren zwischen Nord- und Südamerika entstanden waren. Mit der weiten Verbreitung der Rüsseltiere im Verlauf des Miozäns erhöhte sich auch ihre Diversität und es entstanden zahlreiche Arten und Gattungen. Wahrscheinlich verhinderten Anpassungen an unterschiedliche Landschaftsräume eine zu starke Konkurrenz untereinander. Ein erster Niedergang ist aber bereits im ausgehenden Miozän vor rund 8 Millionen Jahren zu verzeichnen. Dies wird mit der allgemeinen Abkühlung und stärkeren Saisonalisierung des Klimas sowie der damit einhergehenden Ausbreitung von C4-Gräsern in Verbindung gebracht. Die Veränderungen führten dazu, dass ein größerer Teil der Lebensräume weniger produktiv war als noch zuvor unter wärmeren Bedingungen und bei der Dominanz von C3-Pflanzen. Der Effekt wurde dann vor rund 3 Millionen Jahren mit dem allmählichen Einsetzen des Eiszeitalters verstärkt, was zum Aussterben zahlreicher Rüsseltierlinien führte. Dennoch lebten in der Zeit des ausgehenden Pleistozäns, also in einem Zeitraum von vor 50.000 bis vor etwa 12.000 Jahren, noch fast ein Dutzend Gattungen von Rüsseltieren: Mammut, Stegomastodon, Notiomastodon, Cuvieronius, Stegodon, Loxodonta, Palaeoloxodon, Elephas und Mammuthus. Für die meisten Rüsseltiervertreter während der rund 60 Millionen Jahre währenden Stammesgeschichte kann aufgrund zu geringer Funde kein genaues Aussterbeszenario erstellt werden, die spätpleistozänen Formen bieten jedoch bedingt durch das größere Fossilaufkommen diese Möglichkeit. Besonders für Mammut, Notiomastodon und Mammuthus sowie bedingt auch für Cuvieronius und Palaeoloxodon ist das Verschwinden gut dokumentiert. Während Loxodonta und Elephas bis heute bestehen, starb ein Teil der anderen Rüsseltiere im Übergang vom Pleistozän zum Holozän aus. Mammuthus und Palaeoloxodon überlebten teilweise noch bis in das Mittlere Holozän. Dabei ging mit dem Aussterben der meisten Rüsseltiergattungen, aber auch anderer großer Säugetiere bis zum Beginn des Holozäns, möglicherweise die Ausbreitung des modernen Menschen (Homo sapiens) einher. Jedoch können neben dem Menschen zusätzlich auch die starken Klimaschwankungen der Warm- und Kaltphasen der letzten Kaltzeit und verschiedene andere Faktoren als Ursachen in Frage kommen. Die Gründe der sogenannten Quartären Aussterbewelle, die unter Umständen einen längerdauernden Zeitraum in Anspruch nimmt, unterliegen einem starken wissenschaftlichen Disput. So wird angenommen, dass Cuvieronius sowohl in Nord- als auch in Südamerika bereits vor der Ankunft des Menschen sein letztes Auftreten hatte und möglicherweise im Konkurrenzdruck zu anderen Rüsseltieren ausstarb. Forschungsgeschichte Taxonomie und Etymologie Die Gattung Elephas war bereits im Jahr 1758 von Linnaeus (1707–1778) in seinem für die zoologische Nomenklatur bedeutenden Werk Systema Naturae offiziell eingeführt worden, schloss damals aber sowohl die asiatischen als auch die afrikanischen Elefanten ein. Frédéric Cuvier (1773–1838) trennte dann 1825 die Gattung Loxodonta ab, wobei der Name selbst erst durch eine Publikation zwei Jahre später Anerkennung fand. Im Jahr 1821 fasste John Edward Gray (1800–1875) die Elefanten in der Familie der Elephantidae zusammen. Bereits zehn Jahre vor Gray, 1811, hatte Johann Karl Wilhelm Illiger (1775–1813) die Bezeichnung Proboscidea für die Elefanten genutzt, welche auf dem auffälligsten Kennzeichen der Tiere basiert, den Rüssel. Demzufolge wies er sie im Deutschen als „Rüsseltiere“ aus. Der Name Proboscidea leitet sich von der griechischen Bezeichnung προβοσκίς (proboskis) her, welche heute allgemein mit „Rüssel“ übersetzt wird. Mit der griechischen Vorsilbe προ- (pro-) wird eine Ortslage („sich vor etwas befinden“) ausgedrückt, das griechische Wort βοσκή (boskḗ) bedeutet etwa „Futter“ oder „Weide“ (als Verb βόσκειν (bóskein) „weiden“ oder „füttern“). Der Rüssel als funktionelles Organ steht somit mit der Nahrungsaufnahme im Zusammenhang. Andere Autoren übersetzen Proboscis auch einfach mit „vor dem Maul“. Dickhäuter, Huftiere und afrikanische Tiere – Zur höheren Systematik Die systematische Stellung der Elefanten wurde im Laufe der Zeit sehr unterschiedlich bewertet. Nach Linnaeus gehörten sie in eine als Bruta bezeichnete Gruppe, in der unter anderem auch die Seekühe, Faultiere sowie Schuppentiere standen und die sich durch fehlende Schneidezähne auszeichnete. Johann Friedrich Blumenbach verschob Ende des 18. Jahrhunderts die Elefanten in die bereits von Linnaeus konzipierte Gruppe der Belluae und stellte ihnen so verschiedene Huftiere wie die Tapire, Nashörner, Flusspferde und die Schweine zur Seite. Er beschrieb die Bellue als große plumpe Tiere mit geringer Körperbehaarung. Seine Zusammenstellung sollte sich für den weiteren Verlauf des 18. und für das 19. Jahrhundert als die prinzipielle Verwandtschaftszuordnung der Rüsseltiere erweisen. Noch 1795 fassten dann Étienne Geoffroy Saint-Hilaire (1772–1844) und Georges Cuvier (1769–1832) diese zu den Pachydermata (Dickhäuter) zusammen, denen Cuvier später noch die Pekaris, Schliefer und einige ausgestorbene Formen hinzufügte. Die Pachydermata zeitigten nur eine kurze Bestandsdauer in der Systematikgeschichte, sie haben aber einen langen Nachklang, da in einer populären Betrachtung ihr Name als „Dickhäuter“ bis heute überlebt. Sie blieben aber nicht die einzigen Gliederungsversuche im 19. Jahrhundert. Illiger selbst hatte in seiner Schrift von 1811 die Rüsseltiere zu einer Einheit namens Multungulata („Vielhufer“) gestellt, die aber konzeptionell den Pachydermata entsprach. Gray wiederum übernahm 1821 Illigers Ordnungseinheit und setzte den Elefanten zusätzlich noch mit den „Mastodonten“ eine altertümliche Rüsseltiergruppe zur Seite. Er integrierte die Rüsseltiere in eine übergeordnete Gruppe namens Quadripedes („Vierfüßer“), die als äußerst weit gefasste Gruppe alle vierfüßig laufenden Säugetiere einschloss, neben den Huftieren also auch noch die Raubtiere, Nagetiere, Insektenfresser, Nebengelenktiere und weitere. Das Konstrukt der Pachydermata hingegen wurde bereits 1816 von Henri Marie Ducrotay de Blainville erstmals aufgebrochen. In einem tabellenartigen Übersichtswerk unterschied er mehrere Gruppen an Huftieren. So trennte de Blainville Tiere mit einer geraden Anzahl an Zehen (onguligrades à doigts pairs) von solchen mit einer ungeraden Anzahl (onguligrades à doigts impairs) ab. Die Elefanten schloss er als einzige Mitglieder in eine höhere Gruppe namens Gravigrades ein, stellte sie aber an die Seite der unpaarigen Huftiere. Mehr als drei Dekaden später, 1848, übernahm Richard Owen den Ansatz de Blainvilles und etablierte sowohl die Paarhufer (Artiodactyla) als auch die Unpaarhufern (Perissodactyla), womit er die Pachydermata endgültig aufspaltete. Unbeeinflusst von der Aufspaltung der Pachydermata blieb die angenommene Verwandtschaft der Rüsseltiere mit den Huftieren auch nachfolgend weitgehend bestehen. Dem gegenüber merkte Theodore Gill im Jahr 1870 eine engere Bindung zwischen den Seekühen und den Schliefern an, er gab dieser Verwandtschaftsbeziehung allerdings keinen speziellen Namen. Andere Autoren belegten ähnliche Verwandtschaftsverhältnisse mit verschiedenen Bezeichnungen. Edward Drinker Cope nutzte in den 1880 und 1890er Jahren etwa Taxeopoda, während Richard Lydekker in den 1890er Jahren und Max Schlosser in den 1920er Jahren von den Subungulata sprachen. Die meisten verwendeten Bezeichnungen erwiesen sich aber jeweils als problematisch. Copes Taxeopoda enthielten ursprünglich Huftiere mit seriellem Fußaufbau (Rüsseltiere, Schliefer und einige ausgestorbene Formen), welche sich von den übrigen Huftieren mit alternierendem Fußaufbau (Paarhufer, Unpaarhufer) unterschieden. Letztere trennte er als Diplarthra ab. In seinem abschließenden Konzept fügte er aber noch die Primaten zu den Taxeopoda hinzu. Die Subungulata nach Lydekker und Schlosser ähnelten in ihrer Zusammensetzung Copes Taxeopoda, der Name war aber schon 1811 von Illiger für die Meerschweinchenverwandten benutzt worden. George Gaylord Simpson etablierte daher im Jahr 1945 in seiner generellen Taxonomie der Säugetiere die Paenungulata als eine neue übergeordnete Gruppe für die Elefanten, Schliefer und Seekühe nebst diversen ausgestorbenen Formen. Die Paenungulata sah Simpson als Bestandteil der Protungulata. Dagegen führten 1997 Malcolm C. McKenna und Susan K. Bell die Paenungulata (hier als Uranotheria benannt) einschließlich der Elefanten allgemein innerhalb der Ungulata. In zahlreichen Systematiken wurden die Paenungulata als näher verwandt mit den Unpaarhufern erachtet. Mit den Ende des 20. Jahrhunderts verstärkt aufkommenden biochemischen und molekulargenetischen Untersuchungsmethoden änderte sich die Sichtweise. Bereits Anfang der 1980er Jahre verwiesen Proteinanalysen nicht nur auf eine enge Verwandtschaft von Elefanten, Schliefern und Seekühen, sondern auch mit dem Erdferkel, was weitere Untersuchungen untermauerten. Mitte der 1990er Jahre bestätigten dann genetische Untersuchungen die Homogenität der Paenungulata. Diesen ersten Befunden folgten im Übergang zum 21. Jahrhundert weitere Analysen. Sie deckten letztendlich auf, dass die Elefanten, Schliefer und Seekühe sowie das Erdferkel einer Gruppe angehören, die auch die Tenreks, Goldmulle und Rüsselspringer einschließt. Es handelt sich hierbei um originär in Afrika verbreitete Tiergruppen, die gesamte Gemeinschaft wurde folglich als Afrotheria bezeichnet. Die Ergebnisse ließen sich später reproduzieren, eine weitere Festigung der Ansicht ergab sich durch die Isolierung eines spezifischen Retroposons, das sogenannte AfroSINE, welches allen Vertretern der Afrotherien gemein ist. „Mastodonten“ und Co. – Zur inneren Gliederung Bereits bis zum ersten Drittel des 19. Jahrhunderts waren durch die Einführung der Gattungen Elephas und Loxodonta, der Familie der Elephantidae sowie der Ordnung der Proboscidea alle wichtigen taxonomischen Einheiten benannt. Den ersten fossilen Vertreter wies Blumenbach im Jahr 1799 mit Mammut aus, dem im Verlauf des 19. Jahrhunderts mit Mammuthus 1828, Deinotherium 1829, Gomphotherium 1837, Stegodon 1847 oder Anancus 1855 zahlreiche weitere folgen sollten. Noch in den letzten Jahren des 18. Jahrhunderts stellte Georges Cuvier, der zu den ersten Verfechtern der vergleichenden Anatomie gehört, erstmals die heutigen Elefanten ausgestorbenen Vertretern gegenüber. Auf Cuvier geht nachfolgend auch die Gattungsbezeichnung „Mastodon“ zurück, die er im Jahr 1817 offiziell etablierte, in abgewandelter Form als „Mastodonte“ hatte er sie schon 1806 verwendet. Innerhalb seiner neuen Gattung differenzierte Cuvier zwei Arten heraus: „Mastodon giganteum“ und „Mastodon“ angustidens. Mit ersterer bezeichnete Cuvier das heutige Amerikanische Mastodon, mit letzterer eine Form von Gomphotherium. Dadurch vereinte er zwei aus heutiger Sicht nicht näher miteinander verwandte Rüsseltierformen unter einer Gattung, die einerseits durch ein zygodontes, andererseits durch ein bunodontes Zahnmuster charakterisiert sind. Die Bezeichnung „Mastodon“ setzte sich in den nächsten mehr als 150 Jahren weitgehend durch. Charles Frédéric Girard führte im Jahr 1852 die Familie der „Mastodontidae“ ein (allerdings hatte Gray bereits 1821 den Begriff „Mastodonadae“ verwendet). In den ersten drei Jahrzehnten des 20. Jahrhunderts prägte Henry Fairfield Osborn (1857–1935) die Erforschung der Rüsseltiere. Im Fokus seines Interesses standen vor allem die Fossilreste, die auch zentraler Gegenstand einer von ihm organisierten und im Frühjahr 1907 durchgeführten Expedition des American Museum of Natural History in das Fayyum-Gebiet in Ägypten waren. Als Ergebnis seiner Forschungstätigkeiten publizierte er in den 1920er und 1930er Jahren mehrere Aufsätze über die Phylogenie der Rüsseltiere. Sein zweibändiges Gesamtwerk The Proboscidea erschien posthum 1936 und 1942 und bildet eine über 1600-seitige Zusammenstellung seiner Forschungsarbeiten zu dem Thema. Darin unterschied Osborn über 350 Arten und Unterarten in mehr als 40 Gattungen sowie 8 Familien. Die Benennung der einzelnen Gruppen folgte dabei in einem Osborn’schen Prinzip und nicht nach der in der Zoologie gängigen Vorgehensweise (etwa der Prioritätsregel oder der Regelung, dass Familiennamen auf gültigen Gattungsnamen beruhen). Beispielsweise bezeichnete er die Deinotheriidae mit Curtognathidae und die Gomphotheriidae mit Bunomastodontidae. Prinzipiell aber stellte Osborn mit den Moeritherioidea, Deinotherioidea, Mastodontoidea und Elephantoidea vier große Formengruppen innerhalb der Proboscidea heraus. Die ersten beiden Gruppen sah Osborn als die semi-aquatisch lebende Ursprungsgruppe an, letztere beiden als Wald- und Offenlandbewohner. In den Mastodontoidea vereinte er die zygodonten „echten Mastodonten“ (Mammutidae) und die bunodonten Formen (Gomphotheriidae). Nach seiner Auffassung gingen die zygodonten Mastodonten aus Palaeomaston hervor, die bunodonten hingegen aus Phiomia. Später, mit seinem The Proboscidea-Kompendium, führte Osborn noch die Stegodontoidea als fünfte Großgruppe ein, die er in einer engen Beziehung zu den zygodonten Mastodonten wähnte und als Ursprungsgruppe der Elefanten betrachtete. Zudem untermauerte er hierin seine bereits im Übergang vom 19. zum 20. Jahrhundert erarbeitete Theorie zu einem afrikanischen Ursprung der Rüsseltiere, die er durch die im Fayyum entdeckten Knochenfunde aus dem Eozän und Oligozän bestätigt sah. Nur wenige Jahre darauf aber verwarf George Gaylord Simpson in seiner Säugetier-Taxonomie Osborns Schema. Er kritisierte dabei Osborns Nichtbeachtung nomenklatorischer Regeln. In einem eigenen Gliederungsversuch transferierte er Osborns Bezeichnungen in die gängige Nomenklatur und unterschied dadurch ebenfalls vier Großgruppen, denen er die Bezeichnungen Moeritherioidea, Barytherioidea, Deinotherioidea und Elephantoidea gab. Innerhalb letzterer führte er drei Familien: So teilte er die Mastodonten in die Gomphotheriidae sowie die Mammutidae auf und stellte ihnen die Elephantidae zur Seite, denen er nicht nur die heutigen Elefanten, sondern auch die Stegodonten zuordnete. Problematisch blieben in Simpsons Augen die Barytherioidea, die von anderen Autoren manchmal auch als außerhalb der Rüsseltiere stehend eingestuft wurden. Im weiteren Verlauf des 20. Jahrhunderts hatten unter anderem Forscher wie John M. Harris und Vincent J. Maglio maßgeblichen Anteil an der Erforschung der Elefanten und ihrer fossilen Verwandtschaft. In einer Übersicht zur afrikanischen Rüsseltier-Fauna aus dem Jahr 1978 stellten sie eine überarbeitete Systematik der Ordnung vor, die sie weitgehend auf die Elephantiformes eingrenzten und urtümlichere Gruppen wie die der Moeritherien, Barytherien und Deinotherien aussonderten. Innerhalb ihrer „Stamm“-Rüsseltiere unterschieden sie die übergeordneten Gruppen der Mammutoidea und der Gomphotherioidea, mit ersteren die Mammutidae und Stegodontidae, letzteren die Gomphotheriidae und Elephantidae einschließend. McKenna und Bell gliederten im Jahr 1997 die Proboscidea weitgehend im klassischen Sinne und integrierten die älteren Gruppen wie Barytherien, Moeritherien und Deinotherien wieder in die Ordnung. Die jüngeren Gruppen teilten sie wie die Autoren zuvor in zwei Linien, von denen eine die Mammutoidea beinhaltete, die andere die Elephantoidea, der alle anderen Rüsseltiere angehörten (Gomphotherien, Stegodonten und Elefanten). Die heute weitgehend gebräuchliche systematische Unterteilung der Rüsseltiere geht auf Jeheskel Shoshani sowie Pascal Tassy zurück und wurde im Jahr 2005 publiziert. Knapp zehn Jahre zuvor hatten beide Wissenschaftler gemeinsam bereits eine Monographie herausgegeben, die wie Osborns Werk mit The Proboscidea betitelt ist. In der Folgezeit gab es unter anderen durch William J. Sanders und Kollegen im Jahr 2010 eine umfangreiche Revision der afrikanischen Rüsseltiere. Der Erforschung der frühesten Rüsseltiere widmete sich im ausgehenden 20. Jahrhundert und in den ersten beiden Jahrzehnten des 21. Jahrhunderts unter anderem Emmanuel Gheerbrant. Rüsseltiere und Menschen In der Spätphase der Rüsseltier-Entwicklung und mit der Herausbildung und Entwicklung des Menschen kam es zu zahlreichen Interaktionen zwischen beiden Gruppen. Anfänglich besiedelten die Rüsseltiere und die Frühmenschen gemeinsame Lebensräume, wie an den verschiedensten Fundstellen des Pleistozäns in Afrika und Eurasien belegt werden konnte. Spätestens seit dem Mittelpleistozän nutzte der frühe Mensch die Rüsseltiere auch zunehmend als Nahrungs- und Rohstoffquelle. Eindeutige Belege der Jagd sind zwar eher selten, liegen aber evident unter anderem mit der Lanze von Lehringen aus der letzten Warmzeit (Eem-Warmzeit) vor, deren Schaft im Skelett eines Europäischen Waldelefanten steckte. Rohstoffnutzung hingegen lässt sich an zahlreichen Lokalitäten nachweisen, zumeist angezeigt durch zerlegte Kadaver. Dies betrifft nicht nur die ehemals in Eurasien oder Afrika heimischen Formen wie Mammuthus und Palaeoloxodon, auch aus Amerika sind zahlreiche Hinweise dokumentiert und erweitern so das Spektrum um Gattungen wie Notiomastodon oder Mammut. Vor allem im Ausklang der letzten Kaltzeit und mit dem Aufkommen der jungpaläolithischen Kunst wurden Rüsseltiere in das künstlerische Schaffen des Menschen mit einbezogen. Körperteile der Tiere kamen nicht nur bei der Herstellung von Objekten der mobilen Kleinkunst zur Anwendung, auch dienten sie selbst als Vorbild für verschiedenste Darstellungen, seien es Kleinplastiken oder Ritzungen in Stein und Knochen beziehungsweise Gravuren und Höhlenmalereien auf Felswänden. Hervorzuheben sind hier die zahlreichen Mammutbildnisse der Frankokantabrischen Höhlenkunst. Bis heute haben drei Elefantenarten überlebt. Zumindest dem Afrikanischen und dem Asiatischen Elefanten kann eine große lokale Bedeutung in Kunst und Kultur zugesprochen werden, die sich in zahlreichen Darstellungen auf Felswänden und im Falle von letzterem auch in der Tempelarchitektur sowie im religiösen Kontext äußert. Der Asiatische Elefant ist auch der einzige Vertreter im dauerhaften Dienst der Menschen, er stellt aber kein vollständig domestiziertes Tier dar. Die Bestände der drei heute lebenden Elefantenarten sind durch Jagd hauptsächlich auf die Stoßzähne und zusätzlich durch die zunehmende Lebensraumzerstörung in Folge der Ausbreitung menschlicher Siedlungen und Wirtschaftsflächen gefährdet. Literatur Juan L. Cantalapiedra, Óscar Sanisidro, Hanwen Zhang, María T. Alberdi, José L. Prado, Fernando Blanco und Juha Saarinen: The rise and fall of proboscidean ecological diversity. Nature Ecology & Evolution, 2021, doi:10.1038/s41559-021-01498-w Ursula B. Göhlich: Order Proboscidea. In: Gertrud E. Rössner und Kurt Heissig: The Miocene land mammals of Europe. München, 1999, S. 157–168. Jan van der Made: The evolution of the elephants and their relatives in the context of a changing climate and geography. In: Harald Meller (Hrsg.): Elefantenreich. Eine Fossilwelt in Europa. Halle/Saale, 2010, S. 340–360. William J. Sanders, Emmanuel Gheerbrant, John M. Harris, Haruo Saegusa und Cyrille Delmer: Proboscidea. In: Lars Werdelin und William Joseph Sanders (Hrsg.): Cenozoic Mammals of Africa. University of California Press, Berkeley, London, New York, 2010, S. 161–251. William J. Sanders: Evolution and fossil record of African Proboscidea. CRC Press, 2023, S. 1–370 ISBN 9781482254754. Einzelnachweise Weblinks The Paleobiology Database: Proboscidea
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https://de.wikipedia.org/wiki/Wasserstoff
Wasserstoff
Wasserstoff ist ein chemisches Element mit dem Symbol H (für „Wasserbildner“) und der Ordnungszahl 1. Im Periodensystem steht das Element Wasserstoff in der 1. Periode und in der 1. IUPAC-Gruppe. Wasserstoff ist mit einem Massenanteil von etwa 70 % das häufigste chemische Element im Universum, jedoch nicht auf der Erde, wo sein Massenanteil an der Erdhülle nur 0,87 % beträgt. Der Großteil des Wasserstoffs auf der Erde ist im Wasser gebunden, der Verbindung mit Sauerstoff, deren Masse zu 11 % aus Wasserstoff besteht. Wasserstoff kommt gebunden an andere Elemente in sämtlichen Pflanzen und lebenden Organismen vor und außerdem ist das Element Wasserstoff Bestandteil fast aller chemischen Substanzen, mit denen sich die Organische Chemie und die Biochemie beschäftigen. Wasserstoff ist das chemische Element mit der geringsten Atommasse. Sein häufigstes Isotop enthält kein Neutron, sondern besteht aus nur einem Proton und einem Elektron. Es existieren zwei weitere natürlich vorkommende Wasserstoffisotope, von denen das nicht radioaktive Deuterium 0,0156 % des natürlichen Wasserstoffs ausmacht, während das in den oberen Schichten der Atmosphäre gebildete radioaktive Tritium nur in kleinsten Mengen vorkommt. Unter Bedingungen, die normalerweise auf der Erde herrschen (siehe Normalbedingungen), liegt das gasförmige Element Wasserstoff nicht als atomarer Wasserstoff mit dem Symbol H vor, sondern als molekularer Wasserstoff mit dem Symbol H2, als ein farb- und geruchloses Gas. Wenn z. B bei Redoxreaktionen Wasserstoff neu gebildet wird, tritt das Element vorübergehend atomar als H auf und wird als naszierender Wasserstoff bezeichnet. In dieser reaktiven Form reagiert Wasserstoff besonders gut mit anderen Verbindungen oder Elementen. Geschichte Entdeckt wurde Wasserstoff vom englischen Chemiker und Physiker Henry Cavendish im Jahre 1766, als er mit Metallen (Eisen, Zink und Zinn) und Säuren experimentierte. Cavendish nannte das dabei entstandene Gas wegen seiner Brennbarkeit „“ („brennbare Luft“). Er untersuchte das Gas eingehend und veröffentlichte seine Erkenntnisse. Auf ähnliche Weise (Einwirkung von Säuren auf Metalle) hatten allerdings schon im 17. Jahrhundert Théodore Turquet de Mayerne (um 1620) und Robert Boyle (um 1670) ein Gas erzeugt, das sie Knallgas genannt hatten. Eine genauere Analyse erfolgte aber erst durch Antoine Laurent de Lavoisier, der erkannte, dass bei der Verbrennung des Gases Wasser entstand und deshalb das brennbare Gas als „“ bezeichnete (: „Wasser erzeugender Stoff“, davon kurz „Hydrogen“; von „Wasser“ und -gen) und ihm damit seinen heutigen Namen gab. Cavendish hatte inzwischen – eine Beobachtung von Joseph Priestley aufgreifend – erkannt, dass bei der Verbrennung von Wasserstoff Wasser entsteht (veröffentlicht erst 1784). Lavoisier erfuhr von den Experimenten von Cavendish beim Besuch von dessen Assistenten Charles Blagden 1783. Cavendish war Anhänger der Phlogistonlehre und sein Wasserstoff war für ihn ein Kandidat für diese hypothetische Substanz. Lavoisier aber zeigte in aufsehenerregenden Experimenten, dass das Gas ein eigenständiges Element war und ein Bestandteil des Wassers, das man damals vielfach noch selbst für elementar hielt, gemäß der alten Vier-Elemente-Lehre. Lavoisier führte seine Experimente quantitativ aus unter Verwendung der von ihm postulierten Massenerhaltung. Er leitete Wasserdampf in einer abgeschlossenen Apparatur über glühende Eisenspäne und ließ die entstandenen Gase an anderer Stelle kondensieren. Dabei stellte er fest, dass die Masse des kondensierten Wassers etwas geringer war als die der ursprünglich eingesetzten Masse. Dafür war ein Gas entstanden, dessen Masse zusammen mit dem Gewichtszuwachs des oxidierten Eisens genau der „verloren gegangenen“ Wassermenge entsprach. Sein eigentliches Experiment war also erfolgreich. Lavoisier untersuchte das entstandene Gas weiter und führte die als Knallgasprobe bekannte Untersuchung durch, wobei das Gas verbrannte. Er nannte es daher zunächst wie Cavendish brennbare Luft (im Französischen in umgekehrter Wortstellung „air inflammable“). Als er in weiteren Experimenten zeigte, dass sich aus dem Gas umgekehrt Wasser erzeugen lässt, taufte er es hydro-gène (griechisch: hydro = Wasser; genes = erzeugend). Das Wort bedeutet demnach: „Wassererzeuger“. Die deutsche Bezeichnung lässt auf die gleiche Begriffsherkunft schließen. Nachdem man gemäß der Schule von Lavoisier lange Sauerstoff für den Säurecharakter verantwortlich gemacht hatte, änderte sich dies, als Humphry Davy 1808 Chlorwasserstoff darstellte und nachwies, dass darin kein Sauerstoff enthalten war. Danach erkannte man, dass statt Sauerstoff Wasserstoff für den Säurecharakter verantwortlich war. Vorkommen Wasserstoff ist das häufigste chemische Element in der Sonne und den großen Gasplaneten Jupiter, Saturn, Uranus und Neptun, die über 99,99 % der Masse des Sonnensystems in sich vereinen. Wasserstoff stellt 75 % der gesamten Masse beziehungsweise 93 % aller Atome des Sonnensystems. Im gesamten Weltall wird (unter Nichtbeachtung dunkler Materie) ein noch höherer Anteil an Wasserstoff vermutet. Vorkommen im Universum Kurz nach der Entstehung des Universums waren nach der mutmaßlichen Vernichtung der Antimaterie durch ein geringes Übermaß der Materie und der Kondensation eines Quark-Gluon-Plasmas zu Baryonen nur mehr Protonen und Neutronen (nebst Elektronen) vorhanden. Bei den vorherrschenden hohen Temperaturen vereinigten sich diese zu leichten Atomkernen, wie 2H und 4He. Die meisten Protonen blieben unverändert und stellten die zukünftigen 1H-Kerne dar. Nach ungefähr 380.000 Jahren war die Strahlungsdichte des Universums so gering geworden, dass sich Wasserstoff-Atome einfach durch Zusammenschluss der Kerne mit den Elektronen bilden konnten, ohne gleich wieder durch ein Photon auseinandergerissen zu werden. Mit der weitergehenden Abkühlung des Universums formten sich unter dem Einfluss der Gravitation und ausgehend von räumlichen Dichteschwankungen allmählich Wolken aus Wasserstoffgas, die sich zunächst großräumig zu Galaxien und darin zu Protosternen zusammenballten. Unter dem wachsenden Druck der Schwerkraft setzte schließlich die Kernfusion ein, bei der Wasserstoff zu Helium verschmilzt. So entstanden erste Sterne und später die Sonne. Sterne bestehen weit überwiegend aus Wasserstoff-Plasma. Die Kernfusion von Wasserstoff 1H zu Helium 4He erfolgt hauptsächlich über die Zwischenstufen Deuterium 2H und Helium 3He oder über den Bethe-Weizsäcker-Zyklus. Die dabei frei werdende Energie ist die Energiequelle der Sterne. Der in unserer Sonne enthaltene Wasserstoff macht den größten Teil der gesamten Masse unseres Sonnensystems aus. Die Gasplaneten bestehen zu großen Teilen aus Wasserstoff. Unter den extremen Drücken, die in großen Tiefen in den großen Gasplaneten Jupiter und Saturn herrschen, kann er in metallischer Form existieren. Dieser „metallische“ Kern ist elektrisch leitfähig und erzeugt vermutlich das Magnetfeld der Gasplaneten. Außerhalb von Sternensystemen kommt Wasserstoff in Gaswolken vor. In den so genannten H-I-Gebieten liegt das Element atomar und nichtionisiert vor. Diese Gebiete emittieren Strahlung von etwa 1420 MHz, die sogenannte 21-cm-Linie, auch HI- oder Wasserstofflinie genannt, die von Übergängen des Gesamtdrehimpulses herrührt. Sie spielt eine wichtige Rolle in der Astronomie und dient dazu, Wasserstoffvorkommen im All zu lokalisieren und zu untersuchen. Ionisierte Gaswolken mit atomarem Wasserstoff nennt man dagegen H-II-Gebiete. In diesen Gebieten senden Sterne hohe Mengen ionisierender Strahlung aus. Mit Hilfe der H-II-Gebiete lassen sich Rückschlüsse auf die Zusammensetzung der interstellaren Materie ziehen. Wegen ständiger Ionisation und Rekombination der Atome senden sie mitunter sichtbare Strahlung aus, die oft so stark ist, dass man diese Gaswolken mit einem kleinen Fernrohr sehen kann. Irdische Vorkommen Auf der Erde ist der Massenanteil wesentlich geringer. Bezogen auf die Erd-Gesamtmasse ist der Anteil etwa 0,03 %. Außerdem liegt der irdische Wasserstoff im Gegensatz zu den Vorkommen im All überwiegend gebunden und nur selten in reiner Form als unvermischtes Gas vor. Die bekannteste Verbindung ist das Wasser. Neben diesem sind Erdgase wie Methan sowie Erdöl wichtige wasserstoffhaltige Verbindungen auf der Erde. In mehr als der Hälfte aller bisher bekannten Minerale ist Wasserstoff (meist als Kristallwasser) enthalten. Der größte Anteil des Wasserstoffs an der Erdoberfläche kommt in der Verbindung Wasser vor. In dieser Form bedeckt er über zwei Drittel der Erdoberfläche. Die gesamten Wasservorkommen der Erde belaufen sich auf circa 1,386 Milliarden km³. Davon entfallen 1,338 Milliarden km³ (96,5 %) auf Salzwasser in den Ozeanen. Die verbliebenen 3,5 % liegen als Süßwasser vor. Davon befindet sich wiederum der größte Teil im festen Aggregatzustand: in Form von Eis in der Arktis und Antarktis sowie in den Permafrostböden vor allem in Sibirien. Der geringe restliche Anteil ist flüssiges Süßwasser und findet sich meist in Seen und Flüssen, aber auch als Grundwasser. In der Erdatmosphäre liegt Wasserstoff hauptsächlich als gasförmiges Wasser (Wasserdampf) vor. Wie viel Wasserdampf eine Volumeneinheit Luft enthält, hängt neben dem Vorhandensein von Wasser von der Lufttemperatur ab. Beispielsweise kann Luft von 30 °C Temperatur bis zu einem Volumenanteil von 4,2 % Wasserdampf aufnehmen. Die relative Luftfeuchtigkeit beträgt dann 100 %, da der Sättigungsdampfdruck des Wassers erreicht ist. Die Häufigkeit von molekularem Wasserstoff in der Atmosphäre beträgt nur 0,55 ppm. Dieser niedrige Anteil kann mit der hohen thermischen Geschwindigkeit der Moleküle und dem hohen Anteil an Sauerstoff in der Atmosphäre erklärt werden. Bei der mittleren Temperatur der Atmosphäre bewegen sich die H2-Teilchen im Durchschnitt mit fast 2 km/s. Das ist rund ein Sechstel der Fluchtgeschwindigkeit auf der Erde. Aufgrund der Maxwell-Boltzmann-Verteilung der Geschwindigkeiten der H2-Moleküle gibt es aber dennoch eine beträchtliche Zahl von Molekülen, welche die Fluchtgeschwindigkeit erreichen. Die Moleküle haben jedoch nur eine extrem geringe freie Weglänge, sodass nur Moleküle in den oberen Schichten der Atmosphäre tatsächlich entweichen. Weitere H2-Moleküle kommen aus darunter liegenden Schichten nach, und es entweicht wieder ein bestimmter Anteil, bis letztlich nur noch Spuren des Elements in der Atmosphäre vorhanden sind. Zudem wird der Wasserstoff in den unteren Schichten der Atmosphäre durch eine photoaktivierte Reaktion mit Sauerstoff zu Wasser verbrannt. Bei einem geringen Anteil stellt sich ein Gleichgewicht zwischen Verbrauch und Neuproduktion (durch Bakterien und photonische Spaltung des Wassers) ein. Gewinnung Molekularer Wasserstoff Kleinere Mengen Wasserstoff können bei Schauversuchen durch Reaktionen von verdünnten Säuren mit unedlen Metallen wie Zink gewonnen werden. Für die Reaktion gilt schematisch: Bei dieser Reaktion handelt es sich um eine Redoxreaktion, in der das Zink als Reduktionsmittel wirkt und die Protonen der Säure durch Abgabe von Elektronen zum elementaren Wasserstoff reduziert, während das Zink nach Abgabe der Elektronen als kationisches Zink mit dem Anion der Säure ein Zinksalz bildet. Wenn bei dieser Reaktion die Temperatur erhöht wird oder wenn gar an Stelle von Zink Alkalimetalle als sehr starke Reduktionsmittel verwendet werden, dann bildet sich Wasserstoff bereits mit Wasser als einer nur sehr schwachen Säure. Das ist der Grund dafür, dass Metallbrände niemals mit Wasser gelöscht werden dürfen, denn gebildeter Wasserstoff würde dann als Brandverstärker wirken. Das wichtigste großtechnische Verfahren zur industriellen Gewinnung von molekularem Wasserstoff ist die um 1920 entwickelte Dampfreformierung. Bei dieser Reaktion werden unter hoher Temperatur und hohem Druck Kohlenwasserstoffe wie Methan und andere als Reduktionsmittel für die Protonen des Wassers eingesetzt. Dabei entsteht zunächst ein sogenanntes Synthesegas, ein Gemisch aus Kohlenstoffmonoxid und Wasserstoff. Das Mengenverhältnis der Reaktionsprodukte kann anschließend mit der sogenannten Wassergas-Shift-Reaktion zu Gunsten von Wasserstoff zwar noch verbessert werden, jedoch entsteht dabei unerwünschtes Kohlendioxid und der Wirkungsgrad (Erdgas zu Wasserstoff) erreicht nur etwa 60 bis 70 %. Derzeit gewinnt im Rahmen der Debatte um die Vermeidung von Kohlendioxid und um die Power-to-Gas-Strategie die Wasserelektrolyse als Methode zur Herstellung von Wasserstoff immer mehr an Bedeutung. Bei der Wasserelektrolyse wird Wasser in einer elektrochemischen Redoxreaktion durch Zufuhr von elektrischer Energie in die Bestandteile Wasserstoff und Sauerstoff zerlegt. Wasser wird durch elektrischen Strom in Wasserstoff und Sauerstoff gespalten. Atomarer Wasserstoff Atomarer Wasserstoff kann durch Zufuhr der Dissoziationsenergie aus dem molekularen Element erzeugt werden. Methodisch wird dieses bewerkstelligt durch Erhitzung auf mehrere tausend Grad, elektrische Entladung bei hoher Stromdichte und niedrigem Druck, Bestrahlung mit Ultraviolettlicht, Beschuss mit Elektronen bei 10 bis 20 Elektronenvolt oder Mikrowellenstrahlung. Allerdings reagiert atomarer Wasserstoff (z. B. an Behälterwänden) sehr schnell wieder zu molekularem Wasserstoff. Es stellt sich somit ein Fließgleichgewicht ein, das in der Regel weit auf der Seite des molekularen Wasserstoffs liegt. Durch Energiezufuhr dissoziiert molekularer Wasserstoff in die atomare Form. Diese Reaktion beginnt ab 1500 K und ist vollständig bei 3000 K. Zur Darstellung von größeren Mengen atomaren Wasserstoffs sind das Woodsche Darstellungsverfahren (Robert Williams Wood, 1898) und dasjenige von Irving Langmuir, die Langmuir-Fackel besonders geeignet. Physikalische Eigenschaften Wasserstoff ist das Element mit der geringsten Dichte. Molekularer Wasserstoff (H2) ist etwa 14,4-mal weniger dicht als Luft. Flüssiger Wasserstoff wiegt 70,8 Gramm pro Liter. Sein Schmelzpunkt liegt bei 14,02 K (−259 °C), der Siedepunkt bei 21,15 K (−252 °C). Wasserstoff ist in Wasser und anderen Lösungsmitteln schlecht löslich. Für Wasser beträgt die Löslichkeit 19,4 ml/l (1,6 mg/l) bei 20 °C und Normaldruck. Dagegen ist die Löslichkeit (genauer: maximale Volumenkonzentration) in Metallen deutlich höher. Einige thermodynamische Eigenschaften (Transportphänomene) sind aufgrund der geringen Molekülmasse und der daraus resultierenden hohen mittleren Geschwindigkeit der Wasserstoffmoleküle (1770 m/s bei 25 °C) von besonderer Bedeutung, wie z. B. beim Oberth-Effekt-Raketentreibstoff. Der Joule-Thomson-Koeffizient von Wasserstoff ist bei Raumtemperatur negativ (Joule-Thomson-Effekt). Das bedeutet, dass sich dieser bei der Entspannung von höheren Drücken bei dieser Temperatur im Gegensatz zu den meisten anderen Gasen nicht abkühlt, sondern erwärmt. Wasserstoff besitzt bei Raumtemperatur das höchste Diffusionsvermögen, die höchste Wärmeleitfähigkeit und die höchste Effusionsgeschwindigkeit aller Gase. Eine geringere Viskosität weisen nur drei- oder mehratomige reale Gase wie Butan auf. Die Mobilität des Wasserstoffs in einer festen Matrix ist, bedingt durch den geringen Molekülquerschnitt, ebenfalls sehr hoch. So diffundiert Wasserstoff durch Materialien wie Polyethylen und glühendes Quarzglas. Ein sehr wichtiges Phänomen ist die außerordentlich hohe Diffusionsgeschwindigkeit in Eisen, Platin und einigen anderen Übergangsmetallen, da es dort dann zur Wasserstoffversprödung kommt. In Kombination mit einer hohen Löslichkeit treten bei einigen Werkstoffen extrem hohe Permeationsraten auf. Hieraus ergeben sich technische Nutzungen zur Wasserstoffanreicherung, aber auch technische Probleme beim Transportieren, Lagern und Verarbeiten von Wasserstoff und Wasserstoffgemischen, da nur Wasserstoff diese räumlichen Begrenzungen durchwandert (siehe Sicherheitshinweise). Wasserstoff hat ein Linienspektrum und je nach Temperatur des Gases im sichtbaren Bereich ein mehr oder weniger ausgeprägtes kontinuierliches Spektrum. Letzteres ist beim Sonnenspektrum besonders ausgeprägt. Die ersten Spektrallinien im sichtbaren Bereich, zusammengefasst in der so genannten Balmer-Serie, liegen bei 656 nm, 486 nm, 434 nm und 410 nm. Daneben gibt es weitere Serien von Spektrallinien im Infrarot- (Paschen-Serie, Brackett-Serie und Pfund-Serie) und eine im Ultraviolettbereich (Lyman-Serie) des elektromagnetischen Spektrums. Eine besondere Bedeutung in der Radioastronomie hat die 21-Zentimeter-Linie (HI-Linie) in der Hyperfeinstruktur. In einem magnetischen Feld verhält sich H2 sehr schwach diamagnetisch. Das bedeutet, die Dichte der Feldlinien eines extern angelegten Magnetfeldes nimmt in der Probe ab. Die magnetische Suszeptibilität ist bei Normdruck = und typischerweise einige Größenordnungen unter der von diamagnetischen Festkörpern. Gegenüber elektrischem Strom ist H2 ein Isolator. In einem elektrischen Feld hat er eine Durchschlagsfestigkeit von mehreren Millionen Volt pro Meter. Der empirische Atomradius von (atomarem) Wasserstoff beträgt 25 pm, der kovalente Radius 31 pm und der Van-der-Waals-Radius 120 pm. In höchstangeregten Wasserstoffatomen (Rydberg-Zuständen), wie sie unter den Vakuumbedingungen interstellarer Nebel vorkommen, befinden sich deren Elektronen auf Bahnen mit Atomradien von bis zu 0,339 Millimetern. Aggregatzustände Bei Temperaturen unterhalb von 21,15 K (−252 °C) kondensiert Wasserstoff zu einer klaren, farblosen Flüssigkeit. Dieser Zustand wird als LH2 abgekürzt (engl. liquid, „flüssig“). Unterhalb von 14,02 K (−259,2 °C) bildet Wasserstoff einen kristallinen Festkörper mit hexagonal dichtester Kugelpackung (hcp), dort ist jedes Molekül von zwölf weiteren umgeben. Am Gefrierpunkt bildet sich beim Abkühlen ein schlammartiges Zweiphasengemisch, ein sogenannter Slush. Anders als bei Helium tritt beim Verflüssigen von einfachem Wasserstoff ( 1H) keine Suprafluidität auf; prinzipiell kann aber das Isotop Deuterium ( 2H) suprafluid werden. Der Tripelpunkt des Wasserstoffs, bei dem seine drei Aggregatzustände gleichzeitig vorkommen, ist einer der Fixpunkte der Internationalen Temperaturskala. Er liegt bei einer Temperatur von exakt 13,8033 K und einem Druck von 7,042 kPa. Der kritische Punkt liegt bei 33,18 K und 13,0 bar, die kritische Dichte beträgt 0,03012 g/cm³ (die niedrigste kritische Dichte aller Elemente). Unter extremen Drücken, wie sie innerhalb von Gasplaneten herrschen, wird wahrscheinlich metallischer Wasserstoff, d. h. in metallischer Form, ausgebildet. Dabei wird er elektrisch leitend (vgl. Leitungsband). Atom- und kernphysikalische Eigenschaften Ein einzelnes Wasserstoffatom besteht aus einem positiv geladenen Kern und einem negativ geladenen Elektron, das über die Coulomb-Wechselwirkung an den Kern gebunden ist. Dieser besteht stets aus einem einzelnen Proton (Hauptisotop 1H) und seltener je nach Isotop einem oder zwei zusätzlichen Neutronen (2H bzw. 3H-Isotop). Das Wasserstoffatom 1H spielte aufgrund seines einfachen Aufbaus in der Entwicklung der Atomphysik als „Modellatom“ eine herausragende Rolle. So entstand 1913 aus Untersuchungsergebnissen am Wasserstoff das bohrsche Atommodell, mit dessen Hilfe eine vergleichsweise einfache Beschreibung vieler Eigenschaften des Wasserstoffatoms möglich ist. Man stellt sich dazu vor, dass das Elektron den Kern auf einer bestimmten Kreisbahn umläuft. Nach Bohr kann das Elektron auch auf andere, im Abstand zum Kern genau definierte Bahnen springen, so auf weiter außen liegende, wenn ihm die dazu nötige Energie zugeführt wird (z. B. durch Stöße im erhitzten Gas oder in der elektrischen Gasentladung). Beim Rücksprung von einer äußeren auf eine innere Bahn wird jeweils eine elektromagnetische Strahlung oder Welle einer bestimmten, der frei werdenden Energie entsprechende Wellenlänge abgegeben. Mit diesem Modell lassen sich die Spektrallinien des H-Atoms erklären, die im sichtbaren Licht bei Wellenlängen von 656 nm, 486 nm, 434 nm und 410 nm liegen (Balmer-Serie); im ultravioletten Bereich liegt die Lyman-Serie mit Wellenlängen von 122 nm, 103 nm, 97 nm und 95 nm. Wichtige Serien im Infraroten sind die Paschen-Serie (1,9 μm; 1,3 μm; 1,1 μm und 1 μm) und die Brackett-Serie (4,1 μm; 2,6 μm; 2,2 μm und 1,9 μm) (in allen Serien sind hier nur die ersten vier Linien angegeben). Das Bohrsche Modell reicht aber bei der Betrachtung von Details und für andere Atome zur Erklärung der dabei beobachteten bzw. gemessenen Phänomene nicht aus. Physikalisch korrekter ist die quantenmechanische Beschreibung, die dem Elektron anstelle der flachen bohrschen Bahnen räumlich ausgedehnte Atomorbitale zuschreibt. Das H-Atom ist das einzige, für das sich das Eigenwertproblem sowohl der nichtrelativistischen Schrödingergleichung als auch der relativistischen Diracgleichung analytisch, das heißt ohne den Einsatz numerischer Verfahren, lösen lässt. Das ist sonst nur für die ebenfalls ausgiebig untersuchten wasserstoffähnlichen Ionen möglich, denen lediglich ein Elektron verblieben ist (He+, Li2+ usw. bis U91+). Andere quantenmechanische Phänomene bewirken weitere Effekte. Die Feinstruktur der Spektrallinien kommt u. a. daher, dass Bahndrehimpuls und Spin des Elektrons miteinander koppeln. Berücksichtigt man darüber hinaus den Kernspin, kommt man zur Hyperfeinstruktur. Eine sehr kleine, aber physikalisch besonders interessante Korrektur ist die Lambverschiebung durch elektromagnetische Vakuumfluktuationen. Durch all diese Korrekturen wird bereits das Spektrum des Wasserstoffs zu einem komplexen Phänomen, dessen Verständnis viel theoretisches Wissen in Quantenmechanik und Quantenelektrodynamik erfordert. Isotope Es existieren drei natürlich vorkommende Isotope des Wasserstoffs. Von allen Elementen unterscheiden sich beim Wasserstoff die Isotope in ihren chemischen Reaktionsfähigkeiten am deutlichsten voneinander. Das liegt an dem vergleichsweise großen Unterschied der Atommasse (Deuterium 2H doppelt, Tritium 3H dreimal so schwer wie Wasserstoff 1H). Das einfachste Wasserstoff-Isotop 1H besitzt lediglich ein Proton im Kern und wird daher gelegentlich Protium genannt. Es hat mit einer relativen Häufigkeit von 99,98 % den weitaus größten Anteil am irdisch vorkommenden Wasserstoff. Es ist nicht radioaktiv, also stabil. Das Isotop 2H hat neben dem Proton ein Neutron im Kern. Man bezeichnet es als Deuterium. Für Deuterium gibt es das D als ein eigenes Elementsymbol. Verwendung findet es z. B. als Bestandteil von Lösungsmitteln für die 1H-NMR Spektroskopie, da es dabei kein störendes Nebensignal liefert. Es macht 0,015 % aller Wasserstoffatome aus. Deuterium ist ebenfalls stabil. Das Isotop 3H hat neben dem Proton zwei Neutronen im Kern. Man bezeichnet es als Tritium mit dem Elementsymbol T. Es hat nur einen verschwindenden Anteil am gesamten in der Natur vorkommenden Wasserstoff. Es ist radioaktiv und zerfällt durch Betazerfall (β−) mit einer Halbwertszeit von 12,32 Jahren in 3He. Tritium wird durch Kernreaktionen in der oberen Erdatmosphäre ständig als kosmogenes Radionuklid gebildet. Im Gleichgewicht von natürlicher Produktion und Zerfall befinden sich ca. 3,5 kg Tritium in der Biosphäre. Tritium kann in Oberflächenwassern und in Lebewesen nachgewiesen werden. Die schwereren Isotope 4H, 5H, 6H und 7H haben sehr kurze Lebensdauern in der Größenordnung von 10−22 s bis 10−21 s. Kernspinzustände im H2-Molekül Unter normalen Bedingungen ist Wasserstoffgas H2 ein Gemisch von Molekülen, die sich durch die Symmetrie ihrer Kernspins voneinander unterscheiden: ortho- und para-Wasserstoff (kurz o- und p-Wasserstoff). Bei o-Wasserstoff haben die Kernspins symmetrische Konfiguration, daher Gesamtspin S=1 und für die Molekülrotation nur ungerade Quantenzahlen J= 1,3 … . Beim p-Wasserstoff nehmen die Kernspins einen antisymmetrischen Zustand ein, bilden also den Gesamtspin S=0 und haben für die Molekülrotation nur gerade Quantenzahlen J=0,2 … p-Wasserstoff mit J=0 ist die energieärmste Form, also der Grundzustand. Der erste angeregte Zustand ist bei 15,1 meV Energie o-Wasserstoff mit J=1. Nahe dem absoluten Nullpunkt T=0 K findet man im thermodynamischen Gleichgewicht ausschließlich p-Wasserstoff, für nicht zu kaltes Wasserstoffgas ein Gemisch aus der p- und der o-Form. Da es für Gesamtspin S=0 nur einen Spinzustand gibt, bei symmetrischen Kernspins (S=1) aber drei Zustände verschiedener Orientierung im Raum, überwiegen diese ab etwa T>200 K im Gleichgewicht im Verhältnis ortho/para-Wasserstoff von bis zu 3:1. Weiter kann der Anteil der o-Form im thermodynamischen Gleichgewicht nicht gesteigert werden. Im reinen Gas dauert bei tiefen Temperaturen die Einstellung des Gleichgewichts Monate, da die Wechselwirkungen zwischen den Kernen und der Hülle extrem schwach sind. Für diese Zeiten liegt damit praktisch eine Mischung von zwei unterschiedlichen Gasen vor. Trotz gleicher chemischer Zusammensetzung H2 unterscheiden sie sich sogar makroskopisch durch deutlich verschiedenen Temperaturverlauf der spezifischen Wärme. Abgesehen hiervon sind die physikalischen Eigenschaften von o- und p-Wasserstoff aber nur geringfügig verschieden. Beispielsweise liegen der Schmelz- und Siedepunkt der p-Form etwa 0,1 K unter denen der o-Form. Bei der industriellen Herstellung von flüssigem Wasserstoff spielt der Übergang zwischen o- und p-Wasserstoff eine wichtige Rolle, weil bei der Temperatur der Verflüssigung das Gleichgewicht schon stark zur p-Form hin tendiert und sich spätestens im flüssigen Zustand dann schnell einstellt. Damit die dabei frei werdende Wärme nicht gleich einen Teil der gewonnenen Flüssigkeit wieder verdampfen lässt, beschleunigt man die Einstellung des neuen Gleichgewichts schon im gasförmigen Zustand durch den Einsatz von Katalysatoren. Chemische Eigenschaften Besonderheiten Im Periodensystem steht Wasserstoff in der I. Hauptgruppe, weil er 1 Valenzelektron besitzt. Ähnlich wie die ebenfalls dort stehenden Alkalimetalle hat er in vielen Verbindungen die Oxidationszahl +1. Allerdings ist sein Valenzelektron auf der K-Schale, die nur maximal 2 Elektronen haben kann und somit die Edelgaskonfiguration bereits mit 2 Elektronen und nicht mit 8, wie bei den anderen Schalen, erreicht. Durch Aufnahme eines Elektrons von sehr unedlen Metallen kann Wasserstoff die Edelgaskonfiguration des Heliums erreichen und hat dann die Oxidationszahl −1. Diese Verbindungen haben einen Halogenidcharakter und werden als Hydride bezeichnet. Diese Stellung quasi „in der Mitte“ zwischen zwei Edelgaskonfigurationen, in der er die gleiche Anzahl Elektronen aufnehmen oder abgeben kann, ist eine Eigenschaft, die der IV. Hauptgruppe ähnelt, was seine Elektronegativität erklärt, die eher der des ebenfalls „in der Mitte“ stehenden Kohlenstoffs als der des Lithiums gleicht. Aufgrund dieser „gemäßigten“ Elektronegativität sind die für die I. Hauptgruppe typischen Bindungen des Wasserstoffs in der Oxidationszahl +1 keine Ionenbindungen wie bei den Alkalimetallen, sondern kovalente Molekülbindungen. Zusammenfassend sind die Eigenschaften des Wasserstoffs für die I. Hauptgruppe atypisch, da aufgrund der Tatsache, dass die K-Schale nur 2 Elektronen aufnehmen kann, Eigenschaften anderer Gruppen hinzukommen. Molekularer Wasserstoff Bei Zündung reagiert Wasserstoff mit Sauerstoff und Chlor heftig, ist sonst aber vergleichsweise beständig und wenig reaktiv. Bei hohen Temperaturen wird das Gas reaktionsfreudig und geht mit Metallen und Nichtmetallen gleichermaßen Verbindungen ein. Mit Chlor reagiert Wasserstoff exotherm unter Bildung von gasförmigem Chlorwasserstoff, der in Wasser gelöst Salzsäure ergibt. Beide Gase reagieren dabei mit gleichen Stoffmengenanteilen: je ein Chlor- und Wasserstoffmolekül reagieren zu zwei Chlorwasserstoffmolekülen Diese Reaktion ist unter dem Namen Chlorknallgasreaktion bekannt, die sich schon durch die Bestrahlung mit Licht zünden lässt. Für die Knallgasreaktion (Wasserstoff und Sauerstoff) bedarf es einer Zündung. je ein Sauerstoff- und zwei Wasserstoffmoleküle reagieren zu zwei Wassermolekülen Die aggressivste Reaktion bei niedrigen Temperaturen geht jedoch Wasserstoff mit Fluor ein. Wird Wasserstoffgas bei −200 °C auf gefrorenes Fluor geleitet, reagieren die beiden Stoffe sofort explosiv miteinander. je ein Fluor- und Wasserstoffmolekül reagieren zu zwei Fluorwasserstoffmolekülen Wird der molekulare Wasserstoff ionisiert, so spricht man vom Diwasserstoff-Kation. Dieses Teilchen tritt z. B. in Niedertemperatur-Plasmaentladungen in Wasserstoff als häufiges Ion auf. Ionisation durch ein schnelles Elektron im Plasma Nascierender Wasserstoff Wasserstoff in statu nascendi, d. h. im Zustand des Entstehens unmittelbar nach einer Wasserstoff erzeugenden Reaktion, existiert für Sekundenbruchteile in Form der einzelnen, sehr reaktiven H-Atome. Je zwei der Atome reagieren dann zum Molekül, das sich aber nach dem Zusammenschluss für kurze Zeit noch in einem angeregten Zustand befindet. Nascierender Wasserstoff kann – abweichend vom „normalen“ chemischen Verhalten – verschiedene Reaktionen bewirken, die mit molekularem Wasserstoff nicht möglich sind. So gelingt es zum Beispiel nicht, mit Hilfe von im Kippschen Apparat erzeugtem Wasserstoffgas in einer angesäuerten, violetten Kaliumpermanganatlösung (KMnO4) oder gelben Kaliumdichromatlösung (K2Cr2O7) den die Reduktion anzeigenden Farbwechsel hervorzurufen. Mit direkt in diesen Lösungen durch Zugabe von Zinkpulver erzeugtem Wasserstoff in statu nascendi gelingt diese reduktive Farbänderung. Nascierender Wasserstoff vermag unter sauren Bedingungen violette Permanganatlösung zu entfärben. Unter sauren Bedingungen wird gelbe Dichromatlösung grün durch die reduzierende Wirkung des nascierenden Wasserstoffs. Atomarer Wasserstoff Um molekularen Wasserstoff in die Atome zu zerlegen, muss Energie von 436,22 kJ/mol (4,52 eV pro Molekül) aufgewendet werden (der Chemiker spricht von Enthalpie); beim Zusammenschluss zu Wasserstoffmolekülen wird diese Energie wieder freigesetzt: Diese Energie ist unter Standardbedingungen weit höher als die thermische Energie , daher liegt das Gleichgewicht vollkommen auf der rechten Seite der dargestellten Gleichung. Eine Anwendung findet diese Reaktion beim Arcatom-Schweißen. Im Weltraum liegt bei niedrigen Temperaturen in der Regel molekularer Wasserstoff vor. In der Nähe heißer Sterne wird molekularer Wasserstoff jedoch von deren Strahlung aufgespalten, so dass dort die atomare Form überwiegt oder auch die Atome ionisiert werden (H-II-Gebiet). Innerhalb von Sternen liegt Wasserstoff infolge der dort herrschenden hohen Temperaturen nicht atomar vor, sondern als Plasma. Die Oberfläche der Sonne hat jedoch „nur“ eine Temperatur von ca. 5500 °C, was einer thermischen Energie von 0,5 eV entspricht, weit unter der Energie von 4,5 eV, die zur Auflösung der molekularen Bindung erforderlich ist. Bei dieser Temperatur ist daher der größte Teil des Wasserstoffes nicht ionisiert und sogar molekular. Im Außenbereich der Sonne, der Korona, herrschen hingegen Temperaturen um eine Million Kelvin. Daher sind im Sonnenlicht die Übergänge der Elektronen im atomaren Wasserstoff erkennbar. Wasserstoffbrückenbindung Eine wichtige Eigenschaft des Wasserstoffs ist die so genannte Wasserstoffbrückenbindung, eine anziehende elektrostatische Kraft zwischen zwei Molekülen. Ist Wasserstoff an ein stark elektronegatives Atom, wie Fluor oder Sauerstoff, gebunden, so befindet sich sein Elektron eher in der Nähe des Bindungspartners. Es tritt also eine Ladungsverschiebung auf und das H-Atom wirkt nun positiv polarisiert. Der Bindungspartner wirkt entsprechend negativ. Kommen sich zwei solche Moleküle nahe genug, tritt eine anziehende elektrische Kraft zwischen dem positiven H-Atom des einen Moleküls und des negativen Teils des jeweiligen Partners auf. Das ist eine Wasserstoffbrückenbindung. Da die Wasserstoffbrückenbindung mit nur 17 kJ/mol bis 167 kJ/mol schwächer ist als die Bindungskraft innerhalb eines Moleküls, verbinden sich die Moleküle nicht dauerhaft. Vielmehr bleibt die Wasserstoffbrücke wegen ständiger Bewegung nur Bruchteile einer Sekunde bestehen. Dann lösen sich die Moleküle voneinander, um erneut eine Wasserstoffbrückenbindung mit einem anderen Molekül einzugehen. Dieser Vorgang wiederholt sich ständig. Die Wasserstoffbrückenbindung ist für viele Eigenschaften verschiedener Verbindungen verantwortlich, wie DNA oder Wasser. Bei Letzterem führen diese Bindungen zu den Anomalien des Wassers, insbesondere der Dichteanomalie. Verwendung Jedes Jahr werden weltweit mehr als 600 Milliarden Kubikmeter Wasserstoff (rd. 30 Mio. t) für zahllose Anwendungen in Industrie und Technik gewonnen. Wichtige Einsatzgebiete sind: Energieträger: Beim Schweißen, als Raketentreibstoff. Von seiner Verwendung als Kraftstoff für Strahltriebwerke, in Wasserstoffverbrennungsmotoren oder über Brennstoffzellen verspricht man sich, in absehbarer Zeit die Nutzung von Erdölprodukten ablösen zu können (siehe Wasserstoffantrieb), weil bei der Verbrennung vor allem Wasser entsteht, doch kein Ruß und kein Kohlenstoffdioxid. Wasserstoff ist jedoch im Gegensatz zu Erdöl keine Primärenergie. Kohlehydrierung: Durch verschiedene chemische Reaktionen wird Kohle mit H2 in flüssige Kohlenwasserstoffe überführt. So lassen sich Benzin, Diesel und Heizöl künstlich herstellen. Reduktionsmittel: H2 kann mit Metalloxiden reagieren und ihnen dabei den Sauerstoff entziehen. Es entsteht Wasser und das reduzierte Metall. Dieses Verfahren der Verhüttung von Erzen und Zwischenprodukten wird genützt um Metalle möglichst rein zu gewinnen, etwa Wolfram. Denn Kohle und Koks bringen Begleitstoffe wie Phosphor und Schwefel ein. Ammoniakherstellung: Mit dem Haber-Bosch-Verfahren wird aus Stickstoff und Wasserstoff Ammoniak hergestellt und daraus wichtige Düngemittel und Sprengstoffe. Fetthärtung: Gehärtete Fette werden aus Pflanzenöl mittels Hydrierung gewonnen. Dabei werden die Doppelbindungen in ungesättigten Fettsäure-Resten der Glyceride mit Wasserstoff abgesättigt. Die entstehenden Fette haben einen höheren Schmelzpunkt, wodurch das Produkt fest wird. Auf diese Weise stellt man Margarine her. Dabei können als Nebenprodukt gesundheitlich bedenkliche trans-Fette entstehen. Lebensmittelzusatzstoff: Wasserstoff ist als E 949 zugelassen und wird (selten) als Treibgas, Packgas u. ä. verwendet. Kühlmittel: Aufgrund seiner hohen Wärmekapazität benutzt man (gasförmigen) Wasserstoff in Kraftwerken und den dort eingesetzten Turbogeneratoren als Kühlmittel. Insbesondere setzt man H2 dort ein, wo eine Flüssigkeitskühlung problematisch werden kann. Die Wärmekapazität kommt dort zum Tragen, wo das Gas nicht oder nur langsam zirkulieren kann. Weil die Wärmeleitfähigkeit ebenfalls hoch ist, verwendet man strömendes H2 zum Abtransport von thermischer Energie in große Reservoire (z. B. Flüsse). In diesen Anwendungen schützt Wasserstoff die Anlagen vor Überhitzung und erhöht die Effizienz. Von Vorteil ist dabei, dass Wasserstoff durch seine geringe Dichte, die in die Reynoldszahl eingeht, bis zu höheren Geschwindigkeiten widerstandsarm laminar strömt als andere Gase. Kryogen: Wegen der hohen Wärmekapazität und des niedrigen Siedepunkts eignet sich flüssiger Wasserstoff als Kryogen, also als Kühlmittel für extrem tiefe Temperaturen. Auch größere Wärmemengen können von flüssigem Wasserstoff gut absorbiert werden, bevor eine merkliche Erhöhung in seiner Temperatur auftritt. So wird die tiefe Temperatur bei äußeren Schwankungen aufrechterhalten. Traggas: In Ballons und Luftschiffen fand Wasserstoff eine seiner ersten Verwendungen. Wegen der leichten Entzündlichkeit von H2-Luft-Gemischen führte dies jedoch wiederholt zu Unfällen. Die größte Katastrophe in diesem Zusammenhang ist wohl das Unglück der „Dixmude“ 1923, am bekanntesten wurde sicherlich die „Hindenburg-Katastrophe“ im Jahr 1937. In bemannten Zeppelinen wurde daraufhin der Wasserstoff durch Helium ersetzt. Spielt der Sicherheitsaspekt keine Rolle, beispielsweise bei Wetterballons, wird weiterhin der vielfach kostengünstigere und leichtere Wasserstoff bevorzugt. In der instrumentellen Analytik: so beim Betrieb des Flammenionisationsdetektors (FID) in Gaschromatographen. Die beiden natürlichen Isotope haben spezielle Einsatzgebiete. Deuterium (D = H-2) findet (in Form von schwerem Wasser) in Schwerwasserreaktoren als Moderator Verwendung, d. h. zum Abbremsen der bei der Kernspaltung entstehenden schnellen Neutronen auf thermische Geschwindigkeit. Deuterierte Lösungsmittel werden in der magnetischen Kernresonanzspektroskopie benutzt, da Deuterium einen Kernspin von Eins besitzt und im NMR-Spektrum des normalen Wasserstoff-Isotops nicht sichtbar ist. In der Chemie und Biologie helfen Deuteriumverbindungen bei der Untersuchung von Reaktionsabläufen und Stoffwechselwegen (Isotopenmarkierung), da sich Verbindungen mit Deuterium chemisch und biochemisch meist nahezu identisch verhalten wie die entsprechenden Verbindungen mit Wasserstoff. Die Reaktionen werden von der Markierung nicht gestört, der Verbleib des Deuteriums ist in den Endprodukten dennoch feststellbar. Ferner sorgt der erhebliche Massenunterschied zwischen Wasserstoff und Deuterium für einen deutlichen Isotopeneffekt bei den massenabhängigen Eigenschaften. So hat das schwere Wasser einen messbar höheren Siedepunkt als Wasser. Das radioaktive Isotop Tritium (T = H-3) wird in Kernreaktoren in industriell verwertbaren Mengen hergestellt. Außerdem ist es neben Deuterium ein Ausgangsstoff bei der Kernfusion zu Helium. In der zivilen Nutzung dient es in Biologie und Medizin als radioaktiver Marker. So lassen sich beispielsweise Tumorzellen aufspüren. In der Physik ist es einerseits selbst Forschungsgegenstand, andererseits untersucht man mit hochbeschleunigten Tritiumkernen schwere Kerne oder stellt künstliche Isotope her. Mit Hilfe der Tritiummethode lassen sich Wasserproben sehr genau datieren. Mit einer Halbwertszeit von etwa zwölf Jahren eignet es sich besonders für die Messung relativ kurzer Zeiträume (bis zu einigen hundert Jahren). Unter anderem lässt sich so das Alter eines Weines feststellen. Es findet Verwendung als langlebige, zuverlässige Energiequelle für Leuchtfarben (im Gemisch mit einem Fluoreszenzfarbstoff), vor allem in militärischen Anwendungen, auch in Armbanduhren. Weitere militärische Verwendung findet das Isotop in der Wasserstoffbombe und gewissen Ausführungen von Kernwaffen, deren Wirkung auf Spaltung beruht. Wasserstoff als Energiespeicher Wasserstoff gilt als ein Energieträger der Zukunft. Herstellung von Wasserstoff Als Energieträger ist Wasserstoff – wie elektrische Energie – keine Primärenergie, sondern muss wie Strom aus Primärenergie hergestellt werden. Wasserstoff als Energieträger verursacht kein Kohlendioxid, wenn er mit erneuerbaren Energien wie Windenergie oder Sonnenenergie gewonnen wird (sogenannter Grüner Wasserstoff). Biowasserstoff verursacht in der Nettobilanz kein Kohlendioxid, wenn Anbau und Verarbeitung der genutzten Biomasse CO2-neutral erfolgen. Derzeit (2019) erfolgt die Wasserstoff-Herstellung jedoch fast ausschließlich aus fossiler Primärenergie, überwiegend durch Erdgas-Reformierung. Die unter dem Schlagwort „Power-to-Gas“ oft favorisierte Gewinnung durch Wasser-Elektrolyse mit überschüssigem erneuerbaren Strom gilt bei praktisch realisierten Wirkungsgraden von kaum über 60 % als relativ ineffizient und wirtschaftlich nicht konkurrenzfähig gegenüber Reformierung von Erdgas, weil ausreichend billiger Strom-Überschuss tatsächlich nur für einige Stunden im Jahr genutzt werden kann und sich bei so meist geringer Auslastung die erforderliche Anlagen-Technik nur mit hohen Subventionen in Forschungs- und Pilot-Anlagen finanzieren lässt. Das kann sich erst ändern, falls eine künftig überwiegend regenerativ umgestellte Strom-Versorgung noch wesentlich mehr und nicht anderweitig verwertbare Überschüsse abwirft oder aber Erdgas als Rohstoff teurer als regenerative Stromerzeugung werden sollte bzw. mit einer entsprechend hohen CO2-Abgabe belegt wird. Speicherung von Wasserstoff Energiedichten im Vergleich Auf das Volumen bezogen: Wasserstoff (flüssig, also tiefkalt): 2360 kWh/m³ Benzin: 8760 kWh/m³ Erdgas (20 MPa = 200 bar): 2580 kWh/m³ Wasserstoffgas (20 MPa): 530 kWh/m³ Wasserstoffgas (Normaldruck): 3 kWh/m³ Kernfusion Kernfusion in der Sonne und in Sternen Mit Wasserstoffbrennen wird die Kernfusion von Wasserstoff in Helium im Inneren von Sternen bezeichnet. Diese Reaktion stellt in normalen Sternen während des Großteils ihres Lebenszyklus die wesentliche Energiequelle dar. Sie hat trotz ihres historisch bedingten Namens nichts mit einer chemischen Verbrennung zu tun. Der Prozess der Kernfusion kann beim Wasserstoffbrennen auf zwei Arten ablaufen, bei denen auf verschiedenen Wegen jeweils vier Protonen, die Atomkerne des Wasserstoffs, in einen Heliumkern 4He umgewandelt werden: die relativ direkte Proton-Proton-Reaktion der schwere Elemente (Kohlenstoff, Stickstoff, Sauerstoff) nutzende Bethe-Weizsäcker-Zyklus (CNO-Zyklus) Insgesamt wird beim Wasserstoffbrennen etwa 0,73 % der Masse in Energie umgewandelt, was man als Massendefekt bezeichnet. Die aus der Massendifferenz erzeugte Energie ergibt sich aus der einsteinschen Beziehung E = mc². Sie resultiert aus der Kernbindungsenergie der Nukleonen, der Kernbausteine. Fusionswaffen 1952 testeten die Vereinigten Staaten die erste Wasserstoffbombe. Brennstoff war das Isotop Deuterium. In der Bombe liefen vor allem folgende Kernreaktionen ab: Das entstandene Tritium und Helium-3 können noch weiter reagieren: In Summe entstehen aus drei Deuteronen ein Heliumkern sowie ein Neutron und ein Proton. Da Deuterium wie Wasserstoff schwer zu speichern ist, wird bei den meisten Fusionswaffen inzwischen auf Lithium-Deuterid (LiD) als Brennstoff zurückgegriffen. Durch die bei der Primärreaktion von Deuterium entstehenden Neutronen wird aus dem Lithium Tritium erbrütet: Fusionsreaktoren Physiker forschen an einer friedlichen Nutzung der Kernverschmelzung zur Energiegewinnung in Kernfusionsreaktoren. Am weitesten fortgeschritten sind Versuche, die Reaktion in einem Plasma kontrolliert ablaufen zu lassen. Die dazu nötigen sehr hohen Temperaturen sind schwierig zu realisieren. Anders als Wasserstoffbomben werden Reaktoren voraussichtlich nur die Deuterium-Tritium-Reaktion zur Energiegewinnung nutzen können. Biologische Bedeutung Wasserstoff ist in Form verschiedenster Verbindungen essentiell für alle bekannten Lebewesen. An vorderster Stelle zu nennen ist hier Wasser, welches als Medium für alle zellulären Prozesse und für alle Stofftransporte dient. Zusammen mit Kohlenstoff, Sauerstoff, Stickstoff (und seltener auch anderen Elementen) ist er Bestandteil derjenigen Moleküle aus der organischen Chemie, ohne die jegliche uns bekannte Form von Leben schlicht unmöglich ist. Wasserstoff spielt im Organismus aktive Rollen, so bei einigen Koenzymen wie Nicotinamid-Adenin-Dinucleotid (NAD/NADH), die als Reduktionsäquivalente (oder „Protonentransporter“) im Körper dienen und bei Redoxreaktionen mitwirken. In den Mitochondrien, den Kraftwerken der Zelle, dient die Übertragung von Wasserstoffkationen (Protonen) zwischen verschiedenen Molekülen der so genannten Atmungskette dazu, einen Protonengradienten durch chemiosmotisches Membranpotenzial zur Generierung von energiereichen Verbindungen wie Adenosintriphosphat (ATP) bereitzustellen. Bei der Photosynthese in Pflanzen und Bakterien wird der Wasserstoff aus dem Wasser dazu benötigt, das fixierte Kohlendioxid in Kohlenhydrate umzuwandeln. Bezogen auf die Masse ist Wasserstoff im menschlichen Körper das drittwichtigste Element: Bei einer Person mit einem Körpergewicht von 70 kg, sind rund 7 kg (= 10 Gew.-%) auf den enthaltenen Wasserstoff zurückzuführen. Nur Kohlenstoff (ca. 20 Gew.-%) und Sauerstoff (ca. 63 Gew.-%) machen einen noch größeren Gewichtsanteil aus. Bezogen auf die Anzahl der Atome ist der sehr leichte Wasserstoff sogar das mit Abstand häufigste Atom im Körper eines jeden Lebewesens (die 7 kg beim Menschen entsprechen 3,5·103 Mol Wasserstoff mit je 2·6·1023 Atomen, das sind rund 4,2·1027 Wasserstoffatome). Medizinische Bedeutung In biologischen Systemen reagiert molekularer Wasserstoff mit reaktiven Sauerstoffspezies und wirkt so als Antioxidans. Im Tierversuch führt die Anreicherung von Trinkwasser mit molekularem Wasserstoff nach Nierentransplantation zu einem besseren Überleben des Transplantates, zu einem verminderten Auftreten einer chronischen Schädigung des Transplantates, zu einer Verminderung der Konzentration an reaktiven Sauerstoffspezies und zu einer Hemmung von Signalwegen, welche die entzündliche Aktivität verstärken (proinflammatorische Signalwege). Ökologische Bedeutung Das Treibhauspotential von Wasserstoff ist bisher nur wenig untersucht. Die Schätzungen reichen vom 1,9 bis zum 16fachen der Wirkung von Kohlenstoffdioxid, bei einem Zeithorizont von 100 Jahren. Eine 2023 publizierte Studie ermittelte über den Zeithorizont von 100 Jahren ein Treibhauspotential von 11,6 ±2,8, womit es 11,6 mal stärker wirkt als Kohlenstoffdioxid. Dabei ist Wasserstoff allerdings kein direktes Treibhausgas, denn es absorbiert keine Infrarotstrahlung. Stattdessen beeinflusst es das Vorkommen anderer Treibhausgase, sodass es indirekt Einfluss auf den Treibhauseffekt nimmt. Wenn H2 in die Atmosphäre gelangt, reagiert es mit dem dort vorkommenden Hydroxylradikal und bildet Wasser. Dadurch steht zum einen zunächst weniger Hydroxylradikal zur Verfügung, welches eine wichtige Reinigungsfunktion hat, um Methan und andere Treibhausgase mit noch höherer Klimawirkung als Wasserstoff abzubauen. Zum anderen entsteht dabei Wasserdampf, welcher in der Stratosphäre ebenfalls eine hohe Klimawirkung hat. Laut einer von der britischen Regierung in Auftrag gegebenen Studie aus dem Jahr 2022 soll eine Tonne Wasserstoff über einen Zeitraum von 100 Jahren die Atmosphäre der Erde etwa elf Mal so stark erwärmen wie eine Tonne CO2. Allerdings kommen die Autoren ebenfalls zu dem Schluss, dass auch in den pessimistischsten Szenarien die schädlichen Effekte weit weniger gravierend sind als diejenigen, die das durch die Nutzung von klimaneutral hergestelltem Wasserstoff eingesparte CO2 haben würde. Trotz der klimaschädlichen Wirkung wird H2 nicht in der Liste der Treibhausgase des Pariser Klimaschutzabkommens und den Inventaren der Klimarahmenkonventionen §12 aufgeführt. Es kann deshalb nicht in nationalen Klimabilanzen verrechnet werden. Bedeutung im Leistungssport Aufgrund der Wirkung als Antioxidans hat Wasserstoff eine leistungssteigernde Wirkung bei anaeroben Belastungen. Er kann sowohl niedrig dosiert im Training über einen längeren Zeitraum verwendet werden als auch hochdosiert unmittelbar vor bzw. während des Wettkampfes, z. B. in Halbzeitpausen. Er kann sowohl zum unmittelbaren Gebrauch Getränken beigefügt werden als auch in Gasform ähnlich wie bei Sauerstoff z. B. über eine Maske eingeatmet werden. Nur die intravenöse Verabreichung ist durch die Anti-Doping-Bestimmungen verboten. Sicherheitshinweise Wasserstoff ist extrem entzündbar (alte Bezeichnung: hochentzündlich). Er brennt mit reinem Sauerstoff oder Luft sowie mit anderen gasförmigen Oxidationsmitteln wie Chlor oder Fluor mit heißer Flamme. Da die Flamme kaum sichtbar ist, kann man unabsichtlich hinein geraten. Gemische mit Chlor oder Fluor sind schon durch Ultraviolettstrahlung entzündbar (siehe Chlorknallgas). Außer der nach GHS vorgeschriebenen Kennzeichnung (siehe Info-Box) müssen H2-Druckgasflaschen nach DIN EN 1089-3 mit roter Flaschenschulter und rotem Flaschenkörper versehen sein. Wasserstoff ist nicht als gesundheitsschädlich oder umweltgefährdend eingestuft. Daher ist kein AGW-Wert festgelegt. Atem- oder Hautschutz sind nicht erforderlich. Erst wenn hohe Konzentrationen eingeatmet werden, können durch den Mangel an Sauerstoff ab etwa 30 Vol.-% Bewegungsstörungen, Bewusstlosigkeit und Ersticken auftreten. Durch rasch austretendes Gas können bei Kontakt mit der Haut Kälteverbrennungen auftreten. Gemische aus Luft mit einem Volumenanteil von 4 % bis 76 % Wasserstoff sind entzündbar. Ab einem Volumenanteil von 18 % in Luft ist das Gemisch explosiv (Knallgas). Aufgrund der hohen Diffusionsneigung und der geringen Dichte verflüchtigt sich Wasserstoff in offener Umgebung häufig, bevor es zur Bildung eines explosiven Gemischs kommt, oder brennt in heißen Umgebungen beim Erreichen der Konzentrationsgrenze von 4 % ab. Die Zündtemperatur in Luft beträgt 560 °C. Bei der Handhabung ist der Wasserstoff von Zündquellen, dazu gehören elektrostatische Entladungen, fernzuhalten. Die Lagerung der Behälter sollte fern von oxidierenden Gasen (Sauerstoff, Chlor) und anderen oxidierenden (brandfördernden) Stoffen erfolgen. Wasserstoff kann wegen seiner geringen Größe durch viele Feststoffe hindurchdiffundieren, das heißt, Gas kann langsam durch ungeeignete Materialien austreten. Die für Gastanks und Leitungen verwendeten Materialien und ‑stärken berücksichtigen dies, sodass keine größeren Risiken bestehen als z. B. bei der Verwendung von Benzin. Wasserstofffahrzeuge mit Drucktanks können problemlos in Parkhäusern und Tiefgaragen geparkt werden. Es existiert keine gesetzliche Bestimmung, die das einschränkt (siehe dazu: Wasserstoffspeicherung). Nachweis Molekularen Wasserstoff kann man durch die Knallgasprobe nachweisen. Bei dieser Nachweisreaktion wird eine kleine, beispielsweise während einer Reaktion aufgefangene Menge eines Gases in einem Reagenzglas entzündet. Wenn danach ein dumpfer Knall, ein Pfeifen oder ein Bellen zu hören ist, so ist der Nachweis positiv (das heißt, es war Wasserstoff in dem Reagenzglas). Der Knall kommt durch die Reaktion von Wasserstoffgas mit dem Luftsauerstoff zustande: (exotherme Reaktion) Wasserstoff reagiert mit Sauerstoff zu Wasser Mit der gleichen Reaktion verbrennt Wasserstoff mit einer schwach bläulichen Flamme, wenn man ihn gleich an der Austrittsstelle entzündet (Pfeifgas). Die Knallgasprobe ist die „klassische“ Methode zum Nachweis und ist besonders in Schulversuchen beliebt. Verbindungen Wasserstoff geht mit den meisten chemischen Elementen Verbindungen mit der allgemeinen Summenformel EHn (n = 1, 2, 3, 4) ein. Einige wenige dieser Elementwasserstoffe sind nur in Form so genannter Addukte bekannt, wie Lm · EHn (L steht für einen Liganden). Die Folgende Abbildung bietet eine Übersicht über wichtige Grundreaktionen des Wasserstoffs. Auf genaue Reaktionsbedingungen und Stöchiometrie ist hier nicht geachtet. Wasserstoff kann in Verbindungen sowohl positive als auch negative Ladungsanteile tragen. Das ist abhängig davon, ob der Bindungspartner eine höhere oder eine niedrigere Elektronegativität als Wasserstoff (2,2) besitzt. Zwischen den beiden Verbindungstypen lässt sich im Periodensystem keine scharfe Grenze ziehen, da zum Beispiel das Säure-Base-Verhalten mit berücksichtigt werden muss. Eine mehr oder weniger willkürliche Betrachtung besagt, dass in den Wasserstoffverbindungen der Elemente Bor, Silicium, Germanium, Zinn und Blei sowie allen links davon der Wasserstoff negativ polarisiert ist, in Verbindungen mit Kohlenstoff, Phosphor, Arsen, Antimon, Bismut und allen Elementen rechts davon positiv. Entsprechend lässt sich bei Monosilan (SiH4) die Oxidationszahl für Silicium auf +4 (Wasserstoff dementsprechend −1), in Methan (CH4) für Kohlenstoff auf −4 (Wasserstoff +1) festlegen. Zur Darstellung von Wasserstoffverbindungen EHn werden hauptsächlich drei verschiedene Verfahren genutzt: Die Umsetzung des entsprechenden Elements E mit Wasserstoff (H2; Hydrogenolyse) Ein Element reagiert mit Wasserstoff bei Energiezufuhr zum entsprechenden Elementwasserstoff. Die Reaktion von Metallverbindungen des Typs MnE mit Wasserstoffsäuren (H+; Protolyse) Eine Metallverbindung des Elements E reagiert mit einer Säure HA zum Elementwasserstoff und einem Metallsalz. Die Umsetzung von Halogenverbindungen (EHaln) mit Hydriden (H−; Hydridolyse) Hydridionen setzen aus einer Halogenverbindung des Elements E den entsprechenden Elementwasserstoff frei. Salzartige Verbindungen In Verbindung mit Metallen kann Wasserstoff jeweils ein Elektron aufnehmen, so dass negativ geladene Wasserstoffionen (Hydridionen, H−) entstehen, die mit Metallkationen Salze bilden. Diese Verbindungen werden Hydride genannt. Salzartige Elementwasserstoffe sind von den Alkali- und, mit Ausnahme von Beryllium, den Erdalkalimetallen bekannt. Außerdem zählt man die Dihydride des Europiums und Ytterbiums (EuH2 und YbH2) dazu. Metallhydride reagieren sehr heftig mit Wasser unter Freisetzung von molekularem Wasserstoff (H2) und können sich an der Luft selbst entzünden, wobei sich Wasser und das Metalloxid bilden. In der Mehrzahl sind sie aber nicht explosiv. Minerale, die (an Sauerstoff gebundenen) Wasserstoff enthalten, sind Hydrate oder Hydroxide. Metallartige Verbindungen In metallartigen Wasserstoffverbindungen – mit wenigen Ausnahmen sind das die Übergangsmetallhydride – ist atomarer Wasserstoff in der entsprechenden Metallstruktur eingelagert. Man spricht in diesem Fall auch von Wasserstoff-Einlagerungsverbindungen, obwohl sich bei der Aufnahme des Wasserstoffs die Struktur des Metalls ändert (was eigentlich nicht der Definition für Einlagerungsverbindungen entspricht). Das Element besetzt die oktaedrischen und tetraedrischen Lücken in den kubisch- bzw. hexagonal-dichtesten Metallatompackungen. Die Löslichkeit von Wasserstoff steigt mit zunehmender Temperatur. Man findet jedoch selbst bei Temperaturen über 500 °C selten mehr als einen Stoffmengenanteil von 10 % Wasserstoff im betreffenden Metall. Am meisten Wasserstoff können die Elemente Vanadium, Niob und Tantal aufnehmen. Bei Raumtemperatur sind folgende Stöchiometrien zu beobachten: VH0,05, NbH0,11 und TaH0,22. Ab 200 °C findet man bei diesen Metallen eine 1:1-Stöchiometrie (MH) vor. Das kubisch-raumzentrierte Kristallgitter bleibt dabei unangetastet. Kovalente Verbindungen Verbindungen, bei denen Wasserstoff der elektropositivere Partner ist, haben einen hohen kovalenten Anteil. Als Beispiele seien Fluorwasserstoff (HF) oder Chlorwasserstoff (HCl) genannt. In Wasser reagieren diese Stoffe als Säuren, da der Wasserstoff sofort als Proton (H+-Ion) von umgebenden Wassermolekülen abgespalten werden kann. Isolierte H+-Ionen verbinden sich in wässriger Lösung sofort mit Wassermolekülen zu H3O+-Ionen; dieses Ion ist verantwortlich für die saure Eigenschaft von wässrigen Chlorwasserstofflösungen. Säure-Base-Verhalten Die kovalenten Wasserstoffverbindungen der Elemente der IV. bis VII. Hauptgruppe des Periodensystems sowie Borwasserstoffe sind Säuren nach der Definition von Johannes Nicolaus Brønsted, geben also Protonen an andere Verbindungen ab. Die Säurestärke der Verbindungen nimmt dabei in den Hauptgruppen von oben nach unten und in den Perioden von links nach rechts zu. Ebenso steigt sie mit der Zahl der Element-Element-Bindungen bei Wasserstoffverbindungen eines bestimmten Elements. So ist zum Beispiel Wasser (H2O) eine schwächere Säure als Wasserstoffperoxid (H2O2), Ethan (C2H6) in der Säurestärke schwächer als Ethen (C2H4) und Ethin (C2H2). Umgekehrt können kovalente Elementwasserstoffe als Basen fungieren. Wasserstoffverbindungen der Elemente aus Hauptgruppe V bis VII können Protonen aufnehmen, da sie über freie Elektronenpaare verfügen. Ursache für die Acidität oder Basizität einer wässrigen Lösung ist die Stoffmengenkonzentration an Protonen (H+-Ionen). Den negativen dekadischen Logarithmus dieser Konzentration nennt man pH-Wert. Zum Beispiel bedeutet eine Konzentration von 0,001 mol H+-Ionen pro Liter Wasser „pH 3,0“. Dieses Beispiel trifft auf eine Säure zu. Wasser ohne jeden Zusatz hat bei Normalbedingungen den pH 7, Basen haben pH-Werte bis 14. Oxide Wasserstoffoxide (auch Hydrogeniumoxide) sind Verbindungen, die nur aus Wasserstoff und Sauerstoff bestehen. Von größter Wichtigkeit ist das Wasser (Wasserstoffoxid); von technischer Bedeutung ist daneben Wasserstoffperoxid, früher Wasserstoffsuperoxid genannt. Ein weiteres, aber selteneres Oxid ist das Dihydrogentrioxid. Von außerordentlicher Bedeutung für alles Leben auf der Erde sind auch Alkohole und Saccharide sowie Carbonsäuren, die (nur) Wasserstoff, Sauerstoff und Kohlenstoff enthalten. Kohlenwasserstoffe Wasserstoff bildet mit Kohlenstoff die kovalenten Kohlenwasserstoffe, deren Studium sich die Kohlenwasserstoffchemie verschrieben hat. Siehe auch Grüner Wasserstoff Natürlicher Wasserstoff Literatur Chemie Erwin Riedel: Anorganische Chemie. de Gruyter, Berlin 2002, ISBN 3-11-017439-1. Harry H. Binder: Lexikon der chemischen Elemente – das Periodensystem in Fakten, Zahlen und Daten. S. Hirzel Verlag, Stuttgart 1999, ISBN 3-7776-0736-3. Technik Peter Kurzweil: Brennstoffzellentechnik. 1. Auflage. Vieweg Verlag, Wiesbaden 2003, ISBN 3-528-03965-5. Udo Schelling: Brennstoffzellen. In: Richard Zahoransky (Hrsg.): Energietechnik. 5., überarb. u. erw. Auflage. Vieweg+Teubner Verlag, Wiesbaden 2010, ISBN 978-3-8348-1207-0, S. 203ff. Helmut Eichlseder, Manfred Klell: Wasserstoff in der Fahrzeugtechnik. 1. Auflage. Vieweg+Teubner Verlag, Wiesbaden 2008, ISBN 978-3-8348-0478-5. Rex A. Ewing: Hydrogen – A Journey Into a World of Hydrogen Energy and Fuel Cells. Pixyjack Press, Masonville CO 2004, ISBN 0-9658098-6-2. Bedeutung Hoimar von Ditfurth: Im Anfang war der Wasserstoff. dtv, München 2002, ISBN 3-423-33015-5. Weblinks Eine Wasserstoff- und Deuterium-Spektralröhre Betrieb mit 1,8 kV, 18 mA und einer Frequenz von 35 kHz. Einzelnachweise Kraftstoff Brenngas !Wasserstoff Kühlmittel Lebensmittelzusatzstoff (EU)
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https://de.wikipedia.org/wiki/Windkraftanlage
Windkraftanlage
Eine Windkraftanlage (Abk.: WKA) oder Windenergieanlage (Abk.: WEA) wandelt Bewegungsenergie des Windes in elektrische Energie um und speist sie in ein Stromnetz ein. Umgangssprachlich werden auch die Bezeichnungen Windkraftwerk oder einfach nur Windrad verwendet. Windkraftanlagen sind heute mit Abstand die wichtigste Form der Windenergienutzung. Die mit großem Abstand dominierende Bauform ist der dreiblättrige Auftriebsläufer mit horizontaler Achse und Rotor auf der Luvseite. Zwischen Rotor und Generator kann sich ein zu höherer Drehzahl übersetzendes Zahnradgetriebe befinden. Das gemeinsame Maschinengehäuse (auch als Gondel bezeichnet) ist auf einem rohrförmigen Turm montiert und wird samt Rotor der Windrichtung per Elektromotor nachgeführt. Andere Bauweisen, insbesondere der Rotoren, haben sich bisher nicht durchgesetzt. Windkraftanlagen können in allen Klimazonen genutzt werden. Sie werden an Land (onshore) und in Offshore-Windparks im Küstenvorfeld der Meere installiert. Heutige Anlagen speisen fast ausschließlich in ein übergeordnetes Stromnetz anstatt in ein Inselnetz ein. Sie weisen durch die verwendete Leistungselektronik im Gegensatz zu älteren Anlagen mit direkt netzgekoppeltem Asynchrongenerator eine sehr gute Netzverträglichkeit auf. Die Nennleistung neu installierter Windkraftanlagen liegt an Land meist im Bereich von 3 bis über 6 MW, während die größten bisher entwickelten Offshore-Anlagen bis etwa 15 MW erreichen. Eine Gruppe von Windkraftanlagen wird Windpark genannt. Kleinanlagen im Leistungsbereich von wenigen 100 Watt bis zu mehreren kW werden als Windgeneratoren bezeichnet. Diese können als Inselanlage wirtschaftlich sein. Geschichte der Windkraftanlagen Windmotoren, Testanlagen und gescheiterte Großprojekte Die erste belegte windbetriebene Anlage zur Stromerzeugung errichtete 1883 der österreichische Ingenieur Josef Friedländer anlässlich der Internationalen Elektrizitätsausstellung 1883, sie stand im Eingangsbereich des Ausstellungsgeländes vor der Rotunde im Wiener Prater. Bei dem Windrad handelte es sich um eine Windturbine des Halladay-Bautyps, die in Nordamerika auf Farmen zum Pumpen von Wasser eingesetzt wurden. Josef Friedländer adaptierte die Anlage zur Erzeugung von Elektrizität. Das Windrad hatte einen Durchmesser von 6,6 Metern und trieb einen Dynamo am Boden an, der Strom in mehrere Batterien einspeiste, welche wiederum Werkzeuge und Lampen sowie eine Dreschmaschine betrieben. 1887 baute der Schotte James Blyth eine Anlage, um Akkumulatoren für die Beleuchtung seines Ferienhäuschens aufzuladen. Seine einfache, robuste Konstruktion mit einer vertikalen Achse von zehn Metern Höhe und vier auf einem Kreis von acht Metern Durchmesser angeordneten Segeln hatte eine bescheidene Effizienz. Nahezu zeitgleich orientierte sich Charles Francis Brush in Cleveland, Ohio mit einer 20 Meter hohen Anlage an den damals recht fortgeschrittenen amerikanischen Windpumpen. Bei Pumpen kommt es eher auf das Drehmoment als auf die Drehzahl an; Brush verwendete eine zweistufige Übersetzung mit Riementrieben, um einen 12-kW-Generator anzutreiben. Der Däne Poul la Cour kam um 1900 durch systematische Versuche – unter anderem an aerodynamisch geformten Flügelprofilen in Windkanälen – zum Konzept des Schnellläufers, bei dem nur wenige Rotorblätter ausreichen, die Energie der Strömung über die ganze Rotorfläche auszunutzen. Während des Ersten Weltkrieges waren über 250 Anlagen dieses Typs in Dänemark in Betrieb. Auch in anderen Staaten wurden im frühen 20. Jahrhundert Windmotoren zur dezentralen Stromerzeugung errichtet. Mit der flächendeckenden Elektrifizierung in der Zwischenkriegszeit verschwanden viele dieser Anlagen wieder, zumal die mit Gleichstromgeneratoren und Akkuspeichern ausgerüsteten Windmotoren nicht mit Wechselstrom-Stromnetzen kompatibel waren. Nach dem Zweiten Weltkrieg wurde in verschiedenen Staaten die Windenergieforschung vorangetrieben. Staaten wie Frankreich und Großbritannien investierten bis ca. 1965 große Summen in die Windkraftforschung. Die durch die Luftfahrt vorangetriebene Verbesserung der Profilgeometrien in den 1950er und 1960er Jahren auf Gleitzahlen weit über 50 erlaubte extreme Schnellläufer mit nur noch einem einzigen Rotorblatt. Rotoren mit mehr als zwei Blättern galten als rückständig. Angesichts niedriger Energiepreise wurden mit Ausnahme von wenigen Prototypen aber kaum Anlagen errichtet. Zu einer Renaissance der Windenergienutzung kam es ab den 1970er Jahren unter anderem infolge der Umwelt- und Energiedebatte und zweier Ölkrisen. In den 1970er und 1980er Jahren wurden eine Vielzahl verschiedener Konstruktionen erprobt, wobei sich letztlich Turbinen mit horizontaler Achse durchsetzten. In einigen Staaten (wie unter anderem Deutschland und USA) setzte man zunächst auf anspruchsvolle industrielle Großprojekte wie den zweiflügeligen GROWIAN; diese hatten aber große technische Probleme und erwiesen sich als Fehlschläge. Ausgehend von Dänemark, wo es außer den Kenntnissen zum Bau von Kleinanlagen auch eine idealistische Kundschaft für derartige Anlagen gab, setzte sich das Dänische Konzept zahlreicher robuster Anlagen kleiner Leistung durch, die anfangs häufig von Kleinunternehmen und Bastlern mit zunächst einfachen Mitteln hergestellt wurden. Die in den 1980er Jahren auch zu Tausenden in die USA exportierten Anlagen hatten drei starre Rotorblätter (also ohne Blattwinkelverstellung) und eine ohne Frequenzumrichter ans Netz gekoppelte Asynchronmaschine mit ein oder zwei festen Drehzahlen. Die Leistung wurde durch beabsichtigten Strömungsabriss begrenzt. Archetyp dieses sehr erfolgreichen Konzeptes war die von Johannes Juul konstruierte und 1957 in Betrieb genommene Gedser-Windkraftanlage. Sie arbeitete bis zu ihrer vorläufigen Stilllegung 1966 und wurde 1977 für ein gemeinsames Testprogramm von dänischen Wissenschaftlern und NASA für einige Jahre wieder in Betrieb genommen. Auf Basis dieser nach heutigen Maßstäben kleinen Anlagen fand dann in den 1990er und 2000er Jahren die weitere Entwicklung hin zu Großturbinen mit variabler Drehzahl und verstellbaren Rotorblättern statt. Seither ist Dänemark das Land mit dem größten Windkraftanteil an der Stromerzeugung. Technische Entwicklung seit den 1990er Jahren bis heute Mit dem Stromeinspeisungsgesetz von 1991 begann der Aufschwung der Windenergie auch in Deutschland; er setzte sich mit dem Erneuerbare-Energien-Gesetz (in Kraft seit dem 1. April 2000) fort. Diese politischen Rahmenbedingungen trugen dazu bei, dass deutsche Windkraftanlagenhersteller heute weltweit zu den Technologie- und Weltmarktführern zählen. Im Bestreben nach immer niedrigeren Stromgestehungskosten wurden die Windkraftanlagen im Laufe der Entwicklung sukzessive größer. Die mittlere Nennleistung der in Deutschland neu installierten Windkraftanlagen betrug 164 kW im Jahr 1990, im Jahr 2000 erstmals über 1 MW, im Jahr 2009 erstmals über 2 MW. Im Jahr 2011 lag sie bei über 2,2 MW, wobei Anlagen mit einer installierten Leistung von 2,1 bis 2,9 MW mit einem Anteil von 54 % dominierten. Zur Ertragssteigerung wird u. a. der Rotordurchmesser vergrößert. Eine Verdopplung der Rotorblattlänge bewirkt gemäß der Kreisformel eine Vervierfachung der Rotorfläche. Noch bis Ende der 1990er Jahre lag der Durchmesser neu errichteter Anlagen meist unter 50 Meter, nach etwa 2003 meist zwischen 60 und 90 Meter. Bis 2022 wuchs der durchschnittliche Rotordurchmesser neuer Onshore-Anlagen in Deutschland auf 137 m, die durchschnittliche Nabenhöhe auf 138 m und die Nennleistung auf 4,362 MW, mit deutlichen Unterschieden aufgrund regionaler Windhöffigkeit. Weltweit überstieg die Durchschnittsleistung neu installierter Anlagen im Jahr 2017 erstmals die 2,4-MW-Marke. Der Trend geht zu größeren Anlagen: So begannen um das Jahr 2020 herum verschiedene Hersteller mit der Markteinführung von Onshore-Plattformen im Leistungsbereich um ca. 6 MW. Im Offshore-Bereich werden mit Stand 2021 Anlagen mit Nennleistungen zwischen 6 und 10 MW und Rotordurchmessern über 150 Metern installiert. Neu entwickelte Offshore-Anlagen verfügen bei Rotordurchmessern von ca. 220 Metern über Nennleistungen zwischen 13 und 15 MW. Moderne Schwachwindanlagen besitzen Rotordurchmesser bis über 160 Meter und Nabenhöhen bis über 160 Meter. Enercon setzt seit etwa 1995 auf getriebelose Anlagen und war zunächst lange der einzige Hersteller von Anlagen mit Direktantrieb; doch nutzen inzwischen deutlich mehr Hersteller ein getriebeloses Design, das nun als „zweite Standardbauweise“ gilt. Im Jahr 2013 betrug der weltweite Marktanteil der getriebelosen Anlagen 28,1 %. Windkraftanlagen wurden bis etwa 2010 stationär per Dockmontage gefertigt. Seitdem setzen Hersteller aus Kostengründen zunehmend auf Serienfertigung im Fließbandverfahren und auf eine Industrialisierung und Standardisierung ihrer Produkte. Parallel dazu setzen sich – wie im Automobilbau seit langem Standard – modulare Plattformstrategien durch, bei denen auf der gleichen technischen Basis Anlagentypen bzw. -varianten für verschiedene Windklassen entwickelt werden, z. B. durch unterschiedliche Rotorgrößen bei weitgehend identischem Triebstrang oder mit unterschiedlichen Generatorkonzepten bei gleichem Rotordurchmesser. Nicht alle neu installierten Anlagen stehen an neuen Standorten: Teilweise werden alte Anlagen abgebaut und durch leistungsstärkere ersetzt, was als Repowering bezeichnet wird. Innerhalb von Windparks sinkt dabei in der Regel die Anzahl der Einzelanlagen, während die installierte Leistung und der Ertrag steigen. Energieangebot und -ertrag Siehe auch: Windenergie: Physikalische Grundlagen und Windenergie: Wirtschaftlichkeit Zur Abschätzung des Jahresertrages wird für den Standort der Windkraftanlage die sogenannte mittlere Windgeschwindigkeit angegeben. Sie ist ein Durchschnittswert der über das Jahr auftretenden Windgeschwindigkeiten. Die untere Grenze für den wirtschaftlichen Betrieb einer Anlage liegt, abhängig von der Einspeisevergütung, bei einer mittleren Windgeschwindigkeit von etwa 5–6 m/s auf Nabenhöhe. Dabei sind jedoch noch weitere Faktoren zu berücksichtigen. Ein Windgutachten auf Basis der Häufigkeitsverteilung der Windgeschwindigkeit für einen Standort dient der optimalen Wahl der Nennwindgeschwindigkeit (meist das 1,4- bis 2fache der mittleren Windgeschwindigkeit) bzw. bei gegebenen Anlagendaten der Abschätzung der pro Jahr erzeugten Energie, branchenüblich als Volllaststunden angegeben. Abhängig von verschiedenen Faktoren wie z. B. Standortgüte und Anlagenauslegung erreichen Windkraftanlagen etwa zwischen 1400 und 5000 Volllaststunden im Jahr. Das entspricht einem Nutzungsgrad von 16 bis 57 Prozent. Über Rechenprogramme im Internet lässt sich der Ertrag bestimmter Anlagen unter zu wählenden Bedingungen näherungsweise bestimmen. Aufschluss über die tatsächlichen Erträge eines Standortes können jedoch nur auf Windmessungen basierende Windgutachten geben. Dabei ist der Turbulenzgrad aufgrund topografischer Gegebenheiten, Vegetation, höherer Bauten oder benachbarter Windkraftanlagen zu berücksichtigen. Die Ertragsminderung durch verminderte Windgeschwindigkeit und Turbulenz hinter anderen Windkraftanlagen wird als - oder Nachlaufverlust bezeichnet. Da das Leistungsangebot mit der dritten Potenz der Windgeschwindigkeit steigt, ist es sinnvoll, die Anlage für eine deutlich höhere als die mittlere Windgeschwindigkeit auszulegen. Die Anlage erreicht ihre Nennleistung, manchmal als installierte Leistung bezeichnet, bei der Nennwindgeschwindigkeit. Darüber wird die Leistung der Anlage konstant gehalten, um Überlastungen zu vermeiden. Bei sehr großen Windgeschwindigkeiten (Sturm) wird die Anlage ganz abgeschaltet (Details siehe unten im Abschnitt: Regelung und Betriebsführung). Bei gegebenen Investitionskosten kann die Nennleistung auf Kosten der Rotorfläche erhöht werden oder umgekehrt. Eine Anlage mit höherer Nennleistung nutzt einen größeren Teil des Energieangebotes aus, eine Anlage mit größerem Rotor speist unterhalb der Nennwindgeschwindigkeit mehr Leistung in das Stromnetz ein. Bei Onshore-Anlagen in Deutschland, wo v. a. Anlagen mit vergleichsweise hohen Nennleistungen zum Einsatz kommen, erreichten Anlagen mit Baujahr um 2010 knapp 2000 Volllaststunden, 2013 errichtete Anlagen rund 2150 Volllaststunden. Um 2013 wurde prognostiziert, dass von Anlagen an Land im Schnitt mindestens 2250 VLS schaffen werden und Offshore-Anlagen 4500 VLS. In anderen Ländern lagen die Kapazitätsfaktoren damals z. T. deutlich höher. In den USA, wo 2015 noch keine Offshore-Windparks in Betrieb waren, erreichten Windkraftanlagen beispielsweise vergleichsweise hohe Kapazitätsfaktoren von 30–40 %, entsprechend etwa 2600–3500 Volllaststunden. Eine 2020 veröffentlichte Studie prognostiziert, durch moderne Anlagentechnologien könnten die Volllaststunden auf Werte zwischen 2.700 und 3.500 je nach Standort steigen und die gesamte deutsche Windflotte könnte im Jahr 2030 über 200 TWh Strom produzieren (im Falle zusätzlicher Flächenausweisung sogar über 500 TWh). Unter den prognostizierten Entwicklungsbedingungen könne die Windindustrie im Jahr 2040 sogar 700 TWh Strom erzeugen. Seit etwa 2010 werden von mehreren Herstellern Schwachwindanlagen mit besonders großer spezifischer Rotorfläche (ca. 4,5 – 5 m²/kW) verkauft, mit denen auch auf windschwächeren Standorten deutlich mehr Volllaststunden als oben angegeben erreicht werden können. Der vergleichsweise schwach ausgelegte Triebstrang und Generator führt nur zu geringen Einbußen bei der jährlichen erzeugten Strommenge, senkt die auf die Anlage wirkenden mechanischen Lasten, erhöht die Volllaststundenzahl und wirkt sich positiv auf die Windleistungsprognose aus. Zugleich verstetigt sich die Windstromproduktion; der Ausbaubedarf des Stromnetzes wird geringer und die Stromgestehungskosten sinken. Beispiele für derartige Schwachwindanlagen sind die Nordex N131/3000, die GE 2.5-120 und die Gamesa G114-2.0. Mit Nabenhöhen von 130 m und mehr erzielen solche Anlagen unter Referenzbedingungen über 3500 Volllaststunden; beispielsweise liegt die Nordex N117/2400 mit einer Nabenhöhe von 141 m bei ca. 3960 Volllaststunden. 2016 wurde erwartet, dass der Trend in Richtung Schwachwindanlage anhält und dass die Rotorfläche weiterhin schneller ansteigt als die Generatorleistung. Es ist auch für windhöffigere Standorte sinnvoll, die Rotorfläche pro Nennleistung zu erhöhen, um die Zahl der Volllaststunden pro Jahr zu erhöhen und die Kosten pro Kilowattstunde zu senken. Bauformen Je nach dem aerodynamischen Prinzip, das zur Erzeugung der Drehbewegung genutzt wird, werden Windkraftanlagen in Widerstands- und Auftriebsläufer unterschieden. Ein Widerstandsläufer ist ein Anlagentyp, dessen Wirkungsweise vorwiegend auf der Ausnutzung des Strömungswiderstandes basiert, wie bei der bis ins 7. Jahrhundert zurückverfolgbaren persischen Windmühle. Beim Auftriebsläufer wird der dynamische Auftrieb genutzt. Die schmaleren, profilierten Rotorblätter dieser Anlagen bewegen sich viel schneller und quer zum Wind. So lässt sich mit geringerem Materialaufwand eine große Fläche abernten. Besonders bei kleineren Windgeneratoren ist dieses Prinzip durch verschiedene Bauformen verwirklicht worden, darunter einfache Versionen der im folgenden Kapitel ausführlich besprochenen eigentlichen Windkraftanlagen, also Bauformen mit einem sternförmigen Rotor mit wenigen (meist drei) Blättern, die vor einem Mast oder Turm um eine horizontale Achse rotieren. Diese Anlagen werden in der Fachliteratur gelegentlich auch als HAWT d. h. horizontal axis wind turbine (Windkraftanlage mit horizontaler Achse) bezeichnet. Der für diese Anlagen nötige aktive Windnachführungsmechanismus kann bei sogenannten Leeläufern, bei denen der Rotor hinter dem Turm läuft, unter Umständen entfallen, da der Wind den Rotor automatisch in die richtige Richtung drehen kann. In der Praxis sind solche Konzepte jedoch nur schwer umzusetzen und mit gravierenden Problemen behaftet. Hierzu zählt insbesondere die Gefahr schneller Gondeldrehungen mit den sich daraus ergebenden hohen Biegebelastungen für die Rotorblätter. Erfolgreiche Anlagen mit passiver Windrichtungsnachführung sind nur im Bereich kleiner und mittlerer Leistungen dokumentiert, erfolgreiche Großanlagen wurden hingegen nicht realisiert. Auftriebsläufer lassen sich auch mit vertikaler Rotationsachse realisieren (VAWT nach ). Unter diesen dominieren Darrieus-Rotoren, die bis in den mittleren Leistungsbereich gebaut werden, in klassischer »Schneebesenform« oder als H-Darrieus-Rotor, dessen Blätter beim Umlauf einen Zylindermantel bilden. Bei einer vertikal stehenden Rotationsachse muss der Rotor der Windrichtung nicht nachgeführt werden. Allerdings stehen die Blätter in Teilbereichen des Umlaufs ungünstig zur Strömung, die Blattfläche muss entsprechend vergrößert werden. Durch zyklische Lastwechsel treten Schwingungen und Belastungen der gesamten Konstruktion auf. Der konstruktive Mehraufwand, zusammen mit dem niedrigen Leistungsbeiwert (Quotient aus genutzter zu ankommender Windleistung) von durchschnittlich 0,3 im Vergleich zu 0,4 bis 0,5 bei Rotoren mit horizontaler Drehachse erklärt den geringen Marktanteil. Eine Bauform des H-Darrieus-Rotors mit wendelförmig gebogenen Blättern hat ein gleichmäßigeres Drehmoment als der klassische H-Rotor und benötigt so keine Anfahrhilfe, wie sie bei klassischen Darrieus-Rotoren mit hoher Schnelllaufzahl erforderlich ist. Savonius-Rotoren kommen aufgrund ihrer geringen Schnelllaufzahl und dem niedrigen Leistungsbeiwert zur Stromerzeugung nicht in Frage, sind aber für den Einsatz als Windpumpe geeignet. Typenklasse (Windklasse) Windkraftanlagen können für verschiedene Windklassen zugelassen werden. International ist die Norm IEC 61400 am geläufigsten. In Deutschland gibt es zudem die Einteilung des Deutschen Institutes für Bautechnik (DIBt) in Windzonen. Die IEC-Windklassen spiegeln die Auslegung der Anlage für windstarke oder windschwache Gebiete wider. Charakteristisch für Schwachwindanlagen sind größere Rotordurchmesser bei gleicher Nennleistung. Mittlerweile existieren Anlagen, die pro kW Nennleistung 4–5 m² Rotorfläche aufweisen, während gängige Starkwindanlagen bei 1,5–2,5 m² pro kW Nennleistung liegen. Oft haben Schwachwindturbinen ein angepasstes Blattprofil und eine größere Nabenhöhe. Als Bezugswerte werden die durchschnittliche Windgeschwindigkeit in Nabenhöhe und ein Extremwert des 10-Minuten-Mittels verwendet, der statistisch nur ein Mal innerhalb von 50 Jahren auftritt. Bestandteile und Technik von Windkraftanlagen Eine Windkraftanlage besteht im Wesentlichen aus einem Rotor mit Nabe und Rotorblättern sowie einer Maschinengondel, die den Generator und häufig ein Getriebe beherbergt. Es gibt auch getriebelose Anlagen. Die Gondel ist drehbar auf einem Turm gelagert, dessen Fundament die notwendige Standsicherheit gibt. Dazu kommen die Überwachungs-, Regel- und Steuerungssysteme sowie die Netzanschlusstechnik in der Maschinengondel und im Fuß oder außerhalb des Turmes. Rotorblätter Heutige Windkraftanlagen verfügen fast ausnahmslos über drei Rotorblätter. Diese sind elementarer und prägender Bestandteil einer Windkraftanlage. Mit ihnen wird der Strömung Energie entnommen und dem Generator zugeführt. Sie sind für einen wesentlichen Teil der Betriebsgeräusche verantwortlich und werden daher nicht nur auf einen hohen Wirkungsgrad, sondern insbesondere nahe den Blattspitzen auch auf Geräuschminderung hin optimiert (siehe z. B. Hinterkantenkamm). Die maximale Blattlänge von Windkraftanlagen lag mit Stand 2013 bei rund 65 Metern im Onshore- und 85 Metern im Offshore-Bereich. Das Gewicht solcher Blätter beträgt etwa 25 Tonnen. Offshore-Anlagen erreichten im Jahr 2022 Blattlängen von 115 Meter bei einem Gewicht von 50–60 Tonnen. Zum einfacheren Transport kommen zunehmend sogenannte Rotorblattadapter zum Einsatz, mit denen die Flügel beim Passieren enger Straßen oder der Passage durch unwegsames Gelände auf dem letzten Transportabschnitt nach oben geschwenkt werden können. Rotorblätter bestehen in der Regel aus glasfaserverstärktem Kunststoff (GFK) und werden zumeist in Halbschalen-Sandwichbauweise mit Versteifungsholmen oder -stegen im Inneren hergestellt. Vermehrt kommen bei langen Rotorblättern Kohlenstofffasern zum Einsatz, vor allem bei hohen Belastungen ausgesetzten Starkwind- und Offshore-Anlagen, aber ebenfalls bei Schwachwindanlagen mit großen Rotordurchmessern. Die Kräfte in Längsrichtung werden von Gurten aus Glas- oder Kohlenstofffasern aufgenommen. Diese Gurte bestehen entweder aus Endlosfasern, sogenannten Rovings, oder Gelegen. Von der weit überwiegenden Sorte Windräder mit im Wesentlichen horizontaler Rotordrehachse wurden in den Anfangsjahren links- und rechtsdrehende aufgestellt. Inzwischen setzte sich – aus Sicht des ankommenden Winds – die Drehrichtung im Uhrzeigersinn durch. Der Rotor liegt in aller Regel vor dem Mast, da der Mast die Windströmung verwirbelt und ein Rotor hinter dem Mast seine Blätter durch diese Wirbelschleppe führen würde, was zu Lärm, Blattbelastung und Effizienzminderung führen würde. Anzahl der Rotorblätter Zu jeder Anzahl von Blättern und ansonsten je nach Schnelllaufzahl optimierter Geometrie gibt es eine optimale Schnelllaufzahl, bei der der Leistungsbeiwert maximal wird. Das Maximum ist allerdings jeweils recht flach; es liegt für Ein-, Zwei- und Dreiblattrotoren bei 15, 10 bzw. 7 bis 8. Die Höhe des Maximums nimmt mit der Zahl der Blätter zunächst zu, von Ein- zu Zweiblattrotoren um etwa 10 %, zu drei Blättern allerdings nur noch um 3 bis 4 %. Ein etwaiges viertes Blatt brächte sogar nur noch etwa 1–2 % Leistungszuwachs und damit in aller Regel nicht genug Mehrertrag, um die Mehrkosten für ein weiteres Rotorblatt auszugleichen. Dieser geringe Zuwachs allein rechtfertigt kein drittes Rotorblatt. Jedoch sind Dreiblatt-Rotoren leiser und schwingungstechnisch einfacher beherrschbar als Zweiblatt-Rotoren. Die beiden bedeutendsten Gründe dafür sind: Selbst wenn, wie heute üblich, die Blätter vor dem Turm laufen, sinkt doch durch den Luftstau vor dem Turm jeweils kurzzeitig der Anströmwinkel und damit der Auftrieb. Ein gegenüberliegendes Blatt wird aber gerade zu diesem Zeitpunkt maximal belastet, weil die Windgeschwindigkeit in der Höhe zunimmt, sodass mit einer starren Nabe eine höhere Wechsellast auftritt, die bei der Auslegung der gesamten Anlage einschließlich des Fundamentes zu berücksichtigen ist. Das Trägheitsmoment des Rotors um die Hochachse wird zweimal pro Umlauf sehr klein. Zusammen mit einem etwaigen Drehmoment um diese Achse können zerstörerische Lastspitzen entstehen. Im Sicherheitsnachweis für die Anlage werden als Ursache des Drehmoments nicht nur Turbulenz betrachtet, sondern auch technische Ausfälle, etwa der Windrichtungsnachführung oder – noch kritischer – ein Fehler in der Ansteuerung der Pitch-Verstellung (Verdrehung) bei nur einem der beiden Rotorblätter. Maßnahmen gegen diese Lastspitzen sind Pendelnaben, flexiblere Blätter, elastische Lagerung des gesamten Triebstranges sowie ein überlastsicherer Antrieb der Windrichtungsnachführung. Diese erfordern jedoch höheren Bauaufwand und stellen eine potentielle Fehlerquelle dar, die sich in einem größeren Wartungs- und Reparaturaufwand und damit höheren Stillstandszeiten äußern kann. Zweiflügler wurden nur in der Vergangenheit in Stückzahlen gebaut, siehe etwa Lagerwey und Ventis. Heute dominieren Anlagen mit drei Rotorblättern und starrer Nabe. Die theoretischen Vorteile der Zweiflügler liegen bei der Materialersparnis beim Rotor und über die höhere Rotordrehzahl beim Getriebe sowie der Möglichkeit, komplette Rotoren zu verschiffen und zu montieren. Im Offshore-Einsatz, wo die Lärmemissionen weniger relevant sind, könnten Zweiblattanlagen damit trotz der bisher eher negativen Erfahrungen aus Kostengründen einen Vorteil gegenüber Dreiblattanlagen haben. Drastische Kostensenkungen gegenüber der Standardbauart, durch die die Stromgestehungskosten in einer ganz anderen Größenordnung liegen, werden aber für unrealistisch gehalten. Das größere Potential für Kostensenkung liegt in größeren Bauserien sowie der weiteren Optimierung bestehender Konzepte. Bisher kam es daher zu keiner Rückkehr der Zweiflügler. Von den vom Ingenieurbüro Aerodyn Engineering entwickelten, von Ming Yang gebauten Anlagen wurden 18 mit 3 MW und eine mit 6,5 MW in China errichtet. Damit endete die Zusammenarbeit und sowohl Aerodyn Engineering (jetzt AEROVIDE) als auch Ming Yang entwickeln bzw. bauen jetzt Dreiblattanlagen. Form des Rotorblattes Der Windwiderstand der Rotorfläche lässt den Wind graduell zur Seite hin ausweichen. Weiter verbiegen sich die Blätter im starken Windstrom in Windrichtung. Damit trotz beider Effekte die Blätter eher rechtwinkelig zur lokalen Windströmung stehen, werden diese bei der Herstellung in einem (sehr flachen) Winkel gegen den Wind geneigt angeordnet. Das hilft auch zu verhindern, dass ein Blatt am Mast streift. Um ausreichenden Spielraum zwischen Blatt und Mast und auch dem ihm etwas vorstehenden Luftstau zu schaffen, wird typisch auch die Rotorachse so geneigt, dass die Spitze etwas angehoben wird. Mit einer leichten Sichelform im äußeren Bereich der Rotorblätter weichen in Böen die Blattspitzen nach Lee aus. Die damit einhergehende Verwindung der Blätter mindert den Anströmwinkel und damit die Windlast. Entsprechend kann Material gespart werden. Zudem lassen sich Rotorblätter mit Turbulatoren wie Vortex-Generatoren und Zackenbändern ausrüsten. Ein relativ neuer Trend in der Formgebung von Rotorflügeln sind Tuberkel auf der Oberfläche und Kämme an der Flügelhinterkante. Diese Maßnahmen ermöglichen sowohl eine Ertragssteigerung um wenige Prozent als auch eine Geräuschreduktion im Betrieb. Schnelllaufzahl Optimiert wird ein Rotor für den Bereich unterhalb der Nennleistung des Generators. Eine für die Auslegung jeglicher Strömungsmaschine wichtige Kennzahl ist die Schnelllaufzahl (lambda). Sie gibt das Verhältnis der Umfangsgeschwindigkeit des Rotors zur (hier) Windgeschwindigkeit an. Bei gleicher Schnelllaufzahl scheinen sich große Rotoren im Vergleich zu kleineren gemächlich zu drehen. Übliche Dreiblattrotoren haben heute Schnelllaufzahlen von 7 bis 8. Nebenstehende Abbildung zeigt die Geschwindigkeits-, Kraft- und Winkelverhältnisse für solch eine Schnelllaufzahl an einem Blattquerschnitt bei etwa 2/3 des Radius. Das Drehmoment ist umgekehrt proportional zu , d. h., bei niedrigeren Schnelllaufzahlen erhöht sich das Drehmoment, was einen größeren Generator oder ein kräftigeres Getriebe mit höherer Übersetzung nötig macht und den Wirkungsgrad senkt, weil der den Rotor durchsetzende Luftstrom in Rotation versetzt wird. Dazu kommen Verluste durch die Umströmung der Blattspitzen. Dieser induzierte Widerstand nimmt mit der Zahl der Blätter und mit der Schnelllaufzahl ab. Mit steigender Schnelllaufzahl sind daher weniger Blätter notwendig, um den induzierten Widerstand auf einem konstant niedrigen Niveau zu halten (prinzipiell proportional zu , aber die Blattanzahl muss natürlich eine ganze Zahl sein). Wegen der Proportionalität des Auftriebs zur Blattfläche und zum Quadrat der Strömungsgeschwindigkeit ist mit steigender Schnelllaufzahl außerdem weniger gesamte Blattfläche (proportional zu ) notwendig, um die gesamte Rotorfläche abzuernten. Eine größere Blattfläche als nötig, bei geringerem Auftriebsbeiwert, wird vermieden, weil das zu erhöhtem Luftwiderstand führen würde. Zudem senkt eine kleinere Windangriffsfläche der im Sturm stillgelegten Anlage die mechanische Belastung der gesamten Struktur, vom Rotor über den Turm bis zum Fundament. Schlanke Blätter mit geringer Fläche bedingen aber ein Stabilitätsproblem. Da die Biegefestigkeit und Verwindungssteifigkeit überproportional mit der Profildicke zunehmen, wird die gesamte Blattfläche, unter Beachtung obiger Zusammenhänge, auf möglichst wenige Blätter aufgeteilt. Neben der Festigkeitsproblematik begrenzt auch die Aerodynamik die Schnelllaufzahl: Mit flacherem Anströmwinkel wird ein kleinerer Anteil des Auftriebs als Vortrieb wirksam (siehe Abbildung), während der Strömungswiderstand etwa gleich bleibt. Bei einer Schnelllaufzahl, die der Gleitzahl des Profils entspricht, sinkt der Vortrieb im Außenbereich des Rotors auf null. Eisbildung Ein mögliches Phänomen an den Blättern ist Eisbildung. Sie mindert den Wirkungsgrad, da sie die Form und damit das aerodynamische Profil der Blätter verändert. Auch Unwucht des Rotors kann eine Folge sein. Herabfallende oder durch die Drehbewegung weggeschleuderte Eisbrocken stellen eine Gefahr unterhalb der Rotorblätter und in der näheren Umgebung dar. Als Sicherheitsabstand wird daher die 1,5-fache Summe aus Turmhöhe und Rotordurchmesser empfohlen. Die Anlagen schalten sich bei Eisansatz automatisch ab, der in der Regel durch eine Änderung der intern aufgezeichneten Leistungskurve (Leistung und Wind passen wegen schlechterer Aerodynamik nicht mehr zusammen) und durch Beobachtung der Temperatur oder Unwucht am Rotor ermittelt wird. Die Rotorblätter einiger Firmen können mit einem Rotorblattenteisungssystem ausgerüstet werden. Dieses soll Eisansatz an Blättern vermindern beziehungsweise das Abtauen beschleunigen. Die Heizung hat eine Leistung im ein- bis zweistelligen Kilowattbereich pro Rotorblatt, was jedoch wenig ist gegenüber der eingespeisten Leistung (mehrere hundert bis einige tausend Kilowatt). Bei einigen Anlagen wird zur Blattheizung die Abluft aus der Gondel (dem Generatorhaus auf dem Turm) durch die Rotorblätter gepumpt, sodass die Abwärme von Generator und Stromwandler genutzt wird. Eisabbruch wurde schon mehrfach dokumentiert, jedoch keine Personen- oder Sachschäden, da er wegen der verschlechterten Aerodynamik nur bei geringer Drehzahl oder im Trudelbetrieb nach Eisabschaltung auftritt. Blitzschutzsystem Da Blitzeinschläge an großen Windkraftanlagen nicht zu vermeiden sind, sind die Rotorblätter mit einem Blitzschutzsystem ausgestattet. In der Nähe der Blattspitze befinden sich an der Oberfläche des Rotorblatts ein oder mehrere Punkte aus Metall (die sogenannten Rezeptoren). An diesen schlagen Blitze bevorzugt ein. Alternativ werden Blattspitzen aus Aluminium verwendet. Von dort aus werden die Ströme über im Blatt integrierte metallische Leiter über Gondel und Turm in den Boden abgeleitet, wobei die Überbrückung von Lagern (Blattlager, Rotorhauptlager, Turmkopflager) durch Funkenstrecken oder Schleifringe realisiert wird. Statistisch wird eine Windkraftanlage alle zehn Jahre von einem Blitz getroffen, in exponierten Mittelgebirgen deutlich häufiger. Maschinenhaus Im Maschinenhaus, auch als Gondel bezeichnet, sind der Triebstrang, ein Teil der elektrischen Ausrüstung, die Windrichtungsnachführung, die Rotorkopflagerung, sowie Hilfsausrüstung wie z. B. Kühlsysteme, Elektronik usw. untergebracht. Obwohl damit die Montage des Maschinenhauses sowie die Zugänglichkeit und Wartung der Aggregate im Maschinenhaus komplizierter ist als bei anderen Konzepten, hat sich diese Bauweise aufgrund ihrer Vorteile (kurze mechanische Übertragungswege, geringe dynamische Probleme) als Standardlösung durchgesetzt. Bei älteren Anlagen sind die Triebstrangkomponenten in der Regel hintereinander auf einer tragenden Bodenplatte angeordnet. Bei neueren Anlagen befinden sich im vorderen Teil des Maschinenhauses zunehmend gegossene Maschinenträger, die Rotorlasten sowie das Eigengewicht der Gondel direkt in den Turm leiten, während Generator und Hilfsaggregate im hinteren Bereich der Gondel auf einer leichteren Stahlblechkonstruktion ruhen. Auch Öl- und Hydraulikversorgung, Heizung, Datenerfassungs- und Verarbeitungssysteme, Brandmelde- und ggf. Feuerlöschanlagen sind im Maschinenhaus installiert. In vielen Anlagen finden sich Kransysteme, mit denen einzelne Systemkomponenten ohne Einsatz eines aufwendigen mobilen Kranes gewartet oder ausgetauscht werden können. Auf dem Maschinenhaus sind in der Regel Umweltsensoren montiert, häufig auch ein Kühler, sowie bei manchen Offshore-Anlagen auch eine Hubschrauberplattform. Maschinenstrang Zum mechanischen Triebstrang zählen alle sich drehenden Teile, d. h. Nabe, Rotorwelle und ggf. Getriebe. Lange Zeit wurden vorwiegend Anlagen mit zumeist dreistufigem Getriebe und Asynchrongeneratoren sowie getriebelose Anlagen mit fremderregtem Synchrongenerator verwendet (letztere fast ausschließlich durch das Unternehmen Enercon). Seit Ende der 2000er Jahre ist jedoch eine starke Ausdifferenzierung der Antriebsstränge sowie ein Trend zu direktangetriebenen Windkraftanlagen mit Permanentmagnetgenerator zu beobachten. Gerade bei Offshore-Anlagen gibt es einen Trend zu getriebelosen WKA. Nabe Obwohl zugleich Teil des Rotors, stellt die Rotornabe die erste Komponente des mechanischen Triebstrangs dar. In Windkraftanlagen mit Pitchregelung (Blattverstellung), wie sie seit Jahren Standard sind, sind die Komponenten zur Blattverstellung in der Rotornabe untergebracht. Hierzu zählen z. B. die elektrischen oder hydraulischen Stellmotoren und deren Notenergieversorgung, um auch im Falle einer Netzunterbrechung die Anlage sicher bremsen und abschalten zu können. Da die Rotornabe zu den mechanisch höchstbelasteten Teilen einer Windkraftanlage zählt, kommt ihrer Fertigung besondere Bedeutung zu. Rotornaben großer Anlagen bestehen zumeist aus Stahlguss, speziell Kugelgraphitguss. In der Vergangenheit waren auch Bauformen aus Stahlblech oder Schmiedeteilen verbreitet. Heutzutage kommen bei größeren Serienmaschinen praktisch ausschließlich starre Naben zum Einsatz. Früher wurde mit Schlaggelenk und Pendelnabe experimentiert, um die mechanische Belastung der Gesamtanlage reduzieren zu können. Nachteilig sind die Komplexität, höhere Kosten und Störanfälligkeit. Es wird daher üblicherweise nur zwischen Naben mit fest installierten Rotorblättern und Naben mit Pitchregelung unterschieden. Getriebe Ein Übersetzungsgetriebe dient der Erhöhung der Drehzahl. Je schneller ein Generator läuft, desto kleiner kann er ausgelegt werden. Getriebe sind üblich, aber technisch nicht zwingend notwendig: Getriebelose Designs waren bis etwa 2005 nur wenig verbreitet, seither gewinnen sie Marktanteile. Mittlerweile ist das Getriebe zu einer Zulieferkomponente geworden, die mit gewissen Anpassungen durch die Hersteller aus der Serienfertigung übernommen wird. Getriebeprobleme resultierten in der Vergangenheit häufig aus zu schwach dimensionierten Getrieben. Moderne Anlagen werden laut Hau (2014) angemessen ausgelegt. Üblicherweise sind Windkraftgetriebe mehrstufig gestaltet; die Bandbreite reicht von einer bis vier Getriebestufen. Während bei kleinen Anlagen bis ca. 100 kW häufig reine Stirnradgetriebe zum Einsatz kommen, werden bei größeren Anlagen aufgrund hoher Lagerreaktionskräfte bei Stirnradgetrieben zumindest für die erste Getriebestufe Planetengetriebe verwendet. Bei Anlagen über 2,5 MW kommt auch bei der zweiten Stufe ein Planetengetriebe zum Einsatz. Diese besitzen üblicherweise drei bis fünf Planeten und damit mehrere Eingriffspunkte, wodurch die einzelnen Komponenten durch die Aufteilung des Drehmomentes entlastet werden und zugleich das Getriebe kompakter gebaut werden kann. Auch lässt sich auf diese Weise eine Leistungsverzweigung erreichen. Die letzte Getriebestufe ist in aller Regel als Stirnradstufe ausgeführt, sodass ein Achsversatz zwischen Eingangs- und Ausgangswelle erreicht wird. So ist mittels einer Hohlwelle eine einfache Durchführung von Energieversorgung und Steuerungskabeln für die in der Nabe befindlichen Pitch-Motoren durch das Getriebe hindurch möglich, ohne dass diese auch durch den Generator geführt werden müssen. Bremse Ebenfalls zum Antriebsstrang gehört eine Bremse, deren Art von der Wahl der Rotorblattsteuerung abhängt. Bei Anlagen mit Stallregelung muss die Bremse in der Lage sein, die gesamte Bewegungsenergie des Rotors und des Generators im Notfall aufzunehmen. Sie muss deshalb sehr leistungsfähig sein. Teilweise wird sie auch als Betriebsbremse eingesetzt, um die Rotordrehzahl bei Windböen innerhalb der Toleranzen zu halten. Hierzu kommen meist große Scheibenbremsen zum Einsatz. Anlagen mit aktiver Stallregelung und Pitchregelung können die Rotorblätter aus dem Wind drehen und aerodynamisch abbremsen. Eine mechanische Bremsanlage fällt dann kleiner aus oder kann sogar ganz entfallen. Alle Anlagen müssen mit zwei voneinander unabhängigen Bremssystemen ausgerüstet sein. Dazu zählen unabhängig voneinander verstellbare Rotorblätter. Zertifizierungsgesellschaften wie z. B. der Germanische Lloyd setzen Vorgaben fest für die Teile des Antriebsstranges in Bezug auf Geräusche, Schwingungsverhalten und Lastprofile. Dies ist von großer Bedeutung, da diese Teile außergewöhnlichen Beanspruchungen unterliegen. Generator Für die Umwandlung mechanischer in elektrische Leistung werden Drehstrom-Asynchron- oder -Synchron-Generatoren eingesetzt. Der Generator wird auf Lebensdauer, Gewicht, Größe, Wartungsaufwand, Kosten und Wirkungsgrad optimiert, wobei sich Wechselwirkungen mit Getriebe und der Netzanbindung ergeben. Die Drehzahl des Generators (und damit des Rotors) kann konstant, zweistufig (für niedrige und hohe Windgeschwindigkeit) oder stufenlos anpassbar sein. Für niedrige Drehzahlen, wie sie bei getriebelosen Anlagen (sogenannter Direktantrieb) vorliegen, sind Synchrongeneratoren notwendig. Asynchrongenerator Frühe Antriebsstrangkonzepte Die einfachste Art eines Asynchrongenerators ist ein solcher mit Kurzschlussläufer. Ist er nicht polumschaltbar, kann man ihn direkt am Netz nur mit einer Drehzahl betreiben: bei einer Polpaarzahl von z. B. 2 (d. h. vier Pole) ergibt sich mit der Netzfrequenz von 50 Hertz eine synchrone Drehzahl von 1500/min. Im Generatorbetrieb liegt die Läuferdrehzahl (Drehzahl der Generatorwelle) über der der synchronen Drehzahl (im Motorbetrieb darunter, daher der Name Asynchronmaschine). Bei polumschaltbaren Asynchrongeneratoren gibt es die Möglichkeit, die Windkraftanlage wahlweise mit zwei festen Drehzahlen zu betreiben, entsprechend besitzt der Generator getrennte Wicklungen z. B. mit zwei oder drei Polpaaren. Damit liegen die synchronen Drehzahlen bei 1500 und 1000/min. Der Vorteil besteht darin, dass so der Generator sowohl bei niedrigen als auch bei hohen Windgeschwindigkeiten mit hohem Wirkungsgrad arbeiten kann. Diese einfachen Varianten mit Asynchrongeneratoren kommen heute in der Regel nicht mehr zum Einsatz. Anlagen mit Getriebe und doppelt gespeisten Asynchrongenerator Trotz zunehmender Konkurrenz durch getriebelose Anlagenkonzepte und Anlagen mit Vollumrichter stellen Windkraftanlagen mit Getriebe, doppelt gespeisten Asynchronmaschinen mit Schleifringläufer und läuferseitigem Frequenzumrichter nach wie vor die häufigste Bauart von Windkraftanlagen dar. Sie sind zwar teurer als Anlagen mit direkt netzgekoppeltem Asynchrongenerator, sind dafür aber über einen weiten Drehzahlbereich regelbar und zeigen somit einen hohen Wirkungsgrad. Die Leistung, die der Frequenzumrichter liefern muss, entspricht im Verhältnis zur Generatorleistung nur der relativen Abweichung der Drehzahl von der Synchrondrehzahl, üblicherweise ca. 30 % der Generatorleistung. Da der Asynchrongenerator eine hohe Drehzahl benötigt, ist bei dieser Bauart ein Getriebe nötig. Obwohl in beiden Fällen der Stator seine Leistung netzsynchron abgibt, lässt sich hier über die Phase der Erregung der Blindleistungsbedarf regeln, womit derartige Antriebsstränge ähnliche Vorteile bieten wie solche mit Synchrongeneratoren und Vollumrichtern. Synchrongenerator Direkt angetriebene Anlagen mit fremderregtem Synchrongenerator Der Einsatz von Synchrongeneratoren mit Frequenzumrichter erlaubt aufgrund ihrer wesentlich höheren Polpaarzahl von bis zu 36, dass auf ein Vorschaltgetriebe verzichtet werden kann – sie können mit der Drehzahl des Rotors betrieben werden. Vorteile dieses Konzeptes mit fremderregtem Generator sind eine höhere Zuverlässigkeit und ein geringerer Wartungsaufwand. Eingeführt wurde dieses Konzept, das sich sehr rasch am Markt etablierte und bewährte, Anfang der 1990er Jahre mit der Enercon E-40. Allerdings wird dies ebenso mit Nachteilen erkauft: neben höheren Investitionskosten u. a. mit einem vergrößerten Generatordurchmesser (nennleistungsabhängig ungefähr zwischen drei und zwölf Meter, letzterer für Enercon E-126) und einem folglich höheren Generatorgewicht. Zwar wirkt sich das höhere Turmkopfgewicht im Leistungsbereich zwischen 2 und 3 MW noch nicht allzu stark aus, bei Multi-MW-Anlagen über 5 MW werden die hohe Turmkopfmasse und damit die Kosten für Rohstoffe, Bau und Logistik jedoch zunehmend problematisch. Wie bei allen mit variabler Drehzahl betriebenen Synchrongeneratoren muss die mit der Drehzahl des Rotors schwankende Frequenz der erzeugten Spannung zunächst in Gleichstrom gleichgerichtet und dann mit einem netzgeführten Wechselrichter wieder in einen Wechselstrom umgeformt werden, um mit den gewünschten Werten von Spannung, Frequenz und Phasenwinkel ins Netz zu gelangen. Der Umrichter muss die volle Generatorleistung verarbeiten; durch die Entkoppelung von Generator und Einspeisung erreichen diese Anlagen jedoch eine hohe Effizienz und beim heutigen Stand der Leistungselektronik eine sehr gute Netzverträglichkeit. Anlagen mit permanenterregtem Synchrongenerator Permanenterregte Generatoren (PMG) nutzen Dauermagnete und weisen gegenüber fremderregten Generatoren einige Vorteile auf. Neben einem etwas höheren Wirkungsgrad aufgrund des Wegfalls der Erregerleistung lassen sie sich durch ihre höhere Feldstärke kompakter und leichter bauen, wovon insbesondere getriebelose Konzepte mit großen Generatoren (von z. B. Siemens Wind Power, Vensys, Goldwind) profitieren. Vorteile hat die Nutzung von Permanentmagnetgeneratoren damit vor allem bei getriebelosen Offshore-Windkraftanlagen der Multi-MW-Klasse, während für Onshore-Anlagen mehrere andere bewährte Generatorkonzepte existieren. PMGs kommen aber auch in Getriebeanlagen mit kompakten Generatoren (von z. B. General Electric und Vestas) vor. Die benötigten Dauermagnete bestehen üblicherweise aus Seltenerdmagneten wie Neodym-Eisen-Bor. Zur lang anhaltenden Gewährleistung der Feldstärke bei hohen Temperaturen kann zusätzlich Dysprosium beigemischt werden. Neodym und Dysprosium sind Metalle der Seltenen Erden und unterliegen Preisschwankungen. Das Marktpreisrisiko für die Hersteller und die Umweltprobleme, die mit dem Abbau und der Gewinnung von Seltenen Erden verbunden sind, wirken sich nachteilig aus. Die in der Vergangenheit problematische schlechtere Regelbarkeit hat sich durch technische Fortschritte bei Frequenzumrichtern relativiert. Vollhydrostatischer Antriebsstrang An der RWTH Aachen wurde im Institut für fluidtechnische Antriebe und Steuerungen ein vollhydrostatischer Antriebsstrang für Windkraftanlagen auf einem Prüfstand untersucht. Bei diesem Antriebskonzept sind unterschiedlich große Radialkolbenpumpen direkt mit der Rotorwelle verbunden und das große Drehmoment der Rotorblätter wird direkt in hydraulische Energie gewandelt. Volumengeregelte Hydraulikmotoren treiben einen mit konstanter Drehzahl laufenden Synchrongenerator an, sodass keine Frequenzumrichter für die Netzanpassung erforderlich sind. Die Direkteinspeisung über einen mit Netzfrequenz laufenden Synchrongenerator steigert einerseits die Qualität des eingespeisten Stroms durch reine Sinusform, zugleich bietet das Antriebskonzept als Ganzes den Vorteil sehr guter Dämpfungseigenschaften gegenüber hohen Momentenstößen, wie sie durch Windböen verursacht werden, wodurch die Anlagenstruktur geschont wird. Windrichtungsnachführung Die Windrichtungsnachführung erfolgt mit Stellmotoren (auch Azimutantrieb oder Giermotoren genannt). Die Windrichtung wird dabei über Sensoren, sogenannte Windrichtungsgeber, ermittelt. Die Nachführung erfolgt langsam, um hohe Kreiselmomente zu vermeiden. Um Schwingungen der Anlagen um die Turmachse zu vermeiden, werden die Stellmotoren (meist sind mehrere vorhanden) gegeneinander verspannt, oder das gesamte Lager wird mit einer Bremse festgesetzt, wenn es nicht in Bewegung ist. Auch die natürliche Dämpfung von Gleitlagern wird genutzt. Die elektrische Anbindung der Gondel für Steuersignale und den erzeugten Strom an der Turminnenseite nach unten erfolgt über frei hängende, torsionsflexible Kabel. Schleifkontaktringe sind bei den hohen elektrischen Strömen zu wartungsintensiv. Um diese Kabel nicht zu sehr zu verdrehen, ist die Anzahl der Gondelumdrehungen je Richtung von der Mittelstellung begrenzt. Übliche Verdrehwinkel sind 500 bis 600°, was durch Verwindungszähler kontrolliert wird. Wird die maximal zulässige Verdrillung erreicht, dreht sich die Gondel bei stehendem Rotor zur Entspannung der Kabel einige Male um die Hochachse in entgegengesetzte Richtung. Elektrik/Einspeisung Die elektrische Ausrüstung lässt sich in den Generator, in das System zur Netzeinspeisung und in das Steuer- und Überwachungssystem für den Anlagenbetrieb unterteilen. Bei den älteren, drehzahlstarren Anlagen ist der Generator, teils mit Zwischentransformator zur Spannungsanpassung, direkt an das öffentliche Stromnetz gekoppelt – er läuft mit Netzfrequenz. Bei einem Asynchrongenerator mit Kurzschlussläufer wird eine Vorrichtung zur Blindleistungskompensation parallel zum Generator geschaltet. Bei modernen Anlagen wird die Generatordrehzahl mittels Wechselstrom-Umrichter von der Netzfrequenz entkoppelt. Bei beiden Generatorvarianten wird die Spannung zuletzt auf die in den jeweiligen Mittelspannungsnetzen übliche Netznennspannung transformiert. Die Windkraftanlage wird über Leistungsschalter mit dem öffentlichen Stromnetz verbunden, dabei dienen Messwandler zur Ermittlung der übertragenen Leistungen. Während Kleinanlagen ggf. in Niederspannungsnetze einspeisen können, werden normale Windkraftanlagen fast immer ans Mittel- oder Hochspannungsnetz angeschlossen, müssen daher zur Sicherung der Netzstabilität die Mittelspannungsrichtlinie erfüllen. Für die Inbetriebnahme ist ein Nachweis der Netzkonformität notwendig: der Betreiber muss u. a. nachweisen, dass die geltenden Richtlinien (z. B. in Bezug auf Einhaltung der Netzspannung, Flicker, Oberschwingungen und Netzstützung bei kurzzeitigen Spannungseinbrüchen im Verbundnetz) eingehalten werden. Moderne Windkraftanlagen sind in der Lage, Regelenergie zu liefern und weitere Systemdienstleistungen zur Sicherheit des Stromnetzes zu übernehmen; eine Fähigkeit, die mit zunehmendem Anteil erneuerbarer Energien an Bedeutung gewinnt. Zudem müssen Windkraftanlagen in der Lage sein, bei Kurzschlüssen sogenannte Kurzschlussleistung zur Verfügung zu stellen, ohne sich unmittelbar vom Netz zu trennen, um die Netzstabilität zu sichern. Neuere Windparks sind in ihrer Gesamtheit regelbar. Anlagen mit Pitch-Regelung können in Inselnetzen, in denen nicht wie im Verbundnetz eine maximale Erzeugung angestrebt wird, entsprechend der Leistungsnachfrage im Lastfolgemodus betrieben werden. Zudem ist wie bei konventionellen Kraftwerken grundsätzlich ein angedrosselter Betrieb möglich, der in gewissen Grenzen eine gleichbleibende Energieeinspeisung bei nachlassendem Wind ermöglicht. Neben der Bereitstellung von negativer Regelleistung durch Drosseln der Leistung sind drehzahlvariable Windkraftanlagen mit Vollumrichter grundsätzlich ebenfalls in der Lage, durch Erhöhung der Leistung kurzfristig (d. h. für einige Sekunden) positive Regelleistung ins Netz einzuspeisen. Damit könnten Windkraftanlagen mit entsprechender Anlagensteuerung sowohl bei Über- als auch bei Unterfrequenz zur Frequenzstabilität des Stromnetzes beitragen. Die hierfür benötigte Energie stammt aus der gespeicherten kinetischen Energie von Rotor und Triebstrang, dessen Drehzahl dabei absinkt. Mit Stand 2015 arbeiten erste Hersteller daran, ihre Anlagen mit dieser Boost-Funktion auszustatten, um verstärkt Systemdienstleistungen zur Netzunterstützung bereitstellen zu können. Ein weiterer wichtiger Teil ist die Sensorik zur Anlagensteuerung und -überwachung. Die Windkraftanlagen besitzen eine permanente Überwachung ihrer mechanischen Komponenten, um Veränderungen zu erkennen und Schadensereignissen durch rechtzeitige Maßnahmen vorbeugen zu können (z. B. mittels Schwingungsdiagnose). Die Versicherer von Windkraftanlagen fordern solche Fernüberwachungs- oder auch Condition-Monitoring-Systeme, wenn die Anlagen günstig versichert werden sollen. Die Anlagen sind an ein Ferndiagnosenetz angeschlossen, das alle Werte und Betriebszustände und eventuelle Störungen an eine Zentrale übermittelt. Diese koordiniert alle Wartungsarbeiten. Die wichtigsten Kenndaten einer Windkraftanlage können in speziellen Internetangeboten den Eigentümern zur Ansicht gestellt werden. Es gibt auch Systeme, die die Eigentümer zusätzlich beim Anfahren, Abschalten oder bei Störungen per SMS informieren. Turm Der Turm ist zeitweise hohen Belastungen ausgesetzt, denen er unter allen Betriebsbedingungen sicher widerstehen muss. Größer als das Gewicht von Rotor und Maschinengondel, deren Masse von zusammen bis zu mehreren hundert Tonnen in Verbindung mit Schwingungen an Bedeutung gewinnt, ist in Böen die Windlast, die als überwiegend horizontale Last insbesondere am Turmfuß hohe Biegemomente bewirkt. Je höher der Turm – entscheidender Faktor für den Ertrag der Anlage –, desto breiter der Turmfuß. Die Turmkonstruktion berücksichtigt den Transport zur Baustelle, die Errichtung und möglichst auch den Rückbau; die Berechnung der Türme erfolgt für die vorgesehene Lebensdauer der Anlage. Vorhandene Türme können daher nach Ablauf dieser Lebensdauer in der Regel nicht weiter als Träger für modernere Anlagengenerationen genutzt werden. Mit der Zustandsmessung z. B. zwanzig Jahre alter Türme gibt es kaum Erfahrungen: die heute 20 oder 25 Jahre alten Türme sind meist so niedrig, dass ein Abriss und Neubau (Repowering) attraktiver erscheint als das Ausrüsten eines alten Turmes mit einer neuen Gondel bzw. neuen Flügeln. Bei kleinen Anlagen wurden zum Teil Türme mit Außenaufstieg, also einer Leiter außen am Turm, verwendet. Dies erlaubte eine schlankere Gestaltung der Türme, da dann das Innere nicht begehbar sein musste. Größere Anlagen werden, mit Ausnahme von Gittermasten, grundsätzlich innerhalb des Turmes bestiegen. Türme über 80 m Höhe haben im Inneren neben einer Leiter mit Steigsicherung oft einen Fahrkorb oder Aufzug, der den Aufstieg erleichtert. Daneben gibt es häufig eine Seilwinde oder einen Bordkran für den Materialtransport. Während an Küstenstandorten schon relativ kleine Türme ausreichen, rechnet man im norddeutschen Binnenland mit etwa 0,7 % Mehrertrag pro Meter Höhe, wobei der Wert je nach Standort zwischen 0,5 und 1 % schwanken kann. Daher bieten die Hersteller verschiedene Turmhöhen und -varianten für die gleiche Rotorgröße an. Ein hoher Turm wird üblicherweise in einzelnen Teilen aufeinander gesetzt, da er nicht am Stück zur Baustelle zu transportieren ist. Die Einzelteile sind dabei so groß wie möglich. Das gilt sowohl für Türme aus Stahlröhren, für Stabwerke aus Stahl (siehe Mastschuss) und für solche aus Holz (siehe unten), denn Montagearbeiten am Boden oder gar im Werk sind schneller und sicherer als mit schwebenden Lasten. Je größer die Turmhöhe, desto unwirtschaftlicher wird der Einsatz mobiler Krane für das Errichten des Turmes und die Montage von Gondel und Rotor. Obendrehende Turmkrane mit Verankerungen zum wachsenden Turm wiegen weniger, sind über schmalere Zuwege zur Baustelle zu bringen und finden dort auf dem Fundament des Turmes Platz und Halt, ein Vorteil insbesondere in Waldgebieten. Bei einigen Windkraftanlagen werden die Türme auch als Standort für Sendeantennen von Funkdiensten mit kleiner Leistung im Ultrakurzwellen-Bereich wie dem Mobilfunk genutzt. Stahltürme Unterschieden wird in Stahlrohrtürme und Stahlschalentürme. Stahlrohrtürme sind die heutige Standardbauweise für Windkraftanlagentürme. Sie besitzen eine konische Form und bestehen meist aus zwei bis fünf Teilen, die mit Flanschverbindungen verschraubt werden. Mit ihnen können bei herkömmlicher Bauweise Nabenhöhen bis etwa maximal 120 m erreicht werden (Stand 2014), wobei die Wandstärken 10 bis 50 Millimeter betragen. Nicht zu große Rohrstücke können im Werk gefertigt und dann über die Straße transportiert werden. Optimal sind Durchmesser der Turmbasis von über 6 m, da mit größeren Durchmessern Material gegenüber Türmen mit schmalerem Turmfuß eingespart werden kann, allerdings erlauben herkömmliche Bauweisen nur Durchmesser bis ca. 4,5 m. Jedoch besteht die Möglichkeit, durch Zusammenschrauben mehrerer Längsplatten anstelle von gewalzten Türmen die Turmbasis zu vergrößern und somit größere Nabenhöhen zu erzielen. Bei manchen Herstellern wie Vestas oder Siemens ist daher entgegen dem Branchentrend eine verstärkte Nutzung von Stahltürmen festzustellen. Beispielsweise stellte Vestas 2015 einen aus drei 120°-Segmenten bestehenden Stahlturm mit einem Turmbasisdurchmesser von mehr als 6 m und einer Nabenhöhe von 149 m vor, bei dem die Wandstärke gegenüber Standardtürmen etwa halbiert werden konnte. Bei diesen sogenannten Stahlschalentürmen bestehen die Turmschalen nicht aus einem zusammenhängenden Blech, sondern mehreren gekanteten und tangential verschraubten Blechen, sodass sich ein Polygon als Querschnitt ergibt. Zwar weist diese Turmvariante eine wesentlich höhere Anzahl an Schraubverbindungen gegenüber Stahlrohrtürmen auf, jedoch lassen sich die gekanteten Bleche der einzelnen Turmsegmente relativ aufwandsarm transportieren. Zudem lässt sich ein großer Turmfußdurchmesser realisieren, sodass Bleche von geringerer Dicke eingesetzt werden können, als sie beim Stahlrohrturm mit vorgegebenem Turmfußdurchmesser erforderlich wären. Stahlschalentürme werden als Prototypen sowohl als reine Stahlschalentürme sowie als Hybridtürme eingesetzt. Lagerwey baut beim Typ L 136 diesen Stahlschalenturm mit einem Fußdurchmesser von bis zu 12,70 m und testet den Aufbau dieser Windkraftanlage mit einem Kletterkran. Hybridtürme Bei hohen Türmen werden bisher fast immer Hybridkonstruktionen eingesetzt, deren unterer Teil aus Beton besteht, wobei sowohl Ortbeton eingesetzt werden kann, oder, was die übliche Bauweise darstellt, Fertigteile, die vor Ort preiswert und schnell zu Ringen verbunden werden können. Im Binnenland, wo hohe Türme nötig sind, stellen Hybridtürme die Standardturmvariante dar, da dort herkömmlich gefertigt weder reine Stahl- noch reine Betontürme wirtschaftliche Alternativen sind. Die Betonringe, die je nach Position im Turm aus ein bis drei Kreissegmenten zusammengesetzt und jeweils knapp vier Meter hoch sind, werden bis zum Übergang zum Stahlteil übereinander geschichtet, wobei sich der Turm mit zunehmender Höhe verjüngt. In jedem Fall ist ein Betonturm mit Spanngliedern vorzuspannen. Sie können in Hüllrohren im Innern der Betonschale verlaufen oder auf der Innenseite der Wandung. Letzteres hat den Vorteil der Zugänglichkeit zwecks Kontrolle oder gar Austausch und erleichtert den Rückbau des Turmes. Bei den Hybridtürmen leitet ein Zwischenstück die Zug- und Druckkräfte aus dem oberen Stahlabschnitt des Turmes an die Spannglieder bzw. an den Beton weiter. Gittermasten Eine weitere Turmvariante ist der Gittermast, der früher v. a. in Dänemark oft gebaut wurde. Vorteilhaft sind der geringere Materialbedarf und die gegenüber Stahlrohrtürmen höhere Eigendämpfung. Die Fertigung ist relativ lohnkostenintensiv, weil es wenig Möglichkeiten zur Automatisierung gibt. Deswegen sind Gittermasttürme heute (2013) v. a. in Staaten mit niedrigen Lohnkosten verbreitet. Auch die Verwendung abgespannter Masten ist möglich. Holztürme Als vielversprechendes Konstruktionsmaterial der Zukunft gilt Holz. Das für diesen Zweck genutzte Fichtenholz ist einfach verfügbar und die Herstellung setzt im Gegensatz zu anderen Baumaterialien kein Kohlenstoffdioxid frei. Zudem weist es eine große Ermüdungsfestigkeit auf und hat deswegen bei entsprechender Verarbeitung laut dem Hersteller eine Lebensdauer von 40 Jahren. Dazu ist es im Gegensatz zu bestehenden Türmen sehr einfach in 40-Fuß-Containern zu transportieren und vollständig recyclebar. Es wird damit gerechnet, dass gerade bei großen Nabenhöhen Holztürme günstiger zu fertigen sind als herkömmliche Turmkonzepte. Mit der Windkraftanlage Hannover-Marienwerder wurde im Oktober 2012 ein erster Prototyp errichtet und im Dezember 2012 in Betrieb genommen. Zum Einsatz kommt eine Anlage des Typs Vensys 77 mit 1,5 MW auf einem 100 Meter hohen Holzturm der Timbertower GmbH. Der Holzturm besteht aus 28 Stockwerken und besitzt eine stabile achteckige Außenwand von ca. 30 cm Wandstärke aus Sperrholz. Es wurden etwa 1000 Bäume gefällt, um diesen Turm zu produzieren (ca. 400 m³ Holz = ca. 200 t). Maschinenhaus und Rotor der Windkraftanlage lasten mit einem Gewicht von ca. 100 t auf dem Turm. Zur Ableitung von Blitzen ragen ca. 70 Drahtspitzen aus der Turmwand hervor. Eine UV-stabile PVC-Folie bildet die schützende Außenhaut des Turmes. Fundament Die Windkraftanlage muss eine hohe Standsicherheit haben. An Land wird aus Kostengründen am häufigsten eine Flachgründung gewählt. Bei inhomogenen Bodenverhältnissen kann vor dem Fundamentbau ein Bodenaustausch zur Verbesserung der Tragfähigkeit notwendig sein. Stehen in der Gründungsebene nur sehr weiche Böden an, dann werden Pfähle in tragfähigere Schichten gebohrt oder gerammt und deren gekappte Köpfe mit der Fundamentbewehrung verflochten (Pfahlgründung oder Tiefgründung). Da die Pfähle Druck- und Zugkräfte abtragen können, sind Pfahlkopf-Fundamente in der Regel kleiner als Flachgründungs-Fundamente. Negativ sind allerdings die gegenüber einem Standard-Flachfundament deutlich höheren Kosten. Da Anlagen mit Stallregelung während Sturmphasen deutlich höheren Belastungen ausgesetzt sind als Anlagen mit Pitch-Regelung, die ihre Rotorblätter aus dem Wind drehen können, müssen Fundamente von stallgeregelten Anlagen bei gleicher Leistung größer dimensioniert werden. Daher liegen die Kosten für solche Anlagen um bis zu 50 % höher als bei Anlagen mit Blattverstellmechanismus. Für die Gründung von Anlagen in Offshore-Windparks gibt es verschiedene Verfahren. Häufig werden hohle Stahlpfähle eingerammt. Kleine Windkraftanlagen können auf einzelnen Pfählen montiert werden (Monopile), für größere sind drei oder vier üblich (Tripod/Tripile bzw. Jacket). Statt Pfählen werden zunehmend Bucket-Fundamente verwendet, die durch Unterdruck statt lärmendes Rammen eingebracht werden. Bei der Schwergewichtsgründung handelt es sich um die Flachgründung mit einem Betonfertigteil. Schwimmende Windkraftanlagen eignen sich für größere Tiefen, sind aber noch teurer. Offshore-Ausrüstung Windkraftanlagen auf dem offenen Meer sind, wie alle Offshore-Installationen, durch die aggressive, salzhaltige Meeresluft stark korrosionsgefährdet. Es werden daher zusätzliche Schutzmaßnahmen ergriffen. Dazu zählt unter anderem die Verwendung meerwasserbeständiger Werkstoffe, die Verbesserung des Korrosionsschutzes, die vollständige Kapselung bestimmter Baugruppen sowie die Verwendung von mit Überdruckbelüftung ausgestatteten Maschinenhäusern und Türmen. Zum Aufbau, beim Austausch von Komponenten und bei der Wartung vor Ort müssen die Offshore-Bedingungen berücksichtigt werden. So wird die Anlage auf durchschnittlich höhere Windgeschwindigkeiten (andere Windklasse) ausgelegt, was z. B. eine entsprechende Konstruktion des Rotors und seine Abstimmung auf den Generator notwendig macht. Ein Standortproblem sind die Schwingungen, zu denen eine Windkraftanlage von Wellengang und Wasserströmung angeregt werden kann. Unter ungünstigen Bedingungen können sie selbstverstärkend wirken; ihr Auftreten muss bei Konstruktion und Betriebsführung berücksichtigt werden. Wo wie in Deutschland die meisten Offshore-Windparks nicht in der Nähe der Küste, sondern in der Regel in der ausschließlichen Wirtschaftszone in relativ großer Küstenentfernung in tiefem Wasser geplant werden, muss besondere Rücksicht auf den Zugang zu den Anlagen gelegt werden. Einige Konzepte sehen dabei auch Hubschrauberplattformen vor. Auch der Transport der erzeugten elektrischen Energie bis zum Einspeisepunkt an der Küste bedarf besonderer Maßnahmen. Es werden Hochspannungsleitungen als Seekabel verlegt, wobei bei größeren Entfernungen zum Einspeisepunkt vor allem die Hochspannungs-Gleichstrom-Übertragung in Form von Offshore-HGÜ-Systemen zum Einsatz kommt. Regelung und Betriebsführung Für die Regelung der Anlagen existieren verschiedene Konzepte, die sich zum Teil auf die Anlagenkonstruktion und deren Bestandteile auswirken. Die technische Verfügbarkeit von Windkraftanlagen liegt bereits seit etwa einem Jahrzehnt im Bereich von 98 % und darüber (Stand 2014). Anlauf- und Abschaltwindgeschwindigkeit Die Windkraftanlagen werden von der Regelelektronik bei ertragsversprechenden Windgeschwindigkeiten (Anlaufwindgeschwindigkeit) angefahren und bei zu großen Windgeschwindigkeiten (Abschaltwindgeschwindigkeit) wieder abgeschaltet. Die Windgeschwindigkeit kann dabei von der Steuerung über das Anemometer ermittelt oder aus der Drehzahl des Rotors und der abgegebenen Leistung abgeleitet werden. Ist die Windgeschwindigkeit für einen wirtschaftlichen Betrieb zu gering, wird die Anlage in Leerlauf- bzw. Trudelzustand versetzt. Dabei werden bei Anlagen mit Pitchregelung die Blätter in Segelstellung gedreht, Anlagen mit Stallregelung als Ganzes (Rotor mit Gondel) aus dem Wind gedreht. Ein Festsetzen des Rotors würde die Lager mehr belasten als der Trudelbetrieb mit leichter Bewegung. Der Generator beziehungsweise der Wechselrichter wird vom Stromnetz getrennt. Die Steuerelektronik und die Stellantriebe für Rotorblattverstellung und Windrichtungsnachführung beziehen dann ihre Energie aus dem Netz. Eine Notstromversorgung erlaubt ein sicheres Abschalten (Blätter in Segelstellung drehen oder bremsen) bei Netzausfall. Bei einer Einschaltwindgeschwindigkeit von typisch 3–4 m/s (Windstärke 2–3 Bft) schaltet die Steuerung die Windkraftanlage ein, da erst dann nennenswerte Energiemengen in das Stromnetz abgegeben werden können. Im normalen Betrieb wird die Anlage dann entsprechend den konstruktiv festgelegten Drehzahlregelkonzepten (siehe folgende Absätze) betrieben. Ältere Anlagen wurden bei großen Windgeschwindigkeiten schlagartig abgeschaltet, um Schäden durch mechanische Überbelastung zu vermeiden, was sich jedoch belastend auf die Sicherheit des Stromnetzes auswirkte. Pitch-geregelte Anlagen drehten ihre Blätter in Segelstellung und gingen in den Trudelbetrieb, stallgeregelte Anlagen wurden aus dem Wind gedreht und durch die Bremse festgesetzt. Neuere Anlagen sind hingegen mit Regelmechanismen ausgestattet, die bei der Abschaltung die Blätter sukzessive aus dem Wind drehen und damit ein sanftes Abschalten durch kontinuierliches Absenken der Einspeisung ermöglichen. Ein weiterer Vorteil dieser Regelung ist, dass sowohl Abschalt- als auch Anfahrtszeiten verringert werden, was Stromertrag und Netzstabilität erhöht. Ergänzend rüsten einige Hersteller ihre Anlagen mit sogenannten Sturmregelungen aus, die eine schnelle Abschaltung durch eine kontinuierliche Drehzahlabsenkung verhindern. Ein Abschalten ist bei derartigen Anlagen somit nur noch bei sehr hohen Windgeschwindigkeiten im Bereich von über 30–35 m/s notwendig, wie sie nur sehr selten vorkommen. Von zu hohen oder zu niedrigen Windgeschwindigkeiten abgesehen können noch weitere Gründe dazu führen, dass eine Windkraftanlage vom Netz genommen werden muss. Dazu zählen: Fehlfunktionen und technische Defekte Wartungs- und Reparaturarbeiten an der Windkraftanlage oder im Verteilernetz Schattenwurf Vereisung (Temporär) fehlende Aufnahmefähigkeit des Verteilernetzes. Drehzahlregelung Eine Windkraftanlage arbeitet optimal, wenn die Rotordrehzahl auf die Windgeschwindigkeit abgestimmt ist. Dabei muss auf die Kombination der Regelkonzepte für Rotor (Stall, aktiver Stall oder Pitch) und Generator (drehzahlkonstant, zweistufig oder variabel) Rücksicht genommen werden. Regelkonzepte Beim nicht verstellbaren Rotorblatt wird mit „passiver Stallregelung“ oberhalb der Wind-Nenngeschwindigkeit durch Strömungsabriss der Auftrieb begrenzt. „Stallregelung“ bedeutet, dass die Rotorblätter bis weit über dem Anstellwinkel für Maximalauftrieb (Anstellwinkel ca. +15°) betrieben werden (siehe Flügelprofil). Diese „Regelung“ wird wegen ihrer großen Nachteile bei Windkraftanlagen (WKA) über 500 kW Leistung nicht mehr verwendet. Mit der ebenfalls nicht mehr aktuellen „aktiven Stallregelung“ (verstellbare Rotorblätter) konnte die Drehzahl besser konstant gehalten werden. Heute wird praktisch nur noch die aktive Pitchregelung eingesetzt. Dies bedeutet, dass die Rotorblätter im Anstellwinkelbereich von Nullauftrieb bis Maximalauftrieb gesteuert werden (Anstellwinkel ca. −5° bis +15°). Aktive Stellmotoren ändern den Anstellwinkel des Rotorblattes in Abhängigkeit von Windgeschwindigkeit und Generatorlast. Der Generator bringt ein Gegenmoment zum Rotor auf. Bei mehr Einspeisung ins Netz bremst er mehr. WKA mit doppelt gespeisten Asynchrongeneratoren oder Dahlanderschaltung oder Getriebe mit zwei Gängen schalten die möglichen Rotordrehzahlen in die gewünschte Generatordrehzahl um. WKA mit Gleichstromrichter erzeugen, unabhängig von der Drehzahl, „künstlich“ mittels Thyristoren, einen 3- phasigen Drehstrom konstanter Frequenz. Mit der Pitchregelung wird nicht eine konstante Drehzahl angestrebt, sondern die optimale Drehzahl für den maximalen aerodynamischen Wirkungsgrad. WKA mit netzsynchronen Generatoren halten die Drehgeschwindigkeit mit der Pitchsteuerung, um eine konstante Frequenz ins Netz einspeisen zu können. WKA mit variablem Getriebe (Drehmomentwandler) halten die Drehzahl des Generators bei unterschiedlichen Rotordrehzahlen konstant und brauchen keine Stromumrichter. Drehzahlvariable pitchgeregelte Anlagen Drehzahlvariable, pitchgeregelte Anlagen stellen heute den Stand der Technik im Windkraftanlagenbau dar. Sie vereinen eine Reihe von Vorteilen in sich: Hierzu zählen u. a.: die variable Rotorgeschwindigkeit, sodass der Rotor unterhalb der Nennleistung immer mit der aerodynamisch optimalen Drehzahl betrieben werden kann geringere Belastungen des Getriebes durch geringere Drehmomentschwankungen insbesondere bei hohen Leistungen niedrigere Schallemissionen während Zeiten schwacher Windverhältnisse durch niedrige Rotordrehzahlen geringere Drehmomentschwankungen durch Einsatzmöglichkeit des Rotors als Schwungrad während Böen Nachteilig sind hingegen die Notwendigkeit von Wechselrichtern inklusive deren Nachteile sowie die höhere Komplexität gegenüber einfacheren Konstruktionen. Es wird zwischen zwei Betriebszuständen unterschieden: der Drehzahlregelung im Teillastbetrieb (Momentenregelung) und der Drehzahlregelung im Volllastbetrieb (Pitchregelung). Momentenregelung Im Teillastbetrieb gilt es, die Leistung zu maximieren. Dazu werden Blattwinkel und Schnelllaufzahl optimiert. Die Drehzahl ist dabei etwa proportional zur Windgeschwindigkeit und wird über das Gegenmoment am Generator beeinflusst. Pitchregelung Ist bei der Nennwindgeschwindigkeit die Nennleistung erreicht, wird der Erntegrad reduziert, indem die Blätter mit der Nase in den Wind gedreht werden. Dies nennt man Pitchen. Das aerodynamisch erzeugte Drehmoment wird im Mittel an das Generatormoment angepasst. Kurzzeitige Abweichungen durch Böen lässt man von Schwankungen der Rotordrehzahl auffangen, die bei dieser Bauform von der Netzfrequenz unabhängig ist. Diese Windkraftanlagen besitzen keine mechanische Betriebsbremse, sondern werden bei Abschaltungen über die Pitchregelung angehalten und nur zu Wartungsarbeiten festgesetzt. Netzsynchrone Anlagen mit Stallregelung Dieser Anlagentyp wurde als „Dänisches Konzept“ bekannt und kam bis in die 1990er Jahre im Windkraftanlagenbau bis zu einer Nennleistung von etwa 500 Kilowatt zum Einsatz. Er besteht aus einem Dreiblattrotor mit nicht verstellbaren Rotorblättern, dessen Drehzahl über das Getriebe mit der des Generators im festen Verhältnis gekoppelt ist. Der Generator läuft netzsynchron, der Rotor also mit konstanter Drehzahl. Daher steigt mit der Windgeschwindigkeit der Anströmwinkel der Blätter und damit der Auftrieb. Ein zunehmender Anteil des Auftriebs wird als Vortrieb wirksam, sodass Drehmoment und Leistung grob genähert quadratisch mit der Windgeschwindigkeit ansteigen. Stallregelung bedeutet nun, dass die Anlagen so ausgelegt waren, dass vor Erreichen des maximal zulässigen Drehmoments der Anströmwinkel so groß wird, dass die Strömung abreißt, also ein stall eintritt. Dies brachte jedoch starke Geräuschentwicklungen mit sich. Durch die Anwendung der Dahlander-Polumschaltung am Generator können zwei Drehzahlen im Verhältnis 1:2 gefahren werden, um den Teillast- und Volllastbereich abzudecken. Dieser Anlagentyp ist maßgeblich für den schlechten Ruf der Windkraftanlage in Bezug auf die Netzverträglichkeit verantwortlich. Es ist nur in einem Toleranzbereich möglich, die Rotordrehzahl konstant zu halten. Windböen können kurzzeitige Einspeisespitzen verursachen, die zu Spannungsschwankungen, Spannungs- und Stromoberwellen im Stromnetz führen. Dieses Manko konnte durch drehzahlvariable Anlagen mit einem Wechselrichter behoben werden. Viele dieser Anlagen verfügen über eine mechanische Betriebsbremse, eine große Scheibenbremse zwischen Getriebe und Generator, die bei Überdrehzahl eingesetzt wird, um den Rotor wieder auf Nenndrehzahl zu bringen. Aus Sicherheitsgründen ist zumeist auch eine aerodynamische Bremse, häufig eine so genannte Blattspitzenbremse installiert. Kommt es zu Überdrehzahlen des Rotors, wird das Ende des Rotorblattes durch die Fliehkraft auf einer schneckenförmigen Welle aus dem Blatt herausgezogen und dabei quer zur Anströmung gestellt, wodurch ein Strömungsabriss ausgelöst wird. Ohne Blattwinkelverstellung waren diese Anlagen oft nicht in der Lage, bei wenig Wind selbstständig anzulaufen. Daher wurde bei nicht ausreichender Windgeschwindigkeit der Generator kurz als Motor verwendet, um den Rotor in Drehung zu versetzen. Netzsynchrone Anlagen mit aktiver Stallregelung Windkraftanlagen mit aktiver Stallregelung sind der Versuch, das Konzept der Stallregelung und des netzsynchronen Betriebs ohne teureren Gleich- und Wechselrichter auf größere Anlagen bis in den Megawattbereich zu übertragen. Bei diesen Anlagen lässt sich der Strömungsabriss an den Rotorblättern zusätzlich über eine Blattverstellung steuern. Schwankungen im Wind (Böen) können so besser als mit passiver Stallregelung ausgeglichen werden. Die Blattverstellung arbeitet entgegengesetzt der Pitchregelung und erhöht den Anstellwinkel immer weiter, bis es zum Strömungsabriss kommt. Im Sturmfall können die Blätter mit der Hinterkante nach vorn gedreht werden. Die Anlage muss dann nicht aus dem Wind geschwenkt werden. Eigenbedarf Für Steuerung und Regelung benötigen Windkraftanlagen elektrische Energie, den sogenannten Kraftwerkseigenbedarf. Bei Windkraftanlagen liegt dieser Eigenbedarf im Bereich von 0,35–0,5 % der produzierten elektrischen Energie. Bei zwei in Eberschwang errichteten 500-kW-Anlagen des Typs Enercon E-40/5.40 wurde bei einer gemeinsamen Jahresproduktion von rund 1,45 Mio. kWh (5,22 TJ) ein Eigenbedarf von zusammen 8000 kWh (28,8 GJ) ermittelt, was ca. 0,55 % entspricht. Ein konventionelles Wärmekraftwerk hat bei derselben Nennleistung einen Eigenbedarf von ca. 5 %. Lebensdauer und Recycling Traditionell sind die meisten Windkraftanlagen für eine Lebensdauer von 20 Jahren konzipiert. Dies entspricht den von der IEC und dem DIBt als Untergrenze für die Zertifizierung von Windkraftanlagen festgelegten Normen. Angesichts der Erfahrungen mit bestehenden Anlagen wird jedoch eine Lebensdauer von 30 Jahren als realistischer eingeschätzt. Eine Reihe neuer Anlagen wird mittlerweile für 25 Jahre ausgelegt und zertifiziert; 2014 wurde von Enercon eine neue Produktplattform mit einer zertifizierten Betriebsdauer von 30 Jahren angekündigt. Beim Repowering werden Altanlagen durch größere und moderne Neuanlagen ersetzt. Infolge technischen Fortschritts sind neue Anlagen leiser und effizienter, zugleich ermöglichen sie höhere Erträge bei spezifisch geringeren Wartungskosten und einer Entlastung des Landschaftsbildes durch wenige große statt einer Vielzahl kleiner Anlagen. Sinnvoll ist ein Repowering zumeist erst nach einem Betriebszeitraum von ca. 20 Jahren, im Einzelfall jedoch auch schon erheblich früher. Ein Weiterbetrieb von Windkraftanlagen über die ursprünglich zertifizierte Auslegungslebensdauer ist möglich, sofern der Nachweis der Betriebssicherheit durch unabhängige Gutachter erbracht werden kann. In Deutschland sind die hierfür vom Betreiber zu erfüllenden Kriterien in der „Richtlinie für den Weiterbetrieb von Windenergieanlagen“ festgeschrieben. Von mehreren Herstellern werden Turbinenupgrades angeboten, um den technischen Weiterbetrieb von Anlagen zu vereinfachen oder überhaupt erst zu ermöglichen. In der Verlängerung der Betriebszeit – sowohl der Auslegungslebensdauer als auch dem Weiterbetrieb über die ursprünglich geplante Lebensdauer hinaus – wird großes Potential zur Senkung der Stromgestehungskosten der Windenergie gesehen. Das Umweltbundesamt Deutschland hat in einer Studie untersucht, ob die zum Rückbau von den Windkraftunternehmen zu bildenden Rücklagen und ob die Recyclingkapazitäten ausreichend sind und kam zu dem Schluss, dass insbesondere für die pro Jahr erwarteten bis zu 70.000 Tonnen Faserverbundwerkstoffe nicht genügend Recyclingkapazität vorliegt, während Bestandteile wie Beton, Stahl und andere Metalle kein Problem darstellten. Für das Jahr 2038 wurde in der Studie eine Lücke der Rückbau-Finanzierung von über 300 Millionen Euro prognostiziert. Aktuell werden Rotorblätter in Zementwerken thermisch verwertet und die Reste als Zuschlagstoffe verwendet, eine Reihe von alternativen Verfahren befindet sich in der Entwicklung. Auswirkungen auf die Umwelt Wie andere Bauwerke und Anlagen zur Energieerzeugung stehen Windkraftanlagen in Wechselwirkungen mit der Umwelt. Dazu gehören Auswirkungen auf die Tierwelt, die Pflanzenwelt, Schallemission, Schattenwurf und Beeinflussung des Landschaftsbildes. Generell wird die Windenergie von Naturschutzverbänden als flächen- und energieeffizienteste Form regenerativer Energiegewinnung angesehen und deren weiterer Ausbau begrüßt. Allerdings muss beim Ausbau der Windenergieerzeugung dafür gesorgt werden, dass die Gefährdung ohnehin schon bedrohter Vogel- und Fledermausarten nicht weiter erhöht wird. Flächenverbrauch Der Flächenverbrauch von Windkraftanlagen ist vergleichsweise gering, die Flächenversiegelung im Vergleich mit anderen Arten sowohl regenerativer als auch fossiler Energieerzeugung sehr gering. Der überwiegende Anteil heute installierter Windkraftanlagen befindet sich auf landwirtschaftlich genutzten Flächen, die fast ohne Einschränkung weitergenutzt werden können. So stehen ca. 99 % der von einem Windpark beanspruchten Fläche weiterhin für Ackerbau usw. zur Verfügung. Direkt benötigt werden nur die Standfläche der Windkraftanlage und ein Zuweg für die Montage und Wartung. Dauerhaft muss für eine aktuelle Windkraftanlage der Drei-Megawatt-Klasse eine befestigte aber unversiegelte Fläche von etwa 2.500 m² für die Wartung frei und zugänglich bleiben. Zudem ist in einem gewissen Umkreis manch alternative Flächennutzung ausgeschlossen. Das BImSchG verlangt zwar keinen Meterabstand, aber einen Schallabstand: Nachts dürfen an der nächsten belebten Hauswand nicht mehr als 40 dB(A) erreicht werden. Dadurch kann die gemeindliche Entwicklung (Ausweisung neuer Wohn- und Gewerbegebiete) durch eine Windkraftanlage negativ beeinflusst werden, da genehmigte Anlagen Bestandsschutz genießen. Eine 3-MW-Anlage hat eine Fundamentfläche von ca. 300 m². Damit ergibt sich bei einem jährlichen Regelarbeitsvermögen von ca. 6,4 Mio. kWh eine Jahresproduktion von rund 21 MWh/m² Fundamentfläche. Dies liegt oberhalb des Wertes eines 750-MW-Steinkohlekraftwerks mit 4000 Volllaststunden, das unter Berücksichtigung von Nebengebäude und Kohlelager (aber ohne Bergbauflächen) Werte von 15 bis 20 MWh/m² erreicht. Mit zunehmender Anlagengröße wird der relative Platzbedarf von Windkraftanlagen kleiner. In Deutschland wird dieses Problem mit einem Flächennutzungsplan und in Österreich mit einem Flächenwidmungsplan angegangen, sodass ein „Wildwuchs“ von Einzelanlagen vermieden wird. Wurden in einem Flächennutzungsplan so genannte Vorrangflächen für die Windenergie festgelegt, so ist die Errichtung an einem anderen Standort innerhalb der Gemeinde oder des Kreises unzulässig. In Deutschland nimmt der Bedarf an Waldflächen bei der Suche nach neuen Standorten für die Windenergienutzung zu. Bis Ende 2019 wurden in Deutschland 2.020 Windenergieanlagen in Wäldern errichtet. Dies entspricht 7 % des gesamten Anlagenbestandes bzw. 10 % der Nennleistung der in Deutschland installierten Windkraftanlagen. Je Anlage wird dabei im Mittel eine dauerhaft gerodete Waldfläche von 0,47 ha beansprucht. Während der Bauphase wird zusätzlich eine gerodete Waldfläche von durchschnittlich 0,40 ha pro Anlage benötigt. In der Regel muss als Ersatz für die umgewandelten Flächen eine Erstaufforstung auf einer geeigneten Ausgleichsfläche im Verhältnis von mindestens 1:1 vorgenommen werden. Durch den Ausbau der Windkraft können jedoch auch neue Lebensräume entstehen, etwa durch geeignete Ausgleichsmaßnahmen. Ein Beispiel ist der Ersatz von Monokulturen im Wald durch Mischkulturen. Bei der Windkraft auf See können künstliche Riffe entstehen. Vogel- und Fledermausschlag Die ökologischen Folgen der Windkraft für Vögel, Fledermäuse und Insekten werden seit ca. 2010 wissenschaftlich untersucht. Um Kollisionen von Vögeln und Fledermäusen mit Windkraftanlagen zu vermeiden, ist die Einbeziehung der ökologischen Ansprüche der betroffenen Tierarten bei der Standortwahl entscheidend. Im Zusammenhang mit Vorkommen besonders betroffener Großvogelarten, wie Rotmilan, Seeadler, Wiesenweihe, Uhu und Schwarzstorch wird die Windenergie diskutiert. Die bisherigen Ergebnisse für Vögel sind uneinheitlich, da sich die Fallzahlen je nach Art stark unterscheiden und eine systematische Suche nach Schlagopfern schwierig ist, und die absoluten Zahlen in Relation zum Bestand gesehen werden müssen. Der Bestand des oft genannten Rotmilans erholt sich trotz des Ausbaus der Windkraft, am stärksten betroffen scheint der Mäusebussard zu sein. Zur Senkung des Kollisionsrisikos sind das Monitoring sowie gegebenenfalls Abschaltungen in bestimmten Zeiten oder andere Steuerungsmaßnahmen hilfreich. Vögel Europa Schon Anfang der 1980er-Jahre wurde bei der deutschen Versuchsanlage Growian diskutiert, ob vermehrt Vögel an rotierenden Flügeln zu Schaden kommen. Während unstrittig ist, dass Vögel von Windkraftanlagen getötet werden, ist das Ausmaß des Vogelschlags umstritten. In 140 Windparks in Nordspanien mit 4083 Windkraftanlagen wurden von 2000 bis 2006 insgesamt 732 getötete Gänsegeier gefunden. Es war dabei schwierig, eine direkte Verantwortung der Windparks zu ermitteln. Somit betrug das zusätzliche jährliche Sterberisiko für in der Nähe (15 km Radius) von Windparks brütende Gänsegeier etwa 1,5 %. In der Schweiz wurde die Wirkung von Warnsystemen evaluiert. Ein Fledermaus-System mit Ultraschall-Mikrofonen erkannte die Tiere gut, im Gegensatz zum optischen System für Vögel mit 70 Prozent Fehlalarmen auch durch Insekten. Vögel werden akustisch gewarnt, bei beiden Systemen wäre eine Abschaltung der Turbine zu langsam. 2016 erschien die PROGRESS-Studie Ermittlung der Kollisionsraten von (Greif-)Vögeln und Schaffung planungsbezogener Grundlagen für die Prognose und Bewertung des Kollisionsrisikos durch Windenergieanlagen. Hierbei wurde erstmals in Deutschland, und zwar im norddeutschen Tiefland, eine großmaßstäbliche quantitative Untersuchung der Kollisionsraten von Vögeln an Windkraftanlagen mit paralleler Erfassung der Flugaktivität durch Sichtbeobachtungen durchgeführt. Die Studie ergab, dass für die meisten untersuchten Arten keine Bestandsgefährdung zu erkennen sei, bei manchen Arten aber die stark gestiegene Zahl an Windkraftanlagen in Deutschland durch kollisionsbedingte Mortalität bereits zu negativen Einflüssen auf Vogel-Populationen führen kann. Regional starke Bestandsrückgänge der Population des Mäusebussards werden unter anderem auf die Windkraftnutzung zurückgeführt, eine Gefährdung des Bestandes sei aber nicht zu erkennen. Bei fortgesetztem Ausbau der Windkraftnutzung sind Bestandsrückgänge auch bei weiteren Arten möglich. Die Studie fordert, dass weitergehende Populationsstudien Effekte von Vogel-Kollisionen mit Windkraftanlagen näher untersuchen sowie Maßnahmen Konflikte durch Kollisionen vermeiden, um Bestände betroffener Vogelarten zu stützen. Ein 2019 durchgeführter Vergleich der Populationsentwicklung des Rotmilans durch den Dachverband Deutscher Avifaunisten von 2005 bis 2014 mit der Windkraftanlagendichte im Jahr 2015 versuchte nachzuweisen, dass regionale Bestandszunahmen und Abnahmen des Rotmilans mit der Windanlagendichte korrelieren, dass also bei zunehmender Dichte der Windkraftanlagen die Zahl der Rotmilane sinkt. Die Studie weist aber Mängel auf, so ist die Zusammenfassung der einzelnen Populationen in Landkreise willkürlich (Gerrymandering), es gibt auch auf Landkreisebene Gegenbeispiele (Populationszunahme trotz Ausbau der Windkraft) und schließlich ist die vorgenommene lineare Regression für die stark unbalancierten Daten ungeeignet (es gibt sehr viel mehr Gebiete mit geringer Anlagendichte als mit hoher). Inzwischen wurde der Rotmilan auf der roten Liste für Vögel in Europa gegenüber 2015 auf „ungefährdet“ verbessert, bei wachsendem Bestand. Das noch laufende Forschungsprojekt Life-Eurokite, das bis Anfang 2022 die Todesursache von 556 mit GPS-Sendern ausgestatteten toten Rotmilanen untersuchte, kam zu dem Ergebnis, dass Windkraftanlagen nach Giftködern, Straßenverkehr, illegalem Abschuss, Stromschlag an Strommasten und Unfällen mit Schienenfahrzeugen erst die siebthäufigste Todesursache für Rotmilane seien. Gemäß Studienleiter Rainer Raab sei eine Kollision eines Rotmilans mit einer Windkraftanlage ein „äußerst seltenes Ereignis“, das vor allem dann auftrete, wenn ein Rotmilan nach einem langen Flug erschöpft oder die Sicht nicht gut sei. In einer Pressemitteilung stellte das Forschungsprojekt Life-Eurokite nach der Ausstrahlung des Frontal-Berichts klar, „Diese Ergebnisse sind nicht per se auf die aktuelle Debatte um Todesursachen vom Rotmilan in Deutschland übertragbar (auch wenn dies im Beitrag so dargestellt wurde), da die Todesursachen in Europa ungleichmäßig verteilt sind. So treten bspw. Vergiftungen und illegale Abschüsse sowie der Stromschlag an Elektroleitungen in Deutschland wesentlich seltener auf als in anderen europäischen Staaten“ und kommt zum Schluss „Es ist zum derzeitigen Projektstand nicht auszuschließen, dass es in Zukunft zu Verschiebungen bei der Häufigkeit der Todesursachen kommt.“ Eine über elf Jahre auf der Insel Smøla durchgeführte Studie des norwegischen Instituts für Naturforschung ergab, dass die Anzahl getöteter Vögel um 72 % reduziert wurde, nachdem eines von drei weißen Rotorblättern schwarz lackiert wurde. Rotierende, rein weiße Rotorblätter können die Vögel wegen Bewegungsunschärfe-ähnlicher Effekte kaum erkennen. Eingestreute schwarze Rotorblätter mildern dieses Problem deutlich. Auf der Insel Smøla kommen allerdings nur wenige Vogelarten vor, darunter nur die Greifvogelarten Seeadler und Turmfalke. Nordamerika In einer 2013 publizierten Metaanalyse über Hunderte Untersuchungen schätzte man, dass von Windkraftanlagen geringere Gefahren für die Vogelwelt in den Vereinigten Staaten ausgehen als von anderen Energiegewinnungsformen. Es wurde geschätzt, dass Windkraftanlagen durch Vogelschlag für ca. 0,27 getötete Vögel pro GWh elektrischer Energie verantwortlich sind, während Kohlekraftwerke u. a. durch Bergbau und Schadstoffemissionen mit 5,2 Vögeln pro GWh einen fast 20-mal so hohen Verlust an Vögeln verursachen. Eine in Kanada durchgeführte Studie schätzt die Zahl der jährlich durch Windkraftanlagen getöteten Vögel auf ca. 20.000 bis 28.300, während insgesamt in Kanada 270 Millionen Vögel durch menschliche Aktivitäten, 200 Millionen durch Katzen und 25 Millionen durch Kollisionen mit Gebäuden getötet werden. Nach einer in der Fachzeitschrift Nature erschienenen Studie gilt die Zahl getöteter Vögel durch Windkraftanlagen in den USA im Allgemeinen als vernachlässigbar. So würden Windkraftanlagen nur einige Tausend Vögel töten. Allerdings bestehe für einige Greifvögel-Populationen in kritischen Durchzugsgebieten signifikante Gefahr. Während in den USA an sehr früh genutzten Standorten wie z. B. am Altamont Pass eine relativ hohe Kollisionsgefahr von Vögeln mit Windkraftanlagen bestand (u. a. durch Errichtung in sehr vogelreichen Regionen sowie die Nutzung kleiner, sehr schnell drehender Anlagen), gingen Fälle von Vogelschlag bei neueren Windparks deutlich zurück, wie eine 2015 erschienene Review-Studie ergab. Dort werden die Todesfälle mit 0,02 bis 7,36 Vögeln pro Anlage und Jahr angegeben, als Extremwert wurden 20,53 Vögel genannt. Greifvögel waren stärker gefährdet als andere Arten. Fledermäuse Fledermäuse können zum Schlagopfer werden oder durch den Unterdruck in der Nähe der drehenden Rotoren von Windkraftanlagen Barotraumata erleiden. Daher werden seit 2011 Abschaltalgorithmen entwickelt, welche die Anzahl Schlagopfer auf weniger als ein Sechstel reduzieren können. Zunächst fiel dies in den USA sowie in Australien auf, später folgten in Europa Untersuchungen um Umfang und Hintergründe zu ermitteln. Drei bundesweite Vorhaben untersuchen die Reduktion des Kollisionsrisikos von Fledermäusen an Onshore-Windenergieanlagen (Renebat I bis III). Ziel des Forschungsvorhabens Renebat I war die Validierung bestehender Untersuchungsmethodiken zum Auftreten von Fledermäusen an Windenergieanlagen. Ziel von Renebat II war die Weiterentwicklung der Methoden und der Test fledermausfreundlicher Betriebsalgorithmen. Ziel von Renebat III ist es, den Erfassungsaufwand zu reduzieren, der nötig ist, um das Schlagrisiko von Fledermäusen zu ermitteln. Die Autoren einer weiteren Studie schätzen, dass in Deutschland jedes Jahr mehr als 250.000 Fledermäuse durch Windkraftanlagen getötet werden könnten, sofern keine vorbeugenden Maßnahmen wie angepasste Betriebsmodi getroffen werden. Bei allen Arten der Gattung der Fledermäuse (Microchiroptera) handelt es sich um besonders geschützte Arten gemäß Bundesnaturschutzgesetz. Sie sind sogenannte Anhang-IV-Arten der Fauna-Flora-Habitat-Richtlinie. Hinsichtlich einer Gefährdung von Fledermausarten durch Windkraftanlagen ist insbesondere maßgeblich, ob sich die betroffenen Bereiche als bevorzugte Jagdgebiete darstellen oder Hauptflugrouten durch diese verlaufen. In Deutschland fand man bis April 2013 17 verunglückte Fledermausarten an den Anlagen, vor allem Große Abendsegler, die Rauhautfledermaus und die Zwergfledermaus. Weitere schlagopfergefährdete Arten sind die Breitflügelfledermaus, der Kleine Abendsegler, die Mückenfledermaus, die Nordfledermaus sowie die Zweifarbfledermaus. Allen Arten ist gemein, dass sie auch im freien Luftraum und in großen Höhen jagen. Zudem scheint es während der Migration zwischen Winter- und Sommerquartieren von Abendseglern und Rauhautfledermäusen häufiger zu Kollisionen zu kommen. Eine Rolle spielt vermutlich auch die nach der Auflösung der Wochenstuben stattfindende Erkundungs- und Schwärmphase, durch die vermutlich die Zwergfledermaus häufiger an Windkraftanlagen verunglückt. Einige Standorte, etwa im Wald oder in dessen Nähe, gelten als besonders schlagträchtig. Während der Zugzeit im August und September kommt es vermehrt zu Kollisionen, auch bestimmte Witterungsbedingungen – Temperatur, Windgeschwindigkeit – begünstigen den Fledermausschlag. Als Strategien zur Vermeidung von Kollisionen mit Fledermäusen gelten der Verzicht auf besonders gefahrenträchtige Standorte sowie das Abschalten der Anlagen zu bestimmten Jahres- und Nachtzeiten bei niedrigen Windgeschwindigkeiten, in denen die Aktivität von Fledermäusen hoch ist. Daher können durch die Anhebung der Anlaufgeschwindigkeit die Fledermausunfälle bei nur geringem Ertragsverlust für die Betreiber drastisch reduziert werden. Untersuchungen ergaben 2008, dass kein direkter Kontakt zwischen Fledermaus und Windkraftanlage als Todesursache notwendig ist, sondern viele Tiere ein Barotrauma erleiden, das durch Druckunterschiede, vor allem an den Rotorblattenden, ausgelöst wird. Besonders gefährlich sind Windräder für Fledermausweibchen und -junge. Ein Forschungsvorhaben an der Ostseeküste Lettlands ergab, dass Fledermäuse vermutlich von der Befeuerung angelockt werden, die nachts an Windkraftanlagen rot blinkt. Daher schlagen die Autoren eine bedarfsgerechte Befeuerung vor. Eine britische Studie aus dem Jahr 2010 legt nahe, dass das helle Grau, mit dem Windkraftanlagen üblicherweise gestrichen werden, auf Fluginsekten anziehend wirkt, während andere Farben weniger Insekten anlockten. Da eine hohe Insektenaktivität Insektenfresser wie Vögel oder Fledermäuse anlockt, könnten Vögel und Fledermäuse durch einen anderen Farbanstrich geschützt werden. Windkraftanlagen sind unerheblich für das Insektensterben. Auswirkungen auf das lokale Klima Die drehenden Rotoren von Windkraftanlagen vermischen höhere und niedrigere Luftschichten. Dadurch erhöht sich die Bodentemperatur auf der Leeseite eines Windparks nachts und in den Morgenstunden. Diese Erwärmung ist auf die Umgebung des Windparks innerhalb einiger Kilometer beschränkt. Tagsüber erzeugt der von der Sonne erwärmte Boden Thermik, sodass sich die unteren Luftschichten auch ohne das Zutun von Windkraftanlagen vermischen. Die Erhöhung der Bodentemperatur durch Windkraftwerke fällt etwa um den Faktor zehn größer aus als die von Solarparks mit gleicher elektrischer Leistung. Mark Z. Jacobson hat vorgeschlagen, sehr große Offshore-Windparks zu installieren, dicht gestaffelt bis in 100 km Abstand von der Küste, um diese vor Wirbelstürmen zu schützen. Neben der Windgeschwindigkeit würde auch die Höhe von Sturmfluten abnehmen. Auswirkungen bei Standorten im Meer Um die erheblich stärkeren Winde auf See nutzen zu können, werden in Europa Offshore-Windparks geplant und gebaut. Deutschland, Dänemark, Schweden und Großbritannien haben bereits zahlreiche nahe der Küste liegende (Nearshore) Windparks errichtet. Nachteilig sind mögliche Beeinträchtigungen der Meeresökologie. Unsicher sind die Auswirkungen von Offshore-Windparks auf Meeressäuger wie Delfine und Schweinswale, insbesondere beim Bau der Fundamente. Naturschutzbedenken werden bei den Standortplanungen der Parks berücksichtigt. Die Kabelverbindungen von den Offshore-Windparks zum Land führen in der Nordsee oft durch das Wattenmeer, das in Deutschland fast komplett als Biosphärenreservat und Nationalpark ausgewiesen ist. Durch Betrieb und Wartung entsteht zusätzlicher Schiffs- bzw. Helikopterverkehr und Betriebsstoffe (Schmieröl o. Ä.) können in die Umwelt gelangen. Die Auswirkungen einer großflächigen Nutzung der Offshore-Windenergie auf die Meeresökologie sind derzeit Gegenstand der Forschung; die bisher gewonnenen Erkenntnisse deuten darauf hin, dass Offshore-Windparks verglichen mit Onshore-Anlagen eher geringere Umweltbelastungen verursachen. Bei einer Untersuchung des Offshore-Windparks Egmond aan Zee kamen niederländische Wissenschaftler zu dem Ergebnis, dass sich der fertig errichtete Windpark weitgehend positiv auf die Tierwelt auswirkt. Meerestiere könnten zwischen den Fundamenten und Stützen der Windkraftanlagen Ruhestätten und Schutz finden; die Biodiversität innerhalb des Windparks sei größer als in der Nordsee. Zwar würden einige auf Sicht jagende Vögel den Windpark meiden, andere Vogelarten jedoch fühlten sich durch den Windpark nicht gestört. Negative Auswirkungen gab es dagegen während des Baus. Leiser, aber noch nicht etabliert ist das Einsaugen von Bucket-Fundamenten. Stoffeinsatz und Energiebilanz Ressourceneinsatz Windkraftanlagen bestehen zum größten Teil aus Beton und Stahl. Daneben bestehen sie aus einer Vielzahl weiterer Rohstoffe wie z. B. Kupfer für das elektrische System, seltenen Metallen und Erden wie Mangan, Selen, Molybdän und Niob oder faserverstärkter Kunststoff (GFK bzw. CFK) für die Rotorblätter. Der Ressourceneinsatz der Windenergienutzung gilt durch eine große Zahl von Studien und Lebenszeitanalysen als gut untersucht (siehe auch Tabelle Energierücklaufzeit). Eine systematische Zusammenfassung für den Bestand der deutschen Infrastruktur, in der auch die Windenergie untersucht wurde, wurde vom Wuppertal Institut für Klima, Umwelt, Energie 2011 in der Studie „Materialbestand und Materialflüsse in Infrastrukturen“ publiziert. Demnach betrug der Materialbestand der Windkraftanlagen in Deutschland 2009 ca. 14,5 Mio. Tonnen, wobei Beton mit ca. 9,9 Mio. Tonnen den Löwenanteil ausmachte. Anschließend folgten Stahl mit 3,6 Mio. t, GFK mit 0,37 Mio. t und Gusseisen mit 0,36 Mio. t. Die angenommenen Recyclingraten für komplette Turbinen schwanken zwischen 80 % und 100 %. Bis zu 200 Tonnen Metalle sind in einer einzelnen Windkraftanlage verbaut, der Großteil davon Stahl. Verglichen mit anderen Kraftwerkstypen liegt bei Windkraftanlagen der Einsatz von in der Produktion energieintensivem Metall mit 28,5 % über dem Durchschnitt. So betrug beispielsweise der Materialbestand der deutschen Kohlekraftwerke 17,0 Mio. t, wobei 14,5 Mio. t auf Beton entfielen. Bei diesem Vergleich wird allerdings der fossile Brennstoffbedarf der Wärmekraftwerke nicht berücksichtigt. Für eine Windkraftanlage werden etwa 1600 Tonnen Beton benötigt. Die Metalle werden aufgrund ihres hohen Preises oft sehr gut recycelt, viele davon können bei entsprechender Sortenreinheit nach dem Einschmelzen ohne Qualitätseinbußen wiederverwendet werden. Beton kann, sofern das Fundament nicht im Boden verbleibt, mittels Sprengung, Abbruchzange und Hydraulikhammer zerlegt und in einem Brecher zerkleinert und einem Betonrecycling unterzogen werden. Schwieriger ist das Recycling des faserverstärkten Kunststoffs der Rotorblätter. Er wird vorwiegend thermisch verwertet, indem es in der Zementindustrie als Ersatzbrennstoff genutzt wird. Das Recycling von Windkraftanlagen ist eine gesetzliche Pflichtaufgabe für die Eigentümer und soll durch verpflichtende Rücklagen garantiert werden. In einer umfangreichen Untersuchung kam das deutsche Umweltbundesamt 2019 zu dem Schluss, das Deutschland auf den verstärkten Rückbau ab 2021 nicht ausreichend vorbereitet sei. Für das Jahr 2038 prognostizierte es eine Finanzierungslücke von 300 Millionen Euro. Energierücklaufzeit Die Energierücklaufzeit (energetische Amortisationszeit) beschreibt die Zeit, die vergeht, bis ein Kraftwerk genauso viel Energie erzeugt hat, wie zu dessen Produktion, Transport, Errichtung, Betrieb usw. benötigt wurde. Die Energierücklaufzeit beträgt bei Windkraftanlagen etwa drei bis sieben Monate und liegt auch nach konservativen Schätzungen deutlich unter einem Jahr. Der produzierten elektrischen Energie wird in der Regel die eingesparte Primärenergie gegenübergestellt. Eine kWhelektrisch ist energetisch etwa dreimal so wertvoll wie eine kWhthermisch, da der Wirkungsgrad der Umwandlung bei ca. 0,3 bis 0,4 liegt. Die thermische Energie lässt sich aufgrund des Umwandlungwirkungsgrades von 0,8 bis 0,9 etwa der Primärenergie gleichstellen Energetisch können sich nur Kraftwerke amortisieren, die regenerative Energiequellen nutzen, da fossile Brennstoffe verwendende Kraftwerke ständig nicht-regenerative Energievorräte verbrauchen. Während erste Untersuchungen aus der Pionierzeit der Windenergienutzung (1970er- und frühe 1980er-Jahre), beruhend auf unausgereiften Testanlagen mit nur wenigen Betriebsstunden durchaus den Schluss zuließen, dass eine energetische Amortisation kaum möglich ist, belegen zahlreiche Studien seit Ende der 1980er-Jahre bis in die Gegenwart, dass sich die heutigen ausgereiften Serienanlagen in wenigen Monaten energetisch amortisieren. Bei den Ergebnissen der verschiedenen Untersuchungen gibt es allerdings gewisse Unterschiede. Dies hängt zum einen mit den stark unterschiedlichen, standortabhängigen Energieerträgen von Windkraftanlagen zusammen, zum anderen mit dem betrachteten Lebenszyklus. Zudem unterscheiden sich oft die Bilanzierungsmethoden. So wurde z. B. in alten Untersuchungen nur die Herstellung der Anlage betrachtet. In modernen Lebenszyklusanalysen werden hingegen der Energieaufwand für Transport, Wartung über die Lebenszeit und Rückbau mit hinzugerechnet. In der Literatur schwanken die Angaben des Erntefaktors etwa zwischen Faktor 20 und 50. Der Erntefaktor ergibt sich aus Betriebsdauer der Anlage geteilt durch die energetische Amortisationszeit. Ardente u. a. ermittelten in ihrer Arbeit für einen italienischen Windpark einen primärenergetisch gewichteten Erntefaktor von 40–80 und konstatieren, dass selbst unter schlechtesten Voraussetzungen die Energierücklaufzeit unter einem Jahr liegt. Aus diesen Werten schlussfolgern sie, dass Windparks – auch verglichen mit anderen regenerativen Energien – zu den umweltschonendsten Energiegewinnungsformen zählen. Eine 2017 in der Fachzeitschrift Renewable Energy erschienene Systematische Übersichtsarbeit, die 17 seit dem Jahr 2000 erschienene Studien auswertete, kam zum Ergebnis, dass die Energierücklaufzeit von Windkraftanlagen größtenteils unter einem Jahr liegt. Für Onshore-Anlagen lag die Energierücklaufzeit zwischen 3,1 und 12 Monaten, im Durchschnitt bei 6,8 Monaten, bei Offshore-Anlagen 4,7 und 11,1 Monaten, mit Durchschnittswerten von 7,8 Monaten. Hau gibt für eine Anlage mit einer Nennleistung von 1 MW und einem Rotordurchmesser von 53 m detaillierte Daten an. Die Herstellung einer derartigen Anlage erfordert demnach einen Primärenergieeinsatz von rund 2 Mio. kWh, wobei etwa 1,6 Mio. kWh auf die Stahlherstellung entfallen. Das jährliche Regelarbeitsvermögen dieser Anlage beträgt 2,4 Mio. kWhelektrisch, entsprechend 6,85 Mio. kWhPrimärenergie. Die energetische Amortisationszeit ist folglich 3,4 Monate, der Erntefaktor liegt bei einer Betriebsdauer von 20 Jahren bei 70. Verwendung von Seltenerdmagneten Nach Schätzungen aus dem Jahr 2011 werden bei rund einem Sechstel der Windkraftanlagen Synchrongeneratoren mit Permanentmagneten aus Neodym-Eisen-Bor eingesetzt. Auch Dysprosium kann beigemischt werden. Die Elemente Neodym und Dysprosium zählen zu den sogenannten Metallen der Seltenen Erden, die je nach Studie und Jahr zu 60 % (2019) bis 90 % (2011) bzw. 97 % (2013) in China unter erheblichen Belastungen für die Umwelt und die Gesundheit der Anwohner abgebaut und aufbereitet werden. Im Jahr 2012 wurden ca. 5 % der weltweiten Neodym-Eisen-Bor Magnete in Windkraftanlagen verwendet. Bei Abbau von Monazit, einem Erz, aus dem Neodym und Dysprosium gewonnen werden, fällt darüber hinaus das radioaktive Schwermetall Thorium an, das zumeist als Tailings deponiert wird. In fast allen Offshore-Windkraftanlagen in Europa und in etwa 76 % der Anlagen weltweit wurden im Jahr 2018 Generatoren mit Permanentmagneten eingesetzt. Diese erlauben eine hohe Leistungsdichte und geringe Größe bei hohem Wirkungsgrad unter allen Geschwindigkeiten. In Onshore-Windturbinen hingegen können auch Alternativen eingesetzt werden, die weniger oder gar keine seltenen Erden verwenden. Potenzielle Alternativen zu Generatoren mit Permanentmagneten sind mehrpolige Synchrongeneratoren und Kurzschlussläufer-Induktionsgeneratoren. Eine weitere Option ist der Einsatz von Hybridantriebsgeneratoren, bei denen ein kleinerer Permanentmagnet als in Standardsystemen verwendet wird. Dies könnte zu einer Verringerung des Einsatzes von Neodym, Praseodym und Dysprosium um bis zu zwei Drittel pro Turbine führen. In Zukunft könnten auch supraleiterbasierte Generatoren, wie im EU Projekt EcoSwing getestet, eine Alternative darstellen. Einige Windkraftanlagenhersteller wie zum Beispiel Senvion und Enercon weisen ausdrücklich darauf hin, dass in ihren Generatoren kein Neodym eingesetzt wird. Nach Preisspitzen im Jahr 2011 kehrten andere Hersteller wie Vestas und General Electric, die in ihren Anlagen zuvor zeitweise Seltenerdmagnete einsetzten, bei vielen ihrer Anlagen zum doppelt-gespeisten Asynchrongenerator zurück. Im Zuge einer Leistungssteigerung stellte Vestas 2013 dann ebenfalls neue Anlagentypen, die (neodymlose) Asynchrongeneratoren mit Vollumrichter verwenden, vor. Für Befestigungen am Stahlturm werden Dauermagnete weiterhin eingesetzt. Um den Anteil an Dysprosium in den Generatoren auf unter 1 % zu verringern, setzt z. B. Siemens Wind Power auf eine spezielle Kühlung. Im Jahr 2007 waren rund 62.000 Tonnen Neodym im Umlauf, wovon ca. 10.000 Tonnen in Windkraftanlagen verbaut waren. Die verwendeten Magnete weisen eine lange Lebenszeit auf und sind aufgrund ihrer Größe leicht zu recyclen. Unfallrisiken Die Nutzung der Windenergie ist sowohl in Hinblick auf die Häufigkeit des Auftretens als auch der Schwere von Unfällen eine sehr sichere Technologie, gerade auch im Vergleich zu anderen Arten der Energiegewinnung. Zwar treten Unglücksfälle auch bei Windkraftanlagen auf, doch da sie meist fernab von Siedlungen stehen und Unfälle vor allem während Sturmphasen geschehen, kommt es abgesehen von Arbeitsunfällen bei der Montage und Wartung meist nicht zu Personenschäden. Neben Blitzschlägen und defekten Rotorblättern sind Turmberührungen bei extremen Böen Gründe für Unfälle. Dabei kann eine Anlage umstürzen oder Teile der Rotorblätter verlieren. In Mitteleuropa wurden bei rund 40.000 installierten Windkraftanlagen bisher ca. 15 Blattabbrüche registriert (Stand Anfang 2014). Die Auswirkungen von Unfällen sind begrenzt und ausschließlich lokal, beispielsweise kann die umliegende Vegetation durch abbrechende Rotorblattteile geschädigt werden. Ebenfalls können Anlagen in Brand geraten, wobei Brände in der Regel durch die Feuerwehr nur im unteren Turmbereich bekämpft werden können. Bei vielen Anlagen wird inzwischen standardmäßig ein Brandschutzsystem installiert, um Brände in der Mechanik und Elektronik bekämpfen zu können. Durch Brände können lokal Stofffreisetzungen auftreten, wie sie auch bei anderen Energietechnologien möglich sind. Um Umweltbelastungen durch Ölaustritte zu vermeiden, sind Windkraftanlagen mit ölgeschmiertem Getriebe mit Auffangwannen ausgerüstet. Typisch herrschen an Standorten stärkere Winde vor, die entstandene Brände anfachen können. Von 28.000 in Deutschland installierten Windkraftanlagen sind mit Stand Oktober 2013 zumindest 100 durch Brand total verloren gegangen. Die Rotorblätter von älteren Anlagen ohne Eiserkennung können bei entsprechender Witterung Eis ansetzen, das sich bei Tauwetter bei stehender und als Eiswurf bei anlaufender Anlage ablösen kann. Die Wahrscheinlichkeit, durch Eiswurf einer Windkraftanlage zu Schaden zu kommen, ist weitgehend vernachlässigbar und entspricht etwa der Wahrscheinlichkeit, von einem Blitz getroffen zu werden. Alle modernen Anlagen verfügen über eine Eiserkennung, beruhend auf Temperatur, Windsensorstatus, Windgeschwindigkeits- und Leistungsdaten, sodass sie bei Vereisung automatisch abschalten. Wenn die Anlage wieder eisfrei ist (Außentemperaturen über dem Gefrierpunkt) fährt die Anlage im automatischen Betrieb von selbst wieder an. Im manuellen Betrieb ist sie vom Windmühlenwart oder Servicepersonal vor Ort (ggf. nach einer Sichtkontrolle) wieder in Betrieb zu nehmen. Durch Rotorblattheizungen kann das Abtauen bei Stillstand nach einem Eisansatz beschleunigt werden. In entsprechenden Klimazonen kann durch Beheizung der Rotorblätter im laufenden Betrieb der Ertrag deutlich gesteigert werden. Eisabwurf ist öfter (bei Raureif, seltener Eisregen) zu beobachten, es wurden jedoch bisher noch keine Personen- oder Sachschäden dokumentiert. Die Wurfweite (Anlage geht bei Vereisung in Trudelstellung) ist meist gering. Je kompakter die Eisstücke, desto näher bei der Anlage (z. B. nach Eisregen), je leichter, desto weiter werden sie von eventuellen Windböen getragen – als relevante Entfernung kann die Rotorspitzenhöhe angenommen werden (= ca. 45° Fallwinkel). Bei Eiswetterlage oder Tauwetter sollte man den Aufenthalt unter Windkraftanlagen ebenso wie unter anderen hohen Gebäuden oder Konstruktionen – zum Beispiel Freileitungsmasten – vermeiden. Meist wird auf Hinweisschildern an den Zugangswegen vor der Gefahr gewarnt. Die beschriebenen Unfälle können Infrastrukturobjekte gefährden, die sich in unmittelbarer Nähe von Windenergieanlagen befinden. Von Behörden oder Betreibern der Infrastrukturobjekte werden in der Regel Mindestabstände gefordert, die nach den üblichen Abständen der theoretischen Auswirkungen dieser Unfälle festgelegt werden. Alternativ kann die Gefährdung durch probabilistische Betrachtungen bewertet werden. Ergebnis dieser Betrachtungen ist die Bewertung der Gefährdung bzw. die Angabe von Mindestabständen für Regelfälle in konkreten Projekten. Im Januar 2019 bezeichnete der Verband der Technischen Überwachungs-Vereine (VdTÜV) Windkraftanlagen als tickende Zeitbomben und forderte eine bundesweit einheitliche Prüfpflicht für alle Anlagen. Wegen des Alters der Windkraftanlagen wurden in Zukunft Personenschäden befürchtet. Der VdTÜV geht aktuell von etwa 50 schweren Havarien, wie abknickende Türme, abbrechende Rotorblätter und brennenden Gondeln pro Jahr in Deutschland aus. Der Bundesverband Windenergie hingegen spricht von durchschnittlich sieben Havarien pro Jahr seit 2013. Daten zu Havarien werden bisher in Deutschland nicht dokumentiert. Der Verband der TÜV-Organisationen forderte Sicherheitsprüfungen der Anlagen in die Betriebssicherheitsverordnung aufzunehmen. Ende September 2021 ist bei Haltern am See der Turm eines der bundesweit größten Windräder an Land eingestürzt. Es hatte eine Nabenhöhe von 164 Metern und war erst im März 2021 in Betrieb gegangen. Laut Bundesverband Windenergie gab es von 2005 bis 2021 sechs solche Zusammenbrüche. Der Hersteller Nordex gab an, dass Schwachstellen in Spannbeton-Teilen Ursache des Einsturzes in Haltern war. Bis März 2023 wurden von baugleichen 21 Windräder 16 gesprengt oder demontiert. Auswirkungen auf die Gesellschaft Gesellschaftliche Akzeptanz Eine 2011 in insgesamt 24 Ländern weltweit durchgeführte Umfrage ergab, dass 93 % der Befragten den Ausbau von Windkraftanlagen befürworteten. Deutschland Auch in Deutschland herrscht in der Bevölkerung ein weitgehender Konsens, dass den erneuerbaren Energien in einem zukünftigen Energiesystem die tragende Rolle zukommen soll. Die dritte jährliche Forsa-Umfrage zur Akzeptanz der Erneuerbaren Energien in Deutschland wurde 2009 durchgeführt. Sie war repräsentativ und ergab unter anderem: die Akzeptanz von Windenergieanlagen ist auch in der eigenen Nachbarschaft hoch je mehr Erfahrungen die Bevölkerung bereits mit Windkraftanlagen gesammelt hat, desto höher ist die Akzeptanz für neue Anlagen wer erneuerbare Energien bereits aus der eigenen Umgebung kennt, bewertet sie überdurchschnittlich gut: 55 Prozent der Gesamtbevölkerung stehen Windkraftanlagen positiv gegenüber; in der Gruppe, die Windräder in der Nachbarschaft haben, liegt die Zustimmung bei 74 Prozent Diese Ergebnisse wurden durch weitere Umfragen seitdem im Wesentlichen bestätigt. Allerdings kommt es gerade beim Bau von Windkraftanlagen im Vorfeld angesichts befürchteter Nachteile häufig zu lokalem Widerstand, was oft als Nimby-Phänomen bezeichnet wird. Dieses Konzept erfährt mittlerweile in der wissenschaftlichen Debatte deutliche Kritik, da eine Reihe von Untersuchungen zu dem Ergebnis kam, dass ein Kernbestandteil dieser These, die sogenannte „proximity-hypothesis“, nicht zutrifft. Diese geht davon aus, dass der Widerstand umso größer ist, je näher die Anwohner an den Windkraftanlagen wohnen. In der Realität wird jedoch häufig genau das Gegenteil beobachtet, also dass die Unterstützung von Windkraftanlagen mit zunehmender Nähe zunimmt. Daneben legen weitere Studien nahe, dass nach Installation der Anlagen die Unterstützung ansteigt. Weiteren Einfluss auf die Zustimmung hat die Möglichkeit der Beteiligung. Ist eine kommunale Beteiligung an den Anlagen möglich, führt dies zu deutlich höheren Akzeptanzwerten in der Bevölkerung. Dennoch kommt es mancherorts zur Bildung von Bürgerinitiativen. Neben Initiativen, welche die Windenergienutzung generell ablehnen, existieren Initiativen, die nur konkrete Anlagen in der näheren Umgebung ablehnen, prinzipiell aber die Windenergienutzung befürworten. Kritikpunkte sind z. B. der Abstand der Anlagen zur Wohnbebauung, eine als nachteilig empfundene Veränderung des Landschaftsbildes (siehe auch Kulturlandschaftsschutz) sowie die Beeinträchtigung von Tieren wie Vögeln und Fledermäusen. Einige Bürgerinitiativen geben vor, die Weltgesundheitsorganisation würde einen Mindestabstand von 2000 Metern zu Wohnbebauungen fordern. Auf Anfrage gab die Organisation an, sie habe keine Richtlinie zu Geräuschen von Windturbinen herausgegeben. Sie verwies lediglich auf eine Empfehlung des kanadischen Umweltministeriums und auf die allgemein gültigen Lärm-Richtlinien der WHO. Forscher des Leibniz-Instituts für Wissensmedien (IWM) in Tübingen konnten in Zusammenarbeit mit der University of Queensland (Australien) in einer repräsentativen Umfrage in Deutschland nachweisen, dass der Glaube an Verschwörungstheorien eine entscheidende Rolle bei der Ablehnung von Windrädern spiele. Schweiz Eine im November 2015 veröffentlichte Studie der Universität St. Gallen erhob in der Ostschweiz eine deutliche Mehrheit der Befragten, die eine Entwicklung der Windkraft sowohl national als auch in der eigenen Umgebung akzeptierten. Gesundheit Eine Metaanalyse des Umweltbundesamtes in Deutschland kam 2016 zu der Erkenntnis, dass die gesundheitlichen Gefährdungen von Windenergieanlagen als „sehr gering“ einzuschätzen sind und technische Vorschriften dies heute sicherstellen. Die Studie untersuchte die Auswirkungen von hörbarem Schall, nicht hörbarem Schall, Schattenwurf und Stroboskopeffekt, Lichtemissionen, Eiswurf und subjektive Wahrnehmungen. Nach dem Bundes-Immissionsschutzgesetz (siehe auch Technische Anleitung Lärm) darf die von einer technischen Anlage verursachte Schallimmission in Deutschland in reinen Wohngebieten nachts einen A-bewerteten Dauerschalldruckpegel von 35 dB nicht überschreiten (allgemeines Wohngebiet 40 dB, Dorf- und Mischgebiet 45 dB, Gewerbegebiet 50 dB). Tagsüber liegen die Werte höher. Für baurechtlich nicht festgesetzte Gebiete (z. B. Einzelgehöft im Außenbereich) werden nach aktueller Rechtsprechung die Werte für Mischgebiete angesetzt. Beim Bauantrag für eine Windkraftanlage ist im Rahmen des Genehmigungsverfahrens neben einer rechnerischen Vorhersage der erwarteten Schallimmissionen auch eine Betrachtung der möglichen Auswirkungen des Schattenwurfs vorzulegen. Schattenwurf Der Schattenwurf wird als unangenehm empfunden, weil der Schatten einer Windkraftanlage im Gegensatz zum Schatten von unbewegten Gegenständen periodische Helligkeitsschwankungen am Immissionsort hervorruft. Die Ursache ist der drehende Rotor. Der Schatten einer stehenden Windkraftanlage ist hingegen nicht anders zu bewerten als der Schatten eines normalen Gebäudes. Das Auftreten des Schattenwurfes hängt von der Lage und Größe der Windkraftanlage, der Lage des Immissionspunktes, der Gondelausrichtung und vom Anteil der Direktstrahlung an der Globalstrahlung ab. Nach dem Bundes-Immissionsschutzgesetz darf der Schattenwurf (auch Schlagschatten genannt) durch Windkraftanlagen in Deutschland auf (bestehende) Wohnhäuser jeweils nicht mehr als 30 Stunden pro Jahr und 30 Minuten pro Tag betragen. Diese Grenzwerte gelten unabhängig von Anlagenzahl und -größe. Bei dem Jahresgrenzwert handelt es sich um eine theoretische Größe, die sich unter Annahme von stetigem Wind, Betrieb, Sonnenschein und maximaler Schattenprojektion ergibt. In Deutschland liegt das Verhältnis von realem zu geometrischem Schattenwurf bei ca. 1 zu 4, sodass sich reale Belastungen von etwa acht Stunden im Jahr pro Immissionspunkt ergeben. Diese müssen über Mess- und Steuerungseinrichtungen in den Anlagen (Schattenwurfabschaltmodul) eingehalten werden. Insbesondere der flackernde Schatten des drehenden Rotors wird oft als belästigend empfunden. Anlagen, bei denen Gutachten zur Genehmigung eine Überschreitung der Grenzwerte zeigen, werden heute mit einer sonnenstands- und wetterabhängigen Schattenwurfregelung ausgerüstet, die durch die automatische zeitweise Abschaltung der Anlagen für die Einhaltung der Grenzwerte sorgen. Der „Diskoeffekt“ bezeichnet periodische Lichtreflexionen durch die Rotorblätter, er wird häufig mit der Schattenwurf-Erscheinung des Rotors verwechselt. Er trat vor allem bei Anlagen aus den Anfängen der Windenergienutzung auf, als noch glänzende Lackierungen an den Rotorblättern benutzt wurden. Seit langem werden die Oberflächen der Anlagen mit matten (nicht gerichtet reflektierenden) Lackierungen versehen. Daher spielt der Diskoeffekt bei der Immissionsbewertung durch moderne Windkraftanlagen keine Rolle mehr. Schall Der Schall von Windkraftanlagen ist in der Hauptsache das Windgeräusch der sich im Wind drehenden Rotorblätter. Die A-bewertete Schallleistung liegt für moderne Anlagen um 10 Milliwatt pro Megawatt, deutlich mehr für kleine, insbesondere ältere Zweiblattrotoren. 100 Milliwatt pro Quadratkilometer (Oberfläche einer Kugel von etwa 282 m Radius) ist ein Schallpegel von 50 dB. In der doppelten Entfernung läge die Schallimmission bei der von der WHO empfohlenen Grenze von 45 dB. Allerdings ist isotrope Schallausbreitung eine idealisierte Vorstellung. In der Realität wird der Wert maßgeblich von der Windrichtung beeinflusst und kann daher höher oder niedriger sein. Die stärkste Wahrnehmbarkeit wird bei 95 Prozent der Nennleistung angenommen, also bei Windgeschwindigkeiten zwischen etwa 10 und 12 m/s in Nabenhöhe. Bei niedrigeren Windgeschwindigkeiten ist die Schallleistung geringer, bei höheren dominiert das lokale Rauschen des Windes. Letzteres gilt besonders für Infraschall: Bereits in wenigen 100 m Abstand und in offenem Gelände dominiert Infraschall durch bodennahe Turbulenz. Drehzahlvariable Windkraftanlagen können in einen schallreduzierenden Betriebszustand gebracht werden, um zu bestimmten lärmsensiblen Zeiten, üblicherweise nachts, Rücksicht auf die in der Nähe befindlichen Wohngebiete zu nehmen. Derartige Betriebsmodi werden von fast allen Herstellern für ihre Anlagen angeboten. Da die Schallemission besonders von der Blattspitzengeschwindigkeit und – sofern vorhanden – dem Getriebe abhängt, wird dazu die Anlage mit suboptimaler Drehzahl gefahren. Die Verringerung von Schallemissionen ist eines der Hauptziele bei der Weiterentwicklung der Anlagen, bei der in den letzten Jahren große Fortschritte erzielt wurden. Durch den Verzicht auf ein Getriebe, bessere Körperschallentkopplung durch Einbau von Elastomeren an Tragpunkten, Schalldämpfung von Lüftungsschächten und Aerodynamik können die Geräuschemissionen stark gesenkt werden. Einzeltöne, etwa durch Einrastfrequenzen im Getriebe, und Impulshaltigkeit, die einen Aufschlag von bis zu 6 dB(A) rechtfertigen, treten bei modernen Anlagen durch konstruktive Maßnahmen nicht mehr auf. Hindernis-Kennzeichnung Die bei Windkraftanlagen mit mehr als 100 Metern Höhe vorgeschriebene Hinderniskennzeichen dient der Sicherheit des Flugverkehrs. Die Tageskennzeichnung besteht aus zwei roten Streifen an den Rotorblattspitzen, die Nachtkennzeichnung aus roten Lampen auf dem Dach der Maschinengondel. Diese Kennleuchten arbeiten bei alten Anlagen mit Leuchtstoffröhren, bei neueren mit Leuchtdioden (LED) oder Blitzlampen. Mit ihrem charakteristischen Blinkmuster verursachen sie eine Lichtverschmutzung, die – besonders bei größeren Ansammlungen von Anlagen – störend auf Anwohner wirken kann. Bis Ende 2022 müssen alle Onshore-Windenergieanlagen in Deutschland mit einer bedarfsgesteuerten Nachtkennzeichnung ausgestattet sein, die sich nur dann einschaltet, wenn sich ein Flugzeug in der Nähe befindet. Bis Ende 2023 müssen auch alle Offshore-Windenergieanlagen mit einer bedarfsgesteuerten Kennzeichnung ausgestattet sein. Dazu existieren radargestützte Befeuerungssysteme. Tests mit einem solchen System, das gemeinsam von Enertrag und Airbus entwickelt wurde, begannen 2012, 2015 wurde es durch die deutschen Behörden zugelassen. Pro Windpark müssen mindestens vier Radargeräte installiert werden. Ihre Sendeleistung von 4 Watt ist nur etwa doppelt so groß wie die eines Handys. Damit kann während ca. 98 % der Zeit auf den Einsatz der Hindernisbefeuerung verzichtet werden. Erste größere Projekte zur Nachrüstung des Systems in bestehenden Windparks laufen; beispielsweise sollen noch 2017 rund 90 % aller Windkraftanlagen im Landkreis Uckermark von Dauerbefeuerung auf bedarfsgesteuerte Befeuerung umgestellt werden. Seit März 2017 sind insgesamt 23 Windkraftanlagen in Schleswig-Holstein mit dem System airspex ausgerüstet. Als Anreiz für die Ausstattung mit solch einem System ist für Alt- und Neuanlagen ein Abschlag auf die Ersatzzahlung für den Landschafts-Bildeingriff möglich. Am Markt sind auch Systeme verfügbar, die Transponder nutzen. Einfluss auf Radaranlagen und Funknavigation Windkraftanlagen in der Nähe von stationären Radargeräten unterliegen zusätzlichen Baubeschränkungen. Die Luftraumüberwachung der zivilen Flugverkehrskontrolle ist durch deren mäßige Winkelauflösung in Elevation für Objekte oberhalb von Windkraftanlagen beeinträchtigt. Der Schutzbereich der Anlagen beträgt bis zu 15 km. Die auch an niedrig fliegenden Objekten interessierte militärische Luftraumüberwachung kann durch Abschattung und Beugung an Windkraftanlagen bezüglich Reichweite, Zielerfassung und -ortung beeinträchtigt werden. Innerhalb des Interessenbereichs von 50 km wird die Anlagenplanung einer Prüfung durch das Bundesamt für Infrastruktur, Umweltschutz und Dienstleistungen der Bundeswehr unterzogen. Die Anlagen der Flugzeuge zur terrestrischen Funknavigation sind leichter zu irritieren. Die Deutsche Flugsicherung verteidigt einen Bereich von 15 km Radius um (D)VOR Drehfunkfeuer. Immobilienpreise Von Bürgerinitiativen wird häufig eine dauerhafte Wertminderung von Immobilien durch den Bau von Windkraftanlagen befürchtet. 2003 wurde z. B. durch den Verband Deutscher Makler von langjährigen Wertverlusten berichtet: „Zahlreiche Immobilien in der Nähe von WKA sind quasi unverkäuflich.“ Ferner wird in Niedersachsen und Schleswig-Holstein beklagt, „dass einige Häuser seit Jahren mit Preisabschlägen von bis 40 Prozent angeboten würden.“ Es gebe noch nicht einmal Interessenten für diese Objekte. Dieser Darstellung widersprechen aber die Immobilienökonomen Philippe Thalmann von der Hochschule Lausanne und Günter Vornholz von der EBZ Business School in Bochum. Laut Thalmann löst jedoch häufig diese Befürchtung eines Preisrückgangs den tatsächlichen Preisrückgang in Form einer selbsterfüllenden Prophezeiung erst aus. So kam es insbesondere dort zu einem temporären Einbruch der Immobilienpreise, wo vor Ort großer Widerstand gegen Windkraftanlagen geleistet wurde. Allerdings ist Vornholz zufolge dieser Preisrückgang nur von kurzer Dauer, da durch die Debatte zunächst potentielle Investoren abgeschreckt würden. Nach Errichtung der Windkraftanlagen, wenn sich die Menschen an sie gewöhnt hätten, stabilisiere sich der Wert der Immobilien jedoch wieder auf dem vorhergehenden Niveau. Allerdings wird auch auf die methodischen Schwierigkeiten hingewiesen, den Einfluss von Windenergieanlagen von anderen Faktoren wie der wirtschaftlichen oder demographischen Entwicklung abzugrenzen. Zudem wird auf Wissensdefizite hingewiesen, so etwa 2015 von einem Mitarbeiter des Umweltamtes der Stadt Dortmund. Landschaftsbild Bei der ästhetischen Bewertung von Windkraftanlagen spielen subjektives Empfinden, Gewöhnung und gesellschaftliche Einstellungen, insbesondere Landschaftsideale, eine wichtige Rolle. Die landschaftsästhetische Bewertung von Windenergieanlagen ist äußerst kontrovers: Manche sehen in ihnen eine Bereicherung des Landschaftsbildes, andere eine Beeinträchtigung, insbesondere der Eigenart und Natürlichkeit von Landschaften. Kritisiert wird u. a. eine Technisierung/Industrialisierung der Landschaft. Wegen der zumeist schlank aufragenden Türme der Windkraftanlagen wird in diesem Zusammenhang abwertend von einer Verspargelung der Landschaft gesprochen. Tourismus Vor allem in touristisch bedeutsamen Regionen werden häufig ein stark negativer Einfluss auf den Fremdenverkehr sowie fallende Übernachtungszahlen befürchtet. Derartige Auswirkungen konnten bisher jedoch wissenschaftlich nicht nachgewiesen werden. 2005 befragte die Hochschule Bremerhaven unter Projektleitung von Michael Vogel im Auftrag der WAB 840 zufällig ausgewählte Menschen in elf touristisch relevanten Nordsee-Gemeinden mit Windkraftanlagen in der näheren Umgebung. Dabei sollten 20 Hypothesen verifiziert bzw. falsifiziert werden, die zuvor von der WAB vorgegeben wurden. Die Studie kam zu dem Ergebnis, dass Windkraftanlagen zwar nicht unumstritten waren, im Durchschnitt jedoch nicht als störend empfunden und z. T. als charakteristisch für die Nordseeküste gesehen würden. Windkraftanlagen wurden eher als nützlich für die zukünftige Energieversorgung betrachtet, zudem äußerten sich Menschen umso positiver über Windkraftanlagen, je jünger sie waren bzw. je weiter sie von den Anlagen entfernt wohnten. Hauptablehnungsgrund war eine befürchtete Lärmbelästigung vor optischen Gründen, zudem würden wenige große Anlagen stärker akzeptiert als viele Kleinanlagen. Beschäftigte in der Tourismusbranche, bzw. Menschen mit Bekannten in dieser Branche sahen Windparks positiver als der Durchschnitt der Befragten. Auch befürchten diese keine Ablehnung durch Touristen und damit sinkende Übernachtungen. 2012 führte das Institut für Regionalmanagement im Auftrag des Naturparks Hohes Venn-Eifel eine repräsentative Studie durch, bei der 1326 Personen befragt wurden, davon 159 mit Wohnsitz innerhalb des Naturparks. Demnach empfanden 59 % der Befragten die Windkraftanlagen als nicht störend, 28 % als störend aber akzeptabel. 8 % empfanden sie als störend und 4 % als sehr störend. 91 % der Befragten gaben an, dass sie auch bei einem weiteren Zubau von Windkraftanlagen wiederkommen würden, 6 % empfanden dies als so störend, dass sie auf einen weiteren Besuch verzichten würden. Eine Konzentration von Anlagen befürworteten 53 %, während 37 % eher eine breite Verteilung über das Land bevorzugten. Zudem wurden Windkraftanlagen als wichtig für die künftige Energieversorgung Deutschlands beurteilt. 63 % empfanden die Windenergie als sehr wichtig, 32 % als durchschnittlich wichtig, 4 % als unwichtig. Auch in dieser Studie konnte wieder eine Korrelation zwischen Alter der Befragten und Akzeptanz der Windenergie festgestellt werden: Während von den Befragten unter 20 Jahren nahezu 80 % Windkraftanlagen als nicht störend und nahezu niemand als störend oder sehr störend beurteilten, lag bei den Befragten über 59 Jahren der Anteil der Befragten, die Windkraftanlagen als nicht störend empfanden, nur zwischen 40 und 50 %. Als störend, aber akzeptabel beurteilten Windkraftanlagen in dieser Altersklasse ca. 30 % der Befragten; die Zahl derer, die Windkraftanlagen als sehr störend empfanden, blieb in allen Altersklassen unter 10 %. In bestimmten Regionen wird die Windenergienutzung bewusst in das lokale Tourismusangebot mit eingebunden. So gibt es mancherorts z. B. Tourismuslehrpfade, Windwanderwege, Windenergieradwege oder dergleichen. Auch existieren einige wenige Windkraftanlagen mit Aussichtsplattform, die von Touristen bestiegen werden können und häufig mit einem Besucherinformationszentrum kombiniert sind. In Pfaffenschlag bei Waidhofen an der Thaya, Niederösterreich wurde von einem lokalen Windkraftanlagenbetreiber ein am Boden aufgestelltes Maschinenhaus (Gondel und Nabe) eines Windrads zur Besichtigung von innen aufgestellt. Rahmenbedingungen Genehmigungsgrundlage In Deutschland erfolgt die Zulassung von Windkraftanlagen in der Regel in zwei getrennten Verwaltungsverfahren. Zunächst werden Flächen ausgewiesen, wo die Nutzung von Windenergie geeignet und gewollt ist. Im zweiten Schritt erfolgt die Genehmigung zur Errichtung und zum Betrieb der Anlage. Planungsrecht in Deutschland In Landesentwicklungsprogrammen der Bundesländer können Ausbauziele festgelegt werden. Dabei gelten die Regelungen der Landesplanung in Deutschland. In der Regionalplanung werden die Ausbauziele konkretisiert und Flächen für Windkraftnutzung an Land festgelegt. Sind solche Festlegungen getroffen worden, ist Windkraftnutzung außerhalb dieser Flächen nicht zulässig. Die räumliche Steuerung der Windkraftnutzung kann auch kleinteiliger auf kommunaler Ebene erfolgen. Dann legen die Gemeinden Flächen für Windkraft im Flächennutzungsplan fest. Um Widersprüche in der Landes- und Flächennutzungsplanung zu vermeiden, gilt das Gegenstromprinzip (Raumordnungsrecht). Die Bundesländer Schleswig-Holstein, Niedersachsen und Mecklenburg-Vorpommern können im Küstenmeer auch marine Flächen für Offshore-Windparks festlegen. Ist eine räumliche Steuerung in einem Planungsraum nicht erfolgt oder unwirksam geworden, ist Windkraftnutzung überall zulässig. Denn die Windkraftnutzung ist ein privilegiertes Bauvorhaben. Die räumliche Steuerung der Offshore-Windparks in der AWZ der Nord- und Ostsee erfolgte durch zwei Raumordnungspläne, die das Bundesministerium für Verkehr, Bau und Stadtentwicklung 2009 verordnet hat. Die Pläne werden seit 2012 durch den Bundesfachplan Offshore des Bundesamtes für Seeschifffahrt und Hydrographie (BSH) ergänzt. Seit 2017 ist das BSH für den Gesamtplanungsprozess der Flächen inklusive Entwicklung und Voruntersuchung zuständig. Genehmigungsrecht in Deutschland An Land bedürfen Errichtung und Betrieb einer Windenergieanlage mit einer Gesamthöhe von mehr als 50 m einer Genehmigung nach dem Bundes-Immissionsschutzgesetz. Besteht der Windpark aus weniger als 20 Windkraftanlagen, kommt gemäß der Verordnung über genehmigungsbedürftige Anlagen das vereinfachte Verfahren ohne geregelte Öffentlichkeitsbeteiligung in Betracht. Eine Vorprüfung der voraussichtlichen Umweltauswirkungen hat nach dem Gesetz über die Umweltverträglichkeitsprüfung ab drei Anlagen zu erfolgen. Vor dem 1. Juli 2005 richtete sich das Verfahren nach Bauordnungsrecht. Offshore-Windparks im Küstenmeer werden auch immissionsschutzrechtlich genehmigt. Offshore-Windparks in der AWZ der Nord- und Ostsee unterlagen früher dem Seeanlagenrecht. Sie sind nunmehr planfeststellungspflichtige Einrichtungen nach Wind-See-Gesetz. Planfeststellungsbehörde ist das Bundesamt für Seeschifffahrt und Hydrographie. Kleinwindanlagen Die Genehmigung von Windkraftanlagen mit einer Höhe geringer als 50 Meter basiert nicht auf dem Bundes-Immissionsschutzgesetz, sondern auf Landesrecht. In jedem Bundesland gibt es somit unterschiedliche Regelungen für die Baugenehmigung kleiner Windkraftanlagen. Einige Bundesländer verzichten für Kleinstanlagen bis 10 Meter, teils sogar 15 Meter Höhe auf eine Genehmigungspflicht. Stromgestehungskosten und Förderung Die Stromgestehungskosten von Windkraftanlagen sind von der jeweiligen Standortqualität abhängig. Sie liegen aber auf ähnlichem Niveau wie von Wärmekraftwerken, deren Kosten durch sich verteuernde Brennstoffkosten in Zukunft weiter ansteigen werden. Auf sehr guten Onshore-Standorten sind Windkraftanlagen mit Stromgestehungskosten von bis zu 4,5 ct/kWh laut Fraunhofer ISE bereits heute (Stand 2013) in der Lage günstiger zu produzieren als die meisten konventionellen Kraftwerke. Mit sinkender Standortgüte steigen die Stromgestehungskosten an, sodass Windkraftanlagen auf sehr schlechten Standorten mit bis zu 10,7 Ct/kWh noch teurer sind als Kohle- und Gaskraftwerke. Offshore-Anlagen liegen z. T. deutlich über diesen Werten. Ähnliche Werte sind in der Literatur zu finden. Gasch u. a. nennen z. B. für einen exemplarischen Windpark Stromgestehungskosten von 6,5 Ct/kWh, die bei 10 % besseren Windverhältnissen auf 5 ct/kWh sinken können. Kaltschmitt und Streicher geben in ihrer bereits 2009 erschienenen Arbeit für Österreich zwischen 6 und 9 Ct/kWh an. An den besten Standorten liegen die Stromgestehungskosten von Windkraftanlagen mittlerweile bei 40–50 US-Dollar/MWh (– Euro/MWh), wenn diese auch stark abhängig sind von der Standortqualität und den Finanzierungsbedingungen; in den USA waren Onshore-Windkraftanlagen 2014 nach gasbefeuerten GuD-Anlagen bereits die zweitgünstigsten Kraftwerke. Langfristig wird davon ausgegangen, dass sich die Windenergie weltweit zur günstigsten Form der Stromproduktion entwickeln wird. Da Investitionen in Windkraftanlagen und andere alternative Energiequellen in vielen Ländern gefördert wurden und werden, steigt seit Jahrzehnten die jährlich neu installierte Leistung. Während in der Anfangszeit Forschungsförderung dominierte, ist heute die Einspeisevergütung verbreitet, etwa im deutschen Erneuerbare-Energien-Gesetz. Weitere Fördermechanismen sind Steuervergünstigungen und Mindestquoten für Strom aus regenerativen Quellen. Preise Die Preise für Windkraftanlagen unterliegen marktüblichen Schwankungen. Zum einen halten sich die Anbieter eher bedeckt, zum anderen müssen individuelle Rahmenbedingungen berücksichtigt werden. Dazu zählen beispielsweise der Baugrund, die Infrastruktur (Zuwegung zur Baustelle, Entfernung zum Stromnetz), Vorschriften zur Stromqualität und Lärmemission usw. und davon abhängig die verwendete Technik (Art des Fundamentes, Art der Einspeisung etc.). Getriebelose Anlagen sind in der Regel in der Installation teurer als herkömmliche Windkraftanlagen mit Getriebe, jedoch zuverlässiger, wartungsärmer und leiser. Hau nannte für zwei an Land errichtete Windkraftanlagen mit jeweils 3 MW Nennleistung, einem Rotordurchmesser von 100 m und einer Nabenhöhe von 100 m, jedoch unterschiedlichen technischen Konzepten exemplarische Werte: Demnach beträgt der kalkulatorische Verkaufspreis einer drehzahlvariabel arbeitenden Getriebeanlage mit doppelt-gespeistem Asynchrongenerator und Teilumrichter 3.058.500 Euro bzw. 1019 Euro/kW. Eine drehzahlvariable getriebelose Anlage mit Permanentmagnet-Generator und Vollumrichter mit ansonsten gleichen Spezifikationen kostet ca. 3.305.250 Euro bzw. 1102 Euro/kW. Hinzu kommen Kosten für den Bau von Zuwegung, Fundamenten, Netzanschluss, Projektplanung, Umweltgutachten, ökologische Ausgleichsmaßnahmen usw.; sodass die installierten Kosten, d. h. die Kosten für die Errichtung einer betriebsfertigen Windkraftanlage, bei ca. 125–135 % der Anlagenpreise ab Werk liegen. Offshore-Windkraftanlagen sind teurer als Onshore-Anlagen, insbesondere sind die Installationsnebenkosten offshore deutlich höher als onshore. Weiterbetrieb ausgeförderter Ü20-Anlagen Nach dem Ende der 20-jährigen Förderung gibt es unter anderem die Möglichkeit einer Direktvermarktung, der Vermarktung über ein Power Purchase Agreement (PPA) oder des Repowering. Darüber hinaus gibt es im Rahmen der Diskussion über das EEG 2020 Überlegungen für eine angemessene Anschlussvergütung. Forschung und Entwicklung Da die moderne, großtechnische Windenergie­technik noch recht jung ist und dementsprechend noch große technische Fortschritte zu erzielen sind, investieren Windkraftanlagenhersteller einen relativ hohen Anteil ihrer Umsätze in Forschung und Weiterentwicklung. Seit Windkraftanlagen in großer Zahl hergestellt werden, ist auch die staatliche Forschung in Universitäten und Forschungsinstituten verstärkt worden. In Deutschland sind hier z. B. das 1990 gegründete Deutsche Windenergie-Institut (DEWI) sowie das Fraunhofer-Institut für Windenergie und Energiesystemtechnik zu nennen, das sich mit anwendungsorientierter Forschung befasst. Beispiele für international bedeutsame Forschungsinstitute im Bereich der Windenergie sind das US-amerikanische National Renewable Energy Laboratory sowie das dänische Risø DTU. Wichtige internationale wissenschaftliche Fachzeitschriften, in denen Forschungsarbeiten zu Windkraftanlagen publiziert werden, sind z. B. Wind Energy, Renewable Energy und Renewable and Sustainable Energy Reviews. Zentraler Ansatzpunkt bei der Weiterentwicklung von Windkraftanlagen ist die weitere Senkung der Stromgestehungskosten, um die volle Konkurrenzfähigkeit mit fossilen Kraftwerken zu erlangen. Dieses Ziel soll nach einer 2015 erschienenen Review-Studie in naher Zukunft erreicht werden können. Die technische Weiterentwicklung umfasst vor allem Kostenreduktionen durch eine effizientere Serienproduktion und stärkeren Maschineneinsatz, insbesondere bei den noch z. T. in Handarbeit hergestellten Rotorblättern. Bei Rotorblättern ist ein Trend zu immer größeren Flügellängen festzustellen, die den Ertrag pro Anlage steigern und die Stromgestehungskosten senken sollen. Um die Belastungen durch das steigende Eigengewicht niedrig zu halten, wird hierfür u. a. am Einsatz leichterer und stabilerer Materialien wie CfK geforscht, die jedoch andere technische Eigenschaften wie die weiter verbreiteten Blätter auf GFK-Basis haben. Daneben sind neue Profile, teilbare Flügel für leichteren Transport und „intelligente“ Blätter ein Forschungsziel. Zudem rückt die Erschließung von weniger windstarken Regionen durch spezielle Schwachwind-Anlagen in den Fokus von Herstellern und Forschung. Ebenso werden neue Triebstrang- und Generatorkonzepte entwickelt. Generatoren mit Supraleitern versprechen bis zu 50 % Gewichtsersparnis. International erreichte Rekorde Der leistungsstärkste Windkraftanlagentyp ist die V236 von Vestas Wind Systems mit einer Nennleistung von 15 MW. Der Prototyp für Offshore-Windparks stellte im August 2023 einen neuen Rekord auf, indem er an einem Tag 363 MWh Strom erzeugte; gleiche Nennleitsung mit 15 MW liefert die Siemens Gamesa SG 14-236 DD. Den größten Rotordurchmesser hat ebenfalls die V236 und die SG 14-236 mit 236 Metern. Die höchste Windkraftanlage ist wiederum die V236. Der Prototyp wurde im Windkraftanlagentestfeld Østerild mit einer Nabenhöhe von 163 m errichtet, wodurch die V236 eine Gesamthöhe von 281 m aufweist. Die älteste moderne Windkraftanlage Tvind operiert seit 1975 und steht in Dänemark Die weltweit leistungsfähigste Windkraftanlage mit einem Zweiblattrotor hat eine Leistung von 6,5 MW und einen Rotordurchmesser von 130 m. Entwickelt wurde sie von der deutschen Firma Aerodyn Energiesysteme und von Ming Yang Ende 2014 errichtet. Es existiert auch eine Variante mit 6 MW und 140 m Rotordurchmesser. Mit 110 m Gesamthöhe die größte Windkraftanlage mit vertikaler Achse war der 1988 errichtete Éole in Le Nordais, Cap-Chat, Kanada. Sein Darrieus-Rotor hat 64 m Durchmesser und ist 96 m hoch. Bis zu seiner Stilllegung 1992 produzierte Éole insgesamt 12 GWh elektrische Energie, was knapp 20 Wochen Nennleistung entspricht (3,8 MW). Die höchstgelegenen Windkraftanlagen wurden 2013 in einem Windpark im tibetischen Regierungsbezirk Nagqu errichtet. Der Windpark, der im Endausbau aus 33 1,5-MW-Anlagen des chinesischen Herstellers Guodian bestehen soll, liegt auf einer Höhe von ca. 4900 Metern. Im August 2013 waren fünf Anlagen aufgebaut. Der nördlichste Windpark (errichtet 2002) besteht aus 16 Nordex N80 mit jeweils 2,5 MW Nennleistung im Windpark Havøygavlen bei Hammerfest im Norden Norwegens, die Jahresproduktion liegt bei bis zu 120 GWh. Die südlichsten Windkraftanlagen sind auf 77°51′S drei Enercon E-33, die zusammen mit Dieselaggregaten die Scott Base in der Antarktis mit elektrischer Energie versorgen. Die inzwischen aufgegebene Neumayer-Station II auf 70°38′S hatte von 1991 bis 2008 einen Darrieus H-Rotor der Fa. Heidelberg Motors, der für die Neumayer-Station III durch eine Enercon E-10 ersetzt wurde. Windkraftanlagen im deutschsprachigen Raum Deutschland Listen der Windkraftanlagen in Deutschland wurden nach Bundesländern zusammengestellt: Baden-Württemberg, Bayern, Berlin und Brandenburg, Bremen, Hamburg und Niedersachsen, Hessen, Mecklenburg-Vorpommern, Nordrhein-Westfalen, Rheinland-Pfalz, Saarland, Sachsen, Sachsen-Anhalt, Schleswig-Holstein, Thüringen. Österreich Die größten Anlagen sind in einer Liste österreichischer Windkraftwerke aufgeführt. Siehe auch Liste niederösterreichischer Windkraftwerke, Windenergie in Oberösterreich#Standorte und Windenergie in der Steiermark#Standorte. Zwei besonders leistungsfähige Windkraftanlagen vom Typ E-126 (Hersteller Enercon) wurden in der Nähe von Potzneusiedl durch die BEWAG-Tochter Austrian Wind Power (AWP) errichtet und Anfang 2012 in Betrieb genommen. Sie haben eine Nennleistung von je 7,5 MW, eine Nabenhöhe von etwa 135 m und eine Rotorspitzenhöhe von etwa 198,5 m. Schweiz In der Schweiz gibt es (Stand Mitte 2014) etwa 55 Windkraftanlagen. 16 davon stehen im Windpark Mont Crosin auf der Passhöhe des Mont Crosin. Die 2012/13 errichtete Windenergieanlage Calandawind (Nabenhöhe 119 Meter) ist die erste 3-MW-WKA der Schweiz. Der höchstgelegene Windpark in Europa ist der Windpark Gries mit vier Windrädern zwischen dem Nufenenpass und dem Griespass. Siehe auch: Liste von Windkraftanlagen in der Schweiz Windenergie#Schweiz Schweizer Energiepolitik Energieverbrauch der Schweiz Windkraftanlagenhersteller Die zehn größten Hersteller nach installierter Leistung waren 2021 Vestas, Goldwind, Siemens Gamesa, Envision, GE Wind Energy, Windey, Mingyang, Nordex, Shanghai Electric und Dongfang Electric. Siehe auch Energiewende Energiewende nach Staaten Literatur Albert Betz: Windenergie und ihre Ausnutzung durch Windmühlen. Ökobuch, Kassel 1982, ISBN 3-922964-11-7. (Nachdruck der Auflage Göttingen 1926). Robert Gasch, Jochen Twele (Hrsg.): Windkraftanlagen. Grundlagen, Entwurf, Planung und Betrieb. 9., aktualisierte Auflage. Springer, Wiesbaden 2016, ISBN 978-3-658-12360-4. Erich Hau: Windkraftanlagen – Grundlagen, Technik, Einsatz, Wirtschaftlichkeit. 5. Auflage. Springer, Berlin/Heidelberg 2014, ISBN 978-3-642-28876-0. Siegfried Heier: Nutzung der Windenergie. 7. Auflage. Fraunhofer IRB Verlag, Stuttgart 2016, ISBN 978-3-8167-9587-2. Matthias Heymann: Geschichte der Windenergienutzung: 1890–1990. Campus Verlag, Frankfurt am Main 1995, ISBN 3-593-35278-8. Peter Jamieson: Innovation in Wind Turbine Design. Wiley, 2011, ISBN 978-0-470-69981-2. Germanischer Lloyd: Guideline for the Certification of Wind Turbines, 2010 (PDF; 3,7 MB). Martin Kaltschmitt, Wolfgang Streicher, Andreas Wiese (Hrsg.): Erneuerbare Energien. Systemtechnik, Wirtschaftlichkeit, Umweltaspekte. Springer/Vieweg, 5. Auflage Berlin/Heidelberg 2013, ISBN 978-3-642-03248-6. Volker Quaschning: Regenerative Energiesysteme. Technologie – Berechnung – Simulation. 9. Auflage. Hanser, München 2015, ISBN 978-3-446-44267-2. Alois Schaffarczyk (Hrsg.): Einführung in die Windenergietechnik. 2. Auflage. Hanser, München 2016, ISBN 978-3-446-44982-4. Hermann-Josef Wagner, Jyotirmay Mathur: Introduction to wind energy systems. Basics, technology and operation. Springer, Berlin/Heidelberg 2013, ISBN 978-3-642-32975-3. Viktor Wesselak, Thomas Schabbach, Thomas Link, Joachim Fischer: Handbuch Regenerative Energietechnik. 3., aktualisierte und erweiterte Auflage. Berlin/Heidelberg 2017, ISBN 978-3-662-53072-6. Matthias Heymann: Technisches Wissen, Mentalitäten und Ideologien: Hintergründe zur Mißerfolgsgeschichte der Windenergietechnik im 20. Jahrhundert. In: Technikgeschichte, Bd. 63 (1996), H. 3, S. 237–254. Vaughn Nelson: Innovative Wind Turbines: An Illustrated Guidebook. CRC, Boca Raton 2019, ISBN 978-0-367-81931-6. Weblinks www.windindustrie-in-deutschland.de – Datenbank mit Kenndaten von Windenergieanlagen [ Dia-Show der Bilder-Kategorie Wind turbines in Germany] Einzelnachweise ! Wikipedia:Artikel mit Video
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https://de.wikipedia.org/wiki/Blade%20Runner
Blade Runner
Blade Runner [] ist ein am 25. Juni 1982 erschienener US-amerikanischer Science-Fiction-Film des Regisseurs Ridley Scott. Literarische Vorlage ist der Roman Träumen Androiden von elektrischen Schafen? von Philip K. Dick. Dieser Roman wurde später ebenfalls unter dem Titel „Blade Runner“ vertrieben. Der Film, der Elemente des Film noir übernimmt und eine Dystopie entwirft, war bei Kritik und Publikum zunächst kein Erfolg, wurde mit der Zeit aber zum Kultfilm. In der Bundesrepublik Deutschland lief der Film ab dem 14. Oktober 1982 in den Kinos. Bemerkenswert ist das einflussreiche visuelle Design, die detailreiche Ausstattung und die Filmmusik von Vangelis. Überdies bieten einige Themen des Films vielfältige philosophische Deutungsmöglichkeiten. Ridley Scotts erster Hollywood-Film eröffnete das Genre des Cyberpunk für das Kino und machte den Autor Philip K. Dick nach seinem Tod über die Science-Fiction-Fanszene hinaus berühmt. Handlung Die Stadt Los Angeles im November 2019: Der Stadtmoloch ist durchtränkt von fortwährendem Nieselregen. Er ist dekadent, düster, schmutzig, übervölkert und die Menschen sind allgegenwärtiger Werbung ausgesetzt. Tiere sind fast ausgestorben und es ist günstiger, die künstliche Kopie eines Tieres zu erwerben. Ein besseres Leben auf fernen Planeten wird versprochen, in Welten, die durch sogenannte „Replikanten“ erschlossen worden sind. Diese von der mächtigen Tyrell Corporation hergestellten künstlichen Menschen sind äußerlich nicht mehr von den natürlich geborenen Menschen zu unterscheiden, verfügen jedoch über weit größere physische Kräfte und entwickeln im Laufe der Zeit eigene Gefühle und Ambitionen. Da zumindest einige von ihnen auch über eine hohe Intelligenz verfügen, werden alle Replikanten mit einer auf vier Jahre begrenzten Lebensdauer ausgestattet, um sie nicht zu einer Bedrohung werden zu lassen. Als einige Replikanten der hochentwickelten Serie Nexus-6 ein Raumschiff kapern, Menschen töten und auf die Erde fliehen, wird der ehemalige Blade Runner Rick Deckard eingeschaltet. Er soll die Replikanten „aus dem Verkehr ziehen“. Im Verlauf seiner Ermittlungen trifft Deckard die bei der Tyrell Corporation arbeitende Rachael und findet heraus, dass auch sie eine Replikantin ist. Sie selbst ist sich dessen aber nicht bewusst, da ihr künstliche Erinnerungen implantiert wurden. Deckard eröffnet ihr schonungslos diese Wahrheit, worauf sie verstört und verletzt reagiert. Deckard verliebt sich aber bald in sie und beginnt, an der Berechtigung seines Auftrags zu zweifeln, zumal Rachael ebenfalls auf die Todesliste der Polizei kommt. Unterdessen dringt der Replikant Roy Batty mit Hilfe des kranken und naiven Genetik-Designers J. F. Sebastian in das Gebäude der Tyrell Corporation ein. Er fordert von seinem „Schöpfer“ Tyrell Aufklärung über seine Herkunft und Lebensdauer. Als Roy begreift, dass selbst Tyrell sein Leben nicht verlängern kann, tötet er ihn sowie Sebastian. Nachdem Deckard bereits eine Replikantin ausgeschaltet hat und ein weiterer Replikant von Rachael erschossen wurde, womit sie Deckard das Leben rettete, dringt dieser in Sebastians Wohnung vor, in der sich Roys Gefährtin Pris versteckt hält. Kurz nachdem er sie getötet hat, erscheint Roy und liefert sich mit Deckard einen dramatischen Zweikampf. Roy verhöhnt Deckard und scheint aufgrund seiner körperlichen Überlegenheit mit ihm zu spielen. Doch als Deckard flüchtet und dabei im strömenden Regen von einem Hochhausdach abrutscht, rettet Roy ihm in einem Akt der Humanität das Leben, kurz bevor seine eigene Zeit abgelaufen ist und er selbst sterben muss. Am Schluss flieht Deckard mit Rachael aus der Stadt. Produktion Entstehungsgeschichte Hampton Fancher wollte seit 1975 Philip K. Dicks Buch Träumen Androiden von elektrischen Schafen? verfilmen. Sein Freund Brian Kelly konnte Dick 1977 die Rechte für eine Verfilmung abkaufen. Mit einem ersten Drehbuchentwurf von Fancher gewannen sie 1978 den Produzenten Michael Deeley für die Idee. Nach weiteren Drehbuchentwürfen konnte schließlich 1980 Ridley Scott, der gerade mit Alien einen Erfolg gelandet hatte, als Regisseur verpflichtet werden. In der Folgezeit arbeiteten Fancher und Scott an weiteren Entwürfen. Den Titel Blade Runner entlieh der Film dem Titel des Buches The Bladerunner von Alan E. Nourse, das 1979 von William S. Burroughs in einen Filmentwurf umgearbeitet worden war, sonst aber keine Ähnlichkeit mit dem späteren Film hat – dort bezeichnet Blade Runner („Klingenschmuggler“) noch Schwarzhändler für medizinische Produkte. Scott und Fancher gefiel der Titel, und sie kauften ihn Nourse und Burroughs ab. Frühere geplante Titel waren Android und Dangerous Days („Gefährliche Tage“). Weil sie sich über einige Punkte nicht einigen konnten, engagierte Scott David Peoples für eine weitere Umarbeitung des Drehbuchs. Schließlich fügte Scott aus mehreren früheren Entwürfen das endgültige Drehbuch zusammen. Die Dreharbeiten begannen am 9. März 1981 in Los Angeles und Filmstudios in Burbank. Die Arbeiten wurden von Spannungen zwischen Regisseur, Schauspielern und Filmcrew sowie von finanziellen Problemen begleitet. Die lange Produktionszeit und damit einhergehende hohe Kosten wurden Scott angelastet. Nachdem die ursprüngliche Produktionsfirma Filmways abgesprungen war, konnte Produzent Deeley von der Ladd Company, dem Hongkonger Produzenten Sir Run Run Shaw und Tandem Productions das nötige Geld bekommen. Als die Produktionskosten schließlich mit 28 Millionen Dollar das geplante Budget überschritten, fielen die Rechte an dem Film durch eine Vertragsklausel alleine an Tandem Productions, bestehend aus Bud Yorkin und dem Medienmogul Jerry Perenchio. Diese rechtliche Lage erschwerte später das Zustandekommen des 1992er Director’s Cut und des neuen Director’s Cut ab 2000. Rohfassungen des Films (Workprints) stießen in Testvorführungen Anfang März 1982 auf Kritik des Publikums. Die Geldgeber verlangten daraufhin Änderungen an dem Film. So wurden, zum Missfallen des Regisseurs, eine Reihe von Voiceover-Kommentaren (geschrieben von Roland Kibbee) sowie ein Happy End hinzugefügt. Für Letzteres wurde unbenutztes Filmmaterial aus Shining (Luftaufnahmen von Wäldern, vergleiche den Anfang von Shining) benutzt. Die Voiceovers enthalten Hintergrundinformationen, welche die Filmhandlung verständlicher und stringenter machen sollen. Ursprünglich sollte die Popsängerin Debbie Harry die weibliche Hauptrolle der Rachael übernehmen. Wegen vertraglicher Verpflichtungen mit ihrer Plattenfirma in Bezug auf eine Tournee mit ihrer Band Blondie musste Harry jedoch das Filmangebot ablehnen, was die Sängerin später als „größter Fehler meines Lebens“ bezeichnete. Die Rolle ging stattdessen an die Schauspielerin Sean Young. Deutsche Synchronisation Es existieren drei Synchronfassungen des Films. Die erste wurde 1982 bei der Berliner Synchron Wenzel Lüdecke für die Kinofassung erstellt. Dialogbuch und Regie verantwortete Arne Elsholtz. Für den 1992 angefertigten Director’s Cut wurde der Film vollständig neu synchronisiert. Diese Fassung wurde ebenfalls von der Berliner Synchron GmbH Wenzel Lüdecke erstellt. Buch und Dialogregie lagen nun in den Händen von Benjamin Völz. Für den Final Cut (2007) griff man auf die Synchronisation des Director’s Cut zurück und ergänzte die zusätzlichen Szenen soweit möglich mit den Sprechern von 1992. Da Gerd Duwner und Bernd Schramm bereits gestorben waren, wurden die neuen Dialoge von Andreas Mannkopff bzw. Kaspar Eichel übernommen. Soundtrack Die Musik zum Film stammt von Vangelis, der zuvor mit der Musik zu Die Stunde des Siegers (Chariots of Fire) bekannt geworden war. Die Filmmusik verbindet klassische Komposition mit dem futuristischen Klang von Synthesizern, auf denen sie von Vangelis eingespielt wurde. Hierbei kommt besonders oft Vangelis’ Lieblingsinstrument, ein Yamaha-CS-80-Synthesizer, mit seinen charakteristischen, bläserartigen Klängen zum Einsatz. Ein Titel stammte aus einem früheren Album des Künstlers. Die Musik trägt stark zur melancholisch-düsteren Atmosphäre des Films bei und wurde von vielen Kritikern gelobt. Vangelis wurde für seine Arbeit 1983 für den BAFTA Award und den Golden Globe nominiert. Auch für seinen späteren Film 1492 – Die Eroberung des Paradieses engagierte Regisseur Scott Vangelis als Komponisten. Die Musik nimmt grundsätzlich die Themen der Nostalgie und der Durchmischung verschiedener Epochen und Kulturen auf. In Anlehnung an den Film noir sind etwa blues- und jazzartige Saxofon- (von Dick Morrissey) und Trompetensoli zu hören. An anderen Stellen des Films läuft Synthesizermusik, die Anfang der 1980er noch als deutlich futuristischer und Science-Fiction-typischer empfunden wurde als in heutiger Zeit. Aus einer der Werbetafeln erklingt japanische Biwa-Musik. Besondere Bedeutung hat die Musik in Szenen mit wenig Dialog, so etwa in den fast wortlosen romantischen Szenen zwischen Deckard und Rachael – die selbst eine kurze Chopin-Variation am Klavier spielt –, beim Kampf zwischen Deckard und Roy oder bei der Hinrichtung der Replikantin Zhora. Auch die Eröffnungssequenz mit dem Blick über die düsteren Weiten der Stadt und der Sterbemonolog Roys werden von der Musik in ihrer Wirkung deutlich verstärkt. Einige musikalische Leitmotive ziehen sich durch den Film. Es ist auch auf den oft auftretenden Widerhall von Geräuscheffekten hingewiesen worden, der das hörbare Äquivalent zur nebligen, paranoid-eingeschlossenen Atmosphäre des Films darstelle. Ein Soundtrack-Album zu Blade Runner wurde 1982 im Abspann des Films angekündigt. Zunächst erschien jedoch nur eine orchestrale Interpretation der Musikthemen des Films. Die bereits 1982 veröffentlichte LP wurde unter dem Titel: Blade Runner – Orchestral Adaptation Of Music Composed For The Motion Picture By Vangelis – performed by The New American Orchestra herausgebracht. 1989 erschien die Vangelis-Compilation Themes, auf der sich auch drei Themen aus dem Blade-Runner-Soundtrack befinden. Der erste Originalsoundtrack erschien jedoch erst 1994. Er enthält größtenteils Musikstücke aus dem Film, teilweise verlängert, sowie einige für den Film nicht genutzte Stücke. Zudem sind an manchen Stellen Dialoge aus dem Film zu hören. Es sind jedoch bei weitem nicht alle im Film zu hörenden Musikstücke enthalten. Wohl auch aus diesem Grund kursieren seit dem Erscheinen des Films Bootleg-Kassetten und CDs, die den Filmsoundtrack mehr oder weniger vollständig zusammenfassen, ergänzen oder einen Original-Score anstreben. Darunter die Doppel-CD Esper Edition, die dreiteilige Deck Art Definitive Edition und die zweiteilige 2001 Edition. Im Jahr 2007 erschien zum 25. Geburtstag des Films bei Warner eine Box mit drei CDs. Dabei ist die erste der Soundtrack von 1994, die zweite CD enthält hauptsächlich zusätzliche Musik aus dem Film, und auf der dritten ist neue Musik von Vangelis, „inspiriert“ von Blade Runner, zu hören. Hintergrund Analyse Die erste Einstellung des Films zeigt laut Titel „Los Angeles, November 2019“, eine bis an den Horizont reichende Riesenstadt, die von Feuerstößen erleuchtet wird. Gegengeschnitten ist ein Auge in Großaufnahme, in dem sich dieses Bild spiegelt. Diese von der Filmcrew als „Hadeslandschaft“ bezeichnete Szenerie bestimmt den ganzen Film. In den Flugszenen wird die Stadt als ein sich nach allen Seiten ausdehnender Moloch gezeigt, dessen gigantische Wolkenkratzer nur von zwei Pyramiden überragt werden, der Zentrale der Tyrell Corporation. Regisseur Scott und Kameramann Cronenweth – der entgegen den Gewerkschaftsbestimmungen bereit war, in einigen Szenen Scott die Kameraführung zu überlassen – arbeiten in vielen Einstellungen mit Lichteffekten. So werfen etwa die Pyramiden der Tyrell Corporation lichtdomartige Strahlen in den Himmel, die Scheinwerfer der über der Stadt kreisenden Werbetafeln wandern durch die Gebäude und sorgen für stroboskopartige Verfremdungen. Personen sind oft nur halb im Licht, halb im Schatten zu sehen. Weitere Stilmittel sind der Einsatz von Totalen, in welchen die Charaktere meist am Rand des Bildes postiert sind, um ihre Isolation hervorzuheben, und eine von oben in die Szene fahrende Kamera. Die Tode aller Replikanten werden durch jeweils unterschiedliche filmische Mittel wie Zeitlupe, Einsatz der Filmmusik, erhöhte Lautstärke und Steadicam hervorgehoben und emotionalisiert. Der Film besteht über weite Strecken aus langen Einstellungen, nur in den Kämpfen zwischen Deckard und den Replikanten kommt durch mehr Schnitte und schnelle Kamerabewegung Tempo auf. Im Endkampf zwischen Deckard und Roy bewegen sich beide immer weiter aufwärts, bis sie sich auf dem Dach des Gebäudes gegenüberstehen, wo sie die Rollen von Jäger und Gejagtem tauschen, bis Deckard schließlich über dem Abgrund hängt und Roy ihn wie seine Jagdbeute von oben beobachtet. Besonders reich an Symbolik sind die Straßenszenen des Films. Hier wird die untere Stadt als ethnisch und religiös gemischter Slum ohne menschliche Nähe und Rücksichtnahme gezeigt. Die Szenerien sind gefüllt mit hunderten Statisten, darunter Nonnen, Chassidim, Geschäftsleute, Hare-Krishna-Jünger und Punks. Vielen Rezensenten fiel der Reichtum an – vielfach unterhaltsamen, rein beiläufigen – Details auf, der ein mehrmaliges Ansehen des Films lohnend mache: zum Beispiel haben manche Leute beleuchtete Regenschirme; der nur für Sekundenbruchteile zu sehende Hausmeister von Leons Hotel trägt eine CPAP-Maske. Auch Bryants Büro, Deckards Appartement und die Wohnung von J. F. Sebastian sind mit detailliert ausgearbeiteten Kleinigkeiten gefüllt. Die Durchmischung von Versatzstücken verschiedener Kulturkreise und Epochen setzt sich in der Architektur, in den Kostümen und in der Ausstattung fort: Die aus dem Film noir bekannte Grundkonstellation des einsamen Detektivs (Deckard), der sich in eine femme fatale (Rachael) verliebt, wird durch Versatzstücke aus jenem Genre betont, darunter Deckards Trenchcoat, Rachaels Kostüm und Frisur sowie, in der Originalversion, die lakonischen Voiceovers Deckards, der sich als typischer Antiheld voller Selbstzweifel gebärdet. Roy trägt eine schwarze Lederjacke und wirkt mit hellblonden Haaren, blauen Augen und muskulösem Körper wie der Prototyp eines nationalsozialistischen Herrenmenschen. Die Wohnungen Deckards und Sebastians ebenso wie Tyrells Büro erinnern an die Loftwohnungen aus der zweiten Hälfte des 20. Jahrhunderts, die äußere Architektur zeigt aber auch Anleihen an Jugendstil und Art déco. Sebastian wohnt im Bradbury Building, Deckard im von Frank Lloyd Wright entworfenen Ennis House, das auch schon für die Aufnahmen des Films Das Haus auf dem Geisterhügel mit Vincent Price (1959) diente. Für die Inneneinrichtung von Deckards Wohnung ließ sich Designer Syd Mead von einem Buch der frühen 1980er Jahre über futuristische Wohnungen inspirieren. Die Polizeizentrale wird von außen in einer Trickaufnahme als dunkler Wolkenkratzer gezeigt, das Innere wurde in der – wieder mit Licht- und Raucheffekten verfremdeten – Los Angeles Union Station gedreht. Scott und Mead wollten eine Stadt zeigen, in der alte Gebäude nicht abgerissen, sondern mit neuer Technik versehen oder schließlich in Neubauten integriert werden. Futuristische Elemente haben die Vergangenheit nicht einfach ersetzt, sondern es ist eine ambivalente, „postmoderne“ Collage daraus entstanden. So konnte auch der Gegensatz zwischen den futuristischen Wolkenkratzern in der Stadtansicht und den verfallenden Bauten am Boden erzeugt werden, der wiederum einen inhaltlichen Gegensatz widerspiegelt: Wie in Metropolis wohnen die Mächtigen an der Spitze der Stadt, wo die Sonne wenigstens kurzzeitig durch den Smog zu sehen ist, während die Straßenschluchten als riesiger, dunkler Slum gezeigt werden. Themen In Deutungen des Films ist auf eine Vielzahl von Themen und Motiven hingewiesen worden, die in Blade Runner eine Rolle spielen. „Menschlicher als der Mensch“ Zentrales Thema der Werke Philip K. Dicks und auch dieses Films ist die Frage, was den Menschen zum Menschen macht, und die paranoide Furcht davor, dass es Wesen gibt, die wie Menschen aussehen, aber keine sind. Laut Buch und Film sind die Replikanten daran zu erkennen, dass sie nicht das menschliche Vermögen der Empathie besitzen. Sie werden mit einem Gerät getestet, das emotionale Reaktionen überprüft. Die Brauchbarkeit dieses Unterscheidungskriteriums wird im Laufe des Films aber infrage gestellt. Es sind die Menschen, die isoliert und gefühllos wirken, während die Replikanten Emotionen – Furcht, Zuneigung, Hass, Trauer – zeigen. Obwohl sie als unbarmherzige Mörder eingeführt werden und auch tatsächlich töten, wirbt der Film für sie um Sympathie (vergleiche die Rezeption der Darstellung Roys durch Rutger Hauer im Abschnitt Kritiken). Das Motto der Tyrell Corporation lautet „more human than human“ – „menschlicher als der Mensch“ –, und so verhalten sich die Replikanten schließlich. Die Andeutung der Möglichkeit, dass Deckard selbst ein Replikant ist, verwischt die Grenze zwischen Menschen und Replikanten weiter. Dies wirft ethische Fragen auf: In dem Film wird an mehreren Stellen ein als „Voigt-Kampff-Test“ bezeichnetes Verfahren gezeigt, mit dem herausgefunden werden soll, ob ein Proband ein Replikant oder ein Mensch ist. Dabei werden mehrere Fragen an den Probanden gestellt und dessen Reaktion, insbesondere die der Augen, aufgenommen und bewertet. Dieses Prozedere erinnert an den Turing-Test. Bioethische Fragen Der Film hat auf dem Gebiet der genetischen Forschung einige Entwicklungen vorweggenommen. Gentechnisch veränderte Organismen sind inzwischen Realität. Die embryonische Technologie des somatischen Zellkerntransfers von einem spezifischen Genotyp mit Klonen, genauso wie einige der im Film beschriebenen damit zusammenhängenden Probleme (Seneszenz), wurden beim Klonen von Dolly dem Schaf im Jahr 1996 demonstriert. Über die Zulässigkeit des Klonens von Menschen wird seit einigen Jahren öffentlich intensiv diskutiert. In diesen Entwicklungen offenbart sich eine Kluft zwischen kommerziellen und nicht-kommerziellen Interessen. Wissenschaftliche und geschäftliche Motive kollidieren mit ethischen und religiösen Bedenken über die Korrektheit menschlichen Eingreifens in die Natur. Im Film wird die Partei des Eigennutzes etwa durch den überreichen Konzernchef Tyrell repräsentiert, der zwar ein wissenschaftliches Genie ist, aber nur kommerzielle Interessen verfolgt. Einige der bioethischen Probleme, über die Tyrell und Roy ihren Dialog führen, sind dabei real, andere rein fiktiver Natur. Paranoia und Misstrauen, Kontrolle und Macht Nicht nur die Ungewissheit über die eigene Identität und Ununterscheidbarkeit von wirklichen und künstlichen Menschen sind Gegenstand von Paranoia. Das Thema Misstrauen durchzieht den Film wie ein Leitmotiv. Deckard will von Rachael nicht nur wissen: „Liebst du mich?“, sondern auch: „Vertraust du mir?“. Im bpb-Filmkanon heißt es: Immer wieder gibt es in Blade Runner Situationen, in denen Personen beobachtet und kontrolliert werden. Die aufdringlichen Werbetafeln, allgegenwärtige Polizei, Suchlichter und die übervölkerte Stadt sind charakteristische Versatzstücke in diesen paranoiden Szenarien. Deckard wird von seinem ehemaligen Vorgesetzten Bryant zwangsverpflichtet, und sein geheimnisvoller Kollege Gaff erscheint wie sein Aufseher. Auch die Replikanten werden als auszubeutende Maschinen dargestellt und zu Sklavenarbeiten gehalten. Maschinen dienen vor allem der Kontrolle und dem Machterhalt. Über die Replikanten scheinen die Menschen aber die Macht zu verlieren: Die Geschöpfe sind ihren Schöpfern schließlich in allen Belangen überlegen. Einige Interpreten sehen die Machtordnung in Frage gestellt oder bereits verloren: Sehen und Erinnerung Das an symbolischen Deutungen reiche Motiv des Auges erscheint an vielen Stellen des Films, auch der Begriff Sehen kommt mehrfach vor. Fotografien werden ebenfalls oft gezeigt. Dieses Motiv unterstreicht das Thema Paranoia und Machtausübung, aber auch das Thema der Identität und der Realität von Erinnerung. Auf verschiedenen Ebenen zieht der Film in Zweifel, ob man dem, was man sieht, trauen kann: So sind Rachaels Erinnerungsfotos eine Fälschung. Die Maschine, mit der Deckard ein gefundenes Foto nach Hinweisen untersucht, dreht das Motiv so lange, bis etwas erscheint, das auf dem ursprünglichen Bild überhaupt nicht zu sehen war (und der Ausdruck entspricht nicht dem Bild auf dem Monitor). Die Replikantin Rachael verfügt über gefälschte Erinnerungen. Die Wahrheit von Erinnerungen wird aber auch auf andere Weise infrage gestellt: Die Befragung Leons durch den Blade Runner Holden aus der Eröffnungsszene wird im Film mehrfach wiederholt, dabei aber jedes Mal mit kleinen Veränderungen versehen. Schließlich ist in der Befragung Rachaels durch Deckard (im englischen Original) leise ein Ausschnitt aus einem späteren Dialog zwischen den beiden zu hören. Die beiden Schlusssätze des „Tannhäuser Tor“-Monologes des Replikanten Roy Batty bringen das Sehen, die Erinnerung und das sinnlose Ankämpfen gegen die Vergänglichkeit poetisch zusammen. Der entscheidende Satz stammt von Rutger Hauer selbst, der ihn nachträglich, am Vorabend des Drehs dieser Szene, in das Drehbuch eingebracht hat: In einem Interview mit Dan Jolin bringt Hauer das Überwinden dieses sehr menschlichen Strebens auf den Punkt, als er sagt, dass dieser Satz zeige, dass die Figur Batty „sein Zeichen im Dasein setzen wollte […] der Replikant zeigt Deckard, indem er stirbt, woraus ein echter Mensch gemacht ist.“ (“[Batty wanted to] make his mark on existence […] the replicant in the final scene, by dying, shows Deckard what a real man is made of.”) Die Themen Sehen und Erinnerung lassen sich mit dem in der postmodernen Philosophie verstärkt vertretenen Ansatz verbinden, nach dem Wahrheit von der Perspektive abhängt (Perspektivismus) oder immer schon vom Beobachter konstruiert wird (Konstruktivismus). Technischer Fortschritt, Umweltzerstörung und Verfall In der fiktiven Zukunft von Blade Runner sind hochentwickelte technische Geräte allgegenwärtig. Freie Natur ist dagegen überhaupt nicht zu sehen, die Sonne vergleichsweise selten und durch Nebel eingedämmt. Zumeist ist die Szenerie dunkel, regnerisch und dreckig. Tiere sind künstlich erschaffen. Im Buch erscheint die Umweltzerstörung als Folge eines Atomkriegs; im Film wird dieser Zusammenhang lediglich angedeutet. Die Übervölkerung der Stadt ist stets präsent: Der Film lässt sich als Dystopie beschreiben. Die Werbetafeln deuten darauf hin, dass ein schöneres Leben außerhalb der Erde existiert, während hier nur Kranke, Schwache und Kriminelle zurückgelassen wurden, die wiederum von skrupellosen Kapitalisten und der Polizei beherrscht werden: Nicht nur die Gebäude, auch die Menschen verfallen – etwa J. F. Sebastian, der an beschleunigter Alterung leidet. Es scheint keine Kultur, nur „niedrigere“ Formen der Unterhaltung und viel Kriminalität zu geben. Auch die vielfältig gezeigte Durchmischung von Völkern, Sprachen, Weltanschauungen – der Film zeigt vor allem ein starkes Eindringen ostasiatischer Elemente in das amerikanische Leben – wird vorausgesagt und negativ bewertet. So ist die Stadtsprache, die Gaff zu Beginn des Films spricht, eine teilweise vom Schauspieler Edward James Olmos selbst erdachte Mischung aus Koreanisch, Französisch, Ungarisch, Deutsch und Japanisch. Die Kleinwüchsigen, die Teile von Deckards Auto stehlen wollen, sprechen im Original Deutsch. Chew, der künstliche Augen herstellt, spricht eine Mischung aus Chinesisch und Englisch. Ein weiteres Element des Films ist eine durchscheinende Melancholie und Nostalgie, die Sehnsucht nach einer besseren Vergangenheit im Konflikt mit dem Versprechen einer besseren Zukunft. Dieses Gefühl wird vor allem von der Filmmusik (siehe Musik) transportiert. Auch im Design des Films findet eine Durchmischung von Vergangenheit, Gegenwart und Zukunft statt. Literarische, mythologische und philosophische Bezüge An einigen Stellen des Films lassen sich Bezüge sowohl zu biblischen als auch zu anderen Mythen finden. Neben den Augen spielt beispielsweise das Symbol des Einhorns eine wichtige Rolle. Fans des Films haben auf weitere mögliche Symbole aufmerksam gemacht, darunter Gaffs Origami-Figuren, die Tiere – jedem Charakter kann leicht ein Tier zugeordnet werden – oder die Schachkombination, die aus der „Unsterblichen Partie“ stammt (in der deutschen Synchronisation ist die englische Schachnotation fehlerhaft übersetzt). Roy wurde von Tyrell erschaffen. Er nennt ihn selbst sowohl Schöpfer („Maker“) als auch Vater („Father“). Dieses Motiv wird jedoch in der Mitte des Films gebrochen. Als Roy erfährt, dass der „Vater“ sein Leben nicht verlängern kann, blendet und tötet er ihn (auch hier scheint das allgegenwärtige Augenmotiv durch). Roy zitiert, in leichter Abwandlung des Textes, aus der Dichtung America: A Prophecy, (1793) von William Blake und vergleicht die Replikanten mit den Engeln in der Dichtung. Bei Blake entsprechen die Engel jedoch nicht Engeln im christlich-biblischen Sinne. Sie sind bei Blake Teil des Kampfes um Befreiung aus der Tyrannei. Themen wie die Herrschaft des Menschen über die Natur und über die Replikanten führen schließlich auch zum Motiv der Hybris aus dem griechischen Drama. Ein Kritiker sah das und fand: Verweise auf die abendländische Philosophie deuten sich beim Namen Deckard an, der klanglich an den französischen Philosophen René Descartes, den Begründer des modernen Rationalismus, erinnert. Descartes’ berühmtes Diktum „Cogito ergo sum“ – „Ich denke, also bin ich“ wird im Film wörtlich zitiert. Dadurch, dass die Replikantin Pris diese Worte ausspricht, wird die absolute Gültigkeit des Prinzips für eine Welt mit künstlichen Menschen jedoch infrage gestellt. Kultstatus, Director’s Cut, Final Cut und Veröffentlichungen in Deutschland Der Film war aus kommerzieller Sicht ein Fehlschlag, fand aber bald eine treue Fangemeinde. Bereits Ende 1982 erschien das erste Blade-Runner-Fanzine. Die verschiedenen Video- und Laserdisc-Fassungen, die im Laufe der 1980er erschienen, erwiesen sich als sehr erfolgreich: Der Film wurde zu einem der am meisten verliehenen und verkauften Filme auf dem Videomarkt. Auch erschienen immer wieder neue Besprechungen, auch akademische Veröffentlichungen über Blade Runner, der so den Status eines Kultfilms gewann. Director’s Cut Der Filmrestaurator Michael Arick fand 1989 zufällig eine der Workprint-Fassungen. Sie wurde 1990 und 1991 zunächst bei Filmfestivals gezeigt und lief ab September 1991 in einigen Kinos, wo sie unerwartet großen Zulauf erhielt. Warner Brothers rechnete bei einer US-weiten Neuaufführung mit großem, auch kommerziellem Erfolg, und gab daraufhin einen sogenannten Director’s Cut in Auftrag, der von Arick in Absprache mit Ridley Scott erstellt wurde. Scott bestreitet aber, dass es sich bei diesem Director’s Cut – der aufgrund von verschiedenen Missverständnissen und Interessenkonflikten in großer Eile und mit einigen technischen Mängeln realisiert wurde – um seine endgültige Fassung handele, obwohl sie „seiner Vision näher“ komme. Diese Fassung des Films verzichtet auf alle Voiceover-Kommentare und hat ein offenes Ende. Als weitere wichtige Änderung enthält sie eine zusätzliche Szene, die darauf schließen lässt, dass Deckard selbst ein Replikant sein könnte. Damit verzichtet sie noch stärker als die Kinoversion auf Deckard als Identifikationsfigur. Sie gilt als düsterer und erfordert zum Verständnis noch mehr Aufmerksamkeit. Der Director’s Cut traf auch bei den Kritikern auf Zustimmung (siehe unten). Er kam ab 1992 (Deutschland: 22. April 1993) weltweit in die Kinos und erschien bald danach auf Videokassette sowie – in den Vereinigten Staaten bereits im März 1997 und damit als einer der ersten Filme überhaupt – auf DVD. Final Cut Da die DVD nicht in optimaler Qualität hergestellt wurde und seit längerer Zeit nicht mehr erhältlich war, wollte Warner 2001 ein stark erweitertes DVD-Set mit vielen Extras und einem neuen, „echten“ Director’s Cut nach den Vorstellungen Scotts zu heutigen Bild- und Tonstandards herausbringen. Nach längeren Anlaufschwierigkeiten kündigte Warner 2006 für Anfang 2007 eine „25th Anniversary Edition“ an. Später wurde der Termin auf Oktober 2007 verschoben und zwei zusätzliche Versionen für HD DVD und Blu-ray Disc angekündigt. Scotts neue Fassung wurde bei den Internationalen Filmfestspielen von Venedig am 1. September 2007 gezeigt und lief im Oktober 2007 in einigen US-amerikanischen Kinos an. Eine DVD mit diesem „Final Cut“ erschien am 7. Dezember 2007 auf dem deutschen DVD-Markt. Die neue Version enthält neue und erweiterte Szenen, neue Musik, verbesserte Spezialeffekte sowie einen verbesserten Ton (5.1). Veröffentlichungen in Deutschland Die Originalversion wurde in Deutschland in den 1990er und 2000ern auf den Sendern Sat.1, ProSieben und Kabel 1 ausgestrahlt. Der Director’s Cut ist mehrfach im Pay-TV (zunächst DF1, dann Premiere) gezeigt worden und 1998 erstmals im Free-TV bei Kabel 1. 2007 wurde der Final Cut in den deutschen Kinos gezeigt. Am 6. August 2009 zeigte Das Erste die Final-Cut-Version als Free-TV-Premiere. Die älteren Fassungen werden aber nach wie vor gezeigt: Der Director’s Cut zuletzt 2017 auf arte, die originale Kinofassung ebenfalls 2017 auf ORF eins. In Deutschland erschien der Director’s Cut mit minimaler Ausstattung im September 1999 auf DVD. Eine als Special Edition vertriebene Box enthielt neben dieser DVD einige Bilder aus dem Film, ein Drehbuch und ein Filmplakat. Der Director’s Cut wurde 2006 digital restauriert und im Dezember dieses Jahres neu veröffentlicht. 2008 ist als deutsche Variante der 25th Anniversary Edition eine Edition mit fünf DVDs („Ultimate Collector’s Edition“) erschienen, welche fünf Versionen des Films (Workprint, US-Kinofassung, internationale Kinofassung, 1992er Director’s Cut, 2007er Final Cut) sowie umfangreiches Bonusmaterial enthält. Im November 2012 erschienen diese fünf Versionen erneut in Deutschland in HD-Qualität unter dem Titel 30th Anniversary Collector’s Edition in einer Box mit drei Blu-rays, einem Modell des Spinner-Fahrzeugs und einem 72-seitigen Art Book mit Archivbildern, Produktionszeichnungen und Storyboards. Romanvorlage und Einfluss Der Film basiert auf Philip K. Dicks Roman Träumen Androiden von elektrischen Schafen?, unterscheidet sich aber in vielen Einzelheiten von der Vorlage. Einige Änderungen, auch größere, lassen sich leicht nachvollziehen. Die Religion des „Mercerismus“, eine surreale Szene in einer von Androiden geleiteten Polizeidienststelle oder das identische Aussehen der Figuren Rachael und Pris hätten erklärt werden müssen und damit den Film über die Maßen verlängert. Die Darstellung der Replikanten im Film wird als eine der wichtigsten Änderungen gegenüber dem Buch angesehen. Dick konzipierte sie als seelenlose, egoistische Wesen. Während der Film ihnen (schon durch die Bezeichnung „Replikant“) schließlich Menschlichkeit und Menschenrechte zugestehen will, wendet das Buch sich am Ende gegen diese Möglichkeit. Dicks Text konzentriert sich auf die Feststellung, dass Menschen sich manchmal wie Maschinen verhalten; der Film macht die umgekehrte Aussage. Die Frage, was menschlich ist, wird im Buch fast ausschließlich in den Gedanken Deckards diskutiert. In der ersten Version des Films sollte dies offenbar durch die Voice-overs Deckards wiedergegeben werden. Im Director’s Cut vertraute der Regisseur darauf, dass diese Frage schon hinreichend durch das Handeln der Replikanten aufgeworfen wird, besonders bei der im Vergleich zum Buch am stärksten aufgewerteten Figur Roy. In Rezensionen gibt es sehr unterschiedliche Deutungen und Bewertungen der Unterschiede zwischen Buch und Film. Auf geringe Werktreue der Adaption weisen die meisten Rezensenten hin, auch die Drehbuchautoren Fancher und Peoples haben erklärt, sich nur lose an Dicks Buch orientiert zu haben. Es ist aber auch konstatiert worden, dass der Film zumindest die Kernaussagen Dicks korrekt wiedergebe. Schließlich gehen unter jenen, die deutliche Unterschiede erkennen, die Meinungen darüber auseinander: Der bpb-Filmkanon stellt den „Hang zum globalen Weihespiel“ des Films der „satirische[n], verrückte[n]“ Vorlage gegenüber und sieht im Fehlen des „bittersüßen Sarkasmus“ Dicks den einzigen Makel des Films. Andere sehen zwar ebenfalls Dicks Satire durch einen abstrakten Symbolismus ersetzt, halten den Film aber gerade wegen seiner Änderungen für kraftvoller. Schließlich ist auch die Position vertreten worden, Buch und Film seien zwei voneinander unabhängige, bedeutende Werke mit ähnlicher, aber nicht gleicher Botschaft. Philip K. Dick selbst war zunächst sehr skeptisch gegenüber dem Film und kritisierte ihn schon in der Entwurfsphase öffentlich. Nachdem er einige Sequenzen aus dem Film gesehen hatte, unter anderem auf Einladung Ridley Scotts, änderte Dick seine Meinung und äußerte sich enthusiastisch über das Projekt. Nach Aussage Paul Sammons war es vor allem die veränderte Darstellung der Androiden, die Dick zunächst gegen den Film eingenommen hatte. Schließlich sei er aber damit einverstanden gewesen und habe seine Warnung vor menschlicher Arroganz im Film, wenn auch durch andere Mittel als im Buch, verwirklicht gesehen. Obwohl man Dick die damals für ihn sehr hohe Summe von 75.000 USD anbot, um ihn eine Neufassung seines Romans als Buch zum Film schreiben zu lassen, lehnte er ab und widmete seine Energie einem neuen Buch, für welches er deutlich weniger Geld bekam. Dick starb wenige Monate vor Erscheinen des Films. Als Vorbild für das Los Angeles des Films wird oft Fritz Langs Metropolis genannt. Als weitere filmische Vorläufer sind Was kommen wird, Just Imagine und Alphaville genannt worden. Atmosphäre und Teile der Handlung stehen auch in der Tradition des Film noir, siehe dazu oben unter Analyse. Ridley Scott und Syd Mead haben als weitere Inspirationen für das Design Edward Hoppers bekanntes Gemälde Nighthawks angegeben, zudem das französische Comicmagazin Métal hurlant oder dessen US-amerikanisches Pendant Heavy Metal, hier insbesondere die von Dan O’Bannon verfasste und von Moebius illustrierte Kurzgeschichte The Long Tomorrow. Rezeption Umsatz Der Film lief in den Vereinigten Staaten am 25. Juni 1982 in 1295 Kinos an. Mit etwas über 26 Millionen Dollar spielte er zumindest in den Vereinigten Staaten nicht einmal die Produktionskosten wieder ein. Ein Grund für das schlechte Abschneiden war, dass gleichzeitig E.T. – Der Außerirdische in die Kinos kam und den Markt für Science-Fiction-Filme für Monate besetzt hielt. In der Bundesrepublik Deutschland war der Film zunächst unter dem Titel Aufstand der Anti-Menschen angekündigt, kam aber dann unter dem Titel Der Blade Runner am 14. Oktober 1982 in die Kinos und fand ungefähr eine Million Besucher. Das Gesamteinspielergebnis des Films liegt bei 42 Millionen US-Dollar. Kritiken Beim ersten Erscheinen 1982 war die Reaktion der Kritiker gemischt. Einerseits wurde der Film als ambitioniert gelobt. Durchweg hohe Anerkennung fanden das Szenenbild, nach den Entwürfen Scotts und Syd Meads realisiert von Lawrence G. Paull, und die Spezialeffekte, für die der Oscar-Preisträger Douglas Trumbull verantwortlich war. Vangelis’ Filmmusik wurde als wichtiger Beitrag zur elektronischen Musik ebenfalls hervorgehoben. Wiederholt kritisiert wurde dagegen, dass die Entwicklung des Plots und der Charaktere hinter der formalen Gestaltung zurückbleiben: Einige Kritiker hielten den Film für zu lang, auch für langweilig. Bekannte Rezensenten, die den Film für misslungen hielten, waren beispielsweise Pauline Kael und Roger Ebert. Der Filmdienst lobte dagegen die „Ruhe und Stilisierung über weite Strecken des Films“ ebenso wie die „brillanten Szenerien des Verfalls“, kritisierte aber die Vernachlässigung von Handlungsführung und Charakterzeichnung. Über die Voice-over-Kommentare gab es unterschiedliche Ansichten, das Happy End wurde von den meisten Kritikern als aufgesetzt und unpassend empfunden. So schrieb Der Spiegel, das „kitschige Happy End“ sei eine „falsch verstandene Konzession an die Riten des Kinos“, und ein britischer Kritiker urteilte über das Ende sogar: Viele Rezensenten wiesen auf die stilistischen Bezüge auf den Film noir hin, insbesondere erkannten . Hellmuth Karasek bezeichnete den Film als , lobte und sah im Film durch dessen einen weit überdurchschnittlichen Science-Fiction-Film. Von den mit Ausnahme Harrison Fords 1982 recht unbekannten Darstellern ist insbesondere Rutger Hauer gelobt worden, der es schaffe, beim Zuschauer Sympathie für eine Kampfmaschine zu wecken: Auch Sean Young und Harrison Ford fanden bei der Mehrzahl der Kritiker Anerkennung. Teile des Publikums waren 1982 offenbar dadurch irritiert, dass Fords Rolle nicht den durch Star Wars und Indiana Jones geweckten Erwartungen entsprach. In diese Richtung äußerte sich auch Scott in einem Interview, als er davon sprach, dass die Dass die Figur Deckard kein Held und keine Identifikationsfigur für das Publikum ist, wurde von Kritikern an beiden Versionen des Films bemängelt. Der Director’s Cut von 1992 wurde anders als die erste Fassung überwiegend gelobt, die Änderungen wurden begrüßt: Die hohe Anerkennung für den Director’s Cut ist dennoch erstaunlich, weil zumindest einige früher kritisierte Punkte dort nicht wesentlich verändert wurden. Offenbar sahen die Kritiker sie nicht mehr als so schwerwiegend an wie zehn Jahre zuvor; einige gaben auch zu, ihre Meinung geändert zu haben. Einige blieben jedoch bei ihrer Kritik und verwiesen auf Elemente des Films, die sie immer noch oder ohne die Voice-overs noch mehr als verwirrend oder sinnlos empfanden. Es ist auf die polarisierende Wirkung des Films beim Publikum hingewiesen worden: viele fänden ihn sehr gut, viele aber auch sehr schlecht. Spätestens seit Mitte der 1990er taucht der Film in vielen der populären Listen bester Filme (aus einem Genre, Jahrzehnt oder allgemein) auf. Dabei ist er in Publikumsbefragungen meist noch besser platziert als bei Befragungen von professionellen Filmkritikern. Auszeichnungen Der Film erhielt unter anderem die folgenden Auszeichnungen: 1982: Los Angeles Film Critics Association Award – Jordan Cronenweth (Bester Kameramann) 1983: 3 BAFTA Awards – Jordan Cronenweth (Bester Kameramann), Charles Knode und Michael Kaplan (Beste Kostümausstattung), Lawrence G. Paull (Bestes Szenenbild); 5 weitere Nominierungen 1983: Hugo Award für das beste Drehbuch (Best Dramatic Presentation) 1983: London Critics Circle Film Award – Sonderpreis für das visuelle Design an Lawrence G. Paull, Douglas Trumbull und Syd Mead 1993: Aufnahme in das National Film Registry 2017: Aufnahme in die Science Fiction Hall of Fame Daneben gab es zwei Nominierungen für den Oscar (Bestes Szenenbild und Beste visuelle Effekte) und eine Golden-Globe-Nominierung für die Musik von Vangelis. In vier Kategorien war Blade Runner für den Saturn Award nominiert, nämlich Bester Science-Fiction-Film, Beste Regie, Beste Spezialeffekte und Bester Nebendarsteller (Rutger Hauer); eine weitere Nominierung für den Saturn Award erhielt 1994 der Director’s Cut als Beste Veröffentlichung auf Video. Die Originalversion wurde 1983, der Director’s Cut 1993 beim Fantasporto Film Festival als Bester Film vorgeschlagen, Jordan Cronenweth erhielt 1982 eine Nominierung für die Beste Kameraführung von der British Society of Cinematographers. 2003 erstellte die Bundeszentrale für politische Bildung in Zusammenarbeit mit zahlreichen Filmschaffenden einen Filmkanon für die Arbeit an Schulen und nahm diesen Film in ihre Liste auf. Der Film wurde außerdem 2005 in die Time-Auswahl der besten 100 Filme von 1923 bis 2005 gewählt. Die Deutsche Film- und Medienbewertung FBW in Wiesbaden verlieh dem Film das Prädikat besonders wertvoll. Fortsetzungen, Ableger und Nachfolger Bücher K. W. Jeter, ein Freund von Philip K. Dick, schrieb bisher drei Fortsetzungen. Die Rechteinhaber des Films erlaubten ihm, den Titel Blade Runner zu benutzen. Die Bücher tragen im Original die Titel: Blade Runner 2: The Edge of Human (erschienen 1995) Blade Runner 3: Replicant Night (1996) Blade Runner 4: Eye and Talon (2000) Jeters Bücher sollen dabei eine Fortsetzung sowohl von Dicks Roman Träumen Androiden von elektrischen Schafen? als auch des Films sein, was aufgrund der deutlichen Unterschiede zwischen diesen beiden schwierig ist. Um dennoch einen möglichst breiten Leserkreis zu erreichen, benutzt er eine, sowohl in Bezug auf den Film, als auch auf die Romanvorlage, einfachere Sprache und bedient sich des Kniffs, Handlung eher zu erklären, als sie darzustellen. Auf Deutsch sind bisher die Bücher 2 und 3 erschienen, wobei der zweite Teil hier lediglich „Blade Runner II“ heißt, ohne den Zusatztitel. Er erschien im Heyne-Verlag. Der dritte Band ist im Doppelpack mit dem zweiten zusammen unter dem Titel Blade Runner: Die Rückkehr erschienen. Film Der 1998 erschienene Film Star Force Soldier spielt nach Aussagen des Regisseurs Paul W. S. Anderson und des Drehbuchautors David Peoples in derselben fiktiven Welt wie Blade Runner. Peoples, der Coautor des Blade-Runner-Drehbuchs war, baute einige Bezüge dazu ins Drehbuch von Soldier ein. Nachdem Ende 2008 Vermutungen über einen möglichen Nachfolger auftauchten, räumte John Glenn zunächst ein, dass er sich zusammen mit Bud Yorkin und Travis Wright bereits vor einigen Jahren (2003–2005) mit einer Fortsetzung beschäftigt hätte. Glenn dementierte jedoch persönlich, weiter in das Projekt involviert zu sein. Auch Travis Wright relativierte später die Gerüchte, indem er einräumte, dass zwar verschiedene Ansätze entwickelt wurden, aus denen aber kein produktionsreifes Drehbuch entstand. Mitte 2009 plante Ridley Scott zusammen mit seinem Sohn Luke und seinem Bruder Tony Scott die Produktion der Webserie Purefold. In Zusammenarbeit mit dem Studio Ag8 sollten Kurzgeschichten im Internet veröffentlicht werden, die zeitlich vor der Blade-Runner-Geschichte angesiedelt sind. Die Kurzfilme sollten unter der Creative-Commons-Lizenz BY-SA produziert werden. Das Projekt sah außerdem vor, dass die Benutzer maßgeblich Einfluss auf die Geschichten nehmen konnten. Weiterhin war angedacht, dass Hersteller das Projekt zur Produktplatzierung nutzen, um so die Finanzierung zu unterstützen. Da die Brüder Scott und das Produktionsstudio Ag8 jedoch nicht im Besitz der Rechte am Material von Phillip K. Dick waren, war ein direkter Bezug auf Blade Runner nicht möglich. Im Frühjahr 2010 wurde bekannt, dass das Projekt aus finanziellen Gründen eingestellt werden musste. Am 3. März 2011 ließ Alcon Entertainment in einer Pressemitteilung verlautbaren, dass sie in finalen Verhandlungen mit Bud Yorkin stehen, um die Rechte an Blade Runner zu erwerben. Möglich wären demnach eine Fortsetzung und ein Prequel zum Originalfilm von 1982. Ridley Scott bestätigte zwischenzeitlich, dass ab frühestens 2013 an einem neuen Film gearbeitet werden solle. Die Wahrscheinlichkeit, dass Harrison Ford an der Fortsetzung wieder mitwirke, sei recht hoch, allerdings noch unklar, ob nur als Cameo-Auftritt oder als Hauptfigur. Im Februar 2015 wurde bestätigt, dass ein Drehbuch von Hampton Fancher und Michael Green vorliege, dass Harrison Ford erneut die Rolle des Rick Deckard verkörpere und dass die Dreharbeiten unter Regie von Denis Villeneuve stattfinden sollten. Am 17. November 2015 bestätigte Ryan Gosling, dass er die Hauptrolle in der Fortsetzung übernehme. Der Film startete schließlich am 5. Oktober 2017 in den internationalen Kinos, etwa in Deutschland, und am 6. Oktober in den Vereinigten Staaten. Zusätzlich entstanden 2017 mit 2036: Nexus Dawn, 2048: Nowhere to Run und Blade Runner Black Out 2022 drei Kurzfilme, die wichtige Ereignisse zwischen den beiden Kinofilmen abdecken. Letzteren inszenierte Shin’ichirō Watanabe als Anime, bei den anderen führte Luke Scott Regie. Computerspiele Bereits 1985 wurde das Shoot ’em up Blade Runner der CRL Group für den Commodore 64, den ZX Spectrum und Amstrad CPC veröffentlicht. Da die Entwickler jedoch keine Lizenz für ein Film-Tie-in erhielten, basierte das Spiel nur auf dem gleichnamigen Soundtrack von Vangelis. Die Kritiken zum Spiel fielen negativ aus. 1997 veröffentlichte die Spielefirma Westwood Studios das offizielle PC-Spiel Blade Runner, dessen Handlung etwa zur gleichen Zeit spielt wie die des Films. Der Spieler übernimmt die Rolle des Blade Runners Ray McCoy und entscheidet, ob er einer Gruppe von Replikanten um ihren Anführer Clovis hilft oder diese „aus dem Verkehr zieht“. Je nachdem, wie er sich entscheidet und wer vom Computer zu Beginn als Replikant festgelegt wurde, gibt es zwölf unterschiedliche Endsequenzen, wobei das Gameplay aber dennoch recht linear ist. Mehrere Nebendarsteller des Films sprechen auch im Spiel ihre Rollen. Hörspiel 1999 wurde vom Bayerischen Rundfunk eine dem zugrundeliegenden Roman näherliegende Hörspielfassung unter dem Titel BLADE RUNNER – Träumen Androiden? produziert. Indirekter Einfluss Der Film gilt als atmosphärisch und visuell prägend für die später, ebenfalls in den 1980er Jahren, entstandene Literaturrichtung Cyberpunk. William Gibson hat erklärt, dass er seinen einflussreichen Roman Neuromancer schon begonnen hatte, als er Blade Runner sah. Auch ihn hatten die Heavy Metal-Comics inspiriert. Bis heute ist der von Scott und Mead konzipierte Look des Films Vorbild für viele fantastische Werke. Oft genannt werden hier etwa die Filme Brazil, Terminator, Batman, RoboCop, Das fünfte Element, Strange Days und Matrix sowie die Fernsehserien Max Headroom und Total Recall 2070. Auch eine Reihe von Animes – etwa Akira, Bubblegum Crisis, Cowboy Bebop, Silent Möbius, Armitage III und Ghost in the Shell – und Computerspielen – etwa Snatcher oder Final Fantasy VII – im Umfeld des Cyberpunk-Genres ist von Blade Runner beeinflusst. Als direktes Remake kann die südkoreanische Produktion Natural City von Min Byung-chun aus dem Jahr 2003 gelten. Dieser Film greift nicht nur die Optik von Blade Runner auf, sondern übernimmt auch zum Großteil den Handlungsverlauf. Das Thema der Menschlichkeit von Robotern und Androiden beziehungsweise der Unterscheidbarkeit zwischen Menschen und Humanoiden wird in vielen weiteren Filmen aufgegriffen, wie z. B. Aliens, A.I. – Künstliche Intelligenz, I, Robot und Der 200 Jahre Mann (wobei die zugrundeliegenden Erzählungen der beiden letztgenannten Filme älter als Dicks Werk sind). Blade Runner machte Philip K. Dick postum in Hollywood bekannt. Später gedrehte Filme, die Geschichten Dicks als Vorlage haben, sind etwa Die totale Erinnerung – Total Recall, Screamers, Minority Report, Paycheck – Die Abrechnung, A Scanner Darkly und Next. Es gibt viele weitere Werke vor allem der Popkultur, die auf den Film Bezug nehmen. Darunter sind etwa Stücke der Gruppen Audioslave, Bomb the Bass, White Zombie und des Sängers Gary Numan. Das Video zu Tonight, Tonight, Tonight von Genesis ist den Szenen im Bradbury Building nachempfunden und wurde auch dort gedreht. Für das Cover ihres 1986 erschienenen Albums Somewhere in Time nahm auch die englische Heavy-Metal-Band Iron Maiden Anleihen bei Blade Runner, der sogar namentlich genannt wird. Die Band-Fotos für dieses Album entstanden in einer Art Fuhrpark, zu dem auch das Flugauto und das „normale“ Auto gehören, mit denen Deckard und Gaff unterwegs sind. In ihrem Song Time What Is Time vom 1992er Album Somewhere Far Beyond greift die deutsche Speed-Metal-Band Blind Guardian das Thema auf. Die britische Sängerin Kim Wilde veröffentlichte 1984 auf dem Album Teases & Dares ein Stück mit dem Namen Bladerunner und verwendete hierin auch einige kurze Soundsamples aus dem Kinofilm. Das 1996 erschienene Album Dead Cities der englischen Electronica-Band The Future Sound of London erzeugt durch Musik, Thematik und Cover-Artwork eine düster-endzeitliche Atmosphäre und zitiert dabei auch Blade Runner oder speziell seinen Film-Soundtrack. Im Stück My Kingdom wird ein Gesangssample aus Rachel’s Song verwendet. Der im Jahr 2015 erschienene Elektropop-Titel RM486 von Rose McGowan beginnt mit dem Monolog des sterbenden Roy Batty unterlegt mit an den Soundtrack angelehnter Melodik. Der im Film erstmals erwähnte fiktive Ort Tannhäuser Tor hat in Science-Fiction-Kreisen weitere Verbreitung gefunden. „The Replicants“ und „The Blade Runners“ waren Namen zweier Gruppen aus der Atari-ST-Demoszene. Der Name der Demogruppe „Haujobb“, die sich nach der gleichnamigen Band Haujobb benannte, geht vermutlich auf einen Übersetzungsfehler in der deutschen Synchronisation des Films zurück. Literatur Philip K. Dick: Blade Runner. 2002, ISBN 3-453-21728-4 (siehe Träumen Androiden von elektrischen Schafen?) Sekundärliteratur: Paul M. Sammon: Future Noir – The Making of Blade Runner. Orion Media, London 1996, ISBN 0-7528-0740-4. (Der Filmjournalist Sammon beobachtete schon die Dreharbeiten, stellte für dieses Buch weitere Recherchen an und interviewte viele Beteiligte. Das Buch ist aber nicht völlig fehlerfrei.) Scott Bukatman: Blade Runner (BFI Modern Classics). British Film Institute, London 1997, ISBN 0-85170-623-1. Judith B. Kerman (Hrsg.): Retrofitting Blade Runner. University of Wisconsin Press, 2. Auflage Madison 1997, ISBN 0-87972-510-9. (Etwa 20 Aufsätze über den Film und Dicks Buch, enthält auch eine kommentierte Bibliographie.) Frank Schnelle: Ridley Scott’s Blade Runner. Wiedleroither, Stuttgart 1997, ISBN 3-923990-06-5. Ronald M. Hahn, Volker Jansen: Die 100 besten Kultfilme von „Metropolis“ bis „Fargo“. Wilhelm Heyne, München 1998, ISBN 3-453-86073-X, S. 45–51. Stefan Jung: Zeitebenen in Ridley Scotts BLADE RUNNER, in: Enzyklopädie des Phantastischen Films, Teil III: Themen und Aspekte. Corian-Verlag, Meitingen 2012, ISBN 978-3-89048-497-6. (Thematisch übergreifender Essay, der filmische Motive der ‘Zeit’ genauer zu erörtern vermag; neben Einflüssen von Literatur und Architektur geht der Autor vor allem auf die Differenzierung zeitlicher Wahrnehmung ein – sowohl auf formaler Ebene innerhalb des Films, als auch aus Sicht eines sich zeitlich verändernden Publikums. Neben detaillierten Sequenz-Analysen, die lückenlos mit Timecodes belegt sind und alle fünf Versionen des Films berücksichtigen, finden auch eine Untersuchung des Begriffs der ‘Postmodernität’, die Einordnung des Films als ‘cult-canonical movie’ nach Bukatman, sowie sein Status als Vertreter des filmischen Cyberpunk Eingang. Mit ausführlicher Biblio- und Filmographie, zahlreichen Abbildungen und eigens konzipierter Zeitgrafik im Anhang.) Dietrich Neumann (Hrsg.): Filmarchitektur. Von Metropolis bis Blade Runner. Prestel, München und New York 1996, ISBN 978-3-7913-1656-7. Don Shay: Blade Runner: The Inside Story. Cinefex, Titan Books, London 2000, ISBN 1-84023-210-2. Johannes F. Sievert: Theoretische und filmanalytische Aspekte in Ridley Scotts Blade Runner. 2000, ISBN 3-930258-72-2. Ausführliche Verzeichnisse von internationalen Kritiken und weiterer Literatur finden sich auch unten unter Weblinks sowie in: Michael Töteberg (Hrsg.): Metzler-Film-Lexikon. 2. Auflage. Metzler, Stuttgart 2005, ISBN 3-476-02068-1, S. 79. International Dictionary of Films and Filmmakers. Volume 1: Films. 2. Auflage. St. James Press, Chicago 1990, ISBN 1-55862-037-0, S. 113 f. Weblinks Allgemeines: Offizielle deutsche Website zum Film brmovie.com (umfangreiche englische Seite) mit der Blade Runner FAQ bladezone.com (umfangreiche englische Seite) Benjamin Maack: 30 Jahre „Blade Runner“: Legende mit Fehlstart auf einestages vom 25. Juni 2012 Das Phänomen „Blade Runner“ Dokumentation auf Arte Kritiken: Umfangreiche Filmkritik, sowie Deutung der Symbolik von Siegfried König auf filmzentrale.com (deutsch) Umfangreiche Besprechung von Tim Dirks auf filmsite.org (englisch) Besprechungen des Director’s Cut auf metacritic.com (englisch) Filmkritik, sowie ein Filmausschnitt von Roberto Mißbach auf kino-vorschau.com (deutsch) Interviews: Interview mit Ridley Scott bei Spiegel Online Essays: br-insight.com (englisch, enthält viele Analysen und Interpretationen des Films) 2019: Off-World (englisch, enthält einige Essays zum Film, ein nicht gedrucktes Kapitel aus Sammons Buch und umfangreiche Archive) Drehbücher: „Multiscript“ (von Fans erstelltes, paralleles Skript zu Workprint, Originalversion und Director’s Cut; englisch, txt-Format) Drehbuchentwurf von Fancher, 24. Juli 1980 (englisch, txt-Format) Drehbuch von Fancher und Peoples, Version vom 23. Februar 1981 (englisch, txt-Format) Einzelnachweise Ridley Scott Filmtitel 1982 US-amerikanischer Film Hongkong-Film Science-Fiction-Film Science Fiction and Fantasy Hall of Fame Filmdrama Thriller Cyberpunk im Film Neo-Noir Philip-K.-Dick-Verfilmung
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https://de.wikipedia.org/wiki/Chromosom
Chromosom
Ein Chromosom (von ‚Farbe‘ sowie ‚Leib‘) ist ein Träger von Erbanlagen (des Genoms). Chromosomen bestehen aus Desoxyribonukleinsäure (englische Abkürzung: DNA) und verschiedenen Proteinen, insbesondere Histonen. Die DNA enthält genetische Informationen für die Lebensprozesse und die Vererbung von Eigenschaften. Die Chromosomen eukaryotischer Lebewesen sind in Zellkernen eingeschlossen. Sie sind in der Metaphase einzeln zu erkennen, denn in diesem Stadium des Zellzyklus liegen sie stark verdichtet vor, während die Kernhülle vorübergehend aufgelöst ist. Die Interphase hindurch sind sie dagegen aufgelockert und werden insgesamt als Chromatin bezeichnet. Ein Zellkern enthält jeweils eine arttypische Zahl an Chromosomen, beim Menschen sind es gewöhnlich 46 im diploiden Karyotyp (2n = 46,XX bzw. 46,XY). Die Zellen der Eukaryoten – zu denen Pflanzen, Pilze, Tiere und so auch Menschen gehören – enthalten außer der chromosomalen DNA im Zellkern zusätzlich DNA in bestimmten Organellen wie Mitochondrien oder Plastiden (siehe mitochondriale DNA und Chloroplasten-DNA), die zirkulär vorliegt. Zellen von Prokaryoten wie Bakterien haben keinen Zellkern und keine klassischen Chromosomen. Die DNA von Bakterien ist allgemein zirkulär organisiert und wird auch als Bakterienchromosom bezeichnet. Darstellung im Mikroskop Die Bezeichnung Chromosom, wörtlich „Farbkörper“, rührt daher, dass die Chromatinstruktur durch basische Farbstoffe leicht anzufärben ist. Die angefärbten Chromosomen sind lichtmikroskopisch ohne spezielle Nachweismethoden nur während der Teilung des Zellkerns zu erkennen. Dann haben sie beim Menschen und vielen anderen Arten ein stäbchenförmiges Aussehen. Diese verdichtete (kondensierte) Form bildet sich zu Beginn einer Kernteilung bei Mitose wie Meiose während der frühen Prophase heraus. In der anschließenden Metaphase werden die stark kondensierten Chromosomen äquatorial angeordnet. Jedes Chromosom besteht in dieser Phase aus zwei gleichen Chromatiden, die durch Replikation entstanden sind. Die Chromatiden liegen parallel nebeneinander und enthalten je eine durchgehende DNA-Doppelhelix. In der Anaphase werden die beiden Chromatiden eines Chromosoms voneinander getrennt und schließlich über die Telophase den sich bildenden Tochterkernen zugeteilt. Am Ende der Kernteilungen gehen die Chromosomen wieder in einen dekondensierten Zustand über. Erst in dieser Form kann die DNA abgelesen und dann dupliziert werden. Doch lassen sich so die verschiedenen Chromosomen eines Kerns mit klassischen Färbemethoden nicht mehr unterscheiden, da sie ein scheinbar kontinuierliches Chromatin bilden. Mit besonderen Methoden jedoch, wie der Fluoreszenz-in-situ-Hybridisierung, sind die Chromosomen weiterhin als getrennte Einheiten nachweisbar. Jedes der dekondensierten Chromosomen beansprucht in der Interphase ein Chromosomenterritorium: einen abgegrenzten Bereich innerhalb des Zellkerns. Forschungsgeschichte Der Name „Chromosomen“ für die Träger der Erbmasse wurde 1888 von dem Anatomen Heinrich Wilhelm Waldeyer vorgeschlagen, nachdem Walther Flemming einige Jahre zuvor den Begriff Chromatin für die färbbare Substanz im Zellkern eingeführt hatte. Noch 1906 nutzte Oscar Hertwig parallel dazu den Begriff Kernsegmente, welcher verdeutlichen sollte, dass bei der Teilung des Kerns (Mitose) „das Chromatin in Segmente zerlegt wird“. Eine weitere alte Bezeichnung, die ebenfalls eine Weile parallel zu Chromosom benutzt wurde, ist Kernschleife, zum Beispiel bei Karl Heider (1906). Die Geschichte der Entdeckung der Chromosomen und ihrer Funktion lässt sich nicht von der vorangegangenen Entdeckung des Zellkerns trennen. 1842 beschrieb der Schweizer Botaniker Carl Wilhelm von Nägeli „transitorische Zytoblasten“ (anfärbbare stäbchenförmige Strukturen im Zellkern von Pflanzenzellen) bei denen es sich vermutlich um Chromosomen handelte. Auch Abbildungen aus den Werken anderer Forscher lassen sich mit heutigem Wissen als Chromosomen bzw. mitotische Zellteilung deuten (Matthias Schleiden 1846, Rudolf Virchow 1857, Otto Bütschli 1873). 1873 beschrieb Anton Schneider an Plattwürmern, dass der Zellkern sich „in einen Haufen feinlockig gekrümmter, auf Zusatz von Essigsäure sichtbar werdender Fäden verwandelt. An Stelle dieser dünnen Fäden traten endlich dicke Stränge auf, zuerst unregelmäßig, dann zu einer Rosette angeordnet, welche in einer durch den Mittelpunkt der Kugel gehenden Ebene (Äquatorialebene) liegt.“ Die „indirekte Kernteilung“ (Mitose) war entdeckt – aber noch nicht verstanden. So ging Walther Flemming 1882 noch davon aus, dass sich die „Kernfäden“ erst während der frühen Phase der Kernteilung aus einem zuvor durchgehenden Faden voneinander trennen. Zwar beobachtete er eine Längsspaltung der Chromosomen zu einem späteren Zeitpunkt (heute als Metaphase bezeichnet), nahm aber an, dass sich ganze Chromosomen (also mit beiden Chromatiden) später (heute: Anaphase) in Richtung der künftigen Zellkerne bewegen. Auch schloss er nicht aus, dass sich Zellkerne zumindest in manchen Fällen auch neu bilden könnten, also nicht durch Teilung aus bestehenden Kernen. 1884 beschrieben dann mehrere Autoren (L. Guignard, Emil Heuser und Edouard van Beneden) die Aufteilung der Chromosomenhälften (heute: Chromatiden) auf die Tochterzellkerne. Da die Chromosomen während der Interphase nicht sichtbar waren, war zunächst unklar, ob sie sich nach einer Kernteilung auflösen und vor jeder Kernteilung neu bilden oder ob sie im Kern als jeweils eigene Einheiten überdauern. Letztere Idee wurde als Lehre von der Erhaltung der Individualität der Chromosomen bezeichnet und von Carl Rabl vorgeschlagen (1885). Er war auch der erste, der erstens eine konstante Zahl von Chromosomen bei verschiedenen Mitosen eines Gewebes feststellte und zweitens daraus schloss, dass die Chromosomen auch in der Interphase und somit kontinuierlich vorhanden sein müssten. Er ließ aber zunächst noch die Möglichkeit offen, dass diese Zahl in verschiedenen Geweben unterschiedlich sein könnte. Rabl war ebenfalls der erste, der annahm, dass jedes Chromosom im Interphasekern ein eigenes Territorium bildet. Die Idee der Chromosomenkontinuität fand keineswegs ungeteilte Zustimmung. Ein wichtiger Gegner war Oscar Hertwig (1890, 1917). Theodor Boveri, der um 1890 Chromosomenstudien durchführte, dagegen befürwortete Rabls Ideen und unterstützte sie mit weiteren experimentellen Befunden (1904, 1909). Ebenfalls in den 1880er Jahren entwickelte August Weismann seine Keimplasmatheorie (siehe auch dort), bei der er davon ausging, dass das Erbmaterial (nur) in den Chromosomen lokalisiert sei. Wichtige Schlussfolgerungen waren, dass Vererbung ausschließlich über die Keimbahn stattfinde und dass eine Vererbung erworbener Eigenschaften abzulehnen sei. Was sich später als weitgehend richtig erwies, war damals heftig umstritten. Eine schonungslose Kritik findet sich beispielsweise in Meyers Konversations-Lexikon von 1888 unter dem Stichwort Erblichkeit. Im Jahr 1900 wurden die Mendelschen Regeln wiederentdeckt und bestätigt. In der Folge entwickelte sich die neue Wissenschaft der Genetik, in deren Rahmen der Zusammenhang von Chromosomen und Vererbung vielfach gezeigt wurde. Beispielsweise konnte Thomas Hunt Morgan 1910 an Drosophila melanogaster den Nachweis führen, dass die Chromosomen die Träger der Gene sind. 1944 zeigte Oswald Avery (siehe dort), dass das eigentliche Erbmolekül die DNA ist, und nicht etwa Proteine in den Chromosomen. Die weitere Geschichte bis 1950 (Aufklärung der Struktur der DNA) ist im Artikel Chromosomentheorie der Vererbung beschrieben. Eine Zeittafel einiger wichtiger Entdeckungen ist im Artikel Chromatin zu finden. Im Jahr 2000 haben zwei internationale Wissenschaftlerteams das menschliche Erbgut weitgehend entziffert, im Jahr 2003 waren 99 Prozent sequenziert. Mit dem Chromosom 1 wurde 2005/2006 das letzte der 24 verschiedenen menschlichen Chromosomen genau analysiert (99,99 %). Über 160 Wissenschaftler aus Großbritannien und den USA publizierten diese Gemeinschaftsarbeit. 2014 gelang erstmals das Design und die Konstruktion eines synthetischen Chromosoms, und zwar in der Bäckerhefe Saccharomyces cerevisiae. Aufbau und Struktur der Chromosomen Bestandteile Abgesehen von Spezialfällen (siehe Riesenchromosomen unten) enthält ein Chromosom im einfachen Fall einen durchgehenden DNA-Doppelstrang (auch: DNA-Doppelhelix). Der DNA-Doppelstrang wird manchmal auch als DNA-Molekül bezeichnet, obwohl es sich streng genommen um zwei Einzelstrang-Moleküle handelt (siehe Desoxyribonukleinsäure). An den DNA-Doppelstrang lagern sich Histone und andere Proteine an (siehe unten). Die Mischung aus DNA, Histonen und anderen Proteinen wird als Chromatin bezeichnet. Aus einem DNA-Doppelstrang wird durch diese Protein-Anlagerung ein Chromatid aufgebaut. In diesem Fall besteht das Chromosom also aus einem Chromatid. Der beschriebene Fall tritt immer direkt nach einer Kernteilung auf; bei den meisten Tieren und Pflanzen zusätzlich in allen Zellen, die sich nicht mehr teilen können (Ausnahme: Polytänchromosomen bei Insekten, siehe auch unten), und in Zellen, die zeitweilig nicht mehr wachsen, sich also in der G0-Phase befinden (siehe Zellzyklus). Wenn eine Zelle wächst, um sich später zu teilen, dann muss in einem bestimmten Abschnitt des Zellzyklus (S-Phase) die DNA verdoppelt („repliziert“) werden. Dies ist erforderlich, damit später beide Tochterkerne das ganze Erbgut, also je eine Kopie aller Chromosomen, erhalten können. Nach der DNA-Verdopplung hat jedes Chromosom zwei identische DNA-Doppelstränge. Diese beiden Doppelstränge werden räumlich getrennt voneinander mit Proteinen verpackt: Zwei Schwester-Chromatiden entstehen. Während der Kernteilung (Mitose) werden die beiden Schwester-Chromatiden eines Chromosoms als zwar parallel verlaufende, aber durch eine schmale Lücke getrennte Einheiten mikroskopisch sichtbar (siehe Schemazeichnung rechts und erste Abbildung des Artikels). An einer Stelle, die Centromer oder Zentromer genannt wird, ist jedes Chromosom zu diesem Zeitpunkt schmaler als im sonstigen Verlauf: Hier hängen die Schwester-Chromatiden noch zusammen. Im weiteren Verlauf der Mitose (am Übergang von der Metaphase zur Anaphase, siehe unten) werden die beiden Schwester-Chromatiden getrennt – wobei durch die Trennung zwei Tochterchromosomen entstehen – und auf die neu entstehenden Zellkerne verteilt: Die Chromosomen in diesen neuen Kernen bestehen jetzt wieder aus einem Chromatid. Demnach enthält ein Chromatid immer genau einen DNA-Doppelstrang, während ein Chromosom je nach Phase des Zellzyklus ein oder zwei DNA-Doppelstränge enthält und entsprechend aus einem oder zwei Chromatiden besteht (Ausnahme: die erwähnten Polytänchromosomen, die über tausend Doppelstränge enthalten können). Durch das Centromer werden die Chromatiden in zwei Arme unterteilt. Je nach Lage des Centromers spricht man von metazentrischen Chromosomen (Centromer in der Mitte), akrozentrischen Chromosomen (Centromer am Ende, der kürzere Arm sehr klein; beim Menschen die Chromosomen 13, 14, 15, 21, 22 und das Y-Chromosom) oder submetazentrischen Chromosomen (Centromer zwischen Mitte und Ende). Der kürzere Arm wird als p-Arm (), der längere als q-Arm bezeichnet (q folgt im lateinischen Alphabet auf p). Wie in der Schemazeichnung werden Chromosomen generell mit den kurzen Armen nach oben dargestellt. Die Enden der Chromosomen heißen Telomere (Einzahl: Telomer). Sie enthalten eine kurze, sich identisch wiederholende DNA-Sequenz (beim Menschen TTAGGG). Dort werden die Chromosomen bei jeder Verdopplung ein wenig kürzer. Die Telomere spielen daher bei Alterungsprozessen eine wichtige Rolle. Neben Centromer und Telomeren sind Startpunkte für die DNA-Verdopplung (Replikation) der dritte essentielle Bestandteil eines Chromosoms (siehe ARS-Element). Beim Menschen enthalten die kurzen Arme der akrozentrischen Chromosomen Gene für die ribosomale RNA. Diese kurzen Arme können in kondensierten Metaphasechromosomen durch einen Satelliten verlängert sein, so dass Satellitenchromosomen (SAT-Chromosomen) vorliegen (nicht zu verwechseln mit Satelliten-DNA). Die Gene für die ribosomale RNA liegen in vielen, tandemartig hintereinanderliegenden Kopien vor. Im Interphase-Zellkern bildet sich an diesen der Nucleolus. Daher werden sie auch als Nucleolus-organisierende Regionen (NOR) bezeichnet. Chromosomen während der normalen Kernteilung (Mitose) Im Folgenden sind die Phasen während der Mitose kurz wiedergegeben: Prophase: In diesem ersten Stadium der Mitose kondensieren die Chromosomen zunehmend. Sie werden so von einer zugänglichen Quelle genetischer Information zu einer nicht mehr ablesbaren, kompakten Transportform. Die Kernmembran wird aufgelöst. Dies wird manchmal als der Beginn einer zusätzlichen Phase, der Prometaphase, gesehen. Metaphase: Die Chromosomen wandern in die Äquatorialebene der Zelle und bilden dort die Metaphaseplatte. Bis zu diesem Zeitpunkt besteht jedes Chromosom aus zwei Chromatiden. Centriolen befinden sich an den entgegengesetzten Polen der Zelle, die Plasmafasern haben den Spindelapparat gebildet. Anaphase: Der Spindelapparat sorgt für die Trennung der beiden Chromatiden jedes Chromosoms und ihren Transport senkrecht weg von der Metaphaseplatte, zu zwei entgegengesetzten Zellpolen. Dazu werden Mikrotubuli sowohl an den Kinetochoren der Centromere als auch an den Zellpolen befestigt, die wie Streckseile wirken. Telophase: Nach Abschluss der Anaphasebewegung wird um jedes vereinzelte Chromosom eine neue Kernhülle gebildet und mit der Dekondensation begonnen. Durch Fusion der Partikel entstehen die beiden Tochterzellkerne, die nun Ein-Chromatid-Chromosomen enthalten. Nach der Kernteilung erfolgt in der Regel auch die Zellteilung, die Cytokinese oder Zytokinese, die aber nicht mehr zur Mitose gerechnet wird. G-, R- und andere Chromosomenbanden In der Mitte des 20. Jahrhunderts wurden Techniken entwickelt, um die Chromosomen aus Zellen, die sich in der Metaphase befinden, zu „spreiten“: Im entstandenen Metaphasepräparat liegen die Chromosomen einer Zelle nebeneinander auf einem Objektträger, so dass sie im Mikroskop abgezählt und miteinander verglichen werden können (siehe erste Abbildung oben). In gut gelungenen Präparaten haben die einzelnen Chromosomen dabei die häufig dargestellte X-ähnliche Form. Mit den klassischen Färbemethoden wie zum Beispiel Giemsa-Färbung werden Chromosomen auf ganzer Länge gleichmäßig eingefärbt. Daher war es zunächst nicht oder nur schwer möglich, Chromosomen ähnlicher Größe sicher voneinander zu unterscheiden. Um 1970 wurde entdeckt, dass einige Bereiche der Chromosomen den Giemsa-Farbstoff nicht mehr annehmen, wenn die Chromosomen zuvor mit Trypsin behandelt wurden. Durch die hervorgerufene G-Bänderung entstanden entlang der Chromosomen abwechselnd gefärbte Abschnitte (die G-Banden, G für Giemsa) und ungefärbte (die R-Banden, R für revers). Durch das Bandenmuster ist beim Menschen und etlichen Tieren eine eindeutige Identifizierung aller Chromosomen möglich. Die stoffliche Grundlage für das unterschiedliche Färbeverhalten der Banden, also die Frage, warum einige Bereiche nach der Trypsinbehandlung den Farbstoff nicht mehr aufnehmen, ist bis heute ungeklärt. Es stellte sich jedoch heraus, dass G- und R-Banden sich in einigen Eigenschaften unterscheiden. R-Banden enthalten überdurchschnittlich viele Gene, überdurchschnittlich viele G-C-Basenpaarungen und werden während der Replikation der Chromosomen früh verdoppelt. Beim Menschen sind sie reich an Alu-Sequenzen (siehe dort und Abbildung rechts). G-Banden sind genarm, die Anzahl der G-C-Basenpaare liegt unter dem Durchschnitt (dafür haben sie mehr A-T-Paare; siehe Desoxyribonucleinsäure) und sie werden während der Duplizierung der Chromosomen eher spät repliziert. Beim Menschen sind sie reich an L1-Elementen (siehe Long interspersed nuclear element). Als weitere Bandentypen werden manchmal C-Banden (die Centromerregionen) und T-Banden unterschieden. Letztere sind eine Untergruppe der R-Banden, besonders genreich und liegen häufig in der Nähe der Telomere, daher der Name. Die Anzahl der R- und G-Banden ist abhängig vom Kondensationsgrad der Chromosomen. In der Metaphase haben alle menschlichen Chromosomen zusammen etwa 400 dieser Banden, während in den noch nicht so stark kondensierten Prophasechromosomen bis zu 850 Banden unterschieden werden können. Nomenklatur: Um eine genaue Bezeichnung aller chromosomalen Regionen zu ermöglichen, wurden für den Menschen und einige andere Organismen standardisierte Bezeichnungssysteme eingeführt. Beim Menschen hat jede Bande eine Bezeichnung, die sich aus folgenden Elementen zusammensetzt: Nummer des Chromosoms, p oder q für den jeweiligen Arm (p wie franz. für den kurzen Arm; q wie franz. für den langen) sowie Zahlen, die vom Centromer aus aufwärts zählen. Zur feineren Unterscheidung können die Zahlen mehrere Stellen haben. Die Bande 3q26.31 ist demnach eine Unterbande von 3q26. Die Bezeichnung „3q“ steht entsprechend für den gesamten langen Arm des Chromosoms 3. Centromerregionen werden auch mit c bezeichnet (3c). Telomerbereiche werden der Einfachheit halber gerne mit tel (etwa 3ptel oder 3qtel) und telomernahe Bereiche mit ter (3pter) bezeichnet. Schematische Darstellungen der Standardbanden heißen Idiogramme. Beispiele sind in der Abbildung rechts und auf der Website von Ensembl zu sehen. In Idiogrammen sind G-Banden stets dunkel, R-Banden weiß eingezeichnet. Bereiche aus repetitiven Elementen werden manchmal schraffiert dargestellt. Eine sortierte Anordnung aller mitotischen Chromosomen aus einer Zelle wird als Karyogramm bezeichnet (Abbildung weiter unten). Der Karyotyp eines Lebewesens gibt an, wie viele und gegebenenfalls welche Chromosomen dieses Individuum hat. Der Karyotyp einer Frau wird als 46,XX angegeben, der eines Mannes als 46,XY (siehe unten, Geschlechtsbestimmung). Größe und Gen-Dichte Das menschliche Genom, also die Gesamtlänge der DNA, umfasst etwa 3,2 Gbp (= Gigabasenpaare oder Milliarden Basenpaare) mit bisher gefundenen 23.700 Genen. Menschen haben zwei Kopien des Genoms (2n), eine von der Mutter und eine vom Vater, die in jedem Zellkern vorliegen. Aus dem Molekularmodell der DNA ergibt sich für 10 Basenpaare in der Doppelhelix eine Länge von 3,4 Nanometern (milliardstel Metern). Daraus lässt sich hochrechnen, dass die Gesamtlänge der DNA in jeder menschlichen Zelle über 2 Meter beträgt. Diese sind beim Menschen auf 2n = 46 Chromosomen verteilt, so dass ein Chromosom durchschnittlich etwa 140 Mbp (= Megabasenpaare oder Millionen Basenpaare) und damit einen DNA-Faden von knapp 5 cm Länge mit etwas über 1000 Genen enthält. Chromosomen während der Kernteilung haben jedoch nur eine Länge von einigen Mikrometern (millionstel Metern). Sie sind demnach um einen Faktor von etwa 10000 verkürzt oder „kondensiert“. Auch im Interphasekern sind Chromosomen kaum länger. Die hier vorhandenen Chromosomenterritorien entstehen im Wesentlichen durch Dekondensation der Tochterchromatiden in die Breite. Während ein Tochterchromatid in der Metaphase einen Durchmesser von etwa 0,6 Mikrometern hat, kann ein Chromosomenterritorium einen Umfang einnehmen, der etwa seiner Länge entspricht. Chromosomenterritorien können jedoch sehr unregelmäßige Formen haben. Aus den angegebenen Zahlenwerten wird deutlich, dass Chromosomen auch während der Interphase stark kompaktiert, also aufgefaltet, sein müssen (siehe nächster Abschnitt). Chromosom 1 als größtes menschliches Chromosom hat 249 Mbp, das kürzeste Chromosom 21 hat weniger als ein Fünftel davon, nämlich 47 Mbp. Die Gene sind zwischen den Chromosomen ungleichmäßig verteilt. Das relativ genreichste Chromosom 19 enthält auf 59 Mbp etwa 1500 kodierende Gene, während das genarme Chromosom 18 auf 80 Mbp nur etwa 640 enthält (siehe auch Abbildung „Genreiche und genarme Regionen“ oben). Am genärmsten ist jedoch das Y-Chromosom, das auf 57 Mbp nur 72 kodierende Gene enthält. (Stand der Angaben zu Größen und Gendichten in diesem Absatz: Dezember 2015) Bei der Hausmaus (Mus musculus) sind die Unterschiede zwischen den Chromosomen kleiner. Das 3,5 Gbp große Genom mit 22.600 beschriebenen Genen ist verteilt auf 20 verschiedene Chromosomen (2n=40) mit 61 Mbp (Chromosom 19) bis 195 Mbp (Chromosom 1). Die Länge der einzelnen Chromosomen bei anderen Säugern schwankt stark, in Abhängigkeit von der Anzahl. Einige haben wenige, große Chromosomen (z. B. der indische Muntjak, Muntjak muntjacus: 2n=6 beim Weibchen und 2n=7 beim Männchen; dem X-Chromosom entsprechen hier also zwei Y-Chromosomen), andere haben viele kleine (z. B. Nashorn, Diceros bicornis: 2n=84). Die genauen Längen (in Basenpaaren) sind jedoch erst bei einer kleinen Anzahl von Tieren bekannt. Bei Eidechsen und Vögeln treten Chromosomen von extrem unterschiedlicher Größe auf (siehe Abbildung). Die Makrochromosomen ähneln dabei von der Größe her Säugerchromosomen. Das Chromosom 1 des Huhns (Gallus gallus) enthält beispielsweise 188 Mbp. Daneben gibt es aber auch viele Mikrochromosomen, deren Größe 1 Mbp noch unterschreiten kann. Der Übergang von Makro- zu Mikrochromosomen ist oft fließend, so dass die Abgrenzung beider Gruppen voneinander zum Teil unterschiedlich vorgenommen wird. Beim Huhn können die Makrochromosomen z. B. die Chromosomen 1–8 oder 1–10 umfassen. Für einen bildlichen Größenvergleich siehe Ensembl. Von dort sind auch die Größen in Mbp übernommen. Die Begriffe Makro- und Mikrochromosomen wurden von Theophilus S. Painter 1921 eingeführt, der die Spermatogenese in Eidechsen untersuchte. Auch bei anderen Chordatieren wurden Mikrochromosomen nachgewiesen, etwa beim Lanzettfischchen (Branchiostoma, veraltet Amphioxus) und bei der Streifenköpfigen Bartagame (Pogona vitticeps), nicht aber bei den Theria (Beuteltiere und Plazentalier inkl. Mensch). Molekularer Aufbau und Hierarchie der Verpackungsebenen Im vorherigen Abschnitt wird dargelegt, dass die DNA sowohl während der Kernteilung als auch in der Interphase sehr stark aufgewickelt oder „kondensiert“ sein muss. Es ist jedoch noch weitgehend unklar, wie diese Verpackung organisiert ist. Eine wichtige Rolle spielen basische Strukturproteine, die Histone. DNA, Histone und weitere Proteine machen jeweils etwa ein Drittel der chromosomalen Masse aus. Diese wird auch als Chromatin bezeichnet. Die Verwendung des Begriffs Chromatin ist besonders für Beschreibungen des Zellkerns in der Interphase üblich, da hier einzelne Chromosomen nicht ohne spezielle Anfärbung (Fluoreszenz-in-situ-Hybridisierung) voneinander unterschieden werden können. Auf der untersten Verpackungsebene ist der DNA-Faden in Nucleosomen aufgewickelt, welche acht Histonenmoleküle enthalten (siehe Abb., Unterabbildung 2). Nucleosomen haben einen Durchmesser von etwa 10 Nanometern (nm), daher spricht man hier auch von der 10-nm-Fiber. Deren Struktur wird oft mit einer Perlenkette verglichen, bei der der Faden allerdings um die Perlen herumgewickelt ist. In einem Nucleosom sind 146 Basenpaare der DNA aufgewickelt, hinzu kommt Linker-DNA zwischen den Nucleosomen. Die 10-nm-Fiber lässt sich im Elektronenmikroskop nachweisen, ebenso wie die nächsthöhere Verpackungsebene, die 30-nm-Fiber. Die interne Struktur der 30-nm-Fiber, also wie diese durch Auffalten aus der 10-nm-Fiber zusammengesetzt ist, ist jedoch ebenso unklar wie alle höheren Verpackungsebenen. Für letztere werden verschiedene Modelle diskutiert. Im Loop-Modell (von ) wird angenommen, dass die 30-nm-Fiber in großen Schlaufen verläuft, die an einer Art Rückgrat befestigt sind. Im Chromonema-Modell wird dagegen angenommen, dass sich die 30-nm-Fiber durch weiteres Auffalten verdickt und so Abschnitte von 120 nm und dicker entstehen. Wie die strukturelle Veränderung vom Interphasezustand zum Prophasechromosom vor sich geht, ist ebenfalls unklar. Beim Übergang der Prophasechromosomen zu den noch stärker kondensierten Metaphasechromosomen scheint Einigkeit darin zu bestehen, dass es sich hier um ein spiralförmiges Aufwickeln handelt. Die Kondensation der Chromosomen bzw. des Chromatins ist innerhalb des Zellkerns nicht gleichmäßig. Manche Bereiche des Kerns werden durch DNA-Farbstoffe besonders stark gefärbt. Hier ist die Kondensation also besonders stark. Diese Bereiche werden als Heterochromatin bezeichnet, weniger stark gefärbte dagegen als Euchromatin. In den stärker kondensierten Bereichen ist die Genaktivität behindert bis blockiert, siehe Epigenetik. Riesenchromosomen Es sind zwei Arten von Riesenchromosomen bekannt, Polytänchromosomen und Lampenbürstenchromosomen. Polytänchromosomen Eine Besonderheit bezüglich des inneren chromosomalen Aufbaus stellen die Polytänchromosmen dar. Sie sind aus verschiedenen Insekten bekannt und besonders gut in der Fruchtfliege Drosophila melanogaster und in Zuckmücken Chironomus untersucht. Sie entstehen durch mehrere Runden von Verdopplung der DNA ohne anschließende Kernteilung (Endoreduplikation). Im Gegensatz zur „normalen“ Polyploidie sind in Polytänchromosomen die vielfach replizierten DNA-Fäden von beiden homologen Chromosomen (also der vom Vater und der von der Mutter vererbten Kopie) parallel angeordnet, ähnlich einem Kabelstrang. Alle Kopien eines Gens liegen daher nebeneinander. Lampenbürstenchromosomen Eine andere Form von sehr großen Chromosomen kommt in den Eizellen von Amphibien vor. Da sie vom mikroskopischen Bild her einer Flaschen- oder Lampenbürste ähneln, wurden sie Lampenbürstenchromosomen genannt. Geschlechtsbestimmung durch Chromosomen und ihre Folgen Während bei manchen Lebewesen die Geschlechtsbestimmung durch Umweltbedingungen wie die Temperatur während der Embryonalentwicklung erfolgt, wird das Geschlecht bei anderen durch die geerbten Chromosomen bestimmt: Sie haben ein chromosomales Geschlecht. Verschiedene Tiergruppen haben unterschiedliche Methoden der chromosomalen Geschlechtsbestimmung hervorgebracht, teilweise sind ähnliche Systeme unabhängig voneinander entwickelt worden. Bei den meisten Säugern und einigen anderen Tiergruppen haben Weibchen zwei X-Chromosomen, während Männchen ein X- und ein Y-Chromosom haben. Wenn wie im Säugermännchen zwei verschiedene Geschlechtschromosomen vorliegen, spricht man von Hemizygotie. Bei Vögeln haben Männchen zwei Z-Chromosomen, Weibchen sind mit einem Z- und einem W-Chromosom das hemizygote Geschlecht. Bei vielen Insekten aus der Gruppe der Hautflügler sind Weibchen diploid, die Männchen aber nur haploid. Im hemizygoten Geschlecht liegen etliche Gene nur auf einem Chromosom vor. Bei einem Gendefekt kann dieser daher nicht durch ein intaktes Gen auf einem homologen Chromosom aufgefangen werden. Daher gibt es beim Menschen eine Reihe von Erbkrankheiten, die praktisch nur bei Männern auftreten. Die bekanntesten Beispiele sind eine Form der Bluterkrankheit, die Duchenne’sche Muskeldystrophie und die Rot-Grün-Blindheit. Bei chromosomaler Geschlechtsbestimmung liegt in einem der Geschlechter ein Chromosom zweimal vor, das beim anderen nur einmal da ist. Um zu verhindern, dass hier auch doppelt so viel Genprodukt wie im anderen Geschlecht erzeugt wird, haben verschiedene Tiergruppen verschiedene Strategien zur „Dosiskompensation“ entwickelt (siehe Geschlechtschromosom, X-Inaktivierung und Geschlechts-Chromatin). Chromosomenzahl Karyotyp: Die Chromosomen eines Individuums Alle verschiedenen Chromosomen, die in einem Individuum vorkommen, bilden zusammen den Karyotyp. In vielen Fällen (auch bei Säugern) finden sich im Karyotyp, abgesehen von den Geschlechtschromosomen im hemizygoten Geschlecht, immer zwei homologe Chromosomen, die als solche gleiche Gene tragen. Man spricht in diesen Fällen von einem zweifachen oder diploiden Chromosomensatz, der mit 2n abgekürzt wird. Bei sich geschlechtlich vermehrenden Organismen wird von beiden Elternteilen je einer vererbt. Die Individuen einer Art und von gleichem Geschlecht haben normalerweise dieselbe Ausstattung an Chromosomen und somit den gleichen Karyotyp. Eine Ausnahme bilden hier sogenannte B-Chromosomen, die in manchen Arten vorkommen und bei verschiedenen Individuen und auch in verschiedenen Körperzellen in unterschiedlicher Anzahl vorhanden sein können. Auch bei den regulären Chromosomen einer Art können zwischen den Geschlechtern Unterschiede hinsichtlich Form und – seltener – auch Anzahl von Chromosomen bestehen. Die Geschlechter haben dann einen verschiedenen Karyotyp (siehe oben, Geschlechtsbestimmung). Menschen zum Beispiel haben in beiden Geschlechtern 46 Chromosomen, doch ist das Y-Chromosom kleiner als das X-Chromosom. Als Karyotyp wird entsprechend 46,XX für Frauen und 46,XY für Männer angegeben. Karyotypen werden mit Hilfe von Karyogrammen bestimmt (siehe unten). Weitergabe der Chromosomen an die nächste Generation Um eine Zunahme der Chromosomenanzahl von Generation zu Generation bei der Befruchtung zu verhindern, muss eine Reduktion der Zahl an Chromosomen im Zellkern vor der Ausbildung reifer Keimzellen stattfinden. Dies ist als Reduktionsteilung ein Bestandteil der Meiose. Während der Meiose kommt es auch durch Crossing-over zu einer Rekombination der homologen Chromosomen. Dadurch entstehen genetisch neu zusammengesetzte Chromosomen, die sich von denen der Elternorganismen unterscheiden. Es unterliegt bei der Aufteilung dem Zufall, welche der rekombinierten Chromosomen gemeinsam einen einfachen Chromosomensatz im Zellkern der resultierenden haploiden Zellen bilden. Die vormals väterlicherseits und mütterlicherseits geerbten Chromosomenabschnitte kommen also im neuen haploiden Chromosomensatz von Keimzellen in unterschiedlichen Kombinationen zusammen. Bei diploiden Tieren werden haploide Keimzellen erzeugt, Eizellen beziehungsweise Spermien. Die Keimzellen können verschmelzen und zur ersten Zelle eines neuen Lebewesens werden, der Zygote. Dabei wird aus den zwei einfachen Chromosomensätzen der beiden Vorkerne dann der zweifache Chromosomensatz im Zellkern. Bei der Hybridogenese tritt eine in wenigen Tierarten gefundene Abweichung von einer zufälligen Verteilung der Chromosomen auf. Bei Pflanzen und Einzellern können sich haploide und diploide Generationen abwechseln (siehe Generationswechsel). Manchmal dauert der diploide Status nur sehr kurz und die haploide Generation herrscht vor. Nicht-diploide Chromosomensätze Gelegentlich findet sich die Auffassung, dass alle höheren Tiere und Pflanzen einen zweifachen Chromosomensatz hätten, also diploid seien. Dies ist jedoch nicht der Fall. Zwar sind die Mehrzahl der Tiere und viele Pflanzen diploid, es gibt jedoch auch etliche mit anderen Ploidiegraden. Haploide Individuen kommen, wie oben erwähnt, beim Generationswechsel der Pflanzen vor. Außerdem kommen haploide Männchen bei etlichen Insektenarten (Haplodiploidie) und wohl auch bei einigen Milben vor. Auch ist ein Fall von haploiden weiblichen Tieren bekannt: Die Milbenart Brevipalpus phoenicis, ein Schädling tropischer Nutzpflanzen, besteht nur aus haploiden Weibchen, die sich parthenogenetisch vermehren. Einer Untersuchung zufolge sind es eigentlich genetische Männchen, die durch eine Infektion mit Bakterien zu Weibchen verändert werden. Verweiblichung durch Bakterieninfektion ist auch bei anderen Gliederfüßern bekannt, meist durch Wolbachia. Bei manchen Arten kommen Chromosomensätze vor, die sich aus mehr als zwei einfachen zusammensetzen. Auch diese sind also nicht zweifach, diploid, sondern weisen höhere Ploidiegrade auf. Sie werden bei 3n als triploid, bei 4n als tetraploid, bei 6n als hexaploid etc. bezeichnet, oder allgemein als polyploid. Bei Pflanzen wird in der Regel die Anzahl an Chromosomen im haploiden Genom eines Organismus Grundzahl oder Basiszahl genannt und mit x bezeichnet. Stellt die Chromosomenzahl ein ganzzahliges Vielfaches der Grundzahl dar, so wird von Euploidie gesprochen. Diploide Pflanzen haben dann 2x Chromosomen, tetraploide 4x usw. Das Genom einer tetraploiden Pflanze beispielsweise mit der Grundzahl x = 7 hat dann 4x = 28 Chromosomen. Tetraploidie ist nach Diploidie wohl der zweithäufigste Ploidiegrad. Er wurde bei vielen Blütenpflanzen, Insekten und auch bei Amphibien beobachtet. Tetraploidie kann zustande kommen, indem nach DNA-Replikation und Chromatidenverdopplung eine Zellteilung verhindert wird. Viele Nutzpflanzen, z. B. bei den Getreidesorten, entstanden durch Polyploidisierung aus diploiden Wildformen. Bei Pflanzen kommen auch noch höhere Ploidiegrade vor. Sie können beispielsweise entstehen, wenn zwei Arten gekreuzt werden und die Kinder alle Chromosomen der Eltern behalten. Man spricht dann von Additionsbastarden. Hexaploid ist beispielsweise der moderne Saatweizen. Triploide Individuen können entstehen, wenn sich diploide und tetraploide Individuen paaren. Dies ist möglich, wenn beide zu nahe verwandten Arten gehören. Allerdings werden triploide Individuen in der Regel steril sein, da der aus einer ungeraden Anzahl einfacher zusammengesetzte Chromosomensatz zu Schwierigkeiten bei der Paarung der Chromosomen während der Meiose führt. Ausnahmen, also fortpflanzungsfähige triploide Individuen, wurden bei den Amphibien entdeckt. Hier kommen manchmal Diploidie, Tetraploidie und auch Triploidie in nahe verwandten Arten oder in der gleichen Art nebeneinander vor. Beim Wasserfrosch wird einer der geerbten einfachen Chromosomensätze vor Eintritt in die Meiose gezielt eliminiert (siehe auch Teichfrosch). In Pakistan wurde eine lokal begrenzte, triploide Population der Wechselkröte gefunden, bei der dies ebenfalls festzustellen ist. Zumindest theoretisch kann ein fließender Übergang beispielsweise von tetraploid zu diploid bestehen. In einem tetraploiden Lebewesen sind alle Chromosomenpaare doppelt vorhanden. Veränderungen an einem der beiden Paare, zum Beispiel der Verlust einzelner Gene, können daher toleriert werden. Auch können sich die Genkopien auf den beiden Paaren während der weiteren Evolution auseinanderentwickeln und verschiedene Funktionen übernehmen. Chromosomenmutationen (siehe unten) an nur einem der beiden Paare sind ebenfalls möglich. Kommen viele solche Veränderungen im Lauf der Zeit zusammen, so haben sich schließlich die ursprünglich gleichen Chromosomenpaare so weit auseinanderentwickelt, dass nicht mehr von vierfachen Chromosomensätzen gesprochen werden kann: Nun liegt wieder Diploidie vor. Für die frühe Entstehungsgeschichte der Wirbeltiere sind zwei Runden solcher Genomduplikationen vorgeschlagen worden („2R-Hypothese“), womit sich die heutigen diploiden Wirbeltiere aus ursprünglich oktaploiden (8n) Lebewesen entwickelt hätten. Dies würde erklären, warum beispielsweise die Hox-Gen-Cluster pro haploidem Genom der Wirbeltiere viermal vorkommen, bei anderen Tieren aber nur einmal. Der Ploidiegrad einzelner Körperzellen eines Mehrzellers kann durchaus vom Ploidiegrad des Organismus abweichen. Das bekannteste Beispiel hierfür sind die Polytänchromosomen mancher Insekten (siehe oben). Aber auch für die Rattenleber wurden beispielsweise neben den vorherrschenden diploiden Zellen in seltenen Fällen auch haploide, triploide und tetraploide Zellen beschrieben. Tetraploidie entsteht leicht durch Verdopplung (Reduplikation) der Chromosomen ohne nachfolgende Kernteilung, also durch Endoreduplikation oder Endomitose. Über Haploidie sowie Triploidie bei Körperzellen von diploiden Organismen ist so selten berichtet worden, dass hier womöglich experimentelle Fehler oder Artefakte nicht auszuschließen sind. Der potentielle Entstehungsmechanismus ist ungeklärt. Hohe Ploidiegrade gehen mit entsprechend größeren Zellkernen einher. Aufgrund der größeren Menge an genetischem Material können so auch sehr große Körperzellen versorgt werden. Karyogramm Als Karyogramm bezeichnet man eine sortierte Darstellung der Chromosomen eines Metaphasepräparats. Diese Präparate werden erstellt, indem Zellkulturen mit einem Mittel versetzt werden, das die Bildung von Mikrotubuli verhindert, z. B. Colchizin oder Nocodazol. Dadurch kann sich kein Spindelapparat ausbilden, und die Zelle kann nicht in Anaphase gehen. Als Folge sammeln sich etliche Zellen in der Metaphase (siehe oben) an, und die Ausbeute wird entsprechend erhöht. Die Zellen werden hypoton behandelt, wodurch sie anschwellen, fixiert und auf einen Objektträger aufgetropft, wodurch die Metaphasechromosomen nebeneinander zu liegen kommen (siehe erste Abbildung oben). Die Chromosomen werden angefärbt, fotografiert und im Karyogramm der Größe nach angeordnet, so dass der Karyotyp bestimmt werden kann (siehe Abbildung rechts). Karyogramme werden sowohl bei der Untersuchung der Karyotypen von Organismen als auch in der klinischen Anwendung bei Verdacht auf Chromosomenveränderungen eingesetzt. Chromosomenmutationen Dauerhafte Veränderungen an den Chromosomen können auftreten, wenn an mindestens zwei Stellen Brüche in der DNA-Doppelhelix auftreten. In den meisten Fällen werden DNA-Doppelstrangbrüche wieder korrekt repariert, so dass es nicht zu bleibenden Veränderungen kommt. Werden jedoch bei einer DNA-Reparatur von zwei verschiedenen Brüchen die falschen Enden zusammengefügt, so kommt es zu Chromosomenmutationen. Liegen die Bruchpunkte auf dem gleichen Chromosom, können Deletionen (Verlust eines Abschnitts) oder Inversionen (umdrehen) auftreten. Ein weiterer Mutationstyp innerhalb eines Chromosoms ist die Duplikation (Verdopplung eines Abschnitts). Sind die Doppelstrangbrüche auf verschiedenen Chromosomen, so kann es zu Translokationen kommen. Diese Phänomene werden in ihren eigenen Artikeln ausführlicher beschrieben. Chromosomenmutationen spielen sowohl bei der Chromosomenevolution als auch im klinischen Bereich eine Rolle. Bezüglich der klinischen Bedeutung sind Erbkrankheiten (siehe auch unten), Tumorentstehung (z. B. das Philadelphia-Chromosom) und Strahlenbiologie zu nennen. Von den genannten strukturellen Veränderungen sind zahlenmäßige Veränderungen zu unterscheiden, also ein zusätzliches oder ein fehlendes Chromosom. Diese werden nicht als Chromosomenmutation bezeichnet. Da nur ein einzelnes Chromosom betroffen ist, spricht man von Trisomie (nicht Triploidie) oder Monosomie (siehe Chromosomenaberration). Chromosomenevolution Als Chromosomenevolution wird die Veränderung von Chromosomen im Lauf der Evolution bezeichnet. Ähnlich wie an äußeren körperlichen Merkmalen oder an der Sequenz einzelner Gene lässt sich auch an den Chromosomen die Stammesgeschichte nachvollziehen. Beispielsweise sind die Chromosomen des Menschen (46 Stück) denen der großen Menschenaffen (Schimpansen, Gorillas und Orang-Utans, je 48 Chromosomen) sehr ähnlich. Es gibt innerhalb dieser Artengruppe nur zwei zwischen-chromosomale Umbauten. Spezifisch menschlich ist das Chromosom 2. Bei den anderen genannten Arten finden sich statt diesem zwei kleinere Chromosomen, die die entsprechenden Gensequenzen enthalten (siehe Abbildung). Gorilla-spezifisch ist dagegen eine Translokation zwischen jenen Chromosomen, die den menschlichen Chromosomen 5 und 17 entsprechen. Daraus ergibt sich der ursprüngliche Karyotyp der Gruppe mit 48 Chromosomen, so wie er heute noch bei Schimpansen und Orang-Utans vorhanden ist. Eine evolutionär stabile Veränderung der Chromosomen ist nur möglich, wenn eine Chromosomenmutation in der Keimbahn auftritt. Eine „balancierte“ Veränderung, bei der alle Chromosomenabschnitte in der richtigen Anzahl vorhanden sind, hat dabei für den Träger zunächst keinen Krankheitswert. Es kommt jedoch zu Schwierigkeiten bei der Meiose. Die Veränderung tritt ja zunächst nur an jeweils einem Chromosom auf (bzw. an zweien bei Fusionen oder Translokationen), nicht aber an den jeweiligen homologen Chromosomen. Da also anders als sonst identisch aufgebaute Partner fehlen, kommt es nicht zu einer normalen meiotischen Paarung. Das Risiko für Segregationsfehler und daraus resultierende Keimzellen mit überzähligen oder fehlenden chromosomalen Abschnitten (und folglich kranken Kindern) steigt stark an. In den allermeisten Fällen werden solche Veränderungen daher in den Folgegenerationen wieder verlorengehen. Eine stabile Situation wird nur dann erreicht, wenn beide Kopien der beteiligten Chromosomen die entsprechende Veränderung tragen. Dies könnte beispielsweise geschehen, wenn ein dominantes Männchen mit einer Veränderung zahlreiche Kinder hat, die sich wiederum untereinander paaren, so dass Enkel mit der Veränderung auf beiden Kopien der beteiligten Chromosomen entstehen. Diese Nachkommen haben nun keinen Selektionsnachteil, wenn sie sich untereinander paaren. Bei der Paarung mit Individuen mit den ursprünglichen Chromosomen tritt jedoch bei entstehenden Kindern bedingt durch Segregationsfehler wiederum eine verminderte Fruchtbarkeit auf. Es wird daher vermutet, dass „fixierte“ Chromosomenveränderungen ein Mechanismus zur Artbildung sind. Näher verwandte Arten oder Artgruppen müssen nicht immer ähnlichere Chromosomen haben als weiter entfernte Arten. Beispielsweise ähneln Chromosomen der großen Menschenaffen einschließlich des Menschen sehr stark denen von Makaken (Macaca fuscata). Die Chromosomen der näher verwandten kleinen Menschenaffen (Gibbons) unterscheiden sich jedoch sowohl von denen der großen Menschenaffen als auch denen der Makaken sehr stark. Durch zahlreiche Umbauten sind nur fünf der Gibbon-Chromosomen auf ihrer ganzen Länge (nur) einem menschlichen Chromosom homolog. Offensichtlich gehen also evolutionäre Veränderungen im Karyotyp in manchen Gruppen (z. B. den Gibbons) sehr viel schneller voran als in anderen (Makaken, große Menschenaffen). Es wird vermutet, dass dies nicht an einer höheren Mutationsrate liegt, sondern an einer häufigeren Fixierung von aufgetretenen Veränderungen. Eine Ursache hierfür könnten unterschiedliche Lebensstile bzw. Sozialverhalten sein. Gibbons leben in kleinen Gruppen, in denen sich Chromosomenveränderungen schneller durchsetzen könnten als in großen Herden. Bei Gibbons finden sich chromosomale Polymorphismen (Unterschiede) im Karyotyp von untersuchten Tieren der gleichen Art, die darauf hindeuten, dass die schnelle Chromosomenevolution in dieser Tiergruppe nach wie vor anhält. Die verhältnismäßig große Anzahl der Polymorphismen deutet allerdings auch darauf hin, dass der selektive Nachteil von Mischformen möglicherweise geringer ist als ursprünglich gedacht. Chromosomen beim Menschen Menschen haben 46 Chromosomen, davon 2 Geschlechtschromosomen oder Gonosomen (XX bei Frauen, XY bei Männern, siehe oben: Geschlechtsbestimmung). Die Chromosomen der übrigen 22 Chromosomenpaare werden als Autosomen bezeichnet. Die Autosomen wurden ihrer Größe im mikroskopischen Präparat entsprechend von 1 bis 22 durchnummeriert. Menschen sind wie andere Säugetiere diploid, eine Zelle hat also einen doppelten Chromosomensatz: Es sind je zwei Exemplare der Chromosomen 1 bis 22 vorhanden, dazu die beiden Geschlechtschromosomen. Eigenschaften der Geschlechtschromosomen Obwohl sich das X-Chromosom mit 155 Megabasen und das Y-Chromosom mit 59 Megabasen in ihrer Größe stark unterscheiden, haben sie auch Gemeinsamkeiten. An beiden Enden enthalten sie Regionen, in denen sich die DNA-Sequenz zwischen X- und Y-Chromosom stark ähnelt, die pseudoautosomale Regionen (PAR). In den PAR befinden sich mehrere Gene, die also in beiden Geschlechtern doppelt vorhanden sind, und die auch nicht der X-Inaktivierung unterliegen. In diesen Regionen ist während der Meiose eine Rekombination zwischen X- und Y-Chromosom möglich. Auch in nicht rekombinierenden Regionen des Y-Chromosoms haben etwa die Hälfte der Gene Entsprechungen auf dem X-Chromosom. Dies sind vor allem Gene des Grundstoffwechsels. Zwei der Gene, die auch auf dem X-Chromosom vorkommen, sind nur im Hoden aktiv. Die übrigen Gene ohne Entsprechung auf dem X-Chromosom sind ebenfalls nur im Hoden aktiv, bestimmen das männliche Geschlecht und steuern die Spermien-Produktion. Ein Verlust eines Stückes des langen Armes nahe dem Zentromer führt zu Kleinwuchs. Genom- und Chromosomenmutationen mit klinischer Bedeutung Durch Chromosomenaberrationen, also Chromosomenmutationen, Chromosomeninstabilität, Chromosomenbrüche oder eine andere Anzahl von Chromosomen (numerische Chromosomenaberration oder Genommutation), kann es zu klinischen Syndromen mit zum Teil schwerwiegender Symptomatik kommen. Eine Zuordnung der Krankheitsbilder zu entweder Chromosomenmutationen oder numerischen Chromosomenaberration ist nicht immer möglich. So wird z. B. das Down-Syndrom in den meisten Fällen durch ein zusätzliches, komplettes Chromosom 21 verursacht (freie Trisomie). Etwa 3 % der Fälle beruhen jedoch auf Translokationen, bei denen ein Teil des Chromosoms 21 an ein anderes Chromosom fusioniert ist. Nur dieser Teil ist dann dreifach vorhanden. Die folgenden Syndrome sind meist in ihren jeweils eigenen Artikeln ausführlich behandelt und hier nur übersichtsartig dargestellt. Autosomale Trisomien Freie Trisomien bei Lebendgeborenen sind bei den Autosomen nur für die Chromosomen 21, 18 und 13 bekannt. Alle drei gehören zu den genarmen Chromosomen (vergleiche zweite Abbildung im Abschnitt G-, R- und andere Chromosomenbanden oben). Daraus lässt sich schließen, dass freie Trisomien der anderen Autosomen mit dem Leben unvereinbar sind. Down-Syndrom oder Trisomie 21 (dreifaches/trisomes Vorliegen von Erbmaterial des Chromosoms 21 in allen oder einigen Körperzellen). Vorkommen: 1 Fall auf 600–800 Neugeborene. Wichtige Symptome sind u. a. Herzfehler und Intelligenzminderung. Während früher die meisten Betroffenen im Kindesalter an Infektionskrankheiten starben, liegt die durchschnittliche Lebenserwartung heute bei über 60 Jahren. Edwards-Syndrom oder Trisomie 18 (dreifaches/trisomes Vorliegen von Erbmaterial des Chromosoms 18 in allen oder einigen Körperzellen). Vorkommen: 1 Fall auf 2.500 Neugeborene. Organfehlbildungen sind vielfältig, u. a. Herzfehler und Nierenmissbildungen. Schwere Intelligenzminderung (keine Sprache), das Erwachsenenalter wird nur ausnahmsweise erreicht. Pätau-Syndrom oder Trisomie 13 (dreifaches/trisomes Vorliegen von Erbmaterial des Chromosoms 13 in allen oder einigen Körperzellen). Vorkommen: 1 Fall auf 6.000 Neugeborene. Häufige Symptome sind u. a. Herzfehler, Lippen-Kiefer-Gaumenspalten, Polydaktylie (Vielfingerigkeit) und schwere Intelligenzdefekte. Das Erwachsenenalter wird nur ausnahmsweise erreicht. Trisomie 8 (dreifaches/trisomes Vorliegen von Erbmaterial des Chromosoms 8 in einigen Körperzellen). Häufige Symptome sind u. a. tiefe Hand- und Fußlinien, Wirbelmissbildungen, Neuralrohrfehlbildungen (häufig Spina bifida aperta) und Großwuchs. Abweichungen bei der Zahl der Geschlechtschromosomen Ullrich-Turner-Syndrom (45,X). Fehlendes zweites Geschlechtschromosom. Vorkommen: 1 Fall auf 3.000 Neugeborene. Frauen mit diesem Syndrom haben unterentwickelte weibliche Geschlechtsmerkmale, eine kleine Statur, einen tiefen Haaransatz, eine ungewöhnliche Augen- und Knochenentwicklung, eine Trichterbrust und sind meist unfruchtbar. Die Intelligenz ist normal ausgeprägt, manchmal sind räumliches Vorstellungsvermögen oder mathematische Fähigkeiten unterdurchschnittlich. Triplo-X-Syndrom (47,XXX). Das Triplo-X-Syndrom ist die klinisch unauffälligste Chromosomenaberration. Vermutlich werden viele Fälle nie festgestellt. Intelligenz ist meist niedriger als bei Geschwistern. Die Fruchtbarkeit kann leicht herabgesetzt sein. Die Nachkommen zeigen eine kaum erhöhte Rate von Chromosomenaberrationen. 48,XXXX und 49,XXXXX. Mit zunehmender Zahl der X-Chromosomen sinken die Intelligenz und die Fruchtbarkeit. Klinefelter-Syndrom (fast immer 47,XXY; selten 48,XXXY oder 49,XXXXY). 1 Fall auf 1.000 männliche Neugeborene. Männer mit diesem Syndrom sind oft unfruchtbar, groß, haben ungewöhnlich lange Arme und Beine, eine Tendenz zur Ausbildung von Brüsten (Pseudo-Gynäkomastie) und eine reduzierte Körperbehaarung. Der Intelligenzquotient liegt durchschnittlich um 10 niedriger als bei Geschwistern. XYY-Syndrom (47,XYY). Männer mit diesem Syndrom sind meist phänotypisch unauffällig und werden zufällig diagnostiziert. Die Lebenserwartung ist nicht eingeschränkt, die Fruchtbarkeit fast normal, sie sind durchschnittlich 10 cm größer als ihre Brüder und die Intelligenz im Vergleich zu Geschwistern leicht vermindert. Vereinzelt können mit der Chromosomenaberration assoziierte Störungen wie Hodenhochstand vorkommen. Höhergradige Y-Polysomien: 48,XXYY Männer sind ähnlich den XYY Männern, jedoch unfruchtbar und mit Tendenz zu geringerer Intelligenz. Letztere verstärkt sich bei 48,XYYY und den sehr seltenen 49,XYYYY Männern. Auch treten Organfehlbildungen auf. Markerchromosomen Markerchromosomen sind alle nicht ohne weiteres definierbaren Chromosomen, die zusätzlich zu den normalen Chromosomen auftreten. Sie bestehen aus Material der normalen Chromosomen, sind aber meist klein, so dass eine Identifizierung durch G-Bänderung (siehe oben) nicht möglich ist. Diese kann mit hochauflösender Fluoreszenz-in-situ-Hybridisierung erreicht werden. Deletionen auf Autosomen Monosomien von Autosomen kommen nicht vor. Die damit einhergehenden Schäden sind offenbar mit dem Leben unvereinbar. Es gibt jedoch eine Vielzahl unterschiedlicher Deletionen von Teilstücken eines Autosoms, die teilweise nur aus wenigen klinischen Fällen bekannt sind. Die folgende Liste ist daher nicht vollständig und umfasst nur die bekanntesten Beispiele. Obwohl noch nicht lange bekannt, ist eine Deletion des Endes des kurzen Arms von Chromosom 1 vermutlich die häufigste Deletion (1 Fall auf 5.000–10.000 Neugeborene). Die Symptome sind wenig einheitlich, meistens liegt schwere geistige Behinderung vor. Das Cri-du-chat-Syndrom (Katzenschrei-Syndrom) wird durch Deletion des Endes des kurzen Arms von Chromosom 5 verursacht. Sie wurde als erste autosomale Deletion 1963 beschrieben. Die Häufigkeit liegt etwa bei einem Fall auf 50.000 Neugeborene. Im frühen Kindesalter fallen die Kinder durch ein hohes Schreien auf, das an das Schreien von Katzen erinnert und das durch Fehlbildungen des Kehlkopfs bedingt wird. Sie haben weit auseinander liegende Augen (Hypertelorismus), einen kleinen Kopf (Mikrozephalie) und Kiefer und sind in ihrer Intelligenz gemindert. Da innere Organe meist nicht betroffen sind, sind die Überlebenschancen vergleichsweise gut. Das Wolf-Hirschhorn-Syndrom wird durch Deletion des Endes des kurzen Arms von Chromosom 4 hervorgerufen. Die Häufigkeit liegt ebenfalls bei etwa einem Fall auf 50.000 Neugeborene. Betroffene sind kognitiv meist schwer beeinträchtigt und haben Wachstumsstörungen. Weniger als die Hälfte der Kinder überleben die ersten 18 Monate. Das De-Grouchy-Syndrom kommt in zwei Varianten vor, die durch Deletionen der verschiedenen Arme des Chromosoms 18 verursacht werden. Weitere Beispiele sind das Williams-Beuren-Syndrom (7q11.23) und das Smith-Magenis-Syndrom (17p11.2 – Häufigkeit zwischen 1:15.000 bis 1:25.000 Geburten angegeben). Eine Besonderheit stellen Deletionen der Region 15q11.2-q12 dar. Diese Region unterliegt einer epigenetischen Regulation, dem „Imprinting“: Je nachdem, ob diese Region vom Vater oder von der Mutter vererbt wurde, sind bestimmte Gene aktiv oder inaktiv. Normalerweise sind beide Fälle jeweils einmal vorhanden. Fehlt jedoch einer der beiden, z. B. durch Deletion, so unterscheiden sich die Krankheitsbilder, je nachdem ob eine von der Mutter vererbte (Angelman-Syndrom) oder eine vom Vater vererbte (Prader-Willi-Syndrom) Region fehlt. Der ICD-10-Code O35.1 wird bei der Betreuung einer werdenden Mutter bei (Verdacht auf) Chromosomenbesonderheit beim ungeborenen Kind angegeben. Prokaryotische und virale „Chromosomen“ Die prokaryotischen Lebewesen, also Bakterien und Archaeen, besitzen keinen Zellkern und haben auch keine Chromosomen im klassischen Sinn. Träger der Erbinformation sind hier ein oder mehrere zumeist zirkuläre DNA-Moleküle, die gelegentlich als Bakterienchromosom bezeichnet werden. In den Mitochondrien und Chloroplasten der Eukaryoten ist die DNA ebenfalls üblicherweise ringförmig und ähnelt einem Bakterienchromosom (vgl. Endosymbiontentheorie). Ihre DNA wird gelegentlich formal als zusätzliches, nicht-nukleäres Chromosom geführt und Chondriom beziehungsweise Plastom genannt. Die Verpackung der langen DNA-Moleküle auf kleinsten Raum erfolgt bei Archaeen ähnlich (homolog) zum Zellkern der Eukaryoten, bei Bakterien dagegen ähnlich zu den Organellen derselben (siehe Endosymbiontentheorie). Auch bei Viren, deren Genom aus einem oder mehreren Nukleinsäuremolekülen (DNA oder RNA) besteht, werden diese Segmente gelegentlich als Chromosom bezeichnet. Beispielsweise besteht das RNA-Genom von Influenza-A-Viren aus acht solchen Segmenten (Chromosomen). Literatur John Sedat, Angus McDonald, Herbert Kasler, Eric Verdin, Hu Cang, Muthuvel Arigovindan, Cornelis Murre, Michael Elbaum: A proposed unified mitotic chromosome architecture. In: Proc Natl Acad Sci USA 119, 20, 2022: e2119107119. PDF. Bastiaan Dekker, Job Dekker: Regulation of the mitotic chromosome folding machines. In: Biochem J 479, 20, 2022: 2153–2173. PDF. Ensieh Khazaei, Ala Emrany, Mostafa Tavassolipour, Foroozandeh Mahjoubi, Ahmad Ebrahimi, Seyed Abolfazl Motahari: Automated analysis of karyotype images. In: J Bioinform Comput Biol 20, 3, 2022: 2250011. doi:10.1142/S0219720022500111. Alessio Iannucci, Alexey I Makunin, Artem P Lisachov, Claudio Ciofi, Roscoe Stanyon, Marta Svartman, Vladimir A Trifonov: Bridging the gap between vertebrate cytogenetics and genomics with Single-chromosome Sequencing (ChromSeq). In: Genes (Basel) 12, 2021: 124. PDF. Isha Pathak, Bruno Bordoni: Genetics, Chromosomes. StatPearls Publishing, Treasure Island, Florida 2021. (ncbi.nlm.nih.gov, online-Buch) Marco Di Stefano, David Castillo, François Serra, Irene Farabella, Mike N. Goodstadt, Marc A. Marti-Renom: Analysis, modeling, and visualization of chromosome conformation capture experiments. In: B. Bodega, C. Lanzuolo (Hrsg.): Capturing Chromosome Conformation. In: Methods in Molecular Biology. Band 2157, 2021. Humana, New York NY. doi:10.1007/978-1-0716-0664-3_4. Rachel P. 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Weblinks Lexikon der Biologie: Chromosomen Chromosomen; Chromosomentheorie (Teil II) Chromosomenstrukturen und strukturelle Veränderungen der Chromosomen Feinbau der Chromosomen Miniaturbildübersicht Chromosomen Morphologie menschlicher Chromosomen Chromosomenzahlen zur Flora von Deutschland Einzelnachweise Siehe auch Genkopplung Nukleinsäure Entwicklungsbiologie Genetik
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https://de.wikipedia.org/wiki/Max%20Liebermann
Max Liebermann
Max Liebermann (geboren am 20. Juli 1847 in Berlin; gestorben am 8. Februar 1935 ebenda) war ein deutscher Maler und Grafiker. Er gehört zu den bedeutendsten Vertretern des deutschen Impressionismus. Nach einer Ausbildung in Weimar und Aufenthalten in Paris und den Niederlanden schuf er zunächst naturalistische Werke mit sozialer Thematik. Durch die Beschäftigung mit den französischen Impressionisten fand er seit 1880 zu einer lichten Farbigkeit und einem schwungvollen Farbauftrag, der sein Hauptwerk prägt. Sein Schaffen steht symbolisch für den Übergang von der Kunst des 19. Jahrhunderts hin zur Klassischen Moderne zur Zeit des Wilhelminismus und der Weimarer Republik. Diesen Wandel förderte er als Präsident der Berliner Secession. Von 1920 bis 1932 war er Präsident, dann Ehrenpräsident der Preußischen Akademie der Künste. Als Repräsentant der Republik und Jude verließ er 1933 angesichts der Gleichschaltungspolitik der Nationalsozialisten die Akademie. Seine letzten beiden Lebensjahre verbrachte er zurückgezogen in seiner Heimatstadt Berlin. Leben und Werk Jugend Max Liebermann war ein Sohn des wohlhabenden Industriellen Louis Liebermann und dessen Frau Philippine (geborene Haller). Die Familie Liebermann war jüdischen Glaubens. Sein Großvater Josef Liebermann, ein Textilunternehmer, der das bedeutende Liebermann’sche Vermögen begründet hatte, war auch der Großvater Emil Rathenaus, Carl Liebermanns und Willy Liebermanns von Wahlendorf. Der Kunstsammler Adolf Liebermann von Wahlendorf war sein Onkel. Nur drei Tage nach Max’ Geburt trat das Gesetz über die Verhältnisse der Juden vom 23. Juli 1847 in Kraft, das den Juden in Preußen größere Rechte einräumte. Er hatte fünf Geschwister, darunter den älteren Bruder Georg Liebermann, den späteren Unternehmer, und den jüngeren Bruder, den Historiker Felix Liebermann. Zur weitläufigeren Verwandtschaft zählten ferner der Pianist Erich Liebermann-Roßwiese und der Komponist Rolf Liebermann, ebenfalls Nachfahren Josef Liebermanns. Im Jahr 1851 zogen die Liebermanns in die Behrenstraße, von der aus Max künftig eine nahe gelegene humanistische Kleinkinderschule besuchte. Bald war ihm diese, wie jede spätere Lehranstalt, verhasst. Nach der Primarschule wechselte Liebermann auf die Dorotheenstädtische Realschule. Max vertrieb sich immer mehr durch Zeichnen die Zeit, was von seinen Eltern verhalten gefördert wurde. Als er zehn Jahre alt war, erwarb sein Vater Louis das repräsentative Palais Liebermann, am Pariser Platz 7, direkt nördlich an das Brandenburger Tor angrenzend. Die Familie besuchte die Gottesdienste der Reformgemeinde und kehrte sich zunehmend von der orthodoxeren Lebensweise des Großvaters ab. Obwohl das Haus der Liebermanns große Salons und zahlreiche Schlafräume besaß, hielten die Eltern ihre drei Söhne an, in einem gemeinsamen Zimmer zu schlafen. Dieses war zudem mit einem Glasfenster in der Wand versehen, damit man von außen die Schularbeiten beaufsichtigen konnte. Als Louis Liebermann 1859 ein Ölgemälde seiner Frau in Auftrag gab, begleitete Max Liebermann seine Mutter zur Malerin Antonie Volkmar. Aus Langeweile bat er selbst um einen Stift und begann zu zeichnen. Noch als alte Frau war Antonie Volkmar stolz, Liebermann entdeckt zu haben. Seine Eltern waren nicht begeistert von der Malerei, aber wenigstens verweigerte ihr Sohn in diesem Fall den Besuch von Lehranstalten nicht. An seinen schulfreien Nachmittagen erhielt Max fortan privaten Malunterricht bei Eduard Holbein und Carl Steffeck. In der Familie, die verwandtschaftliche Beziehungen zu anderen bedeutenden jüdischen Bürgerfamilien pflegte, galt Max als nicht besonders intelligent. In der Schule schweiften seine Gedanken häufig ab, weshalb er unpassende Antworten gab. Daraus resultierten Hänseleien der Klassenkameraden, die ihm unerträglich wurden, sodass er sich mehrmals in vermeintliche Krankheiten flüchtete. Seine Eltern brachten ihm zwar Liebe und Unterstützung entgegen, doch hielten sie ihm insbesondere das Bild seines älteren, „vernünftigen“ Bruders Georg entgegen, was das Gefühl des Andersseins in Max nur noch verstärkte. Max’ zeichnerische Begabung galt den Eltern nicht viel: Bei der ersten Veröffentlichung seiner Werke verbot der Vater dem 13-Jährigen die Nennung des Namens Liebermann. Als weiterführende Schule wählte Louis Liebermann für seine Söhne das Friedrichwerdersche Gymnasium, auf dem auch die Söhne Bismarcks lernten. 1862 besuchte der 15-jährige Max eine Veranstaltung des jungen Sozialisten Ferdinand Lassalle, dessen leidenschaftliche Ideen den Millionärssohn faszinierten. 1866 machte Max Liebermann das Abitur. Später behauptete er, ein schlechter Schüler gewesen zu sein und die Prüfungen nur mit Mühe überstanden zu haben: In Wahrheit war er nur in Mathematik keiner der besseren Schüler, seine Beteiligung galt in den höheren Stufen als „anständig und wohlgesittet“. In den Abiturprüfungen kam er auf den vierten Platz in seinem Jahrgang, doch in seiner Familie fühlte sich Max stets als ein „schlechter Schüler“. Studium und frühes Schaffen Max Liebermann schrieb sich nach dem Abitur auf der Friedrich-Wilhelm-Universität ein. Er wählte das Fach Chemie, in dem sein Cousin Carl Liebermann Erfolg hatte. Das Chemie-Studium sollte allerdings nur als Vorwand dienen, sich der Kunst und der Freizeit widmen zu können und gleichzeitig vor dem Vater zu bestehen. Daher wurde es von Max Liebermann niemals ernsthaft betrieben. Statt die Vorlesungen zu besuchen, ritt er im Tiergarten aus und malte. Bei Carl Steffeck durfte er zudem immer häufiger Gehilfenaufgaben bei der Gestaltung monumentaler Schlachtenbilder wahrnehmen. Dort lernte er Wilhelm Bode kennen, den späteren Förderer Liebermanns und Direktor des Kaiser-Friedrich-Museums. Am 22. Januar 1868 exmatrikulierte die Universität Berlin Liebermann wegen „Studienunfleiß“. Nach einem intensiven Konflikt mit dem Vater, der vom Weg seines Sohnes nicht angetan war, ermöglichten ihm seine Eltern den Besuch der Großherzoglich-Sächsischen Kunstschule in Weimar. Dort wurde er Schüler des belgischen Historienmalers Ferdinand Pauwels, der ihn bei einem Besuch der Klasse im Fridericianum in Kassel Rembrandt näher brachte. Die Begegnung mit Rembrandt beeinflusste den Stil des jungen Liebermann nachhaltig. Im Deutsch-Französischen Krieg 1870 war er kurzzeitig vom allgemeinen patriotischen Taumel ergriffen. Er meldete sich freiwillig bei den Johannitern, da ihn ein schlecht verheilter Armbruch vom regulären Kriegsdienst abhielt, und diente als Sanitäter bei der Belagerung von Metz. 1870/1871 zogen insgesamt 12.000 Juden auf deutscher Seite in den Krieg. Die Erlebnisse auf den Schlachtfeldern schockierten den jungen Künstler, dessen Kriegsbegeisterung deshalb nachließ. Pfingsten 1871 kam Max Liebermann mit Theodor Hagen, seinem neuen Lehrer für Landschaftsmalerei in Weimar, nach Düsseldorf, wo eine Genremalerei in der Tradition niederländischer Malerei gepflegt wurde und wo der Einfluss französischer Kunst stärker präsent war als in Berlin. Dort traf er Mihály von Munkácsy, der seit 1868 bei Ludwig Knaus dessen Genremalerei studierte. Munkàcsys Gemälde Die Scharpiezupferinnen, ein realistisches Genrebild Wolle zupfender Frauen, also einer schlichten Szene des Alltags, weckte bei Liebermann Interesse. Von seinem Bruder Georg finanziert, reiste er danach zum ersten Mal in die Niederlande, nach Amsterdam und Scheveningen, wo ihn Licht, Menschen und Landschaft begeisterten. Sein erstes großes Gemälde Die Gänserupferinnen entstand in den Monaten nach seiner Rückkehr. Es zeigt in dunklen Farbtönen die unbeliebte, prosaische Tätigkeit des Gänserupfens. Darin hat Liebermann neben dem Naturalismus Munkácsys auch Elemente der Historienmalerei mit einfließen lassen. Beim Anblick des noch unfertigen Gemäldes entließ ihn sein Lehrer Pauwels: Er könne ihm nichts mehr beibringen. Als Liebermann mit dem Bild 1872 an der Hamburger Kunstausstellung teilnahm, weckte sein ungewöhnliches Sujet vor allem Abscheu und Schockierung. Zu deutlich widersetzte sich Liebermann den Konventionen der damals anerkannten Genremalerei. Zwar lobte die Kritik seine geschickte Malweise, doch erhielt er das Image als „Maler des Hässlichen“. Als das Gemälde im selben Jahr in Berlin ausgestellt wurde, stieß es zwar auf ähnliche Meinungen, aber es fand sich mit dem Eisenbahnmagnaten Bethel Henry Strousberg ein Käufer. Liebermanns Kunst galt damals in Deutschland als „Schmutzmalerei“. Sein zweites größeres Werk, die Konservenmacherinnen, schickte er daher zur großen Jahresausstellung nach Antwerpen, wo es auch gleich zwei Kaufinteressenten fand. Liebermann hatte seinen ersten Stil gefunden: Er malt realistisch und unsentimental arbeitende Menschen, ohne herablassendes Mitleid oder verklärende Romantik, aber auch ohne anzuprangern. In seinen Motiven erkennt er die natürliche Würde und muss nichts beschönigen. 1873 sah Liebermann vor den Toren Weimars Bauern bei der Rübenernte. Er entschloss sich, dieses Motiv in Öl festzuhalten, doch als Karl Gussow ihm zynisch riet, das Bild am besten gar nicht erst zu malen, kratzte Liebermann das begonnene Gemälde wieder von der Leinwand. Er fühlte sich kraftlos und ohne Antrieb. Liebermann entschloss sich, in Wien den berühmten Historien- und Salonmaler Hans Makart zu besuchen, wo er aber nur zwei Tage weilte. Stattdessen war er entschlossen, Deutschland und seiner damaligen von Liebermann als rückständig und verstaubt angesehenen Kunstszene vorerst den Rücken zu kehren. Während seiner Studienzeit an der Großherzoglich-Sächsischen Kunstschule Weimar, die mit Unterbrechungen von 1868 bis 1873 dauerte, hatte Liebermann an vier verschiedenen Adressen eine Wohnung oder ein Atelier gemietet. Nur das Haus in der heutigen Humboldtstraße (Hausnummer 18) und das sogenannte „Prellerhaus“ auf dem Campus der heutigen Bauhaus-Universität existieren noch. Das Gebäude direkt gegenüber dem Goethehaus, Liebermanns erste Wohnadresse in Weimar, ist bei einem Luftangriff 1945 zerstört worden. Ein weiteres Wohnhaus in der Amalienstraße ist ca. 1980 abgerissen worden. Neben seinen Lehrern waren am Ende seiner Weimarer Zeit auch die Kunstschüler Hieronymus Krohn und Carl Stelling wichtige Kontaktpersonen für Liebermann. Paris, Barbizon und Amsterdam Im Dezember 1873 zog Max Liebermann nach Paris und richtete in Montmartre ein Atelier ein. In der Welthauptstadt der Kunst wollte er Kontakte knüpfen zu führenden Realisten und Impressionisten. Doch die französischen Maler verweigerten dem Deutschen Liebermann jeglichen Kontakt. 1874 reichte er seine Gänserupferinnen beim Salon de Paris ein, wo das Bild zwar angenommen, aber in der Presse vor allem unter nationalistischen Gesichtspunkten negative Kritiken erhielt. Den Sommer 1874 verbrachte Liebermann erstmals in Barbizon in der Nähe des Waldes von Fontainebleau. „Munkácsy zog mich mächtig an, aber noch mehr taten es Troyon, Daubigny, Corot und vor allem Millet.“ Die Schule von Barbizon war für die Entwicklung des Impressionismus von großer Bedeutung: Sie formte die impressionistische Landschaftsmalerei und bereicherte die Strömungen der Zeit durch die Mittel der Freilichtmalerei. Dies rief in Liebermann eine Abkehr von der altmodischen, schweren Malerei Munkácsys hervor. Ihn interessierten eher die Methoden der Schule von Barbizon, als die Motive, die sie beeinflussten: So erinnerte er sich in Barbizon der Weimarer Studie Arbeiter im Rübenfeld, suchte nach einem ähnlichen Motiv und schuf die Kartoffelernte in Barbizon, die er aber erst Jahre später abschloss. Letztlich versuchte er dabei auf Millets Spuren zu wandeln und blieb nach Ansicht zeitgenössischer Kritiker mit seiner eigenen Leistung hinter ihm zurück: Die Darstellung der Arbeiter in ihrem Umfeld wirkte unnatürlich; es schien, als seien sie nachträglich in die Landschaft eingefügt. 1875 verbrachte Liebermann drei Monate in Zandvoort in Holland. In Haarlem kopierte er ausgiebig Gemälde von Frans Hals. Durch die Beschäftigung mit der Porträtmalerei Hals’ erhoffte sich Liebermann Einflüsse auf seinen eigenen Stil. Die Beschäftigung mit Frans Hals und dessen Methode des schwungvollen, undetaillierten Farbauftrags prägte Liebermanns Spätwerk ebenso wie die Einflüsse der französischen Impressionisten. Es entwickelte sich darüber hinaus zu einer Eigenart Liebermanns, zwischen Idee und Ausführung größerer Gemälde viel Zeit vergehen zu lassen. Erst als er im Herbst 1875 nach Paris zurückkehrte und ein größeres Atelier bezog, griff er Gesehenes auf und schuf ein erstes Gemälde badender Fischerjungen; dieses Motiv bannte er Jahre später erneut auf die Leinwand. Im Sommer 1876 folgte erneut ein mehrmonatiger Aufenthalt in den Niederlanden. Er setzte dort seine Hals-Studien fort. Darüber fand er später zu einem eigenen Stil, der ihm besonders bei der Porträtmalerei zugutekam. In Amsterdam traf er den Radierer William Unger, der ihn in Kontakt mit Jozef Israëls und der Haager Schule brachte. In seinem Bild Holländische Nähschule nutzt Liebermann die Wirkung des Lichts bereits impressionistisch. Über den Professor August Allebé lernte er die Portugiesische Synagoge Amsterdams kennen, was ihn zu einer malerischen Auseinandersetzung mit seiner jüdischen Herkunft verleitet. Auch entstanden erste Studien des Amsterdamer Waisenhauses. Unter dem Druck, vor seinen Eltern und sich selbst Rechenschaft ablegen zu müssen, verfiel Liebermann in Paris in tiefe Depressionen, oft war er der Verzweiflung nahe. In dieser Zeit entstanden insgesamt nur wenige Bilder, die mehrfache Teilnahme am Pariser Salon brachte für ihn auch nicht den erwünschten Erfolg. Die Kunstszene der Weltstadt konnte Liebermann nichts geben, sie hatte ihn sogar aus chauvinistischen Gründen als Künstler abgelehnt. Seine Gemälde waren nicht „französisch“ geworden. Dagegen ging größerer Einfluss von seinen regelmäßigen Holland-Aufenthalten aus. Liebermann fasste den endgültigen Entschluss, Paris zu verlassen. München 1878 begab sich Liebermann erstmals auf eine Italien-Reise. In Venedig wollte er sich Werke Vittore Carpaccios und Gentile Bellinis ansehen, um daraus neue Orientierung zu schöpfen. Dort traf er auf eine Gruppe Münchner Maler – unter ihnen Franz von Lenbach –, in deren Kreis er in Venedig drei Monate blieb und ihnen schließlich in die bayerische Hauptstadt folgte, die mit der Münchner Schule auch das deutsche Zentrum naturalistischer Kunst war. Im Dezember 1878 begann Liebermann mit der Arbeit an Der zwölfjährige Jesus im Tempel. Erste Skizzen für dieses Werk hatte er bereits in den Synagogen von Amsterdam und Venedig angefertigt. Nie zuvor inszenierte er ein Bild unter größerem Arbeitsaufwand: Die Studien der Synagogeninterieurs verband er mit individuellen Figuren, von denen er vorher Aktstudien fertigte, um sie dann bekleidet zusammenzuführen. Das Sujet tauchte er in beinahe mystisches Licht, das vom Jesuskind als leuchtende Mitte auszugehen scheint. Gegen dieses Bild brandete im ganzen Reich eine Welle der Empörung auf. Während der spätere Prinzregent Luitpold sich auf die Seite Liebermanns stellte, schrieb die Augsburger Allgemeine, der Künstler habe „den hässlichsten, naseweisesten Judenjungen, den man sich denken kann“, gemalt. In der Öffentlichkeit wurde Max Liebermann als „Herrgottsschänder“ verunglimpft. Der konservative Abgeordnete und Priester Balthasar von Daller sprach ihm als Juden im Bayerischen Landtag das Recht ab, Jesus auf diese Weise darzustellen. In Berlin führte der Hofprediger Adolf Stoecker die antisemitische Debatte um das Gemälde in verletzender Weise fort. Während der Widerstand der Kirche und der Kritiker immer unerbittlicher wurde, ergriffen bedeutende Künstlerkollegen für das Werk Partei, darunter Friedrich August von Kaulbach und Wilhelm Leibl. Malerisch erscheint es in vielem als Resümee der Epoche des jungen Liebermanns, seiner Lehrjahre. Als Reaktion auf die Kritik hat Liebermann das Bild übermalt, indem er den jungen Jesus neu gestaltete. Vom Original gibt es ein Foto, welches ein Kind, mit einem kürzeren Umhang bekleidet und dem Ansatz von Schläfenlocken und leicht vorgeschobenen Kopf und ohne Sandalen zeigt. Das übermalte Bild zeigt einen Jesus in aufrechterer Haltung mit längeren Haaren und einem längeren Gewand und Sandalen bekleidet. Zwar war Liebermann nun ein berühmter Künstler, doch die malerischen Fortschritte erfuhren im Holland-Aufenthalt 1879 einen Stillstand: So wirkt das Licht in einer damals entstandenen Ansicht einer bäuerlichen Dorfstraße fahl und unnatürlich. 1880 nahm er am Pariser Salon teil. Die Bilder, die dort gezeigt wurden, hatten eines gemeinsam: die Darstellung friedlichen Nebeneinanders arbeitender Menschen in einer harmonischen Gemeinschaft. Die gezeigte Stimmung fand Liebermann aber nicht im Umfeld des durch antisemitische Anfeindungen erhitzten München, sondern versuchte sie in seinen alljährlichen Aufenthalten in den Niederlanden aufzufangen. Zudem reiste er 1879 zu Malaufenthalten in das Dachauer Moos, nach Rosenheim und ins Inntal, wo sein Gemälde Brannenburger Biergarten entstand. Niederlande Im Sommer 1880 reiste Liebermann in das brabantische Dorf Dongen. Dort entstanden Studien, die er später zu seinem Gemälde Schusterwerkstatt verwendete. Nach Abschluss dieser Arbeit reiste er, bevor er nach München zurückkehrte, noch einmal nach Amsterdam. Dort geschah etwas, das „über seine künstlerische Laufbahn entschied“. Er warf einen Blick in den Garten des katholischen Altmännerhauses, wo schwarzgekleidete ältere Herren auf Bänken im Sonnenlicht saßen. Über diesen Augenblick sagte Liebermann später: „Es war, als ob jemand auf ebenem Wege vor sich hingeht und plötzlich auf eine Spiralfeder tritt, die ihn emporschnellt“. Er begann, das Motiv zu malen, und verwendete dabei erstmals den Effekt des durch ein Laubdach (oder andere Barrieren) gefilterten Lichtes, die später sogenannten „Liebermann’schen Sonnenflecken“, das heißt die punktuelle Darstellung von (teilweise) eigenfarbigem Licht, um eine stimmungsvolle Atmosphäre zu erzeugen. Dies deutete bereits auf das impressionistische Spätwerk Liebermanns hin. Auf dem Pariser Salon 1880 erhielt er für dieses Werk als erster Deutscher eine ehrenvolle Erwähnung. Zudem erwarb Léon Maître, ein bedeutender Sammler des Impressionismus, mehrere Gemälde Liebermanns. Durch den ersehnten Erfolg ermuntert, wandte er sich einem früheren Thema zu: Unter Verwendung älterer Studien komponierte er die Freistunde im Amsterdamer Waisenhaus (Abbildung siehe unten), ebenfalls mit „Sonnenflecken“. Im Herbst reiste Liebermann erneut nach Dongen, um dort die Schusterwerkstatt zu vollenden. Auch in diesem Werk manifestiert sich seine deutliche Hinwendung zur Lichtmalerei, gleichzeitig blieb er jedoch auch seinen früheren Arbeits-Darstellungen treu, indem er weiterhin auf verklärend-romantische Elemente verzichtete. Die Schusterwerkstatt und die Freistunde im Amsterdamer Waisenhaus fanden 1882 im Pariser Salon mit Jean-Baptiste Faure einen Käufer. Die französische Presse feierte ihn als Impressionisten. Der Sammler Ernest Hoschedé schrieb begeistert an Édouard Manet: „Wenn Sie, mein lieber Manet, es sind, der uns die Geheimnisse des Freilichts offenbarte, so versteht es dagegen Liebermann, das Licht in geschlossenem Raum zu belauschen.“ Doch anstatt sich vom Impressionismus vereinnahmen zu lassen, trat Liebermann aus der Sphäre der beliebten Lichtmalerei zurück und wandte sich in seinem Werk Rasenbleiche wieder dem Naturalismus zu. Während er an diesem Gemälde arbeitete, versuchte Vincent van Gogh Liebermann in Zweeloo zu treffen, was ihm allerdings nicht gelang. Zurück aus den Niederlanden folgte er dem Ruf der Gräfin von Maltzan ins schlesische Militsch, wo er seine erste Auftragsarbeit – eine Dorfansicht – fertigte. Rückkehr nach Berlin 1884 entschloss sich Liebermann, in seine Heimatstadt Berlin zurückzukehren, obwohl ihm bewusst war, damit auf unvermeidbare Konflikte zu stoßen. Seiner Ansicht nach würde Berlin über kurz oder lang auch in künstlerischer Hinsicht die Rolle der Hauptstadt einnehmen, da sich dort der größte Kunstmarkt befand und er die Münchner Traditionen zunehmend als Last ansah. Im Mai 1884 verlobte er sich mit der im Jahre 1857 geborenen Schwester seiner Schwägerin, Martha Marckwald. Am 14. September fand die Trauung statt, nachdem der Umzug von München nach Berlin vollzogen war. Die erste gemeinsame Wohnung nahm das Paar In den Zelten 11, am nördlichen Rand des Tiergartens. Die Hochzeitsreise führte allerdings nicht wie damals üblich nach Italien, sondern über Braunschweig und Wiesbaden nach Scheveningen in Holland. Dort schloss sich Jozef Israëls den beiden an; gemeinsam reisten sie nach Laren, wo Liebermann den Maler Anton Mauve kennenlernte. Weitere Stationen der Reise waren Delden, Haarlem und Amsterdam. Überall fertigte Liebermann Studien und sammelte Ideen, die ihn in den folgenden Jahren weitgehend ausfüllten. Nach der Rückkehr wurde er in den Verein Berliner Künstler aufgenommen. Für seine Aufnahme stimmte auch Anton von Werner, sein späterer Widersacher. Im August 1885 wurde Liebermanns einzige Tochter geboren, die den Namen „Marianne Henriette Käthe“ erhielt, jedoch nur Käthe genannt wurde. In dieser Zeit entstanden kaum Bilder: Ganz widmete er sich der Rolle des Vaters. Gegenüber der Familie Liebermann wohnten Carl und Felicie Bernstein. Bei den außergewöhnlich kultivierten Nachbarn sah Max Liebermann Gemälde Édouard Manets und Edgar Degas’, die ihn sein ganzes weiteres Leben begleiteten. Zudem konnte er sich in ihrem Kreise erstmals als akzeptiertes Mitglied der Berliner Künstlergemeinschaft fühlen: Max Klinger, Adolph Menzel, Georg Brandes und Wilhelm Bode gingen dort ebenso ein und aus wie Theodor Mommsen, Ernst Curtius und Alfred Lichtwark. Letzterer, der Direktor der Hamburger Kunsthalle, erkannte früh Liebermanns impressionistisches Potential. Dessen Beitritt in die Gesellschaft der Freunde erleichterte ebenfalls das Erreichen gesellschaftlicher Akzeptanz in der bourgeoisen Oberschicht. Nach acht Jahren Abwesenheit aus Berlin nahm Liebermann 1886 erstmals wieder an der Ausstellung der Akademie der Künste teil. Für die Ausstellung wählte er die Gemälde Freistunde im Amsterdamer Waisenhaus, Altmännerhaus in Amsterdam und Das Tischgebet aus. Das Tischgebet, das eine niederländische Bauernfamilie in düster-stimmungsvoller Szenerie beim Gebet zeigt, war auf Anregung Jozef Israëls während der Hochzeitsreise entstanden. Der „Meinungsmacher“ Ludwig Pietsch bezeichnete Liebermann als großes Talent und herausragenden Vertreter der Moderne. Im Sommer 1886 fuhr Martha Liebermann mit ihrer Tochter zur Kur nach Bad Homburg vor der Höhe, was ihrem Mann Gelegenheit bot, in Holland Studien anzufertigen. Er kehrte nach Laren zurück, wo in Bauernkaten aus Rohleinen Flachs gewonnen wurde. Vom Sujet der gemeinschaftlichen Arbeit wiederum beeindruckt, begann Liebermann, Skizzen zu zeichnen und eine erste Fassung in Öl zu malen. In seinem Berliner Atelier komponierte er die Studien zu einem Gemälde im größeren Format, an dem er die Arbeit im Frühjahr 1887 abschließen konnte. Die Darstellung kollektiver Arbeit sollte im Alltäglichen das „heroisch Geduldige“ aufzeigen. Im Mai 1887 wurde das Bild auf dem Pariser Salon ausgestellt, wo man es mit nur verhaltenem Applaus aufnahm. Auf der Internationalen Jubiläumsausstellung in München beschrieb ein Kritiker das Gemälde als „die wirkliche Darstellung stumpfen, durch ein Einerlei von schwerer Arbeit hervorgerufenen Siechtums. […] Bauernweiber in verschlissenen Schürzen und Holzpantoffeln, mit Gesichtern, die kaum, dass sie jung waren, die Züge grämlichen Alters zeigen, liegen in der Kammer, deren Gebälk wie drückend niederlastet, ihrem mechanischen Tagewerk ob.“ Adolph Menzel dagegen lobte das Bild und bezeichnete den Maler als „den einzigen, der Menschen macht und keine Modelle“. Zu dieser Zeit veröffentlichte der Kunstkritiker Emil Heilbut eine „Studie über den Naturalismus und Max Liebermann“, in der er den Maler als „tapfersten Vorläufer in der neuen Kunst in Deutschland“ bezeichnete. Im März 1888 verstarb Kaiser Wilhelm I., ihm folgte Friedrich III. auf den Thron. Mit seiner Regentschaft waren Hoffnungen auf einen Wandel Preußens zur parlamentarischen Monarchie verbunden, die mit seinem Tod nur 99 Tage später ihr Ende fanden. Max Liebermann weilte im Frühjahr des Dreikaiserjahres in Bad Kösen. Vom Tod Friedrichs III. bestürzt, malte er eine fiktive Gedächtnisfeier für Kaiser Friedrich III. in Bad Kösen, was zeigt, dass er sich trotz seiner links ausgerichteten politischen Ansichten mit der Hohenzollernmonarchie verbunden fühlte. Er wollte Freigeist sein, doch die preußischen Traditionen abzulehnen brachte er durch seine Prägung nicht fertig. 1889 fand in Paris anlässlich der Hundertjahrfeier der Französischen Revolution die Weltausstellung statt. Die Monarchien Russland, Großbritannien und Österreich-Ungarn versagten ihre Teilnahme aus Ablehnung der Revolutionsfeier. Als die Deutschen Gotthardt Kuehl, Karl Koepping und Max Liebermann in die Jury berufen wurden, sorgte dies in Berlin für politischen Zündstoff. Liebermann fragte beim preußischen Kultusminister Gustav von Goßler an, der ihn – einer inoffiziellen Unterstützung gleichkommend – gewähren ließ. Die Zeitung La France schürte zur gleichen Zeit in Paris eine Kampagne gegen die generelle Teilnahme Preußens. Liebermann fasste den Plan, mit Menzel, Leibl, Trübner und von Uhde die erste Garde der deutschen Malerei zu präsentieren. Die deutsche Presse machte ihm Andienung an den Revolutionsgedanken zum Vorwurf. Erneut ergriff der alte Adolph Menzel für Liebermann Partei, und die erste Präsentation nicht-offizieller deutscher Kunst auf französischem Boden kam zustande. Die Weltausstellung rückte Liebermann endgültig ins Licht der Öffentlichkeit. In Paris ehrte man ihn mit einer Ehrenmedaille und der Aufnahme in die Société des Beaux-Arts. Den Ritterschlag der Ehrenlegion lehnte er nur aus Rücksicht auf die preußische Regierung ab. 1889 reiste Liebermann nach Katwijk, wo er mit dem Gemälde Frau mit Ziegen vom sozialen Milieu als Sujet Abschied nahm. Nachdem er zunehmend Erfolge feiern konnte, fand er die Muße, sich Bildern leichteren Lebens zuzuwenden. 1890 erhielt Liebermann mehrere Aufträge aus Hamburg, die alle auf Alfred Lichtwark zurückzuführen waren: Neben einem Pastell der Kirchenallee in St. Georg bekam er von dort den ersten Porträtauftrag. Nach Fertigstellung des an Hals’scher Malerei orientierten Bildes zeigte sich der Porträtierte, Bürgermeister Carl Friedrich Petersen, empört. Ihm war die Natürlichkeit der Darstellung in Verbindung mit scheinbar beiläufig durch historisierende Kleidung verliehener Amtswürde zuwider. In Lichtwarks Augen blieb das Bürgermeisterbildnis „ein Fehlschlag“. Mehr Erfolg hatte Liebermann mit seinem Werk Frau mit Ziegen, für das er im Frühjahr 1891 auf der Ausstellung des Münchner Kunstvereins die Große Goldmedaille erhielt. Liebermann als Kopf der Berliner Secession Am 5. Februar 1892 gründete sich in Berlin die Vereinigung der XI, in der sich elf unabhängige Maler zusammenschlossen. Die Vereinigung der XI avancierte in den nächsten Jahren zum Fundament für die spätere Secessionsbewegung, die in Opposition zur konservativen Malerschule der Akademie trat. Die Berliner Sezession befand sich zuerst in der Kantstraße, zog dann aber 1905 an den Kurfürstendamm unweit des Romanischen Cafés und dem 1917 eröffneten Atelier der bekannten Berliner Gesellschaftsfotografin Frieda Riess. Laut Lovis Corinth war Liebermann bereits kurz nach ihrer Gründung „der heimliche Führer der anarchischen Elfer“. Unter dem Einfluss Wilhelms II. verschärften sich die reaktionären Tendenzen in der Kulturpolitik des Kaiserreiches zunehmend (siehe auch: Rinnsteinkunst). Die Kunstkritiker der Hauptstadt reagierten höchst unterschiedlich auf die Gründung einer Künstlerbewegung, die sich gegen die offizielle Richtung stellte. Die meisten verunglimpften insbesondere Liebermann und bezeichneten seine Malweise etwa als „patzig hinstreichende Manier“, dennoch bestritt kaum jemand seine Stellung als führender Berliner Künstler. Wenige Monate vor dem Tod seiner Mutter im September 1892, als sich deren Gesundheitszustand verschlechterte, bezog Max Liebermann mit seiner Familie das elterliche Palais am Pariser Platz. Mit großer Selbstdisziplin ging er einem geregelten Tagesablauf nach: Um 10 Uhr verließ er das Wohnhaus, um sich in sein Atelier in der Königin-Augusta-Straße 19 (heute Reichpietschufer) zurückzuziehen und um 18 Uhr wiederzukehren. „Ich bin in meinen Lebensgewohnheiten der vollkommene Bourgeois; ich esse, trinke, schlafe, gehe spazieren und arbeite mit der Regelmäßigkeit einer Turmuhr.“ Am 5. November 1892 stellte der Verein Berliner Künstler 55 Gemälde des norwegischen Malers Edvard Munch aus. Die Kritik empörte sich über die Werke und nannte sie „Exzesse des Naturalismus“. Ein Eilantrag vor dem Kammergericht wurde abgelehnt, ein zweiter führte aber zur Einberufung einer Generalversammlung des Vereins Berliner Künstler. Diese beschloss mit 120 gegen 105 Stimmen die Schließung der Munch-Ausstellung. Damit vollzog sich der endgültige Bruch zwischen konservativ-reaktionärer Schule, als deren Wortführer sich in diesem Streit Anton von Werner profilierte, und der liberal-modernistischen Schule, zu deren bedeutendsten Köpfen Max Liebermann zählte. Unter ihm gründeten noch am Abend der Entscheidung 60 empörte Vereinsmitglieder die Freie Künstlervereinigung. 1893 reiste Liebermann nach Rosenheim, wo er sich mit Johann Sperl und Wilhelm Leibl traf. Anlässlich einer Ausstellung in Wien erhielt er im Jahr darauf für die Frau mit Ziegen die Große Goldene Medaille. Nach dem Tod seiner Mutter 1892 verstarb 1894 auch Louis Liebermann, sein Vater. Kurz vor dessen Tod hatte Max Liebermann eine späte Zuneigung zu ihm gefunden, die frühere Differenzen zurücktreten ließ. Nach der Versöhnung traf ihn der Abschied besonders schwer. Gleichzeitig vertiefte er sich mit diesen Eindrücken verstärkt in die Arbeit an stimmungsvollen Gemälden. Mit dem Tode seines Vaters wurde Max Liebermann Miterbe eines Millionenvermögens. Auch das Haus am Pariser Platz ging in seinen Besitz über. Nun war es ihm möglich, seine ohnehin für einen Künstler ungewöhnlich luxuriösen Wohnräume nach seinen Wünschen umzugestalten. Er beauftragte den Architekten Hans Grisebach mit dem Bau einer Wendeltreppe zu einem noch zu errichtenden Dachatelier. Da das Polizeipräsidium wegen eines Paragrafen im Kaufvertrag des Gebäudes, der größere Veränderungen der Bausubstanz verbot, Bedenken anmeldete, beschloss Liebermann, sein Atelier in der Königin-Augusta-Straße weiterhin zu nutzen. Die Gemälde aus dieser Zeit sind impressionistischer Natur, wie etwa die 1895 entstandene Allee in Overveen. Auch weiterhin bezog Liebermann die Inspiration für zahlreiche Werke aus seinen regelmäßigen Aufenthalten in den Niederlanden. 1895 vertrat Max Liebermann gemeinsam mit Gustav Schönleber und Fritz von Uhde Deutschland auf der ersten Biennale in Venedig. Liebermann wandte sich erstmals der Porträtmalerei zu und zeigte ein Pastellporträt seines Freundes Gerhart Hauptmann, für das er den ersten Preis erhielt. Auch wandte sich Liebermann wieder dem Sujet badender Knaben zu, da ihn die malerische Herausforderung von sich bewegenden Körpern unter freiem Licht interessierte. Doch anstatt wie früher konservative Gemälde mit klassischen Bewegungskompositionen zu schaffen, gelang ihm eine freiere Darstellung des Strandlebens. Zu einer impressionistischen Ausdrucksform kam er aber bei diesem Motiv erst in späteren Jahren. 1896 wurde Hugo von Tschudi zum Direktor der Nationalgalerie berufen. Dieser stand den französischen Impressionisten offen gegenüber und begab sich auf eine Ankaufsreise nach Paris. Max Liebermann begleitete ihn dorthin, um ihn bei den Kaufentscheidungen für die Nationalgalerie zu beraten. Als von Tschudi sich entschloss, Manets Werk Im Wintergarten zu erwerben, riet Liebermann ab, da Berlin ja selbst den Naturalismus noch als skandalös empfinden würde. „Was man in Paris in einem Menschenalter nicht aufzufassen vermocht hatte, würde man schwerlich in Deutschland von heut’ auf morgen durchzusetzen vermögen.“ Über Tschudi konnte Liebermann auch Kontakt zu Edgar Degas knüpfen, den er in Paris traf. Dort erhielt er auch die Ehrung als Ritter der Ehrenlegion, der der preußische Kultusminister Robert Bosse zustimmte. Abschließend reiste Liebermann für zehn Tage nach Oxford, wo seinem Bruder Felix von der Universität die Ehrendoktorwürde verliehen wurde. In London traf er sich mit dem amerikanischen Maler James McNeill Whistler, dessen altmeisterhafter Radierstil nachhaltige Wirkung auf ihn bekam. Durch Einwirken des preußischen Ministers für öffentliche Arbeiten, Karl von Thielen, gestattete das Polizeipräsidium Berlin zeitgleich zu seinem Paris- und Londonaufenthalt den Bau eines Dachateliers im Palais Liebermann. Anlässlich seines 50. Geburtstages 1897 widmete die Akademie der Künste Liebermann einen ganzen Ausstellungssaal, in dem 30 Gemälde, neun Zeichnungen, drei Lithografien und 19 Radierungen gezeigt werden konnten. Nachdem die konservative Berliner Akademie mit ihrer 200-Jahr-Feier 1892 ein Fiasko erlebt hatte, begann sie sich langsam für moderne Einflüsse zu öffnen. Dies zeigte sich auch in der Verleihung der Großen Goldenen Medaille an Liebermann bei der Großen Berliner Kunstausstellung. Dieser erhielt darüber hinaus den Professorentitel und wurde 1898 in die Akademie aufgenommen – selbst mit der Stimme Anton von Werners. Sein künstlerisches Ansehen stand zu dieser Zeit auf seinem bisherigen Höhepunkt. Dennoch fielen künstlerische Rückschritte in diese Zeit. Die Sommer 1897 und 1898 verbrachte Liebermann wiederum in Laren. Dort entstanden die Weberei in Laren und der Schulgang in Laren, worin der Maler auf überwunden geglaubte kompositorische Mittel seiner frühen Jahre zurückgriff. Nachdem die Jury unter Anton von Werner ein Bild des Berliner Malers Walter Leistikow zur Großen Berliner Kunstausstellung 1898 zurückwies, rief dieser zur Gründung einer Gemeinschaft unabhängiger Künstler auf. Als Präsident dieses Zusammenschlusses moderner Künstler wurde Max Liebermann gewählt. Den Vorstand bildeten neben dem Präsidenten Liebermann und Walter Leistikow die Künstler Otto Heinrich Engel, Ludwig Dettmann, Oskar Frenzel, Curt Herrmann und Fritz Klimsch. Liebermann war bei der Gründung der Sezession nicht als Wortführer hervorgetreten, sondern trat erst an ihre Spitze, als er von seinen Kollegen dazu gedrängt wurde. Der Bekanntheitsgrad seiner Person verschaffte der Berliner Sezessionsbewegung besonderes Öffentlichkeitsinteresse. Als Sekretäre zog Liebermann die Galeristen Bruno und Paul Cassirer hinzu. Für die erste Secessionsausstellung im Mai 1899 konnte Liebermann auch Künstler der Münchner, der Darmstädter und der Stuttgarter Sezession gewinnen. Ergänzt wurden diese durch die Künstlerkolonie Worpswede, Arnold Böcklin, Hans Thoma, Max Slevogt und Lovis Corinth. Letzterer stellte zum ersten Mal in der Hauptstadt aus. Liebermann holte auch Ernst Oppler in die Berliner Secession. Als Zeichen der Sympathie porträtierten sich die Protagonisten der Secession gegenseitig. Zeugnis sind das Bildnis des Malers Lovis Corinth von Liebermann, das Porträt Max Liebermann von Corinth und das Porträt Ernst Oppler von Corinth. Unter den Berliner Bürgern entbrannten angeregte Diskussionen für und wider die Secession, die der bildenden Kunst neue Aufmerksamkeit verschafften. Der Erfolg der Ausstellung, die mit über 1800 Besuchern und hohen Verkaufszahlen die Erwartungen überstieg, konnte 1900 noch gesteigert werden. Die Secessionsausstellungen wuchsen unter Liebermanns Führung zu einem europäischen Kunstereignis. Um 1900 entwarf er gemeinsam mit Corinth, Slevogt und anderen Künstlern für den Kölner Schokoladeproduzenten Ludwig Stollwerck Stollwerck-Sammelbilder u. a. für Stollwerck's Sammel-Album No. 3 (1900) und No. IV (1900). Durch den Zuzug Corinths, Slevogts und Opplers veränderte sich Berlins Rolle in der deutschen Kunstlandschaft erheblich. Während der Niedergang Münchens sich beschleunigte, kam Berlin nun auch in der Kunst die Stellung als Hauptstadt zu. Der Akademierektor Anton von Werner versuchte mit allen Mitteln, den Aufstieg der modernen Strömungen zu bremsen. Dabei ging er selbst weiter, als es Wilhelm II. tat. Diesem missfiel zwar die Secession, doch ließ er sie letztlich gewähren. Während sich die Akademieleitung immer weiter von der Realität der Kunstlandschaft entfernte, begann die preußische Regierung (und insbesondere der Kultusminister Heinrich Konrad von Studt) langsam in der Kunst freiheitlicher zu denken. So befürwortete Studt das Konzept Liebermanns für die Weltausstellung 1904 in St. Louis, das gleichgewichtete Beteiligungen der Akademie und der Secession vorschlug. Von Werner wies es mit den Worten zurück: „Mit idealen Zielen und besonderen künstlerischen Strömungen haben diese secessionistischen Bewegungen nicht das geringste zu tun, sie dienen lediglich geschäftigen Interessen.“ Im Sommer 1899 weilte Liebermann in Zandvoort und Scheveningen. Dort entwickelte er seine Gemälde badender Knaben weiter, hin zu einer unbeschwerten Darstellung eleganten Strandlebens. Die Motive der spartanischen holländischen Landbevölkerung traten als Sujet zurück. Er suchte eine Motivwelt, die ihm die Grundlage für einen lichten Impressionismus bot. Daher wandte er sich, neben dem kultivierten Strandleben (mit schemenhaften Reiter- und Frauendarstellungen), dem Lichtspiel in üppigen Gärten zu. 1901 entstand nach dem Vorbild von Édouard Manets Landhaus in Rueil das Werk Landhaus in Hilversum, das durch Schatten- und Lichtwechsel Ruhe und Harmonie ausstrahlt. Im Sommer 1901 besuchte Liebermann den Amsterdamer Zoo. Dort entdeckte er die Papageienallee als Thema. 1902 reiste Liebermann erneut nach Hamburg, wo er auf Einladung des ersten Direktors der Hamburger Kunsthalle, Alfred Lichtwark, vom 3. Juli bis 5. August 1902 im Hotel Jacob an der Elbchaussee wohnte, das auch heute noch existiert. Er sollte für die Sammlung von Bildern aus Hamburg Ansichten der Umgebung malen. Es entstand unter anderem das Bild Polospiel in Jenischs Park und eines seiner bekanntesten Werke Terrasse des Restaurants Jacob in Nienstedten an der Elbe. 1903 gründete Max Liebermann auf Initiative von Harry Graf Kessler zusammen mit Lovis Corinth, Alfred Lichtwark, Max Slevogt und anderen in Weimar den Deutschen Künstlerbund. Im gleichen Jahr erfolgte eine erste Veröffentlichung als Professor der Akademie der Künste: Unter dem Titel Die Phantasie in der Malerei lehnte er Gebilde, die nicht auf die Anschauung eines Wirklichen zurückgingen, kategorisch ab. Bei der Malerei sei das Sujet im Grunde gleichgültig, es komme auf „die den malerischen Mitteln am meisten adäquate Auffassung der Natur“ an. Damit lehnte er die junge Bewegung der abstrakten Kunst, insbesondere den Expressionismus, entschieden ab. Liebermanns Essay war keine Kampfschrift, es war sein persönliches Plädoyer für den Naturalismus und den Impressionismus. Für die nachwachsende Avantgarde des Expressionismus verschob sich so langsam das „Feindbild“ von der reaktionären Akademieleitung zum impressionistischen Secessionsvorstand. Als Reaktion auf Liebermanns Aufsatz griffen Henry Thode und Hans Thoma dessen Kunstanschauung an: In Bezug auf sein naturalistisches Frühwerk erklärten sie, sie seien nicht gewillt, sich „von Berlin aus aufgewärmten Kohl als Kunstgesetze diktieren zu lassen“. Diese Argumentation deutete bereits auf die spätere Secessionskrise hin. Als die Berliner Secession 1905 von der Kantstraße in ein größeres Ausstellungsgebäude am Kurfürstendamm zog, knüpfte Liebermann engere Kontakte zu Wilhelm Bode, dem Direktor des Kaiser-Friedrich Museums. Im Sommer malte er in Amsterdam Ölgemälde der Judengasse, die er drei Jahrzehnte zuvor kennengelernt hatte. Im September ging er erneut für eine Auftragsarbeit Lichtwarks nach Hamburg, um für die Kunsthalle ein repräsentatives Bild von neun Hamburger Professoren zu malen. Liebermanns Schaffenskraft hatte ihren Höhepunkt erreicht. Seit dem Tod Adolph Menzels, der ihn stark beeinflusst hatte, war er zudem zum einzigen Spitzenvertreter Berliner Kunst geworden. 1907 widmete die Berliner Sezession ihrem Präsidenten eine große Geburtstagsausstellung, die ein großer Besuchererfolg wurde. Seinen 60. Geburtstag verbrachte Liebermann in Noordwijk, wo er sich von der Begeisterung um seine Person zurückzog. Seit 1900 befasste sich Liebermann zudem verstärkt mit der Grafik und der Bleistift-Zeichnung. 1908 präsentierte die Secession 59 seiner Radierarbeiten in der Schwarz-Weiß-Ausstellung. Die Secessionskrise 1908 verstarb Walter Leistikow, der als Gründer eine wichtige Stütze der Berliner Secession gewesen war. Die Gesundheitslage Liebermanns verschlechterte sich seit Frühjahr 1909, weshalb er zur Kur nach Karlsbad fuhr. Gerade in dieser Zeit brach der Generationenkonflikt aus, der zwischen Impressionisten und Expressionisten seit längerem unter vorgehaltener Hand schwelte: 1910 wies der Secessionsvorstand unter Liebermann 27 expressionistische Bilder zurück: Der Präsident erhob seine Meinung vom Expressionismus zur Institution, und so trat der ehemalige Rebell gegen die Akademie-Kunst selbst als konservativer Wortführer auf. Damit leitete er gleichzeitig den Zerfall der Secessionsbewegung ein. Den Gegenpart vertrat in diesem Konflikt Emil Nolde, der schrieb: „Dem so klugen alten Liebermann geht es wie manchem klugen Mann vor ihm: er kennt seine Grenzen nicht; sein Lebenswerk […] zerblättert und zerfällt; er sucht zu retten, wird dabei nervös und phrasenhaft. […] sie erkennt, wie absichtlich dies alles ist, wie schwach und kitschig. […] Er selbst beschleunigt das Unvermeidliche, wir Jüngeren können es gelassen mit ansehen.“ Nolde warf Liebermann die grundsätzliche Fortschrittsfeindlichkeit und eine diktatorische Macht innerhalb der Sezession vor. Zumindest Ersteres ging in Teilen an der Realität vorbei: Im Jahr 1910 kamen erstmals Werke Pablo Picassos, Henri Matisses, Georges Braques und der Fauvisten zur Ausstellung. Der Sezessionsvorstand stellte sich hinter seinen Präsidenten und nannte Noldes Vorgehen eine „krasse Heuchelei“. Man berief eine Generalversammlung ein, die mit 40 zu 2 Stimmen für den Ausschluss Noldes stimmte. Liebermann selbst hatte gegen den Ausschluss gestimmt und führte in einer Verteidigungsrede aus: „Ich bin absolut gegen die Ausschließung des Schreibers, selbst auf die Gefahr hin, dass ähnliche Motive […] zu […] solchen sogenannten «Oppositionen der Jüngeren» treiben könnten.“ Obwohl Liebermann aus dieser Debatte gestärkt hervorging, hatte Nolde sein Ziel erreicht: Die Secession war in ihren Grundfesten erschüttert. Durch seine eigenen Bemühungen zur Ehrenrettung Noldes hatte er seine Toleranz verdeutlichen wollen, doch die Spaltung der Secessionsbewegung war nicht aufzuhalten. 1910 kam es zum Bruch innerhalb der Berliner Secession, als viele Werke meist expressionistischer Künstler von der Jury zurückgewiesen worden waren, unter ihnen der Berliner Maler Georg Tappert. Auf Initiative von Georg Tappert, gefolgt von Max Pechstein und weiteren Künstlern, so auch Nolde, bildete sich die Neue Secession. Sie eröffnete am 15. Mai ihre erste Ausstellung unter dem Titel „Zurückgewiesene der Secession Berlin 1910“. Pechstein war der Präsident, Tappert erster Vorsitzender der Gruppe. In die Neue Secession traten beispielsweise Maler der Brücke und der Neuen Künstlervereinigung München ein. Im Frühjahr 1911 flüchtete Liebermann vor der Secessionskrise in Berlin nach Rom. Der Tod seines Freundes Jozef Israëls fiel ebenfalls in diese Zeit. Die Kritik an seinem Führungsstil wurde immer lauter, bis sie schließlich sogar aus den eigenen Reihen drang: Am 16. November 1911 trat Liebermann selbst als Präsident der Berliner Secession zurück. Max Beckmann, Max Slevogt und August Gaul nahmen ebenfalls ihren Abschied. Die Generalversammlung wählte Liebermann zu ihrem Ehrenpräsidenten und übertrug Lovis Corinth die Secessionsführung. Mit dieser Entscheidung wurde das Ende der Secession vorweggenommen und der Niedergang des deutschen Impressionismus besiegelt. Bereits 1909 hatte Liebermann ein Grundstück am Ufer des Wannsees erworben. Dort ließ er sich nach Vorbildern Hamburger Patriziervillen durch den Architekten Paul Otto August Baumgarten einen Landsitz errichten. Die Liebermann-Villa, die dieser im Sommer 1910 erstmals bezog, nannte er sein „Schloss am See“. Darin fühlte sich Liebermann wohl und genoss besonders seine persönliche Gestaltung. Besondere Freude bereitete ihm der große Garten, der von ihm und Alfred Lichtwark entworfen wurde und als Sujet Eingang in zahlreiche Spätwerke Liebermanns fand. Die erste post-Liebermann’sche Jahresausstellung der Secession geriet 1912 unter dem Vorsitz Corinths zu keinem Erfolg. Den Sommer des Jahres verbrachte Liebermann wiederum in Noordwijk. Bei einem Aufenthalt in Den Haag verlieh ihm Königin Wilhelmina den Hausorden von Oranien. Die Friedrich-Wilhelms-Universität Berlin ernannte ihn zum Ehrendoktor, und es erfolgte auch der von ihm lang ersehnte Ruf in den Senat der Akademie der Künste. Die Kunsthochschulen in Wien, Brüssel, Mailand und Stockholm machten ihn zu ihrem Mitglied. Berliner Bürger, die Rang und Namen hatten, ließen sich von Liebermann porträtieren. Anfang 1913 trat Corinth als Vorsitzender der Secession mit dem gesamten Vorstand zurück, Paul Cassirer wurde zum Vorsitzenden gewählt. Der Ehrenpräsident versuchte diese Berufung eines Nicht-Künstlers zu verhindern, wollte aber nicht „wieder in die Bresche springen“. Cassirer schloss für die Jahresausstellung 1913 genau die Mitglieder aus, die in der Generalversammlung gegen ihn gestimmt hatten. Auf deren Seite stellte sich unerwartet Lovis Corinth. Liebermann und andere Gründungsmitglieder der Secession verließen in dieser zweiten Krise die Vereinigung. Im Februar 1914 erfolgte schließlich die Gründung der „Freien Secession“, die die Tradition der ersten Secessionsbewegung fortsetzte. Zwischen Liebermann und Corinth bestand eine für die Rumpfsecession und die Freie Secession symbolische Feindschaft. Corinth versuchte bis zu seinem Tode nach Möglichkeit gegen Liebermann vorzugehen und zeichnete auch in seiner Autobiografie ein zutiefst von Abneigung erfülltes Bild seines Kollegen, der sich immer weiter aus dem Rampenlicht zurückzog und sich seinem Garten am Wannsee widmete. Kriegszeit Drei Wochen nach Ausbruch des Ersten Weltkriegs schrieb der 67-jährige Liebermann: „Ich arbeite so ruhig als möglich weiter, in der Meinung, dass ich dadurch dem Allgemeinen am besten diene.“ Trotz solcher Äußerungen war er vom allgemeinen Patriotismus erfasst. Er widmete sich der künstlerischen Kriegspropaganda und zeichnete für die Zeitung Kriegszeit – Künstlerflugblätter, die von Paul Cassirer wöchentlich herausgegeben wurde. Die erste Ausgabe zeigte eine Lithographie Liebermanns der bei Kriegsbeginn vor dem Berliner Stadtschloss anlässlich der „Parteienrede“ Wilhelms II. versammelten Massen. Liebermann begriff die Worte des Kaisers als Aufruf, der nationalen Sache zu dienen und gleichzeitig die gesellschaftlichen Schranken zurückzufahren. So konnte in dieser Zeit seine doppelte Außenseiterrolle als Jude und Künstler (zumindest scheinbar) aufgehoben werden. Durch den prosemitischen Aufruf des Kaisers „An meine lieben Juden“ fühlte er sich zusätzlich zur zivilen Mitwirkung im Kriege verpflichtet. Der frühere Vorkämpfer der Secessionsbewegung stand nun vollkommen auf dem Boden des Kaiserreichs. Er identifizierte sich mit der Burgfriedenspolitik des Reichskanzlers Theobald von Bethmann Hollweg, der versuchte, innere Gegensätze in der deutschen Gesellschaft zu überbrücken. Bethmann Hollweg vertrat liberalere Ansichten als die Kanzler vor ihm, 1917 wurde er von Liebermann in einer Lithografie porträtiert. Im Herbst 1914 gehörte Max Liebermann zu den 93 Unterzeichnern, überwiegend Professoren, Schriftsteller und Künstler, des Aufrufes „An die Kulturwelt!“, in dem deutsche Kriegsverbrechen mit einem sechsfachen „Es ist nicht wahr!“ zurückgewiesen wurden. Er äußerte sich nach dem Krieg selbstkritisch über diesen Aufruf: „Zu Beginn des Krieges überlegte man nicht erst lange. Man war mit seinem Lande solidarisch verbunden. Ich weiß wohl, dass die Sozialisten eine andere Auffassung haben. […] Ich bin nie Sozialist gewesen, und man wird es auch nicht mehr in meinem Alter. Meine ganze Erziehung habe ich hier erhalten, mein ganzes Leben habe ich in diesem Hause zugebracht, das schon meine Eltern bewohnten. Und es lebt in meinem Herzen auch das deutsche Vaterland als ein unantastbarer und unsterblicher Begriff.“ Zudem trat er in die Deutsche Gesellschaft 1914 ein, in der sich unter dem Vorsitz des liberal-konservativen Politikers Wilhelm Solf Persönlichkeiten des öffentlichen Lebens zu politischem und privatem Austausch zusammenschlossen. Einzige Bedingung war nicht eine bestimmte eigene politische Richtung, sondern lediglich das Eintreten für die Burgfriedenspolitik des Kanzlers Bethmann Hollweg. Je weiter der Krieg fortschritt, desto größer wurde Liebermanns Rückzug ins Private, in sein Landhaus am Wannsee. Doch auch die Porträtmalerei beschränkte sich zu Anfang nur auf Militärs, wie Karl von Bülow. Bereits vor Kriegsausbruch war Liebermann der unangefochtene Porträtmaler des Berliner Großbürgertums gewesen: Wer etwas auf sich hielt, ließ sich von ihm in Öl malen. Auf diese Weise entstand ein enormes Œuvre an Porträts, das Liebermanns Ruf als Maler seiner Epoche festigte. Für seine große Kriegsbegeisterung musste er dagegen später starke Kritik einstecken. Der Kunstschriftsteller Julius Meier-Graefe schrieb in Bezug auf die Lithographien in der Kriegszeit: „Mancher gibt heute Kuh und Kohlstrunk auf und entdeckt auf einmal in dem Krieg neue Motive, ein anderer kommt auf den Einfall, seinem Polospieler einen Säbel in die Hand zu geben, und bildet sich ein, so schaffe man einen Sieger.“ Liebermann verließ Berlin mit Ausnahme zweier Kuraufenthalte in Wiesbaden 1915 und 1917 nicht. Somit verbrachte er die Sommer nicht mehr in den Niederlanden, sondern am Wannsee, während er im Winter am Pariser Platz wohnte. Seine Familie litt nicht Not, auch wenn sie wegen der Versorgungsunsicherheit die Blumenbeete seines Landhauses zum Gemüseanbau nutzte. Im Mai 1915 heiratete Käthe Liebermann, die mittlerweile fast 30-jährige Tochter des Malers, den Diplomaten Kurt Riezler, der als Berater Bethmann Hollwegs enge Kontakte zur Politik hatte. In diesem Jahr verstarb Anton von Werner, gleichsam als Symbol einer endenden Ära, ebenso Liebermanns Cousin Emil Rathenau. Die Gründer-Generation schied, und eine neue Zeit stand vor ihrem Beginn. Im April 1916 erschien Liebermanns Aufsatz Die Phantasie in der Malerei erstmals in Buchform. In der neuverfassten Einleitung schrieb er: „Waren die ästhetischen Ansichten verwirrter als heut? – Wo ein jüngerer Kunsthistoriker Wilhelm Worringer aus den Schützengräben Flanderns heraus schreibt, dass der Krieg nicht nur für die Existenz Deutschlands, sondern über den Sieg des Expressionismus entscheidet.“ Als die Kriegszeit 1916 ihren Namen im Zuge der nachlassenden Kriegsbegeisterung in „Bildermann“ änderte, gab Liebermann die Mitwirkung auf. Stattdessen befasste er sich erstmals mit der Illustration: 1916 und 1917 entstanden Arbeiten zu Goethes Novelle und Der Mann von fünfzig Jahren sowie Kleists Kleinen Schriften. Sein illustratorischer Stil beschreibt die Atmosphäre an Wendepunkten der Dramaturgie und war nicht zum Erzählen angelegt, weshalb ihm der Durchbruch auf diesem Gebiet nicht gelang und er die Arbeit an Illustrationen bald für zehn Jahre einstellte. 1917 widmete die Preußische Akademie der Künste Liebermann zum 70. Geburtstag eine große Retrospektive seines Werkes. Fast 200 Gemälde wurden in der Ausstellung gezeigt. Julius Elias, dessen Ehefrau Julie Elias ihr berühmtes Kochbuch Liebermann widmete, nannte die Ehrungen für den Maler „eine Krönung“. Der Direktor der Nationalgalerie Ludwig Justi (Nachfolger von Tschudis) stellte ihm ein eigenes Kabinett in Aussicht. Wilhelm II. stimmte der Geburtstagsausstellung zu und verlieh Liebermann den Roten Adlerorden III. Klasse. Der Geehrte stellte zufrieden fest, Seine Majestät habe das Kriegsbeil gegen die moderne Kunst begraben. Walther Rathenau veröffentlichte im Berliner Tageblatt ein Essay über die Ausstellung: „In Liebermann malt das neue, großstädtisch mechanisierte Preußen sich selbst. […] Der Sohn der Stadt, des jüdischen Patriziats, der übernationalen Bildung wurde zu diesem Dienst ausersehen; ein Mensch des Geistes und Willens, des Kampfes, der Leidenschaft und Reflexion musste es sein.“ Am 18. Januar 1918 fand die feierliche Eröffnung des Max-Liebermann-Kabinetts der Nationalgalerie statt. Die Einweihungsrede hielt der Kultusminister Friedrich Schmidt-Ott. Wenige Wochen später streikten allein in Berlin 500.000 Arbeiter – das Reich stand vor einem Umbruch. Als schließlich die Novemberrevolution ausbrach, hielt sich Liebermann im Haus am Pariser Platz auf. In seinem eigenen Haus wurden Maschinengewehre der Monarchisten installiert, weshalb die Soldaten der Revolutionäre das Palais angriffen. Nachdem eine Kugel durch die Wand der ersten Etage in den Salon gegangen war, ergaben sich die Verteidiger. Nach diesem Vorfall brachte Liebermann seine wertvolle Bildersammlung in Sicherheit und zog mit seiner Frau für einige Wochen ins Haus der Tochter. Den politischen Veränderungen stand Liebermann negativ gegenüber: Zwar befürwortete er die Einführung des gleichen Wahlrechts in Preußen und demokratisch-parlamentarische Reformen auf Reichsebene, doch brach für ihn „eine ganze Welt, wenn auch eine morsche“, zusammen. Er hatte bereits 1917 den Abgang Bethmann Hollwegs bedauert und sah in der Republikanisierung die Chance auf eine parlamentarische Monarchie vertan. „Wir haben inzwischen böse Zeiten durchgemacht. […] Berlin ist zerlumpt, schmutzig, abends dunkel, […] eine todte Stadt, dazu Soldaten, die Streichhölzer oder Zigaretten in der Friedrichstraße oder Unter den Linden verkaufen, blinde Drehorgelspieler in halbverfaulten Uniformen, mit einem Wort: jammervoll.“ Späte Jahre Nach Kriegsende und Revolution übernahm Liebermann 1920 das Amt des Präsidenten der Berliner Akademie der Künste. Die Secessionen bestanden parallel dazu weiterhin, bis sie fast lautlos zerfielen. Mit der Wahl Max Liebermanns zum Akademiepräsidenten endete de facto die Zeit der Secessionsbewegung. Er versuchte, die verschiedenen Strömungen unter dem Dach der Akademie zu vereinigen, und bezog dabei auch den Expressionismus ein. In der Eröffnungsrede der Akademieausstellung sagte er: „Wer selbst in seiner Jugend die Ablehnung des Impressionismus erfahren hat, wird sich ängstlich hüten, gegen eine Bewegung, die er nicht oder noch nicht versteht, das Verdammungsurteil zu sprechen, besonders als Leiter der Akademie, die wiewohl ihrem Wesen nach konservativ, erstarren würde, wenn sie sich der Jugend gegenüber rein negativ verhalten würde.“ Damit war er zu seiner Liberalität der Zeit vor der Sezessionskrise zurückgekehrt und versuchte nun, mit Toleranz die Geschicke der Akademie zu lenken. Angesichts der Notwendigkeit eines Neuaufbaus der zusammengebrochenen kaiserlichen Institution gelang es Liebermann, ihr eine demokratische Struktur, ein freiheitliches Unterrichtswesen und gleichzeitig größere Beachtung der Öffentlichkeit zu verschaffen. Durch seine Fürsprache wurden Max Pechstein, Karl Hofer, Heinrich Zille, Otto Dix und Karl Schmidt-Rottluff in die Akademie aufgenommen. 1922 wurde Walther Rathenau von rechtsradikalen Aktivisten ermordet. Liebermann wurde von dem Mord an seinem Verwandten und Weggefährten zutiefst aufgewühlt. Er fertigte Lithografien zu Heinrich Heines Rabbi von Bacharach neben zahlreichen Gemälden seines Gartens und Zeichnungen im Gedenken an gefallene jüdische Frontsoldaten. 1923 wurde Max Liebermann in den Orden Pour le Mérite aufgenommen. Am 7. Oktober 1924 verstarb sein jüngerer Bruder Felix Liebermann, der ihm zeit seines Lebens auch ein Freund gewesen war. Nur zwei Tage später hatte er den Tod seines Verwandten Hugo Preuß, des Vaters der Weimarer Verfassung, zu beklagen. Liebermann zog sich immer mehr in sich selbst und seinen Garten zurück. Auf seine Mitmenschen wirkte er oft unwirsch und mürrisch. Dennoch trat er weiterhin, obgleich seine eigenen Werke als „Klassiker“ oder missgünstig als altmodisch galten, für künstlerische Progressivität und auch politische Kunst ein. So unterstützte er das Gemälde Schützengraben von Otto Dix, das das Grauen des Weltkrieges emotional darstellte und dem vorgeworfen wurde, ein „tendenziöses Machwerk“ zu sein; für Liebermann war es „eines der bedeutendsten Werke der Nachkriegszeit“. Gleichzeitig polemisierte er, trotz seiner im Grunde toleranten Anschauungen, gegen Ludwig Justi, der Expressionisten in der Nationalgalerie zur Ausstellung brachte. Seine öffentlichen Anfeindungen stellen ein tragisches Kapitel seiner Biographie dar. Im September 1926 äußerte sich Max Liebermann in der Jüdisch-Liberalen Zeitung. In der Jom-Kippur-Ausgabe bekannte er sich öffentlich zu seinem Glauben, zu dem er im Alter verstärkt zurückfand. Er unterstützte darüber hinaus das jüdische Kinderheim „Ahawah“ und den Hilfsverein der deutschen Juden. 1927 trat Liebermann wieder ins Licht der Öffentlichkeit: Medien und Kunstwelt feierten ihn und sein Werk anlässlich seines 80. Geburtstags. Unter den Gratulanten fanden sich neben dem Berliner Urgestein Zille auch internationale Größen wie Albert Einstein, Heinrich und Thomas Mann sowie Hugo von Hofmannsthal. Nie zuvor wurde ein deutscher Künstler von seiner Heimatstadt in einer solchen Form geehrt, wie es Berlin mit der über 100 Gemälde Liebermanns umfassenden Geburtstagsausstellung tat. Sein Lebenswerk erschien mittlerweile klassisch, der ehemals provokante Stil wirkte 1927 wie Dokumente einer vergangenen Epoche. Daher entgegnete der alte Liebermann Kritikern, die ihm Weltentrücktheit und Konservatismus vorwarfen, im Katalog der Ausstellung: „Der Fluch unserer Zeit ist die Sucht nach dem Neuen […]: der wahre Künstler strebt nach nichts anderem, als: zu werden, der er ist.“ Die Stadt Berlin verlieh ihm die Ehrenbürgerwürde, um die allerdings in der Stadtverordnetenversammlung hitzig gerungen wurde. An seinem Geburtstag ehrte Reichspräsident Paul von Hindenburg Liebermann mit dem Adlerschild des Deutschen Reiches „als Zeichen des Dankes, den Ihnen das deutsche Volk schuldet“. Innenminister Walter von Keudell überreichte ihm die Goldene Staatsmedaille mit der Prägung „Für Verdienste um den Staat“. Ende 1927 porträtierte Liebermann den Reichspräsidenten Hindenburg. Obgleich er sich politisch nicht zu ihm bekannte, so nahm er doch den Auftrag gerne an und empfand ihn als weitere Ehrung. In seiner Arbeit verzichtete er auf pathetische Elemente der Darstellung. Die Porträtsitzungen der Gleichaltrigen waren geprägt von gegenseitigem Respekt und gewisser Sympathie. In Hindenburg sah der „Altmeister der deutschen Moderne“ einen altgedienten preußischen Patrioten, der unmöglich in Unvernunft entgleisen könnte. Liebermann schrieb: „Neulich hat ein Hitlerblatt geschrieben – man hat mir das zugeschickt –, es wäre unerhört, dass ein Jude den Reichspräsidenten malt. Über so etwas kann ich nur lachen. Ich bin überzeugt, wenn Hindenburg das erfährt, lacht er auch darüber. Ich bin doch nur ein Maler, und was hat die Malerei mit dem Judentum zu tun?“ Der Schriftsteller Paul Eipper hielt in seinen „Ateliergesprächen“ über seine Begegnung mit Liebermann am 25. März 1930 in dessen Haus am Pariser Platz in Berlin fest: „Wir sprechen von Hindenburg. Er (Liebermann) ist begeistert von ihm.“ Liebermanns Kopf war zeitlebens ein beliebtes Sujet für Maler, Fotografen und Karikaturisten. Gemalt wurde er, neben Lovis Corinth, auch vom Schweden Anders Zorn und vom Niederländer Jan Veth, fotografiert von Yva und mehrfach von Nicola Perscheid, karikiert unter anderem von Heinrich Zille. Der Bildhauer Fritz Klimsch fertigte im Jahre 1912 eine Bronzebüste, welche 1917 auf der Großen Berliner Kunstausstellung in Düsseldorf ausgestellt wurde. Krankheitsbedingt stellte Liebermann 1932 sein Amt als Akademiepräsident zur Verfügung, wurde aber gleichzeitig zu ihrem Ehrenpräsidenten gewählt. Durch die Behandlung des mit ihm befreundeten Arztes Ferdinand Sauerbruch (Sauerbruch brachte Liebermanns eingeklemmten Leistenbruch in der Charité zum Verschwinden, bei welcher Gelegenheit Liebermann den Chirurgen auch im Entwurf porträtiert hatte), seit 1928 Liebermanns Nachbar am Wannsee, gesundete der Maler wieder. Die Bildnisse, die er von Sauerbruch fertigte, stellen den Abschluss seines Porträtwerkes dar und sind auch dessen Höhepunkt. Zum letzten Mal wandte er sich darin einem individuell neuen Motiv zu. Zeit des Nationalsozialismus Der 30. Januar 1933 war der Tag der Machtübergabe an die Nationalsozialisten. Als an diesem Tag vor seinem Haus am Pariser Platz der Fackelzug der neuen Machthaber vorbeimarschierte, sprach Liebermann in seiner Berliner Mundart den viel zitierten Satz: Sich gegen die beginnende Veränderung in der Kulturpolitik zur Wehr zu setzen, wie es etwa Käthe Kollwitz, Heinrich Mann oder Erich Kästner durch ihre Unterzeichnung des Dringenden Appells im Juni 1932 taten, wollte Liebermann nicht riskieren. „Das Natürliche wäre auszutreten. Aber mir, als Juden, würde das als Feigheit ausgelegt worden.“ Am 7. Mai 1933, nach dem Beginn der Gleichschaltung im Sinne der nationalsozialistischen „Deutschen Kunst“, legte Liebermann Ehrenpräsidentschaft, Senatorposten und Mitgliedschaft in der Preußischen Akademie der Künste nieder und erklärte in der Presse: „Ich habe während meines langen Lebens mit allen meinen Kräften der deutschen Kunst zu dienen gesucht. Nach meiner Überzeugung hat Kunst weder mit Politik noch mit Abstammung etwas zu tun, ich kann daher der Preußischen Akademie der Künste […] nicht länger angehören, da dieser mein Standpunkt keine Geltung mehr hat.“ Auf Rat des Schweizer Bankiers Adolf Jöhr konnte er die 14 wichtigsten Werke seiner Kunstsammlung ab Mai 1933 im Kunsthaus Zürich deponieren, wo Wilhelm Wartmann Direktor war. Er zog sich aus der Öffentlichkeit zurück, während kaum einer seiner Weggefährten ihm beistand und die Treue hielt. Einzig Käthe Kollwitz suchte noch Zugang zu ihm. 1934 entstand ein letztes Selbstbildnis. Einem seiner letzten Besucher gestand Liebermann: „Ich lebe nur noch aus Hass. […] Ich schaue nicht mehr aus dem Fenster dieser Zimmer – ich will die neue Welt um mich herum nicht sehen.“ Am 8. Februar 1935 starb Max Liebermann in seinem Haus am Pariser Platz. Käthe Kollwitz berichtete, er sei abends um sieben still eingeschlafen. Die Totenmaske fertigte Arno Breker an, der in dieser Zeit Hitlers bevorzugter Bildhauer wurde. Die Fotografin Charlotte Rohrbach nahm die Gipsmaske auf. Sein Tod war den bereits gleichgeschalteten Medien keine Nachricht wert, er fand – wenn überhaupt – nur am Rande Erwähnung. Die Akademie der Künste, die mittlerweile zu einem Instrument der Nationalsozialisten geworden war, lehnte jede Ehrung des Altpräsidenten ab. So erschien zu seiner Beerdigung auf dem Jüdischen Friedhof Schönhauser Allee am 11. Februar 1935 auch kein offizieller Vertreter – weder der Akademie noch der Stadt, deren Ehrenbürger er seit 1927 war. Die Gestapo hatte im Voraus sogar die Teilnahme an der Bestattung untersagt, in der Befürchtung, sie könnte zu einer Demonstration für die Kunstfreiheit werden. Dennoch kamen annähernd 100 Freunde und Verwandte. Unter den Trauernden waren Käthe Kollwitz, Hans Purrmann und seine Ehefrau Mathilde Vollmoeller-Purrmann, Konrad von Kardorff, Leo Klein von Diepold, Otto Nagel, Ferdinand Sauerbruch mit seinem Sohn Hans Sauerbruch, Bruno Cassirer, Georg Kolbe, Max J. Friedländer, Friedrich Sarre und Adolph Goldschmidt. Gemäß Saul Friedländer nahmen nur drei „arische“ Künstler an der Beerdigung teil. In seiner Trauerrede wies Karl Scheffler darauf hin, dass man mit Liebermann nicht nur einen großen Künstler, sondern eine Epoche zu Grabe trage, für die er symbolisch stand. Die Ehrengrabstätte des Landes Berlin befindet sich im Feld E. Obschon der Kunsthändler Walter Feilchenfeldt und der Sammler Oskar Reinhart versuchten, Ende 1941 Martha Liebermann in die Schweiz zu holen, und Reinhart bereit war, eine größere Summe zur Verfügung zu stellen, um sie aus Deutschland zu retten, scheiterte die Aktion an der Willkür des NS-Regimes. Als eine Deportation ins KZ Theresienstadt unmittelbar drohte, nahm Martha Liebermann eine Überdosis Veronal und starb am 10. März 1943 im Jüdischen Krankenhaus von Berlin. Etwa ein halbes Jahr später beschlagnahmte die Gestapo den Großteil von Liebermanns berühmter privater Kunstsammlung. Das Palais Liebermann am Pariser Platz versank bald darauf in Trümmern. Auszeichnungen 1889: Ehrenmedaille der Societé des Beaux-Arts, Paris 1889: die Liebermann angetragene Aufnahme in den Orden der Ehrenlegion lehnt der Künstler zunächst aus politischen Gründen ab. Die Ernennung zum Ritter der Ehrenlegion erfolgte schließlich 1896. 1897: Goldmedaille der Großen Berliner Kunstausstellung 1917: Roter Adlerorden, III. Klasse 1923: Orden Pour le Mérite 1927: Ehrenbürgerwürde von Berlin 1927: Adlerschild des Deutschen Reiches Darstellung Liebermanns in der bildenden Kunst (Auswahl) Conrad Felixmüller: Bildnis Max Liebermann (Holzschnitt, 49,4 × 39,7 cm, 1926) Nicola Perscheid: Porträtfotografie 1906 Max Halberstadt: Porträtfotografie ca. 1910 Madame d’Ora: Porträtfotografie 1913 Gerty Simon: Porträtfotografie ca. 1929 Käthe Augenstein: Porträtfotografie 1930 Grete Friedländer: Max Liebermann sitzend mit Zigarre, um 1930 Weitere Werke Schriften Briefe, Gesamtausgabe, Bände 1–9, hrsg. von Ernst Braun. Deutscher Wissenschafts-Verlag (DWV), Baden-Baden 2021, ISBN 978-3-86888-990-1 Briefe, Band 1: 1869–1895, hrsg. von Ernst Braun. Deutscher Wissenschafts-Verlag (DWV), Baden-Baden 2011, ISBN 978-3-86888-992-5 Briefe, Band 2: 1896–1901, hrsg. von Ernst Braun. Deutscher Wissenschafts-Verlag (DWV), Baden-Baden 2012, ISBN 978-3-86888-993-2 Briefe, Band 3: 1902–1906, hrsg. von Ernst Braun. Deutscher Wissenschafts-Verlag (DWV), Baden-Baden 2013, ISBN 978-3-86888-994-9 Briefe, Band 4: 1907–1910, hrsg. von Ernst Braun. Deutscher Wissenschafts-Verlag (DWV), Baden-Baden 2014, ISBN 978-3-86888-995-6 Briefe, Band 5: 1911–1915, hrsg. von Ernst Braun. Deutscher Wissenschafts-Verlag (DWV), Baden-Baden 2015, ISBN 978-3-86888-996-3 Briefe, Band 6: 1916–1921, hrsg. von Ernst Braun. Deutscher Wissenschafts-Verlag (DWV), Baden-Baden 2016, ISBN 978-3-86888-997-0 Briefe, Band 7: 1922–1926, hrsg. von Ernst Braun. Deutscher Wissenschafts-Verlag (DWV), Baden-Baden 2017, ISBN 978-3-86888-998-7 Briefe, Band 8: 1927–1935, hrsg. von Ernst Braun. Deutscher Wissenschafts-Verlag (DWV), Baden-Baden 2019, ISBN 978-3-86888-991-8 Briefe, Band 9/I: Nachträge, u. 9/II: Wolfgang Leicher, Die Ausstellungen der Werke Max Liebermanns zwischen 1870 und 1945, hrsg. von Ernst Braun. Deutscher Wissenschafts-Verlag (DWV), Baden-Baden 2021, ISBN 978-3-86888-999-4 Briefe. Auswahl von Franz Landsberger, Ergänzte Neuausgabe von Ernst Volker Braun. Hatje, Stuttgart 1994. Von der Karg-Stiftung erwarb die Staatsbibliothek zu Berlin im Juli 2011 ein umfangreiches Konvolut von Briefen Liebermanns. Es handelt sich um einen Teil der ehemaligen Liebermann-Sammlung Hans-Georg Kargs. Die Briefe aus dem Zeitraum 1911 bis 1931, Korrespondenzen zu Ankaufswünschen, Mitteilungen über Bildersendungen, Antworten zu Leihgaben, Verabredungen, ab 1917 auch persönlichere Mitteilungen sowie ausführliche autobiographische Auskünfte. Zudem sind Briefe enthalten, die sich an Hugo von Tschudi und Alfred Lichtwark richten. Die Phantasie in der Malerei – Schriften und Reden. Mit einem Geleitwort von Karl Hermann Roehricht und einem Nachwort von Günter Busch. Buchverlag Der Morgen, 2. Auflage. Lizenzausgabe des S.-Fischer-Verlages, Frankfurt am Main 1986. Gesammelte Schriften. Cassirer, Berlin 1922. In memoriam Paul Cassirer. Gedächtnisreden anlässlich der Totenfeier am 7. Januar 1926, gehalten von Max Liebermann und Harry Graf Kessler. Mit einem Nachruf von René Schickele. Cranach-Presse, Weimar 1926. Jozef Israels. Cassirer, Berlin 1911. Illustrationen Micha Josef Bin-Gorion (Hrsg.): Die Geschichte von Tobias. Übersetzung von Rahel Ramberg, nach einer hebräischen Fassung. Inselverlag, Leipzig 1920. Theodor Fontane: Effi Briest. Insel, 11. Auflage, Frankfurt am Main 1994. Mit 21 Lithografien von Max Liebermann. Johann Wolfgang von Goethe: Der Mann von fünfzig Jahren. Cassirer, Berlin 1922. Johann Wolfgang von Goethe: Die Novelle. Cassirer, Berlin 1922. Johann Wolfgang von Goethe: Gesammelte Gedichte. 4 Bände. Cassirer, Berlin 1911. Eduard Grisebach: Der neue Tannhäuser. Mit Lithographien von Max Liebermann. J. G. Cotta’sche Buchhandlung, Stuttgart und Berlin 1922. Heinrich Heine: Der Rabbi von Bacherach. Propyläen-Verlag, Berlin 1923. Gottfried Keller: Der schlimm-heilige Vitalis: Eine Legende. Mit 1 Lithographie von Max Liebermann. F. Heyder-Verlag, Berlin 1924. Heinrich von Kleist: 54 Steindrucke zu kleinen Schriften von Heinrich von Kleist. Cassirer, Berlin 1917. Thomas Mann: Gesammelte Werke in 10 Bänden. S.-Fischer-Verlag, Berlin 1925. Das Buch Ruth. Propyläen-Verlag, Berlin 1924. Werkverzeichnis, Kataloge Katrin Boskamp: Studien zum Frühwerk von Max Liebermann mit einem Verzeichnis der Gemälde und Ölstudien von 1866 bis 1889. Hildesheim 1994, ISBN 3-487-09897-0. Matthias Eberle: Max Liebermann. Werkverzeichnis der Gemälde und Ölstudien. Hirmer, München 1995, 1440 Seiten, ISBN 3-7774-6760-X. Kunstanstalt Stengel: Katalog der Zeichnungen und Aquarelle von Max Liebermann. Dresden 1927. Max Liebermann: Werke und Schriften. Digitales Werkverzeichnis auf DVD. Directmedia Publishing, Berlin 2008. Darstellung Liebermanns in der bildenden Kunst Emil Stumpp:  Max Liebermann (Kreide-Lithographie, 1926) Rezeption 1906 veröffentlichte Karl Scheffler eine erste Monographie zu Liebermann, 1913 publizierte Erich Hancke die erste Biographie von Liebermann mit einem Werkverzeichnis. 1919 veröffentlichte Hermann Struck die dritte Auflage seines Werks Die Kunst des Radierens und würdigte erstmals neben Altmeistern wie Dürer und Rembrandt auch die jungen Meister wie Oskar Kokoschka, Max Liebermann und Ernst Oppler. Das Sammeln von Radierungen trat aus dem Schatten hervor, nur eine billige Variante des Sammelns von Gemälden zu sein. Im Februar 1936 veranstaltete der Kulturbund Deutscher Juden anlässlich Liebermanns ersten Todestages eine Gedächtnisausstellung in den Räumlichkeiten der Neuen Synagogen-Gemeinde. Innerhalb von sechs Wochen zog sie rund 6.000 Besucher an. Als schließlich 1943 auch Martha Liebermann verstarb, wurde der verbliebene Nachlass „zugunsten des Deutschen Reiches“ eingezogen. Davon betroffen waren nicht nur Gemälde, die er selbst geschaffen hatte, sondern auch Teile der Sammlung Liebermann: Max Liebermann hatte zeit seines Lebens eine der bedeutendsten privaten Kunstsammlungen Berlins zusammengetragen, die auch einige Werke Manets aufwies. Mit der Beschlagnahme der Sammlung riss das NS-Regime eine einzigartige Kollektion auseinander, die in dieser Form nie wieder zusammengetragen werden konnte. In der Zeit des Nationalsozialismus waren auch Werke Liebermanns vom Verdikt der „Entarteten Kunst“ betroffen. Allerdings wurden nur sechs Arbeiten aus Museen beschlagnahmt. Die Ächtung seines Werkes betraf weniger seine Arbeiten, in denen man kaum außerordentliche Expressivität erkennen konnte, als seine Persönlichkeit. Als liberaler, jüdischer Großbürger, der in der Weimarer Republik zu nationalen Ehrungen gekommen war und internationales Renommee besaß, war Liebermann für die NS-Ideologen kein Künstler, dessen Andenken es zu fördern galt. So setzte schon bald nach der Machtergreifung eine langsame Reduzierung der Liebermann-Bestände in öffentlichen Sammlungen ein. Im Bombenhagel gingen insgesamt vier Gemälde verloren, 114 bis 1933 erworbene Werke blieben bis 1945 in Museen erhalten. Anlässlich des 100. Geburtstags des Künstlers kamen am 20. Juli 1947 in der Nationalgalerie erstmals nach dem Krieg erhalten gebliebene Werke zur Ausstellung. Gleichzeitig zeigten das Niedersächsische Landesmuseum und die Hamburger Kunsthalle ihre verbliebenen Liebermann-Arbeiten. Zwei Jahre später konnte der Direktor der Nationalgalerie, Paul Ortwin Rave, mehrere Räume wiedereröffnen. So kamen sechs Gemälde Liebermanns (Freistunde im Amsterdamer Waisenhaus, Schusterwerkstatt, Gänserupferinnen, Flachsscheuer in Laren, Bildnis Wilhelm von Bode und Bildnis Richard Strauss) zur dauerhaften Ausstellung. In den nächsten Jahrzehnten vergrößerte sich die Zahl der Liebermann-Werke in deutschen Museen durch Rückkehr angestammter Arbeiten und Neuerwerbungen – ihre Zahl liegt heute etwa doppelt so hoch wie vor 1945. Hauptwerke Liebermanns zogen als neue Akzente in westdeutsche Sammlungen ein, wie etwa die Rasenbleiche 1954 in das Wallraf-Richartz-Museum in Köln oder die Papageienallee 1955 in die Kunsthalle Bremen. Stiftungen von Privatsammlern und Rückerwerb kamen hinzu. 1954 fand im Niedersächsischen Landesmuseum anlässlich des 20. Todestages des Malers eine Ausstellung unter der Schirmherrschaft des Bundespräsidenten Theodor Heuss, der sich selbst für den Erwerb von Liebermann-Werken durch westdeutsche Museen starkgemacht hatte, statt. Von einem breiten Publikum wurde dies als „Wiederentdeckung“ angesehen. Im Vergleich zur Rehabilitierung des Werkes in den Sammlungen fiel die kunsthistorische Aufarbeitung Max Liebermanns in den ersten Nachkriegsjahrzehnten bescheiden aus. 1947 erschien in Potsdam ein Heft mit 48 Abbildungen der bedeutendsten Werke Liebermanns, verbunden mit einem Essay von Willy Kurth. 1953 wurde die seit 1906 erschienene Liebermann-Biographie von Karl Scheffler neu aufgelegt: In ihrem Mittelpunkt stand die Erkenntnis, dass aus dem Revolutionär von gestern der Klassiker von heute geworden ist. Die Veröffentlichung schloss mit den Worten: „Er ist in Deutschland der letzte bürgerliche Maler großen Stils gewesen.“ 1961 erschien die erste neue Monographie, die sich mit Liebermanns Werk befasste. Der Autor, Ferdinand Stuttmann, versuchte darin, das lange Ausbleiben einer kunsthistorischen Neuaufarbeitung des Liebermann-Werkes zu erklären. Seiner Ansicht nach habe sich das „Gesicht der bildenden Kunst grundlegend geändert“, sodass die Kunst Liebermanns „der Zeit nach dem Kriege nicht mehr die Problematik und den Stoff zu einer aktuellen Darstellung“ biete. Stuttmann verstand sich ganz als Kunsthistoriker und wollte Liebermann als geschichtliche Persönlichkeit Gerechtigkeit widerfahren lassen. Während in der Bundesrepublik einerseits Anschluss an die internationale Kunstentwicklung, von der man in der NS-Zeit ausgeschlossen war, gesucht und gefunden wurde und sich gleichzeitig die historischen Werke rehabilitierten, verlief die Entwicklung in der DDR grundlegend anders: Unter sowjetischem Einfluss entstand dort ein Sozialistischer Realismus. Werke von Künstlern der Vergangenheit, die Kritik an der jeweils „herrschenden Klasse“ übten, wurden zum „nationalen Kulturerbe“ erklärt und sollten die sozialistische Ordnung stützen. So wurde auch Max Liebermann, der humanistisch-preußische Jude und fortschrittlicher Großbürger, für den Sozialismus uminterpretiert und aus der Tradition Menzels, Krügers und Blechens herausgelöst und einseitig in die Reihe von Käthe Kollwitz, Heinrich Zille und Hans Baluschek gestellt. 1965 fand in Ost-Berlin eine Ausstellung der Akademie der Künste statt, in der Liebermanns Frühwerk und seine Porträtmalerei gezeigt wurden. Besondere Kontroversen wurden um das Bild „Flachsscheuer in Laren“ geführt. Stuttmann schrieb dazu: „Liebermann schafft, jedenfalls ganz ohne Absicht, ein anklagendes Bild der sozialen Zustände seiner Zeit.“ Darauf entgegnete Karl Römpler in seinem 1958 in Dresden erschienenen Werk Der deutsche Impressionismus: „In einem Bild wie der Flachsscheuer […] fehlt die Anklage gegen ein System, das sich nicht scheut, Jugendliche auszubeuten. Hier ist Liebermann ganz Kind seiner Klasse.“ Günter Meiszner meinte dagegen im Gemälde, wie er in seiner 1974 in Leipzig veröffentlichten, marxistisch geprägten Liebermann-Monographie, der ersten in der DDR, schrieb, ein „Bekenntnisbild für den arbeitenden Menschen“ zu erkennen. Dies verdeutlicht die hitzigen und nicht selten politischen Diskussionen in der Kunstwelt, die Liebermanns Werk erfuhr. 1973 veröffentlichten Karl-Heinz und Annegret Janda eine erste ausführliche Darstellung der Kunstsammlung Liebermanns. 1970 erschien „Max Liebermann als Zeichner“ anlässlich einer Ausstellung im Kunstgeschichtlichen Institut der Universität Mainz. Die große Ausstellung des Gesamtwerkes von 1954 fand bis Ende der 1970er-Jahre keine Nachfolge. In kleinen Ausstellungen, wie 1968 „Max Liebermann in Hamburg“, konnte lediglich ein Ausschnitt des künstlerischen Schaffens Liebermanns gezeigt werden. Meistens fanden sich seine Werke ohnehin in Überblicksausstellungen, die auch andere Künstler seiner Zeit behandelten. Auf diese Art kamen Arbeiten Liebermanns auch häufig im Ausland, insbesondere in den Vereinigten Staaten, zur Ausstellung. Herausragende Beachtung hat sein Werk international nicht gefunden – Max Liebermanns Name blieb eng verknüpft mit der deutschen Ausprägung des Impressionismus, der im europäischen Kontext ein „zu spät gekommener“ war. So gehört er in der kunsthistorischen Einordnung zwar zu den nationalen Größen in Deutschland, aber international nur zur zweiten Garde der Impressionisten. 1979/1980 fand in der Neuen Nationalgalerie in West-Berlin die Ausstellung „Max Liebermann in seiner Zeit“ statt. Eine große Retrospektive war aber seit dem Bau der Berliner Mauer und dem daraus resultierenden Fehlen der ostdeutschen Bestände unmöglich geworden. Hier wurde aber der Versuch gemacht, Liebermann in Zusammenhang mit Werken von Zeitgenossen aus Deutschland, Frankreich und Amerika darzustellen. 1985 gedachte die DDR seines 50. Todestages mit der sogenannten „Schwarzweiß-Ausstellung“ im Kupferstichkabinett der Staatlichen Museen. Diese wurde mit dem Eigenbesitz an Zeichnungen und Druckgrafiken aus ostdeutschen Beständen bestritten. In Ost und West erschienen anlässlich des 50. Todestages mehrere Monographien, wie die biographischen Werke Bernd Küsters und Lothar Brauners. Seit der Deutschen Wiedervereinigung hat Max Liebermann eine Renaissance erlebt: Mehrere Retrospektiven präsentierten Gesamtdarstellungen seines Werkes. Mit der Gründung der Max-Liebermann-Gesellschaft 1995, die über 1200 Mitglieder zählt, wurden die Liebermann-Villa mit dem Garten am Wannsee zwischen 2002 und 2006 restauriert und wiederhergestellt und das Museum zum Gedenken an Max Liebermann und der Beschäftigung mit seinem Werk eingerichtet. 2006/2007 fand eine gemeinsame Ausstellung des Niedersächsischen Landesmuseums Hannover, des Drents Museums Assen und des Rijksmuseums in Amsterdam unter dem Titel Max Liebermann und die Holländer (niederländischer Titel: Max Liebermann en Holland) statt, die die Werke Liebermanns auch dem niederländischen Publikum näher brachte. Eine von mehreren Versionen des Gemäldes Zwei Reiter am Strand von 1901 (restituiert im Mai 2015) wurde während einer Pressekonferenz der Staatsanwaltschaft Augsburg zum Schwabinger Kunstfund am 5. November 2013 beispielhaft zusammen mit weiteren zehn Werken anderer Künstler gezeigt, darunter Marc Chagall, Otto Dix, Franz Marc und Henri Matisse. Sie stammten aus der Sammlung des Kunsthändlers Hildebrand Gurlitt, die bei seinem Sohn Cornelius im Februar 2012 in Schwabing beschlagnahmt wurde. Seit 2011 erscheint im Deutschen Wissenschafts-Verlag (DWV) unter der Herausgeberschaft der Max-Liebermann-Gesellschaft (Berlin) die auf acht Bände angelegte wissenschaftliche Edition der mehr als 2600 Briefe Max Liebermanns sowie von etwa 500 Gegenbriefen (s. o. Kapitel Weitere Werke). Ausstellungen (Auswahl) Die Bundeskunsthalle in Bonn präsentierte vom 21. April bis zum 11. September 2011 die Ausstellung Max Liebermann. Wegbereiter der Moderne. Danach waren die Exponate in der Hamburger Kunsthalle zu sehen. Vom 4. Juli bis 19. Oktober 2014 fand im Museum Oskar Reinhart in Winterthur die Ausstellung Max Liebermann und die Schweiz mit rund 90 Gemälden, Aquarellen, Pastellen und Handzeichnungen aus Schweizer Museen und Privatbesitz statt. Dazu erschien ein reich illustrierter Katalog im Hirmer Verlag. Vom 22. Oktober 2016 bis zum 26. Februar 2017 zeigte die Kunsthalle Bremen die Ausstellung Max Liebermann – Vom Freizeitvergnügen zum modernen Sport. Sie war in Kooperation mit der Liebermann-Villa in Berlin entstanden, die diese anschließend vom 19. März bis zum 26. Juni 2017 zeigte. 15. September 2019 bis 5. Januar 2020: Max Liebermann und Hans Meid. Schwarz auf weiß. Museum Behnhaus Drägerhaus, Lübeck. Das Hessische Landesmuseum Darmstadt präsentierte vom 8. Oktober 2021 bis zum 9. Januar 2022 die Ausstellung Ich, Max Liebermann! Ein europäischer Künstler, kuratiert von Martin Faass. Anschließend war die Ausstellung im Museum Kunstpalast Düsseldorf zu sehen. Literatur (Auswahl) – chronologisch – Karl Scheffler: Max Liebermann. Piper, München 1906; Digitalisat von Internet Archive; umgearbeitete Ausgabe: Insel, Wiesbaden 1953, (mit einem Nachwort von Carl Georg Heise). Oskar Bie: Max Liebermann. Holländisches Skizzenbuch. Julius Bard, Berlin 1911, (Kohlestift­zeichnungen), Digitalisat von Internet Archive. Gustav Pauli: Max Liebermann. Des Meisters Gemälde in 304 Abbildungen. Deutsche Verlags-Anstalt, Stuttgart 1911, Digitalisat von Internet Archive. Erich Hancke: Max Liebermann. Sein Leben und seine Werke. Cassirer, Berlin 1914. Walther Rathenau: Max Liebermann. In: Berliner Tageblatt vom 1. Juli 1917. Julius Elias: Max Liebermann. (= Graphiker der Gegenwart, 8). Neue Kunsthandlung, Berlin 1921, (Radierungen, Lithographien), Digitalisat von Internet Archive. Max J. Friedländer: Max Liebermann. Propyläen, Berlin 1924. Hans Rosenhagen: Max Liebermann. (= Künstler-Monographien, 45). Velhagen & Klasing, Bielefeld 1900, Digitalisat von Internet Archive; 2. vollständig neu bearbeitete Auflage 1927. Hans Ostwald (Hrsg.): Das Liebermann-Buch. Mit 270 Illustrationen von Max Liebermann. Franke, Berlin 1930. Emil Stumpp: Max Liebermann. In: Emil Stumpp: Über meine Köpfe. Kurt Schwaen (Hrsg.) Buchverlag der Morgen, Berlin 1983, S. 76–81. Birgit Pflugmacher: Der Briefwechsel zwischen Alfred Lichtwark und Max Liebermann. Bearbeitet und mit einer Einleitung hrsg. von Birgit Pflugmacher (= Studien zur Kunstgeschichte, 146), Georg Olms, Hildesheim 2003, ISBN 978-3-487-11775-1, online-Datei der Universität Hamburg (PDF; 2,8 MB). Marlies Giebe: Max Liebermanns Selbstbildnis von 1929 – Maltechnik und Erhaltungszustand. In: Max Liebermann, „Selbstbildnis“, 1929, hg. Staatl. Kunstsamml. Dresden 2005, (Patrimonia 296), S. 27–33. Claus Stephani: Säulen der modernen Kunst. Von Max Liebermann bis Dara Birnbaum. / Marginalien zu einer Zeit der Vielfalt und großer Namen. In: David. Jüdische Kulturzeitschrift (Wien), 19. Jg., Nr. 74, Sept. 2007, S. 80–83. Marion Deshmukh, Françoise Forster-Hahn, Barbara Gaehtgens (Hrsg.): Max Liebermann and International Modernism. An Artist's Career from Empire to Third Reich. (= Studies in German history, Vol. 14). Berghahn Books, New York City / Oxford 2011, ISBN 978-1-84545-662-7, . Lucy Wasensteiner, Meike Hopp und Alice Cazzola (Hrsg.): Wenn Bilder sprechen. Provenienzforschung zu Max Liebermann und seinem Netzwerk. arthistoricum.net, Heidelberg 2022. Aktuelle Monographien – alphabetisch – Nicole Bröhan: Max Liebermann. (= Berliner Köpfe). Jaron, Berlin 2002, ISBN 3-89773-121-5. Bernd Küster: Max Liebermann. Ein Malerleben. Ellert & Richter, Hamburg 1988, ISBN 3-89234-076-5. Sven Kuhrau: Der Kunstsammler im Kaiserreich. Kunst und Repräsentation in der Berliner Privatsammlerkultur. Ludwig, Kiel 2005, ISBN 3-937719-20-2, (Dissertation der FU Berlin, 2002). Nina Nedelykov, Pedro Moreira (Hrsg.): Zurück am Wannsee. Max Liebermanns Sommerhaus. Transit, Berlin 2003, ISBN 3-88747-181-4. Marina Sandig: Die Liebermanns. Ein biographisches Zeit- und Kulturbild der preußisch-jüdischen Verwandtschaft von Max Liebermann. Degener, Neustadt an der Aisch 2005, ISBN 3-7686-5190-8. Regina Scheer: „Wir sind die Liebermanns“. Die Geschichte einer Familie. Propyläen, Berlin 2006; List Taschenbuch, Berlin 2008, ISBN 978-3-548-60783-2, Besprechung: . Regina Scheer: Max Liebermann erzählt aus seinem Leben. VBB, Berlin 2010, ISBN 978-3-942476-05-8, (Beilage: 1 Audio-CD mit einer Sendung des Deutschlandsenders vom 13. April 1932). Bernd Schmalhausen: „Ich bin doch nur ein Maler“. Max und Martha Liebermann im Dritten Reich. Olms, Hildesheim 1994, ISBN 3-487-09911-X. Chana Schütz: Max Liebermann. Impressionistischer Maler. Gründer der Berliner Secession. Hentrich & Hentrich, Teetz 2004; 2. Auflage, Berlin 2010, ISBN 978-3-942271-14-1. Heinrich Strauss: Judentum und die deutsche Kunst. Zum Problem Max Liebermann. In: Robert Weltsch (Hrsg.): Deutsches Judentum, Aufstieg und Krise. Gestalten, Ideen, Werke. Vierzehn Monographien. Veröffentlichung des Leo Baeck Instituts. Deutsche Verlagsanstalt, Stuttgart 1963. Einträge in Nachschlagewerken Ausstellungskataloge (Auswahl) – chronologisch – Angelika Wesenberg (Hrsg.): Max Liebermann – Jahrhundertwende. Ars Nicolai, Berlin 1997, ISBN 3-87584-978-7, (Katalog zur Ausstellung in der Alten Nationalgalerie Berlin). Tobias G. Natter, Julius H. Schoeps (Hrsg.): Max Liebermann und die französischen Impressionisten. DuMont, Köln 1997, ISBN 3-7701-4294-2, (Begleitbuch zur Ausstellung im Jüdischen Museum Wien). Ruth Langenberg, Angelika Wesenberg (Hrsg.): Im Streit um die Moderne. Max Liebermann. Der Kaiser. Die Nationalgalerie. Nicolai, Berlin 2001, ISBN 3-87584-102-6, (Katalog zur Ausstellung der Nationalgalerie im Haus Liebermann am Pariser Platz). Annabelle Görgen, Sebastian Giesen: Ein Impressionismus für Hamburgs Bürgertum. Max Liebermann und Alfred Lichtwark. Ernst-Barlach-Haus, Hamburg 2002, ISBN 3-935549-31-8. Jenns E. Howoldt (Hrsg.): Im Garten von Max Liebermann. Nicolai, Berlin 2004, ISBN 3-89479-180-2, (Katalog zur Ausstellung in der Hamburger Kunsthalle). Ulrich Schulte-Wülwer, Jörg Paczkowski (Hrsg.): Max Liebermann und norddeutsche Mitglieder der Berliner Secession. Boyens, Heide 2008, ISBN 978-3-8042-1266-4, (Katalog zur Ausstellung im Museum Schlösschen im Hofgarten, Wertheim). Martin Faass (Hrsg.): Max Liebermann und Frankreich. Imhof, Petersberg 2013, ISBN 978-3-86568-897-2, (Ausstellung der Liebermann-Villa am Wannsee, Berlin, 21.4.–12.8.2013). Mathilde Arnoux: Der Künstler Max Liebermann im Spiegel der französischen Kunstkritik seiner Zeit. In: Martin Faass (Hrsg.), Max Liebermann und Frankreich, S. 60–73, online-Datei, (PDF; 10,72 MB). Marc Fehlmann für das Museum Oskar Reinhart (Hrsg.): Max Liebermann und die Schweiz. Meisterwerke aus Schweizer Sammlungen. Hirmer, München 2014, ISBN 978-3-7774-2276-3, (Katalog zur Ausstellung im Museum Oskar Reinhart, Winterthur). Martin Faass (Hrsg.): Liebermann und Van Gogh. Wienand Verlag, Köln 2015, ISBN 978-3-86832-266-8, (Katalog zur Ausstellung in der Liebermann-Villa am Wannsee, Berlin, 26.4.–10.8.2015). Dorothee Hansen und Martin Faass (Hrsg.): Max Liebermann: Vom Freizeitvergnügen zum modernen Sport. Hirmer, München 2016, ISBN 978-3-7774-2663-1, (Katalog zur Ausstellung Liebermann und der Sport – Reiten, Tennis, Polo in der Kunsthalle Bremen, 22.10.2016–26.02.2017, und der Liebermann-Villa, 19.3.–26.6.2017). Lucy Wasensteiner (Hrsg.) und Alice Cazzola: „Wir feiern Liebermann“, Berlin 2020, ISBN 978-3-9821239-1-2, (Katalog zur Sonder-Ausstellung „Leihgaben aus deutschen Sammlungen zu 25 Jahren Max-Liebermann-Gesellschaft“ in der Liebermann-Villa am Wannsee.) Filme (Auswahl) Max Liebermann – Der Weg in die Moderne. Dokumentarfilm, Deutschland, 2019, 52:27 Min., Buch und Regie: Susanne Brand, Produktion: Lona•media, NDR, arte, Erstsendung: 1. September 2019 bei arte, Inhaltsangabe von ARD und Lona•media mit Filmausschnitt. Die Liebermann-Villa am Wannsee. Fernseh-Reportagen, Deutschland, 2019, 30:11 Min., Buch und Regie: Charlotte Pollex (4:27 Min.), , im Gespräch mit Wolfgang Immenhausen, Vorsitzender der Liebermann-Gesellschaft; Der Garten der Liebermann-Villa. 5:33 Min., Buch und Regie: Anna Tschöpe, ; Ausstellung: „Max Liebermann und Lesser Ury“. Buch und Regie: Steffen Prell, ; Produktion: rbb, Redaktion: rbbKultur – Das Magazin, Erstsendung: 18. Mai 2019 bei rbb Fernsehen, online-Video von rbb. Max Liebermann – Vom Freizeitvergnügen zum modernen Sport. Ausstellungsfilm, Deutschland, 2016, 3:49 Min., Kamera: Christian Tipke, Produktion: Tipke digitales Video, Kunsthalle Bremen, Internetpublikation: 28. November 2016 bei YouTube, online-Video. Max Liebermann: „Die Rasenbleiche“. Wallraf-Richartz-Museum & Fondation Corboud, Köln. Bildanalyse, Deutschland, 2014, 4:38 Min., Buch und Regie: Claudia Kuhland, Produktion: WDR, Reihe: West ART Meisterwerke, Erstsendung: 12. Mai 2015 bei WDR Fernsehen, Inhaltsangabe und online-Video aufrufbar bis zum 31. Dezember 2099. Auf den Spuren der Sammlung Liebermann. Ein Kunstkrimi. Dokumentarfilm, Deutschland, 2014, 28:46 Min., Buch und Regie: Marina Farschid, Produktion: rbb, Erstsendung: 24. April 2014 bei rbb Fernsehen, Inhaltsangabe von ARD. Gezeigt wird die Suche von Monika Tatzkow u. a. nach der von der Gestapo beschlagnahmten berühmten privaten Kunstsammlung Max Liebermanns. Tatzkow erläutert an konkreten Beispielen unterschiedliche Vorgehensweisen von Besitzern von Raubkunst in den vergangenen Jahrzehnten und die Schwierigkeiten bei der Restitution. So konnten acht von über 200 Werken an die Erben Liebermanns zurückgegeben werden. Liebermann-Garten in Berlin-Wannsee. Dokumentarfilm, Deutschland, 2014, 6:240 Min., Moderation: Hellmuth Henneberg, Produktion: rbb, Reihe: rbb Gartenzeit, Erstsendung: 25. Mai 2014 bei rbb Fernsehen, Inhaltsangabe von ARD. Gartenführung mit Wolfgang Immenhausen, Vorsitzender der Liebermann-Gesellschaft. Max Liebermann und die französischen Impressionisten. Dokumentarfilm, Deutschland, 2013, 26:14 Min., Buch und Regie: Grit Lederer, Produktion: Medea Film, rbb, arte, Erstsendung: 28. April 2013 bei arte, Inhaltsangabe von ARD, online-Video, mit Archivaufnahmen. 100(0) Meisterwerke. Max Liebermann – Die Netzflickerinnen (1887–89), Öl auf Leinwand, Hamburger Kunsthalle. Bildanalyse, BR Deutschland, 1986, 9:57 Min., Buch: Sigrun Paas, Regie: Rainer E. Moritz, Produktion: RM Arts, WDR, Reihe: 100(0) Meisterwerke. Vertrieb: DuMont creativ Video, Köln, Hundert Meisterwerke aus den großen Museen der Welt, ISBN 3-7701-2058-2. Max Liebermann: Klassiker von heute – Revolutionär von gestern. Dokumentarfilm, BR Deutschland, 1979, 43:10 Min., Buch und Regie: Irmgard von zur Mühlen, Produktion: Chronos Media, SFB, Datensatz der Universität Freiburg, online-Video mit O-Ton Liebermann. Weblinks Datenbanken Max Liebermann im Internet Archive Literatur von und über Max Liebermann in der Bibliothek des Jüdischen Museums Berlin Biografien und Werke Professor Max Liebermann, in: Rudolf Martin: Jahrbuch des Vermögens und Einkommens der Millionäre in Preußen 1912, W. Herlet GmbH, Berlin 1912, S. 520. Biografie und Werk von Max Liebermann in cosmopolis.ch Biografie und Werke von Max Liebermann Villa Liebermann am Wannsee Max Liebermann-Gesellschaft Berlin e.V. Garten der Liebermann-Villa in Panoramen und als Diaschau, 2006 Verschiedenes – Ausstellungskalender Erinnerung an Max Liebermann im Gemeinschaftsprojekt TSURIKRUFN! vom Arbeitskreis selbständiger Kultur-Institute, 2021 Einzelnachweise Max Maler (Deutschland) Grafiker (Deutschland) Landschaftsmaler Maler des Impressionismus Maler des Realismus Maler des Naturalismus Mitglied im Deutschen Künstlerbund Teilnehmer einer Biennale di Venezia Träger des Hausordens von Oranien Träger des Roten Adlerordens 3. Klasse Träger des Pour le Mérite (Friedensklasse) Mitglied der Ehrenlegion (Ritter) Mitglied der Preußischen Akademie der Künste Träger des Bayerischen Maximiliansordens für Wissenschaft und Kunst Ehrenbürger von Berlin Ehrendoktor der Humboldt-Universität zu Berlin Person (Preußen) Berliner Secession Bildender Künstler (Berlin) Bestattet in einem Ehrengrab des Landes Berlin Deutscher Geboren 1847 Gestorben 1935 Mann
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https://de.wikipedia.org/wiki/Segeln
Segeln
Segeln ist die Fortbewegung eines Segelschiffs oder eines Segelboots unter Nutzung der Windenergie. Segelschiffe hatten über viele Jahrhunderte weltweit eine große Bedeutung für Handel und Transport, Kriegsführung und Fischfang. Gegen Ende des 19. Jahrhunderts begann ihre Verdrängung durch maschinengetriebene Schiffe, die von den Bedingungen des Wetters weniger abhängig waren und kürzere Fahrtzeiten, geringeres Personal und damit sinkende Transportkosten ermöglichten. Heutzutage wird in den Industrieländern Segeln fast nur noch als Freizeitaktivität oder Wettkampfsport betrieben, wenn auch Kriegs- und Handelsmarinen weiterhin Segelschulschiffe zur Ausbildung ihres Nachwuchses unterhalten. In anderen, weniger entwickelten Regionen hingegen konnten Segelschiffe teilweise ihre wirtschaftliche Bedeutung bis heute bewahren. Vom persischen Golf beispielsweise befördern Daus wie vor hunderten von Jahren Lasten nach Indien und Afrika. Im Laufe der Zeit haben sich Segelschiffe in vielen unterschiedlichen Konstruktionen und Größen entwickelt, wobei grundsätzlich zwischen Verdrängern (meist größere und schwerere Schiffe) und Gleitern (meist kleine, leichte und schnelle Boote) unterschieden werden kann. Die Spannbreite reicht von der Ein-Personen-Jolle über Yachten und Katamarane bis zum Großsegler mit mehreren Dutzend Mann Besatzung. Für die unterschiedlichen Schiffstypen hat sich eine Vielfalt von Segelmanövern entwickelt, die in sportlichen Wettkämpfen zur Perfektion geführt werden. Dazu ist ein grundlegendes Verständnis vom Aufbau des Schiffes und der physikalischen Grundlagen des Segelns hilfreich. Je nach Schiffsgröße und Fahrtgebiet sind zum Segeln außerdem seemannschaftliche Grundlagen und Kenntnisse über verschiedene gesetzliche Regelungen und Konventionen erforderlich. Geschichte Siehe auch: Entwicklungsgeschichte des Segelschiffs, Geschichte der Seefahrt, Römische Marine, Geschichte des Wikingerschiffbaus. Altertum Die erste bekannte Darstellung eines Schiffes mit Segel ist auf einer ägyptischen Totenurne aus Luxor aus der Zeit 5000 v. Chr. zu finden. Vornehmlich für die Fahrt auf dem Nil, aber auch für Fahrten über das Mittelmeer und das Rote Meer nutzten die Ägypter Schiffe mit einem Mast und einem großen Rahsegel. Das Segel war bereits drehbar gelagert, sodass die Schiffe auch bei seitlichem Wind segeln konnten. Im Südchinesischen Meer wurden etwa um 3000 v. Chr. Auslegerkanus entwickelt und zur Besiedlung Polynesiens genutzt. Weiterentwicklungen dieser Mehrrumpfboote, wie beispielsweise Pirogen und Proas, werden heute noch im Regattasport oder als Nutzfahrzeuge verwendet. Die Phönizier und Griechen entwickelten ab circa 1000 v. Chr. zwei Grundtypen von seegängigen Segelschiffen: das Lastschiff mit geräumigem Rumpf und einem großen Rahsegel und die Galeere, die für die Marschfahrt einen Mast mit mittelgroßem Rahsegel hatte, während eines Seekampfes und bei Flaute aber mit Riemen gerudert wurde. In den folgenden Jahrhunderten wurden Segelschiffe für zahlreiche Entdeckungs- und Eroberungsreisen genutzt. Beispielsweise berichtet der griechische Historiker Herodot vom ägyptischen Pharao Necho II., der 596–594 v. Chr. eine Erstumsegelung Afrikas (im Uhrzeigersinn) durch phönizische Seefahrer initiierte. Der griechische Geograph Skylax unternahm um 508 v. Chr. eine Entdeckungsreise von der Indusmündung bis zum Arabischen Meerbusen und weiter um die arabische Halbinsel bis ins Rote Meer und nach Ägypten. Um das Jahr 470 v. Chr. segelte der karthagische Herrscher und Admiral Hanno der Seefahrer von Karthago westwärts, durch die Straße von Gibraltar der Westküste Afrikas entlang bis in den Golf von Guinea. Sein Periplus (Fahrtenbericht) ist innerhalb einer griechischen Handschrift des Codex Palatinus Graecus überliefert. Der griechische Seefahrer Eudoxos aus Kyzikos unternahm 120 bis 117 v. Chr. eine Erkundungsfahrt nach Indien und erkannte dabei die Bedeutung der Monsunwinde für die Segelschifffahrt im Indischen Ozean. Auch die Römer nutzten um die Zeitenwende kombinierte Ruder- und Segelschiffe für Kriegs- und Handelszwecke. Als wesentliche Weiterentwicklung dieses Zeitraums gilt der Bugspriet als Teil der Takelage. Mit der Ausweitung des Handels zwischen Syrien und Italien mit Gütern des Fernen Ostens nahmen auch Angriffe von Piraten auf Handelsschiffe stark zu. Im Jahre 102 v. Chr. wurde die Plage der kilikischen und kretischen Piraten so arg, dass Rom sich entschloss, Gegenmaßnahmen zu ergreifen. Der Redner Marcus Antonius der Ältere unternahm einen Zug gegen Kilikien, allerdings mit nur mäßigem Erfolg. Die römische Flotte hatte zu allen Zeiten des römischen Reiches eine vergleichsweise geringe Bedeutung im Verhältnis zur Bedeutung des Landheeres. Wikingerzeit und Mittelalter Die Sachsen und Angeln, die als Angelsachsen gegen Ende des Römischen Reiches über die Nordsee nach England auswanderten, hatten Langschiffe mit einem Mast und einem Rahsegel. Die Wikinger perfektionierten diesen Schiffstyp vom 6. Jahrhundert bis zum 8. Jahrhundert. Die Entwicklung einer funktionsfähigen Takelage war der wesentlichste technische Fortschritt im Schiffbau. In Verbindung mit dem schlanken, doppelendigen Schiffstyp konnten die Wikingerschiffe Geschwindigkeiten von bis zu 20 Knoten (37 km/h) erreichen. Nach dem Ende der Wikingerzeit wurde im Norden aus den breiteren, offenen Handelsschiffen die Hansekogge entwickelt. Sie hatte nur einen Mast und bildete das Rückgrat des Fernhandels der Hanse. Gegen Ende des Mittelalters wurden auch zwei- und dreimastige Schiffe gebaut. Aus ihnen wurde in Spanien und Portugal die Karavelle entwickelt, mit der Christoph Kolumbus, Ferdinand Magellan und Vasco da Gama ihre Entdeckungsreisen unternahmen. Anfang des 15. Jahrhunderts unternahm der chinesische Admiral Zheng He zahlreiche Seefahrten im Indischen Ozean bis nach Ostafrika. Neuzeit Seit dem 17. Jahrhundert verwendete man immer spezialisiertere Formen, unter anderem Linienschiffe (als Kriegsschiffe mit mehreren Kanonendecks) und Fregatten (leichter armierte Schiffe von erhöhter Schnelligkeit). Die Schiffbauer entwickelten immer ausgefeiltere Besegelungen. Die Schiffe wurden schlanker, hatten mehr Tiefgang und konnten immer höher am Wind gesegelt werden. Die Zunahme der Handelsschifffahrt im 19. Jahrhundert brachte die schnellen schnittigen Klipper, die Durchschnittsgeschwindigkeiten bis 18 Knoten erreichten. Die Verwendung von Eisen (ab etwa 1890 Stahl) als Bootsbaumaterial läutete das Zeitalter der großen Windjammern ein. 1902 bzw. 1911 liefen die Preußen und die France, die größten Segelschiffe aller Zeiten, vom Stapel. Parallel wurden Segelschiffe aber immer mehr durch die manövrierfähigeren und wirtschaftlicheren Dampf- und später Motorschiffe ersetzt. Heute werden Segelschiffe in den Industrienationen fast nur noch als Schulschiff oder Sportboot verwendet. Das größte in Betrieb befindliche Segelschiff der Gegenwart ist die Golden Horizon, die als Luxuskreuzfahrtsschiff Dienst tut. Zum Freizeitvergnügen wurden Segelboote ab dem Beginn des 18. Jahrhunderts in größerem Stil genutzt, vor allem bei Hofe und durch wohlhabende Geschäftsleute in England und den Niederlanden. 1720 wurde im irischen Cork der erste Yachtclub gegründet, und 1749 startete der Prince of Wales die erste Regatta, bei der es um einen Pokal ging. In der zweiten Hälfte des 19. Jahrhunderts wurden mehrere bedeutende Segelregatten ins Leben gerufen, wie beispielsweise der America’s Cup im Jahre 1851 und die Kieler Woche im Jahre 1882. Der erste Segelclub Deutschlands wurde 1835 unter dem Namen Tavernen-Gesellschaft in Stralau (seit 1920 ein Ortsteil von Berlin) gegründet, hielt sich jedoch nicht lange. Der älteste bestehende deutsche Segelverein, der Segelclub Rhe, wurde 1855 in Königsberg gegründet. Im Jahr 1900 fand der erste olympische Wettbewerb im Segeln statt. Während das Segeln aus Kostengründen als Elitesport für reiche Leute begann, hat es sich inzwischen zunehmend zu einem Breitensport entwickelt. Teile eines Segelschiffes Unabhängig von seiner Größe besteht jedes Segelschiff aus drei wesentlichen Baugruppen: einem oder mehreren Rümpfen, den Segeln und dem Rigg. Der Rumpf kann aus Stahl, Aluminium, glasfaserverstärktem Kunststoff (GFK), Beton oder Holz gefertigt sein. Schiffe mit einem Rumpf (Yachten und Jollen) werden auch „Monohull“ genannt, im Gegensatz zu Proas, Katamaranen und Trimaranen, die aus zwei bzw. drei parallelen, miteinander verbundenen Rümpfen bestehen und als „Multihulls“ bezeichnet werden. Der Rumpf trägt meist an seiner Unterseite eine mit dem Rumpf fest verbundene Flosse – den Kiel oder das überwiegend in der Tiefe veränderliche Schwert. Diese Bauteile sollen die Abdrift (das Abtreiben) des Schiffes bei seitlichen Winden verringern (siehe Rumpfformen und Stabilität) bzw. die Stabilität des Schiffes bei Seitenlage (Krängung) gewährleisten. Weiterhin befindet sich auf der Unterseite des Rumpfes oder, bei kleineren Booten an dessen Ende, das oder selten die Ruder. Es ist auf Deck mit einer Pinne oder mit einem Steuerrad verbunden, mit denen das Boot gelenkt wird. Die Segel werden allgemein in Rahsegel und Schratsegel eingeteilt. Rahsegel sind die Segel, die quer zur Mittschiffsebene stehen und dadurch vorzüglich zum Segeln bei Wind von hinten (achterlicher Wind) geeignet sind. Zum Segeln schräg gegen den Wind, beim Kreuzen, sind sie aber, im Verhältnis zu Schratsegeln, nur zu großen Wendewinkeln fähig. Sie sind daher heute, mit Ausnahme von Traditionsschiffen, nicht mehr oder nur noch selten gebräuchlich. Im Gegensatz dazu ermöglichen die Schratsegel, die mit ihrer Vorderkante (Vorliek) in der Mittschiffsebene zum Beispiel am Mast befestigt sind, auch ein Segeln des Schiffes schräg gegen den Wind (am Wind). Es gibt noch feinere Unterteilungen nach der Segelform, z. B. in Lateinersegel, Luggersegel, Sprietsegel, Gaffelsegel und Hochsegel. Ein modernes Bermudarigg kann einen Kurs von bis zu 30 Grad bei bis zu 0 Grad Abdrift anliegen, ein klassisches Schratrigg einen Kurs von 45 bis 50 Grad bei einer Abdrift von etwa 5 Grad und ein Rahrigg kann Kurse zum Wind von etwa 60 Grad bei 10–15 Grad Abdrift erreichen. Der große, bauchige, meist bunte Spinnaker, auch einfach nur „Spi“ genannt, nimmt eine Sonderstellung ein, da er weder der Gruppe der Rahsegel noch der Gruppe der Schratsegel zugeordnet werden kann. Er wird nur an seinen drei Ecken gehalten und dient hauptsächlich dazu, achterlichem Wind eine große Angriffsfläche zu bieten. Als Segelmaterial wurde früher Baumwolle verwendet. Heute ist es weitgehend durch Polyestergewebe ersetzt worden, bei modernen Regattaschiffen auch durch Aramidfasergewebe (Handelsname Kevlar) oder Laminate. Zum Rigg (manchmal auch Takelage genannt) zählen Mast und Baum sowie das stehende und das laufende Gut. Gut bedeutet in diesem Zusammenhang so viel wie Tauwerk. Das stehende Gut besteht fast immer aus Stahldraht und stützt den Mast ab. Dazu gehören unter anderem die Stage, die den Mast nach vorne und hinten halten, und die Wanten, die ihm seitlichen Halt geben. Als laufendes Gut wird alles Tauwerk am Schiff bezeichnet, das zum Einstellen der Segel dient. Dazu gehören insbesondere Fallen, mit denen Segel gesetzt und geborgen werden, und Schoten, mit denen der Anstellwinkel der Segel zum Wind verändert wird. Je nach Takelungsart besitzen Schiffe einen (Slup, Kutter) oder mehrere Masten (Yawl, Ketsch, Schoner) mit jeweils einem oder mehreren Segeln. Physikalische Grundlagen des Segelns Antrieb eines Segelschiffes Ein Segelschiff wird durch zwei Effekte vorangetrieben: durch den Winddruck auf das Segel und durch die Luftströmung um das Segel, die durch Unterdruck am Segel zieht. In der Praxis überlagern sich meist beide Effekte, wobei je nach Kurs zum Wind der eine oder der andere Teil überwiegt. Die Kräfte werden von den Segeln auf die segelführenden Masten und Schoten, und von dort auf den Schiffsrumpf übertragen. Der Rumpf wird quasi durchs Wasser gezogen. Beim fahrenden Schiff ist die Gegenkraft zum Vortrieb im Wesentlichen der Wasserwiderstand, der auf den Schiffsrumpf wirkt. Winddruck auf das Segel Trifft der Wind von hinten (auf Vorwindkurs) oder von schräg hinten (auf Raumwindkurs) auf das Segelschiff, erfolgt der Antrieb des Segelschiffes durch den Widerstand, den die Segel dem Wind entgegensetzen. Die Luftströmung wird dabei unterbrochen und der Wind versucht, den Widerstand „wegzuschieben“. Diese Art des Vortriebs wird am günstigsten durch die früher auf Großseglern verwendeten Rahsegel genutzt. Auch die Großsegler fuhren auf Raumwindkurs schneller als auf Vorwindkurs, da bei Letzterem die meisten Segel in den Windschatten der hintersten Segel geraten. Moderne Segelschiffe mit Schratsegeln sind nicht besonders gut für den Antrieb durch Widerstand geeignet, da es den Schratsegeln besonders im oberen, wirksameren Bereich an Segelfläche fehlt. Um diese Nachteile auszugleichen, werden im Kursbereich Vor dem Wind bis Halber Wind zusätzlich große, bauchige Segel wie Spinnaker oder Gennaker eingesetzt. Windströmung am Segel (Tragflächeneffekt) Segelschiffe sind in der Lage, schräg gegen den Wind zu segeln und aufzukreuzen. Dadurch können Ziele erreicht werden, die entgegen der Windrichtung liegen. Dabei haben Schratsegel die größte Effizienz. Diese Segel verhalten sich strömungstechnisch ähnlich dem Tragflügel eines Flugzeuges. Die Wölbung (der Bauch) des Segels bewirkt komplexe aerodynamische Abläufe und Strömungen rund um das Segel. Das führt im Wesentlichen dazu, dass die anströmende Luft aus ihrer ursprünglichen Richtung abgelenkt wird. Als Reaktion darauf entsteht eine Kraft, die einerseits den Vortrieb und andererseits eine Abdrift (nach Lee) des Schiffes bewirkt. Um die unerwünschte Abdrift zu verkleinern werden optimierte Rumpfformen sowie Kiele und Schwerter eingesetzt. Der Windeinfallswinkel wird nicht nur durch den Kurswinkel des Schiffes zum tatsächlichen Wind, sondern auch von seiner eigenen Geschwindigkeit geprägt. Der für die Segel relevante wirksame Wind, der scheinbare Wind, fällt immer vorlicher ein als der wahre Wind. Da auch die Geschwindigkeit des scheinbaren Windes mit der Bootsgeschwindigkeit zunimmt, ist es möglich, schneller als der Wind zu segeln. Stabilität Eine wesentliche Aufgabe des Kiels oder Schwertes besteht darin, dem seitlich wirkenden Winddruck auf das Segel einen Widerstand unter Wasser entgegenzusetzen, um die Abdrift nach Lee zu verringern. Die daraus resultierende Schräglage des Bootes wird als Krängung bezeichnet. Auch durch Seegang kann ein Boot in Krängung versetzt werden. Unter der Stabilität eines Bootes wird seine Fähigkeit, diese Krängung auszugleichen und selbständig wieder in die aufrechte Lage zurückzukehren, verstanden. Dies kann auf zwei unterschiedliche Arten geschehen: einerseits durch Formstabilität, bei der die Rumpfform des Bootes eine Rückkehr in die Ausgangslage begünstigt, und andererseits durch Gewichtsstabilität, bei der ein tief liegender Ballastkiel das Boot wieder in die aufrechte Lage zwingt. Bei gewichtsstabilen Yachten erzeugt der Ballastkiel ein aufrichtendes Drehmoment, das mit zunehmender Krängung immer stärker wird. Ein solches Boot besitzt eine geringe Anfangsstabilität, aber eine hohe Endstabilität, und kann nur unter sehr schweren Wind- und Seegangsbedingungen kentern. Im Gegensatz dazu erfolgt bei formstabilen Booten, wie beispielsweise einer Jolle, der Ausgleich der Krängung durch den Auftrieb des Bootskörpers und eine Verlagerung des Mannschaftsgewichtes nach Luv (Ausreiten). Da durch die Krängung gleichzeitig der Winddruck im Segel abnimmt, kann eine Schräglage bis zu einem bestimmten Grad auf diese Art kompensiert werden. Bei zunehmender Krängung reduziert sich allerdings das aufrichtende Drehmoment, was letztlich zum Kentern führen kann. Segelmanöver und Segelpraxis Trimm Als Trimm eines Schiffes bezeichnet man seine „Einstellungen“, wie beispielsweise die Gewichtsverteilung auf dem Schiff, die Segelstellung zum Wind und mehr oder weniger starke Spannung auf verschiedenen Leinen. Der Trimm beeinflusst unter anderem die Geschwindigkeit des Schiffes, die Krängung, die Kursstabilität des Schiffes und sein Verhalten im Seegang. Dabei wird zwischen Gewichtstrimm, Segeltrimm und Masttrimm unterschieden. Gewichtstrimm wird durch Gewichtsverlagerung der Mannschaft, durch bewegliche Kielkonstruktionen oder durch Umpumpen von Wasser, das sich in verschiedenen Ballasttanks befindet, bewerkstelligt. Damit kann einerseits die Schräglage (Krängung) des Schiffes, andererseits auch die richtige Gewichtsverteilung in Schiffslängsrichtung eingestellt werden. Segeltrimm und Masttrimm erfordern ein hohes Maß an Wissen und Erfahrung, da viele Trimmvorrichtungen sich gegenseitig beeinflussen. Wichtige Trimmmöglichkeiten sind unter anderem der Winkel des Segels zum Wind (einstellbar über die Schoten) und der Bauch des Segels (einstellbar unter anderem über die Spannung der Lieken und den Baumniederholer). Darüber spielen Position, Neigung und Biegung des Mastes eine Rolle (kontrolliert durch das Achterstag bzw. das Vorstag). Der optimale Trimm eines Segels ist von der Windstärke, dem Seegang und dem Kurs des Schiffes zu Wind und Wellen abhängig. Darüber hinaus spielt das Ziel des Trimmens eine Rolle, wie beispielsweise eine hohe Geschwindigkeit, ein hoher Kurs am Wind oder ein angenehmes Verhalten im Seegang. Kurse zum Wind Bei Segelbooten wird die Fahrtrichtung nach der Lage des Bootes zum scheinbaren Wind bezeichnet, da hiervon die Segelführung und -stellung abhängen. Der Kurs eines Schiffes zum Wind ist dabei streng genommen der Winkel zwischen der Richtung, in die der Bug zeigt (die Rechtvorausrichtung), und der Richtung, aus der der scheinbare Wind kommt. In der Praxis unterscheidet man nur qualitativ zwischen Am-Wind-Kurs (Wind schräg von vorne), Halbwindkurs (Wind von der Seite), Raumschotskurs (Wind von schräg hinten) und Vorwindkursen (Wind genau von hinten). Je nach Kurs überwiegt der Antrieb durch Strömung am Segel oder der Antrieb durch Vortrieb (siehe oben). Segelmanöver Als Segelmanöver wird allgemein jeder Vorgang bezeichnet, bei dem der Kurs des Schiffes zum Wind oder die Segelführung verändert werden. Eine genaue Beschreibung der hier aufgeführten Segelmanöver erfolgt in den jeweiligen Hauptartikeln. Kursänderungen Eine Drehung des Bootes an den Wind (mit dem Bug zur Windrichtung hin) nennt man anluven. Die entgegengesetzte Bewegung, mit dem Bug vom Wind weg, heißt abfallen. Eine Drehung der Bugspitze durch den Wind hindurch, so dass das Segel von der anderen Seite her wieder angeströmt wird, nennt man Wende. Der entgegengesetzte Vorgang, das Heck durch den Wind zu drehen, heißt Halse. Eine besondere Form der Wende ist die Q-Wende (auch „Kuh-Wende“ genannt), die anstelle einer Halse gefahren werden kann. Ein Ziel, das in der Richtung liegt, aus der der Wind weht, erreicht man durch Kreuzen (auch Aufkreuzen genannt), das heißt Fortbewegung am Wind schräg in Richtung des Ziels mit regelmäßigen Wenden. Ein Aufschießer ist der Vorgang, das Boot über das Anluven hinaus mit der Bugspitze in den Wind zu drehen. Dies stellt die einzige Möglichkeit dar, ein Segelschiff zum Stehen zu bringen. Allerdings ist dieser Zustand nicht stabil, weil das Schiff durch den Wind von vorn achterliche Fahrt aufnimmt und schon bei leicht seitlichem Wind schnell zu einer Seite hin abfällt. Beidrehen und Beiliegen nennt man ein Manöver und dessen Resultat, bei dem das Vorsegel back gesetzt wird (auf die „falsche“ Seite des Schiffes, nämlich die Luvseite gebracht wird). Dadurch liegt das Boot sehr ruhig fast quer zum Wind und bewegt sich nur wenig vorwärts und nach Lee. Ein Segel zu schiften bedeutet, auf einem Vorwindkurs das Segel auf die andere Schiffsseite zu bringen, ohne dabei den Kurs zu ändern. Ein Mann-über-Bord-Manöver dient dazu, das Boot wieder zu einer über Bord gegangenen Person zurückzubringen. Es gibt verschiedene Versionen dieses Manövers, die je nach Bootstyp, aktueller Segelführung und Wind- und Seegangsverhältnissen mehr oder weniger gut anwendbar sind. Segelführung Bevor ein Segel genutzt werden kann, muss es angeschlagen, das heißt am Rigg befestigt werden, falls es nicht sowieso permanent angeschlagen bleibt. Zum Segeln muss das Segel gesetzt (das heißt meist hochgezogen) werden; am Ende der Fahrt oder bei einem Segelwechsel wird es wieder geborgen. Zur Segelführung gehört weiterhin das Reffen: Um bei starkem Wind oder Sturm die Krängung des Bootes zu verringern, kann die dem Wind ausgesetzte Fläche eines Segels verkleinert werden. Lässt der Wind nach, kann das Segel wieder ausgerefft, das heißt die Segelfläche wieder vergrößert werden. Es gibt unterschiedliche Reffsysteme, die jeweils ihre Vor- und Nachteile haben. Mit einem Bindereff wird der untere Teil des Segels in mehreren Abstufungen auf dem Baum zusammengerafft und dort fixiert. Mit einem Rollreff wird dagegen das Segel stufenlos in den Mast oder in/um den Baum gerollt. Ein Vorsegel mit einer Rollreffanlage wird um das Vorstag gewickelt, das dann oft als Aluminiumprofil um das eigentliche Drahtseil ausgeführt ist. Das Wickeln wird oft unterstützt durch eine endlos um eine Trommel geführte Reffleine, bei großen Yachten auch mittels elektrischer oder hydraulischer Antriebe. Ist bei weiter zunehmendem Wind die Segelfläche immer noch zu groß, müssen spezielle Sturmsegel gesetzt werden (Sturmfock als Vorsegel und Trysegel anstelle des Großsegels) oder die Segel müssen ganz geborgen werden (vgl. Abwettern). Schwerwettersegeln Starker Wind oder Sturm stellt eine besondere Herausforderung für die Besatzung eines Segelschiffes dar. Um zu starke Krängung beziehungsweise ein Kentern zu vermeiden, wird die Segelfläche durch Reffen verkleinert. Sollte das Segeln im eigentlichen Sinn durch immer höhere Windgeschwindigkeiten unmöglich werden, wird oft versucht, das Schiff durch Beiliegen zu stabilisieren. Herrscht eine so schwere See, dass ein Beiliegen nicht mehr möglich ist, werden alle Segel geborgen und das Schiff lenzt vor Topp und Takel, das heißt, das Schiff läuft nur durch die Windkraft auf das Rigg angetrieben, vor Wind und Wellen ab. Der Rudergänger hat dabei die schwierige Aufgabe, das Heck des Schiffes zur anrollenden Welle zu halten und ein Querschlagen zu verhindern. Um die Geschwindigkeit des Bootes beim Ablaufen vor den Wellen zu verringern, kann ein Treibanker über den Bug oder das Heck des Schiffes ausgebracht werden. Welche Sturmtaktik am erfolgreichsten ist, hängt stark vom jeweiligen Boot, der Zusammensetzung und dem Zustand der Besatzung, den vorherrschenden Wetterbedingungen und der Entfernung zum Land (oder von Untiefen) ab. Segelsport Es gibt zwei unterschiedliche Arten des sportlichen Segelns: Regattasegeln und Fahrtensegeln – vergleichbar dem Unterschied zwischen einem Radrennen und einer Radtour. Seit den Olympischen Spielen 1900 ist Segeln eine olympische Sportart. Regattasegeln Regattasegeln ist ein Wettkampfsport, bei dem eine vorher abgestimmte Strecke von zwei (Match Race) oder mehr (Fleet Race) Booten zur selben Zeit befahren wird. Die Dauer eines Wettkampfes kann von Stunden bei Jollenregatten bis zu Monaten bei Hochseeregatten betragen. In Jollenregatten werden meist mehrere Wettfahrten in einer Regatta durchgeführt, die Einzelergebnisse werden nach einem vorgeschriebenen Verfahren zusammengefasst und so der Gewinner ermittelt. Regatten werden meist nach den Wettfahrtregeln der World Sailing ausgetragen. Eine Regatta wird oft im sogenannten „Olympischen Dreieck“ gefahren. Kleinere Kielboote und Jollen sind meist sogenannte Einheitsklassen (auch One-Designs genannt). Diese Boote unterliegen strengen Beschränkungen (Klassenbestimmungen) in Bezug auf Bau und Ausrüstung. Dadurch wird sichergestellt, dass gleichwertige Boote gegeneinander segeln und das seglerische Können im Vordergrund steht. Bei größeren Yachten sind die Stückzahlen der Boote jedoch zu klein, um ausreichend große Startfelder zu erhalten. Hier müssen unterschiedliche Boote gegeneinander segeln. Um den Wettkampf fair zu gestalten, gibt es sogenannte Vermessungsformeln, nach denen das Geschwindigkeitspotential der Boote theoretisch vorherberechnet wird (IMS, IRC, ORC) oder aber aus Erfahrungswerten (z. B. Yardstick) bestimmt wird. Jedes Boot erhält einen individuellen Rennwert, mit dem die gesegelte Zeit zur sogenannten „berechneten Zeit“ korrigiert wird. Das erste Boot im Ziel ist daher oft nicht der Sieger, da ein langsameres Boot nach berechneter Zeit die bessere Leistung erbracht haben kann. Die beiden größten Segelsportveranstaltungen der Welt sind die Kieler Woche mit Regatten in olympischen und nicht-olympischen Bootsklassen und die Travemünder Woche mit Wettfahrten in 34 Klassen. Weiterhin ist die Warnemünder Woche von großer nationaler Bedeutung. Diese Regatten sind für jeden Teilnehmer ohne Qualifizierung offen, andere erfordern eine vorherige Ausscheidung. Die wohl aufwändigste Regatta ist der seit 1851 bestehende America’s Cup, der in geschützten Küstengewässern nach Wahl des Titelverteidigers abgehalten wird. Bekannte Hochseeregatten sind beispielsweise die Einhandregatta Vendée Globe rund um die Welt, und das Volvo Ocean Race, eine alle vier Jahre stattfindende Weltumsegelung. Wie in jedem Wettkampfsport ist der logistische und finanzielle Aufwand für die Teilnahme an Regatten umso größer, je internationaler die Veranstaltung ausgerichtet ist und je höher der eigene Anspruch ist. Um diesen Aufwand etwas zu reduzieren und eine Möglichkeit zum regelmäßigen Training mit Gleichgesinnten zu haben, sind regelmäßige Regattasegler meist in Segelvereinen organisiert. Fahrtensegeln Unter Fahrtensegeln werden meist mehrtägige Segeltörns verstanden, die mehr oder weniger sportlich ausgeprägt sein können, aber eher der Erholung oder dem Fortkommen dienen als dem Wettkampf mit anderen Booten. Das Fahrtensegeln umfasst ein weit gefächertes Spektrum, von kurzen Tagestörns bis zur mehrere Jahre dauernden Weltumsegelung. Seine Faszination besteht vor allem im intensiven Erleben der umgebenden Natur und in der Herausforderung, sich mit deren Kräften zu arrangieren und sie für sich zu nutzen. Die dafür notwendige Konzentration auf den Vorgang des Segelns an sich bewirkt bei vielen Seglern schon nach kurzer Zeit einen starken Erholungseffekt vom Alltag. Die Ausrüstung einer Charteryacht ist meist deutlich mehr auf Wohnkomfort und Sicherheit ausgelegt als die einer Regattayacht, die vor allem auf geringes Gewicht getrimmt wird. Ein mehrtägiger Törn unterscheidet sich von einem Tagestörn, der meist wieder im Ausgangshafen endet, hauptsächlich durch den deutlich höheren Bedarf an Verpflegung, Trinkwasser und Ausrüstung. Wird nachts durchgesegelt, sind deutlich mehr Erfahrung und Ausrüstung für Sicherheit und Navigation erforderlich als für das Segeln bei Tage. Langzeittörns, insbesondere wenn sie auf das offene Meer hinaus führen (so genanntes Blauwassersegeln), bedürfen einer sorgfältigen Planung und viel Erfahrung sowohl in der Seemannschaft als auch im Crew-Management, da außerhalb eines vom Wetterbericht abgedeckten Zeitraumes mit Schwerwetter und Sturm gerechnet werden muss. Überdies kann im Notfall nicht ohne weiteres Hilfe angefordert werden, weshalb Unfälle oder Schäden am Boot von der Crew selbst auch über längere Zeit bewältigt werden müssen. Weltweites Blauwassersegeln ist auch heute noch ein großes Abenteuer, weil dabei der gewohnte Schutz und Komfort der Zivilisation verlassen wird. Eine Atlantiküberquerung dauert, je nach Schiffsgröße und Windbedingungen, zwischen 20 und 30 Tagen, die Überquerung des Pazifischen Ozeans noch deutlich länger. Im Unterschied zu Regattaseglern organisieren Fahrtensegler ihre Törns meist auf individueller Basis und sind eher selten in Vereinen organisiert. Es gibt aber Vereine wie Trans-Ocean, die mit dem Zweck gegründet wurden, Blauwasserseglern Stützpunkte und Ansprechpartner in aller Welt anzubieten und den gegenseitigen Nachrichtenaustausch zu erleichtern. Verband Der 1888 gegründete Deutsche Segler-Verband (DSV) ist die nationale Interessenvertretung und der Spitzensportverband der deutschen Segler. Er ist Dachverband für über 1200 Segelvereine und Surfclubs (Stand: 2019), für 16 Landesseglerverbände und 85 Klassenvereinigungen. Rund 188.000 Mitglieder sind im DSV gemeldet. Der Sitz des Verbands befindet sich in Berlin. Inklusion Segeln (Special Olympics) ist eine Sportart, die auf den Regeln von Segeln beruht und in Wettbewerben und Trainingseinheiten der Organisation Special Olympics weltweit für geistig und mehrfach behinderte Menschen angeboten wird. Segeln ist seit 1995 bei Special Olympics World Games vertreten. Gesetzliche Vorschriften Ausbildung und Führerscheine In Küstengewässern und im Binnenbereich hat jeder Staat seine eigenen Führerscheine und Vorschriften zur Führung von Segelbooten. In den Hoheitsgewässern anderer Staaten braucht der Schiffsführer mindestens die Führerscheine, die in seinen heimatlichen Küstengewässern vorgeschrieben sind. Während die Hafenbehörden innerhalb Europas die Führerscheine für den Küstenbereich meistens gegenseitig anerkennen, ist außerhalb Europas eine Klärung im Einzelfall notwendig. Für das Segeln auf hoher See ist offiziell kein Führerschein erforderlich. Unabhängig von den gesetzlichen Regelungen verlangen jedoch Vercharterer von Segelyachten oder Versicherungen gelegentlich den Nachweis von Zusatzkenntnissen des Skippers und manchmal auch des Co-Skippers. Solche Zusatzkenntnisse können beispielsweise durch freiwillige höhere Scheine für das entsprechende Fahrtgebiet oder durch Seemeilenbestätigungen nachgewiesen werden. Im Folgenden werden die gesetzlichen Regelungen für Sportboote im deutschsprachigen Bereich beschrieben. Deutschland In Deutschland gibt es insgesamt fünf amtliche Führerscheine und zwei nichtamtliche Führerscheine, die zum Führen eines Sportbootes berechtigen. Generell ist für das Führen eines Segelbootes ohne Motor ein Führerschein nicht vorgeschrieben, sofern es keine anderen lokalen Vorschriften dazu gibt (siehe unten). Für Boote mit Motor ist erst ab einer Gesamtmotorleistung von 11 kW (15 PS) auf Binnenschifffahrtsstraßen der Sportbootführerschein Binnen (IZA, internationales Zertifikat A) und auf Seeschifffahrtsstraßen der Sportbootführerschein See (IZB, internationales Zertifikat B) amtlich vorgeschrieben. Darüber hinaus gibt es für den Seebereich weitere Scheine, die aber bei privater (nicht gewerblicher) Nutzung des Bootes nicht amtlich vorgeschrieben sind. Diese Scheine dienen als Befähigungsnachweise z. B. gegenüber Versicherungen, Vercharterern oder Mitseglern. Das sind: Sportküstenschifferschein (SKS) bis zwölf Seemeilen (sm) vom nächsten Land Sportseeschifferschein (SSS) bis 30 sm von der Basislinie und für Nord- und Ostsee sowie Schwarzes Meer und Mittelmeer unbegrenzt Sporthochseeschifferschein (SHS) für die weltweite Fahrt Bei gewerblicher Nutzung einer Yacht sind die Scheine SKS, SSS und SHS für das entsprechende Seegebiet gesetzlich vorgeschrieben. In Binnengewässern, die nicht dem Bund unterstehen (beispielsweise in und um Berlin und auf dem Bodensee), können zudem zusätzliche oder abweichende Vorschriften gelten, zum Beispiel ist in Berlin ab einer Segelfläche von drei Quadratmetern der Sportbootführerschein Binnen (unter Segel) vorgeschrieben, der ab 14 Jahren erworben werden kann. Auf einigen Wasserstraßen gibt es die Möglichkeit, Sportboote führerscheinfrei mit einer sogenannten „Charterbescheinigung“ zu führen. Für die Teilnahme am Binnen- oder Seefunk und den Erwerb großkalibriger Seenotsignalmittel sind gesonderte Nachweise und Zeugnisse zu erwerben. Die Prüfungen zu allen relevanten Führerscheinen nimmt der Deutsche Segler-Verband (DSV) sowie der Deutsche Motoryachtverband (DMYV) im Auftrage des Bundesministeriums für Verkehr (Führerscheine) und der Bundesnetzagentur (Funkzeugnisse) ab. Österreich Die Ausbildung in Österreich erfolgt in Segel- beziehungsweise Seefahrtsschulen. Die Grundbegriffe des Segelns können im Segel-Grundkurs erlernt werden. Durch eine kleine Abschlussprüfung kann der Junior-Schein (Alter des Kandidaten bis zwölf Jahre) beziehungsweise der Segel-Grundschein (ab 12 Jahre) erworben werden. Der A-Schein des Österreichischen Segel-Verbandes (OeSV) ist die nächsthöhere Ausbildungsstufe. Er gilt auf österreichischen Binnengewässern und endet mit einer theoretischen sowie einer praktischen Prüfung. Die Prüfung wird von vom Segelverband ernannten Prüfern vorgenommen. Man kann ab 14 Jahren zur Prüfung antreten. Zum Segeln am Meer sind weitere Ausbildungsschritte vorgesehen. Für die Abschlussprüfungen dieser Kurse sind das vollendete 18. Lebensjahr, das 16. Lebensjahr für den Fahrbereich 1, sowie Nachweise über bereits zurückgelegte Seemeilen erforderlich. Der Befähigungsausweis Fahrbereich 1 (Tages- und Wattfahrt) ermächtigt zum Führen einer Jacht bis maximal 10 Meter Länge und bis maximal 3 Seemeilen Entfernung zur Küste. Die Befähigungsausweise für küstennahe Fahrt beziehungsweise Küstenfahrt berechtigen zum selbständigen Führen einer Segelyacht im Fahrtenbereich 2 (Küstenfahrt – bis zu 20 Seemeilen Küstenentfernung) beziehungsweise Fahrtenbereich 3 (küstennahe Fahrt – bis zu 200 Seemeilen Küstenentfernung). Es gibt eine Längenbeschränkung bis 24 Meter für die Fahrbereiche 2,3 und 4. Zum weltweit selbständigen Führen einer Segelyacht ist der Befähigungsausweis des Fahrtenbereiches 4 vorgesehen. Es gibt unterschiedliche, vom österreichischen Ministerium für Verkehr und Innovation genehmigte Prüfungsstellen, die Prüfungen abnehmen, die zum Ansuchen um Ausstellung eines sogenannten IC (international Certificate) führen. Es gibt seit 2012 keine österreichischen, amtlichen Befähigungsausweise. Schweiz Auch in der Schweiz gibt es in Segelschulen praktische und theoretische Kurse, um das Segeln zu erlernen. Zum Segeln von Booten mit mehr als 15 m² Segelfläche ist ein Führerausweis der Kategorie D (D-Schein) vorgeschrieben. Zum Erlangen dieses Ausweises ist das Ablegen einer theoretischen und einer praktischen Prüfung erforderlich. Für Segelboote mit einem Hilfsmotor von mehr als sechs Kilowatt Leistung ist zusätzlich der Bootsführerschein A (A-Schein) nötig. Wer unter Schweizer Flagge auf dem Meer segeln will, benötigt den Hochseeschein (International Certificate for Operators of Pleasure Craft). Voraussetzung hierfür sind der D- oder A-Schein, eine bestandene Theorieprüfung sowie der Nachweis von Hochseepraxis in Form von 1000 gefahrenen Seemeilen. Ausweichregeln und Lichterführung Nach den internationalen Kollisionsverhütungsregeln (KVR) sind Motorfahrzeuge gegenüber Segelfahrzeugen in der Regel ausweichpflichtig. Ausnahmen gelten beispielsweise für manövrierbehinderte Motorfahrzeuge. Bei der Begegnung von Segelfahrzeugen untereinander entscheiden der Kurs zum Wind und die Segelstellung, welches der beiden Fahrzeuge ausweichpflichtig ist. Im Küstenbereich und in der Binnenschifffahrt gelten für die Begegnung zwischen Segel- und Motorbooten teilweise abweichende Regelungen, die (in Deutschland) in der Seeschifffahrtsstraßen-Ordnung und in der Binnenschifffahrtsstraßen-Ordnung festgelegt sind und durch örtliche Regelungen (zum Beispiel der Hamburger Hafenordnung) ergänzt sein können. Im Binnenbereich richtet sich die Ausweichpflicht beispielsweise nach dem Verlauf des Fahrwassers und der Größe der beteiligten Schiffe. Neben den Ausweichregeln sind in diesen Gesetzestexten auch die Lichterführung für Segelfahrzeuge vorgeschrieben. In den meisten Fällen benötigen Segelboote in Fahrt ein rotes und ein grünes Seitenlicht sowie ein weißes Hecklicht. Die Seitenlichter können bei Booten unter 20 Meter Länge in einer Zweifarbenlaterne zusammengefasst sein oder inklusive des Hecklichtes in einer Dreifarbenlaterne im Masttop geführt werden. Für sehr kleine Segelboote ist auch ein weißes Rundumlicht ausreichend. Yachtgebräuche Flaggenführung In aller Regel verwenden seegehende Yachten folgende Flaggen: die eigene Nationalflagge an einem Flaggenstock am Heck. Auf See führt eine Ketsch oder Yawl die Nationale im Topp des Besanmastes, ein Schiff mit Gaffelrigg an der Gaffel des achtersten Segels (meist Großsegel oder Besansegel), im Ausland die (kleinere) Gastlandflagge unterhalb der Steuerbord-Saling, den Clubstander des eigenen Segelvereins im Masttopp des Großmastes oder unter der Backbord-Saling, während einer Hochsee-Segelregatta wird an der Stelle des Clubstanders oft eine (private) Rennflagge geführt; die Nationalflagge wird im Rennen auf See nicht, sondern nur nach Aufforderung z. B. durch ein Kriegsschiff gezeigt, ggf. Signalflaggen unter der Backbordsaling (beim Signalisieren natürlich ohne Clubstander). selten die Nationalflaggen der Heimatländer von Crewmitgliedern unterhalb der Backbord-Saling, wenn diese besonders erwähnt oder geehrt werden sollen. Auf Charteryachten ist es üblich, die Nationalität der Crew so zu kennzeichnen. nach Auslandsreisen bei Rückkehr in den Heimathafen werden oft die Gastlandflaggen der besuchten Länder unter der Steuerbord-Saling in der Reihenfolge der angelaufenen Häfen von oben nach unten gesetzt. Der Clubstander weht Tag und Nacht an seinem Platz. Manche Yachtsegler folgen der Tradition, die National- und die Gastlandflagge morgens zu hissen und am Abend einzuholen. Dieses Zeremoniell wird Flaggenparade genannt und scheint in nordeuropäischen Gewässern noch verbreitet zu sein. Höflichkeitsregeln Unter Yachtleuten hat sich eine Reihe von Höflichkeitsregeln etabliert. Dazu gehört beispielsweise, dass in einen Hafen einlaufenden Gastyachten von Einheimischen ein freier Liegeplatz und beim Anlegemanöver Bereitschaft zur Hilfeleistung gezeigt wird. Möchte jemand, da keine Liegeplätze mehr frei sind, an einer anderen Yacht längsseits gehen, sollte um Erlaubnis ersucht und es sollten genügend Fender ausgebracht werden. Es ist üblich, diese Erlaubnis im Regelfall nicht zu verweigern. Muss man zum Landgang über eine fremde Yacht steigen, geht man (selbstverständlich nicht mit schmutzigen Straßenschuhen) möglichst über das Vorschiff der fremden Yacht und nicht durch das Cockpit im hinteren Teil des Schiffes, von wo aus man die Privaträume einsehen kann. In in- und ausländischen Häfen müssen meistens auch für Sportboote Liegegebühren als Bringschuld beim Hafenmeister bezahlt werden. Es ist guter Yachtgebrauch, das Hafengeld nicht zu prellen. Kulturelles Segeln in der Literatur Die Segelliteratur lässt sich in mehrere Bereiche unterteilen. Neben der Fachliteratur, die zu nahezu jedem Aspekt des Segelns erhältlich ist, gibt es eine Reihe von Büchern, die der Unterhaltung dienen, sich aber hauptsächlich an Segler richten. Oft werden in diesen Büchern Weltumsegelungen oder andere Segelreisen beschrieben. Als bekannte Autoren seien hier stellvertretend Bobby Schenk, Wilfried Erdmann und Karl Vettermann für den deutschsprachigen sowie Adlard Coles und Bernard Moitessier für den englisch- bzw. französischsprachigen Bereich genannt. Als dritte Kategorie gibt es die historische Unterhaltungsliteratur, in denen Segelschiffe eine bedeutende Rolle spielen. Beispielsweise wurde die Sage des fliegenden Holländers, eines ewig vor dem Kap der Guten Hoffnung kreuzenden Geisterschiffs, von Autoren wie Heinrich Heine und Wilhelm Hauff sowie in mehreren Filmen behandelt. Segeln in der Musik Auch in der Musik wird das Segeln immer wieder aufgegriffen. Spätestens seit dem 15. Jahrhundert entwickelten sich Shanties (Arbeitslieder für die gemeinschaftliche rhythmische Arbeit am Tauwerk), wie das Halyard-Shanty zum Setzen der Segel (Hamborger Veermaster) oder das Short-drag-Shanty für kurze Tauarbeiten (What shall we do with the drunken sailor?). Im Jahre 1843 wurde die Oper Der fliegende Holländer von Richard Wagner uraufgeführt. Auch in der populären Musik taucht das Thema Segeln gelegentlich auf. Beispiele sind Sailing, durch Rod Stewart (1975) und die britische Fernsehserie Sailor bekannt geworden, sowie das karibische Volkslied Sloop John B, das durch das Kingston Trio und die Beach Boys (1966) verbreitet wurde. Das Lied La Paloma, um 1861 von Sebastián de Yradier komponiert, wurde von über 25 Interpreten verarbeitet. Peter Reber schrieb viele seiner erfolgreichsten Titel während seiner Weltreise mit einer Segelyacht. Das Lied Sail away wurde 1992 von Hans Hartz und drei Jahre später von Joe Cocker gesungen für die Werbung der Beck & Co. mit einem Großsegler mit grünen Segeln, der seit 1988 durch die Alexander von Humboldt dargestellt wird. Redewendungen Einige segelspezifische Redewendungen aus der Seemannssprache sind in die Alltagssprache übergegangen. Beispielsweise ist eine aufgetakelte Person sehr auffällig gekleidet. Jemand kann aufkreuzen (auftauchen), die Segel streichen (aufgeben), jemandem etwas verklickern (erklären) oder ihm den Wind aus den Segeln nehmen (die Grundlage für Argumente nehmen). Verwandte Sportarten Das Windsurfen, bei dem nur ein Segel auf einem schmalen Brett befestigt ist, ähnelt aus physikalischer Sicht dem Segeln mit einer Gleitjolle. In beiden Fällen ist der Wasserwiderstand sehr gering, und der Trimm erfolgt zu einem großen Teil durch Verlagerung des Körpergewichtes, wozu ein guter Gleichgewichtssinn erforderlich ist. Für Windsurfer gelten die gleichen Ausweichregeln wie für Jollen, und auch die Führerscheinregelungen sind sehr ähnlich. Es gibt Experimente wie den Océankite, die einen richtigen Rumpf mit einem Lenkdrachen wie beim Kitesurfen antreiben. Beim Eissegeln wird auf zugefrorenen Seen und Flüssen gesegelt. Aufgrund des geringen Reibungswiderstandes der Kufen des Schlittens auf dem Eis werden Geschwindigkeiten von über 100 km/h erreicht. Eine weitere Variante ist das Strandsegeln, das auf Sand betrieben wird. Durch den Wegfall des Wasserwiderstandes erreichen diese meist dreirädrigen Fahrzeuge Geschwindigkeiten bis zu 130 km/h. Beim Windskaten wird das Segel auf einem Longboard befestigt und kann so auf glattem Untergrund an Land gefahren werden. Siehe auch Literatur Nach Erscheinungsjahr geordnet Lehrbücher für Einsteiger Roland Denk: Richtig Segeln. BLV, München 2002, ISBN 3-405-16234-3. Roland Denk: Segeln lernen in Frage und Antwort. Delius Klasing, Bielefeld 2003, ISBN 3-7688-1480-7. Peter Günzl, Markus Brandstötter, Ronald Höfer: Segeln: Der neue Kurs. Orac, Wien 2003, ISBN 3-7015-0454-7 (österreichischer BFA Binnen) Heinz Overschmidt, Ramon Gliewe: Sportbootführerschein, Binnen Segel, Motor. Delius Klasing, Bielefeld 2004, ISBN 3-7688-0657-X. (deutscher SBF Binnen) Hans Mühlbauer: Segeln. Ausrüstung, Boote, Manöver, Technik. (2., aktualisierte Auflage), BLV Buchverlag, München 2017, ISBN 978-3-8354-1021-3. Standardwerke Thomas Bock (Mitarb.), Petra Krumme (Red.): Seemannschaft. Handbuch für den Yachtsport. 30. Auflage. Delius Klasing, Bielefeld 2013, ISBN 978-3-7688-3248-9.- Seit 1929 mit wechselnden Mitarbeitern herausgegeben vom Deutschen Hochseesportverband „Hansa“, anfangs mit dem Untertitel Handbuch für Segler (und Motorbootfahrer), seit der 13. Auflage 1969 als Handbuch für den Yachtsport. Peter Bruce, Adlard Coles: Schwerwettersegeln. Delius Klasing, Bielefeld 2000, ISBN 3-7688-1240-5. Bobby Schenk: Fahrtensegeln. Delius Klasing, Bielefeld 2003, ISBN 3-7688-1426-2. Roland Denk: Handbuch Segeln. Delius Klasing, Bielefeld 2004, ISBN 3-7688-1556-0. Malte Philipp: Regattasegeln. Delius Klasing, Bielefeld 2005, ISBN 3-7688-1602-8. Lexika und Wörterbücher Roland Denk: Segelsport-Lexikon. Mit 1389 Fachausdrücken. BLV-Verlagsgesellschaft, München, Bern, Wien 1974. ISBN 3-405-11346-6. C. Doberman: Das Wörterbuch vom Wassersport Englisch Deutsch/ Deutsch Englisch. Delius Klasing, Bielefeld 1987, ISBN 3-7688-0505-0. Joachim Schult: Segler-Lexikon. Delius Klasing, Bielefeld.- Diverse Auflagen seit 1977, z. B. 13. Auflage 2008, ISBN 3-7688-1041-0. Segelzeitschriften palstek – Technisches Magazin für Segler. Palstek, Hamburg 1.1985 ff. segeln – Das Magazin für Segler. Jahr Top Special, Hamburg 1971 ff. marina.ch – Das nautische Magazin der Schweiz, Los media GmbH, Bern 2007 ff. Yacht. Delius Klasing, Bielefeld 1.1904/05 ff. yachtrevue – Österreichs Magazin für Wassersport. NEWS, Wien 1.1977 ff. Weblinks Verbände Deutscher Segler-Verband Österreichischer Segel-Verband Schweizerischer Segelverband Weitere Links Yachtsportarchiv – Geschichte des Segelsports Einzelnachweise Wassersportart Wikipedia:Artikel mit Video
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https://de.wikipedia.org/wiki/North%20Carolina
North Carolina
North Carolina (englische Aussprache ) ist ein an der Atlantikküste gelegener Bundesstaat im Osten der Vereinigten Staaten von Amerika. Er grenzt im Süden an South Carolina und Georgia, im Westen an Tennessee und im Norden an Virginia. Der Staat lässt sich aufgrund seiner geografischen Lage in drei klimatische Zonen aufteilen, die gemäßigte Küstenregion im Osten, das Piedmontplateau und die kühlere Bergregion der Appalachen. Die Flora und Fauna ist vielfältig und reicht vom flachwurzelnden Bewuchs der Küste und den dort lebenden amerikanischen Alligatoren bis hin zu den von Schwarzbären und Weißwedelhirschen bewohnten Nadelwäldern im Westen. Der heutige Bundesstaat geht auf eine 1663 gegründete Kronkolonie zurück und ist nach dem englischen König Karl I. benannt. Im Jahre 1776 war North Carolina eine der Dreizehn Kolonien, die sich in der amerikanischen Unabhängigkeitserklärung vom Mutterland lossagten, und ist damit einer der Gründungsstaaten der Vereinigten Staaten. Seit 1792 ist Raleigh Hauptstadt des Staates, ihren Namen erhielt die Stadt zu Ehren des Entdeckers der Küste North Carolinas, Sir Walter Raleigh. Während des Amerikanischen Bürgerkrieges von 1861 bis 1865 trat North Carolina aus den Vereinigten Staaten aus und schloss sich den Konföderierten Staaten von Amerika an. Die Wiederaufnahme in die Vereinigten Staaten erfolgte 1868 in dem dem Krieg folgenden Prozess der Reconstruction. Danach begann die bis in die erste Hälfte des 20. Jahrhunderts dauernde Umwandlung vom landwirtschaftlich geprägten Staat zu einer Industrieregion. Nach dem New Deal in den 1930er Jahren entwickelte sich North Carolina zu einem Zentrum der amerikanischen Finanzwirtschaft und der Forschung und Entwicklung in verschiedenen Hochtechnologie-Branchen. Der Bundesstaat zeichnet sich durch ein stetiges Bevölkerungswachstum aus und gehört zu den zehn bevölkerungsreichsten Bundesstaaten des Landes. Im Juli 2009 wurde die Bevölkerung des Staates auf 9.380.884 Menschen geschätzt, etwas über ein Fünftel der Bewohner sind afroamerikanischer Abstammung, acht Stämme indigener Völker (Indianer) leben innerhalb der Staatsgrenzen. North Carolina ist Teil des Bible Belts (), die Bevölkerung ist mehrheitlich protestantisch. Ursprünglich gehörte North Carolina zum Kernland der Demokraten; in der zweiten Hälfte des 20. Jahrhunderts verschob sich die allgemeine politische Ausrichtung zugunsten der Republikaner. Erst bei der Präsidentschaftswahl 2008 konnte nach 30 Jahren ein demokratischer Kandidat den Staat wieder für sich gewinnen. North Carolina ist Teil der kulturellen Großregion der Südstaaten, sowohl die regionale Musik, die typische Küche als auch die traditionellen Freilichttheater sind dadurch geprägt, während sich in der Architektur des Bundesstaates unterschiedliche Einflüsse finden. Von überregionaler Bedeutung sind eine Reihe von Museen und insbesondere natur- und denkmalgeschützte Gebiete und Einzelgebäude. Der Great-Smoky-Mountains-Nationalpark, der meistbesuchte Nationalpark der Vereinigten Staaten zieht einen Großteil der Besucher North Carolinas an. Ein weiterer Anziehungspunkt sind die jährlich veranstalteten NASCAR-Automobilrennen und die zwischen den Hochschulen ausgetragenen Wettkämpfe in den Collegesportarten. Geografie Lage und Ausdehnung North Carolina liegt an der Südostküste der Vereinigten Staaten und grenzt an die Bundesstaaten South Carolina und Georgia im Süden, Tennessee im Westen und Virginia im Norden. Im Osten liegt der Atlantik. Die Nordgrenze des Staats verläuft auf dem Breitengrad von 36°35′10″ im Westen bis 36°32′27″ im Osten. Die Westgrenze verläuft entlang des Kamms des Appalachen-Gebirges. Der südlichste Punkt des Staates liegt bei 33°50′57″ nördlicher Breite; seine Nord-Süd-Ausdehnung misst 300,3 Kilometer, die West-Ost-Ausdehnung zwischen 75°27′15″ und 84°19′01″ westlicher Länge beträgt 807,4 Kilometer. Der Staat umfasst eine Fläche von 139.389 Quadratkilometern, wovon 125.919 Quadratkilometer Landfläche sind, und ist damit etwas größer als Griechenland. Regionen Geografisch und geologisch lässt sich North Carolina von Ost nach West in drei wesentliche Teile gliedern: die Küstenebene am Atlantik, das Piedmont-Plateau im Hinterland und die Bergregion der Appalachen. Etwa zwei Drittel des Bundesstaates werden von der atlantischen Küstenebene eingenommen. Die Böden der sehr flachen Ebene sind sandig und sind von dichten Wäldern bewachsen, die überwiegend aus Kiefern und anderen immergrünen Bäumen bestehen. Die Böden eignen sich besonders für den Anbau von Tabak, Soja, Melonen und Baumwolle. Diese Region, zu der die Inner Banks gehören, ist die ländlichste North Carolinas, mit nur wenigen größeren Städten und Gemeinden. Dem Land vorgelagert sind die Outer Banks, eine Kette schmaler und variabler Düneninseln, die eine Barriere zwischen dem Atlantik und den im Landesinneren gelegenen Wasserwegen bilden. Die Outer Banks umschließen die zwei größten Lagunen der Vereinigten Staaten, den Albemarle Sound im Norden und den Pamlico Sound im Süden, deren Fläche jene des Staates Connecticut übersteigt. An North Carolinas Küste mangelt es an einem geeigneten natürlichen Hafen, weshalb sich nie ein bedeutender Seehafen wie beispielsweise Charleston in South Carolina oder Savannah in Georgia entwickelte. Der einzige größere Hafen des Staates, Wilmington, liegt etwa 25 Kilometer im Landesinneren am Cape Fear River. Die Küstenebene ist der größte und zugleich jüngste geologische Abschnitt des Staates. Sie besteht hauptsächlich aus Sedimentgestein, meist Sand und Lehm, im Süden der Küstenebene findet sich auch Kalkstein. Das wirtschaftlich bedeutsamste Mineral des Staates, für Dünger verwendbares Phosphat, wird in dieser Region abgebaut. Die Küstenebene wird durch die 90 Meter über dem heutigen Meeresspiegel liegende drei Millionen Jahre alte Küstenlinie begrenzt, die auch als fall zone (dt. Wasserfall-Gegend) bezeichnet wird; dort fällt das Piedmont Plateau aus relativ steil zur Küstenregion hin ab und die in den Appalachen entspringenden Flüsse des Staates weisen hier Stromschnellen und Wasserfälle auf. Die Piedmont-Region im Zentrum des Staates ist die am stärksten urbanisierte und am dichtesten besiedelte Region North Carolinas. Das Piedmont ist eine hügelige Landschaft, die häufig durch kleinere Ausläufer der Berge sowie durch von Flüssen geformte Täler unterbrochen wird und aus beinahe völlig erodierten Überresten höherer Berge entstanden ist. Die geologischen Strukturen werden durch den Inner Piedmont Belt mit einem Alter von 750 bis 500 Millionen Jahren der Kings Mountain Belt, Milton Belt, Charlotte Belt, Carolina Slate Belt, Raleigh Belt und dem Eastern Slate Belt geprägt, die alle ein Alter zwischen 650 und 300 Millionen Jahren aufweisen. Ebenfalls Teil des Piedmont sind die mit 200 bis 190 Millionen Jahren deutlich jüngeren Triassic Basins, ehemalige Senkungsgräben, die durch Schlamm und ausgespülte Sedimente der angrenzenden höheren Gebiete aufgefüllt wurden. Im Carolina Slate Belt wurde 1799 der erste Goldfund der USA dokumentiert und zu Beginn des 19. Jahrhunderts Minen zur Goldgewinnung betrieben, heute werden neben Lithium und Ton in dieser Region vor allem Granit, Gneis und andere Materialien für das Baugewerbe abgebaut. Die Höhe des Piedmonts reicht von etwa 90 Metern im Osten bis hin zu 300 Metern über dem Meeresspiegel im Westen. Die Böden bestehen überwiegend aus dünnen steinigen Schichten auf Lehmbasis; nur am östlichen Rand des Plateaus finden sich sandige Hügel, die eine frühere Küstenlinie mit ihren Dünen und Stränden markieren. Auf den gut durchfeuchteten Böden werden vor allem Pfirsiche und Melonen angebaut, für die die Region bekannt ist. Durch die seit den 1970ern schnell voranschreitende Verstädterung der Landschaft wurde und wird die Landwirtschaft weitgehend verdrängt und weicht einer suburbanen Struktur. Die Gebirgskette der Appalachen bildet die Westgrenze des Staates. Die Berge auf dem Gebiet North Carolinas lassen sich in vier Bergzüge einteilen. Die Blue Ridge Mountains sind der größte Gebirgszug und verlaufen in einer gewundenen Linie durch den Westen des Staates mit gelegentlichen hohen Ausläufern über das umliegende Terrain; Der Mount Mitchell ist mit die höchste Erhebung des Staates und zugleich der höchstgelegene Punkt der Vereinigten Staaten östlich der Rocky Mountains. Die Great Smoky Mountains, die auch als die Smokies bezeichnet werden, bilden die Westgrenze des Staates und sind der zweithöchste Gebirgszug North Carolinas. Das mit rund anderthalb Milliarden Jahren älteste Gestein findet sich im Westen des Staates. Der als Blue Ridge Belt bezeichnete Gürtel, zu dem auch die kleineren Abschnitte Murphy Belt und Grandfather Mountain Window gezählt werden, besteht aus magmatischen, sedimentären und metamorphen Gesteinen, die Feldspat, Glimmer und Quarz enthalten. Die Brushy Mountains sind deutlich kleiner und niedriger, ihr höchster Gipfel ist der Pores Knob. Er liegt 817 Meter über dem Meeresspiegel. Die Uwharrie Mountains sind der östlichste sowie zugleich älteste und niedrigste Gebirgszug North Carolinas. Die höchste Erhebung dieses Gebirgszugs ist der High Rock Mountain mit nicht einmal 350 Metern über den Meeresspiegel. Zwischen den Bergen liegen fruchtbare Täler, die mit zahlreichen Flüssen und Bächen durchzogen sind. Die Berge selbst sind mit üppigen Wäldern bewachsen, lediglich einige wenige Gipfel sind kahl mit einer prärieartigen Vegetation. Obwohl die Landwirtschaft in dieser Region noch eine wichtige Rolle spielt, nimmt die Bedeutung des Tourismus stetig zu und ist zum wichtigsten Wirtschaftszweig der Bergregion geworden. Gewässer Die Flusssysteme North Carolinas lassen sich im Wesentlichen in zwei Gruppen aufteilen. Die östliche Hauptwasserscheide Nordamerikas verläuft entlang des Kamms der Appalachen. Nur die Flüsse im äußersten Westen des Staates entwässern über den Mississippi zum Golf von Mexiko, die Flüsse, die an der Ostflanke des Gebirges entspringen, münden in den Atlantik. Letztere werden noch hinsichtlich ihrer Mündung unterteilt, die sich entweder auf dem Staatsgebiet North oder South Carolinas befindet. Die Trennung zwischen den Flusssystemen, die im Atlantik münden, wird durch eine Erhebung verursacht, die sich von den Ausläufern der Blue Ridge Mountains in südöstlicher Richtung fast bis zur Hafenstadt Wilmington entlang der Grenze zu Virginia zieht. Der Catawba River und der Yadkin River fließen mit ihren Zuflüssen durch etwa 30 Countys des Staates. Sie ziehen sich wie ein Fächer durch das Land und entwässern einen großen Teil des Piedmont, bevor sie über die Grenze nach South Carolina fließen und dort die Küste erreichen. Chowan, Roanoke, Tar, Neuse und Cape Fear River münden in North Carolina und waren vor Erbauung der Eisenbahnrouten wichtige Handelswege. Nur einer der Flüsse fließt direkt ins Meer, die anderen fächern sich in der Küstenebene immer weiter auf und münden in den Sounds. Diese Lagunen und die dort mündenden Flüsse schaffen ein Netzwerk von Wasserwegen mit einer Länge von etwa 1800 Kilometern, das sich für die Dampf- und Segelschifffahrt eignet. Die Ufer der Flüsse werden im Oberlauf von Auwäldern mit Pappeln, Weiden und Erlen, im flachen Unterlauf von Wäldern mit Sumpfzypressen gesäumt. In ihrem Verlauf von den Hochplateaus zu den Niederungen überwinden sie Höhenunterschiede von mehreren hundert Metern durch Stromschnellen und Wasserfälle. In der kolonialen Vergangenheit nutzten vielfach Baumwollmühlen und andere Betriebe wie Sägewerke dieses Gefälle und begünstigten damit den Aufstieg vieler Städte und Ortschaften. Die Sounds und die flacher verlaufenden Flüsse in der niedrig gelegenen Küstenebene bieten reiche Fischbestände und Kolonien von Wasservögeln. In North Carolina finden sich überall kleinere natürliche Seen; durch die Eindämmung der Flüsse durch Energieversorgungsfirmen sind aber auch größere Stauseen und Reservoirs entstanden, die neben der Flutkontrolle und der Energiegewinnung auch als touristische Ziele, Naherholungsgebiete und Jagd- und Angelregionen dienen. Ein größeres Seengebiet entstand beispielsweise durch den Rückstau des Yadkin River an den Ausläufern der Uwharrie Mountains: die Uwharrie Lakes. Der größte dieser Seen ist der High Rock Lake. Der größte durch Menschenhand in North Carolina geschaffene See ist mit einer Fläche von 129 Quadratkilometern der Lake Norman, ein Stausee am Catawba River, an dessen Ufer der Lake Norman State Park entstanden ist. Klima Im größten Teil des Staates herrscht warmgemäßigtes Regenklima vor; ausgenommen sind die höher gelegenen Gebiete in den Appalachen, die zur Zone des vollfeuchten borealen Klimas gerechnet werden. Die Berge dienen oft als „Schild“ der Piedmont-Region, der niedrige Temperaturen und Stürme aus dem Mittleren Westen abhält. Die durchschnittliche Tagestemperatur in den meisten Gebieten des Staates liegt im Juli um 32 °C. Im Januar liegen die Temperaturen im Mittel bei 10 °C. Die Küstenebene wird klimatisch vom Atlantischen Ozean beeinflusst, der im Winter für mildes und im Sommer für mäßig warmes Wetter sorgt. Die Tageshöchsttemperatur an der Küste liegt im Sommer bei 31 °C, während die Temperaturen im Winter selten unter 4 °C fallen. Die durchschnittliche Tageshöchsttemperatur in den Wintermonaten liegt in der Küstenebene um 15 °C, Temperaturen unter dem Gefrierpunkt sind äußerst selten. In der Küstenebene fallen jährlich etwa zwei Zentimeter Schnee, viele Winter sind völlig schnee- und eisfrei. Im Piedmont hingegen sind die Sommer wärmer und die Winter kälter als in der Küstenregion. Die Tageshöchsttemperaturen liegen im Sommer durchschnittlich bei über 32 °C, steigen aber selten über 37 °C. Im Winter liegen die Tagestemperaturen im Mittel um 10 °C und fallen nachts oft unter den Gefrierpunkt. Die jährlichen Schneefälle betragen zwischen 7 und 20 Zentimeter. Das Winterwetter im Piedmont ist bekannt für Graupelschauer und Eisregen, der in manchen Stürmen so heftig ausfallen kann, dass Bäume und Stromleitungen unter der Last zusammenbrechen. Die jährlichen Niederschlagsmengen und die Luftfeuchtigkeit im Piedmont sind niedriger als an der Küste oder in den Bergen, jährlich werden etwa 1000 Liter pro Quadratmeter Niederschläge gemessen. Das kühlste Gebiet North Carolinas sind die Appalachen; dort steigt die Temperatur im Sommer selten über 26 °C. Die durchschnittlichen Tagestemperaturen liegen im Winter zwischen −1 °C und 5 °C, oft sinken sie unter −9 °C. Es fällt zwischen 36 und 51 Zentimeter Schnee pro Jahr, in den höheren Region meist mehr. Wegen der exponierten Lage an der Atlantikküste im äußersten Südosten wird North Carolina durchschnittlich einmal pro Jahrzehnt mit großer Wucht von einem Hurrikan getroffen, weitere tropische Stürme treffen den Staat etwa alle drei bis vier Jahre. In manchen Jahren kann North Carolina mehrmals von einem Hurrikan und weiteren tropischen Stürmen heimgesucht werden oder die Auswirkungen der Ausläufer dieser Stürme in der Küstenebene spüren. Nur die Bundesstaaten Florida, Texas und Louisiana werden häufiger von Hurrikans getroffen als North Carolina. Durchschnittlich werden an 50 Tagen pro Jahr Gewitter verzeichnet, einige davon so schwer, dass sie Hagel und Windböen von Orkanstärke verursachen. Obwohl die meisten Hurrikans Schäden in den Küstenregionen des Landes anrichten, können sie durchaus das Landesinnere erreichen und dort große Zerstörungen verursachen. Im Jahresdurchschnitt erlebt North Carolina weniger als 20 Tornados, die meisten werden durch Hurrikans oder tropische Stürme in der Küstenebene verursacht. Aus Gewitterstürmen entstehende Tornados kommen in den östlichen Teilen des Staates vor, während das westliche Piedmont oft durch die Berge vor solchen Stürmen geschützt wird. Ein weiteres Wetterphänomen namens Cold Air Damming, der Aufstau kalter Luftmassen, findet im Westen des Staates gelegentlich statt. Das kann die Stürme abschwächen, führt aber auch zu starkem Eisregen im Winter. Fauna und Flora Die Fauna und Flora des Staates bietet ein sehr vielfältiges Bild, das von dem sparsamen und flachwurzelnden Bewuchs der Küstenregion und den dort lebenden amerikanischen Alligatoren bis hin zu den von Bären und Weißwedelhirschen bewohnten Nadelwäldern in den Appalachen reicht. Dabei sind im Flachland die typischen Pflanzen und Tiere des Südostens vertreten, während in den höheren Lagen mehr nördlich verbreitete Arten vorkommen. Insgesamt etwa 300 Baumarten und -unterarten sowie etwa 3000 verschiedene blühende Pflanzen wurden gezählt. Etliche der in North Carolina vorkommenden Pflanzen und Tierarten gelten als gefährdet, teilweise bezieht sich das auf das Vorkommen im Staat, aber auch landesweit gefährdete Arten haben ihren Lebensraum in North Carolina, beispielsweise verschiedene Walarten und die Blue-Ridge-Goldrute. In der Küstenregion siedeln sich in den Salzwiesen und Marschen vor allem das Schlickgras Spartina patens und das Gras Distichlis spicata an, auf Küstendünen wächst das hohe Gras Uniola paniculata (sea oats). An Bäumen wachsen vor allem virginische Zedern und Kiefern, in den Schwarzwassersümpfen der Region finden aber auch Sumpfzypressen, Sumpf-Magnolien und Tupelobäume gute Wachstumsbedingungen. Weltweit ausschließlich in den Pocosin-Mooren um Wilmington ist die Venusfliegenfalle verbreitet. Neben verschiedenen Salz- und Süßwasserfischen leben auch Austern, Seeschildkröten und die geschützten amerikanischen Alligatoren in den Flüssen, Seen und an der Küste des Staates. Eine Besonderheit der Outer Banks sind die Bank Ponys, die halbverwildert auf der Inselkette leben. Im Piedmont können die Bäume tiefer wurzeln, die Wälder werden von verschiedenen Eichen- und Hickory-Arten dominiert, früher auch von Amerikanischer Kastanie. Verschiedene Arten von Pappeln, Birken, Linden, Rosskastanien und Ahorn wachsen dort, dazu kommen beispielsweise der Carolina-Schierling und verschiedene Orchideenarten. Verbreitete Tierarten sind neben Waschbären und Eichhörnchen auch Opossums, einige von Aussterben bedrohte Fledermausarten und Biber. Die Flüsse und Seen werden von Barschen, Welsen und anderen Fischen besiedelt, außerdem gibt es eine Vielzahl verschiedener Wasservögel, vor allem Enten- und Gänsearten. Zu den Bergen hin geht die Vegetation in Nadelwälder über, teilweise überschneiden sich hier die Lebensräume der Tiere mit dem Piedmont. Bereits ausgerottet sind Grauwölfe und Berglöwen, allerdings kommen Rotluchse in den Wäldern North Carolinas vor. Im Bereich der Great Smoky Mountains leben außerdem Schwarzbären, die inzwischen eine Touristenattraktion darstellen. Die erst im 19. Jahrhundert eingeführten Wildschweine treten verbreitet auf, genauso wie Weißwedelhirsche. In den klaren Flüssen der Berge leben Forellen und Barsche. Bevölkerung Bevölkerungsdichte Die Bevölkerungsdichte des Staates beträgt 63,8 Einwohner pro Quadratkilometer. Die großen Städte North Carolinas befinden sich fast ausschließlich in drei Metropolregionen, in denen mehr als die Hälfte der Gesamtbevölkerung des Staates lebt: Die grenzüberschreitende Agglomeration „Metrolina“ im Gebiet der Städte Charlotte, Gastonia und Salisbury (North Carolina) auf dem Gebiet North und South Carolinas mit rund 2,2 Millionen Einwohnern. Das „Triangle“, ein Dreieck zwischen den Städten Raleigh, Durham und Cary mit über anderthalb Millionen Einwohnern. Die „Piedmont Triad“ zwischen Greensboro, Winston und Salem-High Point mit ca. 1,5 Millionen Einwohnern. Die drei größten Städte sind Charlotte mit 842.051, Raleigh mit 375.806 und Greensboro mit 247.183 Einwohnern. Weitere Städte und Orte sind in der Liste der Städte in North Carolina aufgeführt. Bevölkerungsentwicklung Die Bevölkerung North Carolinas wächst seit Jahrzehnten stetig und erhöhte sich zwischen 1990 und 2000 von 6,6 Millionen auf 8 Millionen Einwohner. Nach Angaben des U.S. Census Bureau lebten am 1. Juli 2009 9.380.884 Einwohner auf dem Staatsgebiet, dies ist ein Anstieg um 16,7 % beziehungsweise 1.340.334 Einwohnern seit dem Jahr 2000. Dieser Wert übersteigt deutlich die durchschnittliche Wachstumsrate der USA, die etwa 8 % beträgt. Das Wachstum enthält einen natürlichen Bevölkerungsanstieg um 412.906 Menschen, es wurden 1.015.065 Kinder geboren und 602.159 Menschen starben. Im selben Zeitraum migrierten 591.283 Menschen aus anderen Bundesstaaten nach North Carolina, 192.099 Einwanderer kamen aus dem Ausland. Zwischen 2005 und 2006 überholte North Carolina den Bundesstaat New Jersey und rangiert nun auf Platz 10 der bevölkerungsreichsten Staaten. Die Bewohner North Carolinas ordnen sich selbst folgenden Bevölkerungsgruppen zu: 74 % Weiße, 21,7 % Afro-Amerikaner, 7,0 % Mittel- bzw. Lateinamerikaner, 1,9 % Asiaten, 1,2 % Indianer. 6,7 % der Bevölkerung ist jünger als 5 Jahre, 24,4 % sind unter 18 und 12 % sind 65 Jahre alt oder älter. Der geschätzte Anteil der Frauen an der Bevölkerung beträgt 51,1 %. Bevölkerungsgruppen Afroamerikaner Etwas über ein Fünftel der Bevölkerung des Staates ist afroamerikanischer Abstammung; seit den 1970er Jahren steigt ihr Anteil an der Mittelschicht aufgrund eines verbesserten Zugangs zur Bildung. Die afroamerikanische Bevölkerung lebt vorwiegend in der im Osten gelegenen Küstenebene und in Teilen des Piedmont Plateaus, historisch eine Region, in der Schwarze gearbeitet haben und in der noch heute die meisten Arbeitsplätze entstehen. Afroamerikanische Gemeinden existieren zu Hunderten in den ländlichen Countys im zentralen Süden und im Nordwesten des Staates; Stadtteile mit überwiegend schwarzer Bevölkerung gibt es in den Städten Charlotte, Raleigh, Durham, Greensboro, Fayetteville, Wilmington und Winston-Salem. Die Familiengeschichte derer, die beim staatlichen Zensus zwischen 1790 und 1810 als „andere freie Personen“ erfasst wurden, zeigt, dass diese zu 80 % von den migrierten freien Schwarzen aus dem kolonialen Virginia abstammten. Die meisten stammten von freien afroamerikanischen Familien aus Verbindungen zwischen freien weißen Frauen oder Vertragsarbeiterinnen und freien, in Arbeitsverträgen gebundenen oder versklavten afrikanischen Männern ab. Indianer, die englische Gebräuche annahmen, wurden Teil der afroamerikanischen Gemeinden und heirateten in diese Familien ein. Einige hellhäutigere Abkömmlinge bildeten ihre eigenen, von den anderen getrennten Gemeinschaften und bezeichneten sich selbst oft als „Indianer“ oder „Portugiesen“, um den negativen Konsequenzen einer schwarzen Abstammung zu entgehen. In den Bergregionen und dem ländlichen Piedmont leben nur wenige Afroamerikaner, in einigen Countys in den Appalachen betrug die Zahl der schwarzen Bewohner in der Vergangenheit nie mehr als ein paar Dutzend Bürger. Asiatische Amerikaner Der früheste Nachweis asiatischer Immigration geht auf die Anwerbung aus China stammender Arbeiter in der Landwirtschaft Mitte des 18. Jahrhunderts zurück. Die berühmten chinesisch-malaiischen siamesischen Zwillinge Chang und Eng Bunker ließen sich 1839 in Wilkesboro nieder. Japanische, philippinische, und koreanische Amerikaner siedelten sich ab dem Beginn des 20. Jahrhunderts in North Carolina an. Der Staat beherbergt eine der am schnellsten wachsenden asiatisch-amerikanischen Bevölkerungsgruppen des Landes, diese setzt sich vor allem aus Indoamerikanern (Desi) und vietnamesischen Amerikanern zusammen. Deren Bevölkerungszahlen haben sich in den Jahren zwischen 1990 und 2002 nahezu vervierfacht. Die Zahlen der aus dem Volk der Hmong stammenden Personen ist in North Carolina seit den 1980ern auf 12.000 gestiegen. Europäische Amerikaner Die zuerst besiedelte Küstenregion zog vor allem englische Immigranten an, darunter viele Schuldknechte, die in die Kolonien transportiert wurden, und Nachkommen der Einwanderer aus Virginia. Hinzu kamen protestantische Einwanderer aus Kontinentaleuropa, besonders Hugenotten und Deutschschweizer, die sich in New Bern niederließen. Walisische Einwanderer siedelten im 18. Jahrhundert, gemeinsam mit anderen Gruppen von den britischen Inseln, östlich des heutigen Fayetteville. Amerikaner schottisch-irischer und englischer Abstammung leben überall in North Carolina, während historisch der Piedmont und das Hinterland von den schottisch-irischen und nord-englischen Einwanderern besiedelt wurde. Sie waren die letzte und zahlreichste Gruppe der englischen Einwanderer, die vor dem Unabhängigkeitskrieg in North Carolina eintraf. Sie besiedelten den Süden der Bergregion und konnten dort ihre althergebrachte unabhängige Lebensweise, meist als selbstständige Farmer, führen. In der Region um Winston-Salem stammt ein beträchtlicher Teil der Bevölkerung von deutschsprachigen Einwanderern aus Böhmen ab. Diese wanderten im Zuge einer Immigrationswelle der protestantischen Herrnhuter Brüdergemeine Mitte des 18. Jahrhunderts nach North Carolina ein. Während des frühen 20. Jahrhunderts siedelte sich eine Gruppe orthodoxer Einwanderer aus der Ukraine in Pender County an. Hispanics und Latinos Seit 1990 steigt die Zahl der Hispanics und Latinos in North Carolina rapide an. Ursprünglich Wanderarbeiter, arbeiten sie meist als ungelernte Hilfskräfte. Der Zugang zu diesem Bereich wurde vereinfacht und infolgedessen siedeln sich immer mehr Hispanics im Staat an. Sie stammen überwiegend aus Mexiko, Zentralamerika und der Dominikanischen Republik. Inzwischen gibt es in vielen Städten hispanische Viertel, es gibt größere Zahlen kubanischer Amerikaner und Puerto Ricaner. Das Pew Hispanic Center schätzte 2005 basierend auf den Zahlen des U.S. Census Bureaus, dass etwa 65 % der Latinos in North Carolina, also 300.000 Menschen, als illegale Einwanderer in das Land eingereist seien. Die spanischstämmige Bevölkerung ist damit von 77.726 Menschen im Jahre 1990 auf 517.617 gewachsen, ein Anstieg von 13,5 % pro Jahr. Nordamerikanische indigene Völker Nur in fünf anderen Bundesstaaten, namentlich Kalifornien, Arizona, Oklahoma, New Mexico und Texas, leben mehr amerikanische indigene Völker als in North Carolina. Insgesamt gibt es in den USA 2.824.751 Personen indianischen beziehungsweise alaskanischen Ursprungs, das sind 0,95 % der Gesamtbevölkerung. In North Carolina lebten 2007 nach Schätzungen 111.853 Indianer. Der Bundesstaat erkennt acht Stämme innerhalb seiner Grenzen an, von denen allerdings nur einer auch auf Bundesebene als federally recognized tribe anerkannt ist. federally recognized Indian tribe die Eastern Band of Cherokee Indians wurde von den Vereinigten Staaten im Jahre 1868 und von North Carolina 1889 anerkannt. Sie leben mit etwa 13.400 eingetragenen Stammesmitgliedern überwiegend im östlichen Anteil der Countys Swain, Graham und Jackson. Die meisten leben im Reservat Qualla Boundary, das ein 230 km² großes Gebiet umfasst, Hauptstadt und Verwaltungssitz der Eastern Band of Cherokee ist Cherokee. state recognized Indian tribes der Haliwa-Saponi Indian Tribe erhielt 1965 die staatliche Anerkennung und umfasst etwas mehr als 3.800 eingetragene Mitglieder, sind Nachkommen der Sioux-sprachigen Saponi, Occaneechee, Tutelo, Keyauwee, Enoke (Eno), Shakori, der Stuckanox sowie der Algonkin-sprachigen Nansemond und Irokesisch-sprachigen Tuscarora, Verwaltungssitz ist Hollister, leben heute im Nordosten der Countys Halifax und Warren. die rund 2000 Stammesmitglieder des Waccamaw Siouan Tribe leben in den Countys Bladen und Columbus an der Atlantikküste. Sie wurden von North Carolina 1971 anerkannt. Sie sind nicht mit den ebenfalls state recognized Waccamaw Indian People (of Conway) (auch Chicora Waccamaw) in South Carolina zu verwechseln. der Coharie Indian Tribe, repräsentiert durch das Coharie Intra-tribal Council, Verwaltungssitz ist Clinton, besitzen Land im Gebiet der Countys Sampson und Harnett, sind Nachkommen der Neusiok, wurden 1911 von den USA bereits anerkannt, jedoch wurde diese Anerkennung zunächst von North Carolina nicht akzeptiert. Ein weiteres Anerkennungsverfahren im Jahre 1971 war erfolgreich. der Sappony Tribe wurde von North Carolina 1911 als Stamm anerkannt, umfasst etwa 850 eingetragene Mitglieder, Verwaltungssitz befindet sich in High Plains Indian Settlement, war früher als Indians of Person County, North Carolina bekannt, änderte 2003 den Namen in Sappony Tribe, um auf ihre Herkunft und Kultur zu verweisen. die Occaneechee Band of the Saponi Nation (bis 1995 Eno-Occaneechi Indian Association genannt), Nachkommen der Occaneechee, Enoke (Eno) und Saponi, lebt mit 800 Mitgliedern in den Countys Orange und Alamance, wurde am 4. Februar 2002 als achter Stamm von North Carolina staatlich anerkannt. der Meherrin Indian Tribe, verwandt mit den einst benachbarten irokesisch-sprachigen Tuscarora und den nördlich lebenden Irokesen, lebt überwiegend in den ländlichen Gebieten der Countys Hertford, Bertie und Gates im Nordosten North Carolinas in der Nähe des gleichnamigen Flusses an der Grenze zu Virginia, wurde 1986 von North Carolina staatlich als Stamm anerkannt und umfasst rund 900 Mitglieder, Verwaltungssitz befindet sich im Ort Winton, heute der kleinste Stamm in North Carolina. der Lumbee Tribe of North Carolina leben größtenteils in den Countys Robeson, Hoke, Cumberland und Scotland im Südosten des Staates, Kultur- und Verwaltungszentrum ist die Stadt Pembroke. Sie stellen einen Sonderfall dar. Die USA erkannten mit dem sog. Lumbee Act of 1956 diese auf Bundesebene zwar als Stamm an, verweigerten ihnen jedoch alle Rechte und Unterstützungen, die offiziell von der Bundesregierung anerkannten Stämmen zustehen. Vom Bundesstaat North Carolina unter dem Namen Croatan Indians bereits 1885 als indianisches Volk anerkannt, änderte die Regierung 1911 den Stammesnamen in Indians of Robeson County sowie 1913 in Cherokee Indians of Robeson County. 1953 wurde der Name in Lumbee Tribe of North Carolina umbenannt, Nachkommen von meist Cheraw und verwandten Sioux-sprachigen Stämmen sowie Afro-Amerikanern (meist entflohenen Sklaven) und Weißen, werden sie von Forschern daher heute zu den tri-racial isolate, also als isolierte Bevölkerungsgruppe, die von drei Ethnien abstammt (Indianern, Afro-Amerikanern und Weißen) gerechnet. Mit etwa 55.000 Mitgliedern sind die Lumbee der achtgrößte Indianerstamm der USA, der größte östlich des Mississippi sowie von North Carolina. Religionen North Carolina ist Teil des Bible Belt, in dem die Bevölkerung traditionell mit einer überwältigenden Mehrheit protestantisch war und im späten 19. Jahrhundert die Southern Baptists dominierten. Durch den Zuzug von Bürgern aus den nördlichen Staaten und Immigranten aus Lateinamerika steigt der Anteil der Katholiken und der Juden kontinuierlich, 2007 betrug der Anteil der Katholiken 7 %, der der Juden 1 %. Der Wechsel ist vor allem in den urbanen Gebieten des Staates sichtbar, dort haben sich die meisten der Einwanderer niedergelassen und die Bevölkerung stammt aus den unterschiedlichsten Kulturkreisen. Auf dem Land bleibt die baptistische Kirche mit 38 % die vorherrschende christliche Denomination, gefolgt von der zweitgrößten protestantischen Kirche, den Methodisten mit 9 %. Diese sind im nördlichen Piedmont stark vertreten, vor allem in Guilford County. Dort und im Nordosten des Staates gibt es auch einen beträchtlichen Anteil von Quäkern. Die Mitglieder der presbyterianischen Kirche, ursprünglich schottischer und irischer Abstammung, machen 3 % der Gläubigen aus. Sie sind in Charlotte und in Scotland County besonders stark vertreten. Andere Denominationen im Staat sind unter anderen die Lutheraner, die Kongregationalisten, Mormonen und die Church of God. Der Anteil nicht religiöser Bewohner des Staates, beziehungsweise von Atheisten und Agnostikern, beträgt 10 %. Die wichtigsten Religionsgemeinschaften im Jahr 2010: 1.513.059 Southern Baptist Convention, 659.064 United Methodist Church, 565.051 Protestantismus ohne konfessionelle, 428.860 Katholische Kirche (Bistum Charlotte/Bistum Raleigh), über 300.000 Pfingstbewegung, 185.669 Presbyterian Church (U.S.A.). Es gibt viele andere, vor allem protestantisch geprägte Konfessionen. Geschichte Indigene Völker und englische Besiedlung Die indianische Besiedlung North Carolinas reicht bis in die paläoindianische Ära ins 10. Jahrtausend v. Chr. zurück. Jäger und Sammler lebten wohl zuerst im Piedmont. Aus der archaischen Periode, die etwa von 7500 bis 1000 v. Chr. andauerte, finden sich gebietstypische Projektilspitzen, die nach einem Fundort in den Uwharrie Mountains als Hardaway bezeichnet werden. Es ist der bedeutendste Fundplatz der Ostküste, denn er war mehrere Jahrtausende lang bewohnt und war bis zur Ausgrabung ungestört. Die nacheiszeitliche Tundrenlandschaft wich dichten Wäldern, die Lebensweise änderte sich insofern, als die Einwohner nicht mehr den Karibuherden folgten, sondern zunehmend große Schweifgebiete bevorzugten. Nüsse und andere Vegetabilien sowie Fische machten einen zunehmenden Anteil an der Ernährung aus, die Bevölkerung wuchs. Steinerne Gefäße und Holzwerkzeuge waren Handelsobjekte, gewaltige Mengen von Rhyolith wurden aus dem Morrow Mountain gebrochen und im Umkreis von 75.000 km² gehandelt; schließlich entstand eine Art Gartenbau, bei dem der Kürbis eine zentrale Rolle spielte. Hinzu kamen Eicheln und Hickory-Nüsse. Zwischen 6000 und 3000 v. Chr. herrschte ein ausgesprochen warmes Klima vor, das ein starkes Bevölkerungswachstum ermöglichte, die Territorien der Einzelstämme schrumpften dramatisch, immer mehr Dörfer entstanden an den Flüssen, wo vor 3000 v. Chr. zunehmend Gartenbau betrieben wurde. Die Jagd wurde nur noch saisonal ausgeübt, Fernhandel brachte Muscheln vom Golf von Mexiko und Kupfer von den Großen Seen in das Gebiet und es entstand ein weitläufiges Wegenetz. Diese Kultur veränderte sich um 1000 v. Chr. durch die Woodland- und die Mississippi-Kultur, wobei bis etwa 1000 n. Chr. eine große Kontinuität bestand. Besonders wichtig war der einsetzende Gebrauch von Keramik, die sogenannte Swannanoa ware, wobei unklar ist, ob Gruppen eingewandert sind oder ob ansässige Gruppen diese Technik übernommen haben. Auf die nun ansässigen Gruppen gehen in jedem Falle die historischen Stämme zurück, die die ersten Europäer antrafen. Von etwa 300 v. bis 200 n. Chr. datiert man das Pigeon, dieser Phase folgte bis etwa 600 das Connestee. Vom Mississippi kamen starke Einflüsse. Diese riesigen Gebiete wurden als Hopewell Interaction Sphere nach der Hopewell-Kultur benannt. North Carolina wurde dadurch kulturell zweigeteilt. Während im Küstenbereich und im nördlichen Piedmont ab etwa 1000 die als Late Woodland bezeichnete Kultur vorherrschte, die an die der Vorgänger anknüpfte und offenbar eine egalitäre politische und gesellschaftliche Struktur aufwies, waren die Gebirgszonen und der südliche Piedmont durch eine ausgeprägte Schichtung der Gesellschaft gekennzeichnet. Eine wohl erbliche Führungsschicht nutzte die Fernhandelsnetze zur Beschaffung von Luxuswaren, wie Muscheln oder seltene Steine. Als neues Handelsgut kam Glimmer hinzu. Die Mounds Nununyi und Town Creek gehen auf diese Einflüsse zurück und zeigen ein verändertes Verhältnis zum Tod. Der oben abgeflachte Town Creek Indian Mound ist die am häufigsten besuchte archäologische Stätte in North Carolina. Sie birgt einen Mound und sakrale wie herrschaftliche Gebäude. Sie ist Überrest einer Kultur, die um 950 bis 1400 blühte und die als Pee Dee bezeichnet wird (nicht nach dem gleichnamigen Stamm, sondern nach dem dortigen Fluss). Sie verschwand endgültig vor 1600. Bereits ab 900 setzte intensiver Maisanbau ein, nach 1200 wurden aus den kleinen Ansiedlungen Großdörfer von vielleicht 150 Einwohnern in 15 bis 20 Häusern, die um einen zentralen Platz errichtet wurden und deren Zahl und Größe ab etwa 1400 erheblich zunahm. An der Küste hingegen lässt sich entlang des Neuse River eine kulturelle Teilung zwischen Nord und Süd erkennen. Südlich des Flusses herrschten bereits ab 2000 v. Chr. wohl aus Georgia übernommene Lehmgefäße vor, die durch Pflanzenfasern verstärkt waren (Stallings ware), nördlich davon jedoch echte Tonwaren. Die meisten Mounds finden sich südlich des Neuse River. Die Bewohner North Carolinas dürften weitgehend sesshaft geworden sein und sie pflegten einen zunehmend bäuerlichen Lebensstil (Eastern Agricultural Complex), ohne dass es jedoch zu einem radikalen Wandel gekommen wäre. Immerhin integrierten sie den Anbau von Bohnen, Mais und Kürbissen, während die Dominanz der Nüsse zurückging. Als dritte kulturelle Region gilt die Gebirgsregion, die später von den Cherokee bewohnt war (Pisgah, um 1000 bis 1450, danach Qualla). Auch dort bauten die größeren Dörfer Mounds. Im Norden wanderten bereits ab etwa 800 irokesische Gruppen ein (Cashie, bis 1750). Als 1524 der erste Europäer, Giovanni da Verrazzano, die Region auf der Suche nach einer Passage in den Pazifik betrat, besiedelten Stämme der Cherokee, Tuscarora, Muskogee, Cheraw, Tutelo, Catawba und einige kleinere, mit den Irokesen und den Algonkin verwandte Stämme, das Land. 1584 verlieh Königin Elisabeth I. Walter Raleigh eine Charta zur Gründung einer englischen Kolonie. Der erste Besiedlungsversuch scheiterte jedoch. Der zweite Versuch begann im Frühjahr 1587. Eine Gruppe von 110 Personen besiedelte die Insel Roanoke. Dort wurde am 18. August 1587 Virginia Dare geboren, das erste in der Neuen Welt geborene Kind englischsprachiger Siedler. Als der Anführer der Siedler nach einer Reise nach 1590 wieder auf der Insel eintraf, fand er dort nur die Überreste der Siedlung vor. Es konnte nie geklärt werden, was in der Siedlung geschehen war. Dieser zweite gescheiterte Besiedlungsversuch ist als „Verlorene Kolonie“ (Lost Colony) in die Geschichtsschreibung eingegangen. Das spurlose Verschwinden ihrer Bewohner gibt bis heute Anlass zu Spekulationen. Trennung in North und South Carolina Nach der Restauration des Hauses Stuart 1663 erteilte König Karl II. acht Getreuen eine Urkunde zur Gründung einer neuen Kolonie, die sie als Eigentümer verwalten sollten. Zu Ehren seines Vaters Karl I. (lat. Carolus) wurde sie Carolina benannt. Im Gebiet um den Albemarle Sound im heutigen North Carolina hatten sich bereits um 1650 aus Virginia vordringende Siedler niedergelassen, doch schritt die weitere Besiedlung nur langsam voran. Bis 1700 hatten weiße Siedler die Küste südwärts bis zum Pamlico River besiedelt, 1722 bis zum Bogue Sound nahe dem heutigen Jacksonville. Vom anderen Siedlungsschwerpunkt der Kolonie rund um die Hafenstadt Charleston blieben diese Siedler jedoch lange isoliert, so dass sich im Norden und Süden Carolinas vom Beginn der Besiedlung an zwei grundlegend verschiedene Regierungs- und Verwaltungssysteme herausbildeten, die auch von 1664 bis 1691 von zwei Gouverneuren geleitet wurden. Eine Legislative für Albemarle trat ebenfalls erstmals 1664 zusammen. Erst 1701 erkannten die Eigentümer, die Lord Proprietors, der Kolonie ihre de facto längst vollzogene Trennung in North und South Carolina an; erst ab 1712 führte jedoch der Verantwortliche für die nördlichen Siedlungen den Titel „Gouverneur von North Carolina“. 1729 wurden die beiden Carolinas in Kronkolonien umgewandelt und die Trennung so zementiert. Gesellschaftlich wie politisch ähnelte North Carolina zur Kolonialzeit mehr dem nördlichen Nachbarn Virginia als South Carolina. Während sich in South Carolina im 18. Jahrhundert eine vor allem auf Sklaverei bauende politisch und wirtschaftlich führende Schicht von Reispflanzern herausbildete, lebte der Großteil der Bevölkerung im Norden auf kleinen Bauernhöfen, die außer Tabak vor allem Getreide anbauten und Viehhaltung betrieben. Stellten Schwarze im Süden im Jahr 1710 rund 38 % der Bevölkerung, so waren es in North Carolina nur 6 %. Im Gegensatz zum Süden entwickelte sich im Norden mit der Gründung von counties und einigen Städten auch eine einheitliche lokale Verwaltungsstruktur. 1705 wurde Bath als erste Stadt im heutigen North Carolina inkorporiert. North Carolina während der amerikanischen Revolution In den späten 1760er Jahren entstanden Spannungen zwischen den aus den unteren Bevölkerungsschichten stammenden Landwirten des Piedmont und den wohlhabenden Pflanzern der Küstenregion. Die offensichtliche Verschwendung öffentlicher Gelder durch Gouverneur William Tryon zum Bau eines neuen Regierungssitzes, des Tryon Palace in New Bern, brachte das Fass zum Überlaufen und die Farmer erhoben sich im Aufstand der Regulatoren. Tryon siegte am 17. Mai 1771 in der Schlacht von Alamance und beendete damit den sieben Jahre andauernden Konflikt. Einige Historiker sehen in diesem Aufstand einen der begünstigenden Faktoren für den Ausbruch – oder bereits einen der ersten militärischen Akte – des Amerikanischen Unabhängigkeitskrieges. In Charlotte wurde von den Einwohnern des Mecklenburg County am 20. Mai 1775 angeblich die erste Unabhängigkeitserklärung während der Amerikanischen Revolution abgegeben, allerdings gibt es keinen Nachweis für eine solche Erklärung. Das Datum der Mecklenburg Declaration of Independence wird aber dennoch vom heutigen Bundesstaat North Carolina in Siegel und Flagge geführt. Am 12. April 1776 wurde im Provincial Congress, dem Kongress der Provinz North Carolina, beschlossen, die Unabhängigkeit von der britischen Krone zu erklären. Damit war North Carolina die erste Kolonie, die ihre zum zweiten Kontinentalkongress abgeordneten Delegierten durch die sogenannten Halifax Resolves ermächtigte, sich von England loszusagen. An dieses Ereignis wird ebenfalls durch das Datum im Siegel und der Flagge North Carolinas erinnert. North Carolina blieb in den ersten Jahren des Unabhängigkeitskrieges weitgehend von Kriegshandlungen verschont, wurde jedoch in den Jahren 1780 und 1781 ein wichtiger Kriegsschauplatz. Einen wesentlichen Sieg errangen die amerikanischen Patrioten gegenüber den englandtreuen Loyalisten am 7. Oktober 1780 in der Schlacht von Kings Mountain. Nach dem Sieg über die Briten am 17. Januar 1781 in der Schlacht von Cowpens lockte Nathanael Greene die britischen Truppen in das Kernland. Er schnitt sie damit von den englischen Vorratslagern in Charleston ab. Dieses Manöver wurde als „The Race to the Dan“ (engl. für „Das Rennen zum Dan“) bekannt. Die Truppen der Generäle Greene und Cornwallis trafen am 15. März 1781 in der Schlacht von Guilford Court House aufeinander. Obwohl die britischen Truppen siegten, wurden sie durch die erlittenen Verluste stark geschwächt. Dies führte letztlich zur endgültigen Niederlage 1781 in der Schlacht von Yorktown. Der Sieg der amerikanisch-französischen Armee stellte die Unabhängigkeit Amerikas von der britischen Krone sicher. Die Kriegsparteien unterzeichneten im September 1783 den Pariser Frieden und Amerika wurde von England als souveräner Staat anerkannt. Zwischen den Kriegen (1783–1861) Der 1787 vorgelegte Entwurf zur Verfassung der Vereinigten Staaten wurde in North Carolina unterschiedlich aufgenommen. Erst ein Jahr später einigten sich die Delegierten in Fayetteville auf die Zustimmung, und North Carolina ratifizierte als zwölfte und vorletzte der früheren 13 Kolonien die Verfassung. Im Jahr 1790 unterstellte North Carolina die westlichen Landstriche der Regierung; diese Gebiete wurden zwischen 1790 und 1796 als Tennessee Territory bezeichnet. Im Jahr 1796 wurde daraus schließlich Tennessee gebildet, der 16. Bundesstaat der Union. Der Wohlstand und das ökonomische Wachstum des stark ländlich geprägten Staates basierten auf Sklavenarbeit, in den Anfangsjahren vor allem im Bereich des Tabakanbaus. Nach der Revolution bemühten sich Quäker und Mennoniten, die Sklavenbesitzer zur Befreiung ihrer Sklaven zu überreden. Die Zahl freier Schwarzer in North Carolina stieg jedoch während der ersten Jahrzehnte nach dem Unabhängigkeitskrieg stetig an. Obwohl die Sklavenhaltung weniger verbreitet war als im Tiefen Süden, waren nach der 1860 durchgeführten Volkszählung mehr als 330.000 Menschen, 33 % der Bevölkerung, in Sklaverei lebende Afroamerikaner. Im Jahre 1840 wurde das heute noch erhaltene Regierungsgebäude in Raleigh fertiggestellt. Anders als in vielen anderen Bundesstaaten im Süden entwickelte sich in North Carolina keine dominierende „Baumwoll-Aristokratie“, sondern der Staat und seine Regierung wurde überwiegend durch unabhängige Farmer aus der Mittelschicht kontrolliert. Mitte des 19. Jahrhunderts wurden die ländlichen Regionen North Carolinas durch die 208 Kilometer lange „Bahn der Bauern“ (engl. „farmer’s railroad“) verbunden. Sie führte von Fayetteville im Osten nach Bethania, nordwestlich von Winston-Salem und bestand aus Holzschienen. Amerikanischer Bürgerkrieg und Wiedereingliederung 1860 blickte North Carolina auf eine lange Tradition der Sklavenhaltung zurück. Trotzdem stimmte es anfangs nicht für den Beitritt zur Konföderation; erst der Aufruf des Präsidenten Abraham Lincoln, in den Schwesterstaat South Carolina einzumarschieren, veranlasste North Carolina, sich den Konföderierten anzuschließen. Selbst nach der Sezession verweigerten einige North Carolinier den Konföderierten ihre Unterstützung, überwiegend waren dies Farmer, die nicht zu den Sklavenhaltern gehörten. Trotzdem waren Männer aus allen Teilen North Carolinas als Teil der Army of Northern Virginia, eines der wichtigsten Großverbände der Konföderierten Armee, an den wesentlichen Schlachten des Sezessionskrieges beteiligt. Die größte Schlacht auf dem Gebiet North Carolinas war die Schlacht von Bentonville im Frühjahr 1865. Sie war ein erfolgloser Versuch des konföderierten Generals Joseph E. Johnston, den Vormarsch der Unionstruppen unter Generalmajor William T. Sherman durch die Carolinas aufzuhalten. Damit kapitulierte der letzte größere Kampfverband der Konföderierten, was die militärischen Auseinandersetzungen beendete. Wilmington als letzter Hafen der Konföderation fiel ebenfalls im Frühsommer des Jahres 1865. North Carolina wurde nach Verabschiedung einer neuen Verfassung, die sich durch die Förderung der Bildung, das Verbot der Sklaverei, das allgemeine Wahlrecht und die Schaffung sozialer Einrichtungen auszeichnete, am 4. Juli 1868 wieder in den Staatenbund aufgenommen. Der 14. Zusatzartikel zur Verfassung der Vereinigten Staaten, der die Gleichbehandlung der Bürger nach dem Bürgerkrieg regelte, wurde ebenfalls ratifiziert. Während dieser schwierigen Phase der Reconstruction war Andrew Johnson, ein gebürtiger North Caroliner, in den Jahren 1865 bis 1869 Präsident der Vereinigten Staaten. Entwicklung North Carolinas nach dem Bürgerkrieg Im späten 19. Jahrhundert entwickelte sich im Piedmont die Baumwoll- und Textilindustrie; die Entwicklung dieser Industrien half dem Staat, eine Alternative zur bislang überwiegenden Landwirtschaft zu entwickeln. Am 17. Dezember 1903 starteten die Gebrüder Wright den ersten erfolgreichen bemannten Motorflug der Menschheit in Kitty Hawk, North Carolina. Als Reaktion auf die Rassentrennung, die Entrechtung und die Schwierigkeiten in der Landwirtschaft verließen zehntausende Afroamerikaner in der ersten Welle der afroamerikanischen Bevölkerungswanderung zwischen 1910 und 1930 North Carolina. Sie zogen in der Hoffnung auf bessere Lebensbedingungen und Arbeit vor allem in die Großstädte im Norden des Landes. Anfang des 20. Jahrhunderts begann North Carolina mit einer großangelegten Bildungsinitiative und Straßenbau, um die Wirtschaft des Staates anzukurbeln. Das staatliche Straßenbauprojekt begann in den 1920ern, nachdem das Automobil sich zu einem beliebten Fortbewegungsmittel entwickelt hatte. Während der ersten Jahrzehnte des 20. Jahrhunderts wurden etliche wichtige Einrichtungen der amerikanischen Streitkräfte, beispielsweise Fort Bragg, in North Carolina angesiedelt. North Carolina nach dem New Deal Nach dem New Deal, einem Programm zu Wiederbelebung der Binnenkonjunktur von Franklin D. Roosevelt, entwickelte sich North Carolina im Bereich der Bildung und der Produktion besonders stark. Während des Zweiten Weltkrieges versorgte North Carolina die Streitkräfte des Landes mit etlichen lokal produzierten Waren. North Carolina legte darüber hinaus einen Schwerpunkt auf die Forschung und die universitäre Entwicklung. 1931 bildete sich in Raleigh die Negro Voters League, die sich für die Wahlregistrierung afroamerikanischer Bürger einsetzte. Die Arbeit im Bereich der Aufhebung der Rassentrennung und der Wiederherstellung der Bürgerrechte für die afroamerikanische Bevölkerung wurde im ganzen Staat fortgesetzt. Afroamerikanische Studenten der North Carolina Agricultural and Technical State University begannen die Greensboro-Sit-ins, diese Form des Widerstandes verbreitete sich über den ganzen Süden. Nach der Verabschiedung des Civil Rights Act von 1964 und dem Voting Rights Act von 1965 begann die afroamerikanische Bevölkerung des Staates sich in vollem Umfang an dem politischen Leben zu beteiligen. 1973 schrieb Clarence Lightner mit seiner erfolgreichen Kandidatur um das Amt des Bürgermeisters von Raleigh amerikanische Geschichte: Er war der erste Afroamerikaner, der in den südlichen USA zum Bürgermeister gewählt wurde und obendrein der erste schwarze Bürgermeister in einer Gemeinde mit überwiegend weißer Bevölkerung. 1971 wurde die dritte Verfassung des Bundesstaates North Carolina ratifiziert, ein Zusatz von 1997 gibt dem Gouverneur das Veto-Recht über die meisten legislativen Entscheidungen. Während der Demokrat Jim Hunt 1996 zum vierten Mal als Gouverneur wiedergewählt wurde und damit einen Rekord im traditionell republikanisch wählenden North Carolina aufstellte, wurde mit Elaine Marshall erstmals eine Frau in das Amt des Secretary of State und damit in ein Amt mit bundesstaatlicher Bedeutung gewählt. Politik Politische Struktur Wie in den anderen US-Bundesstaaten sieht die Verfassung von North Carolina die Gewaltenteilung zwischen Legislative, Exekutive und Judikative vor. Legislative Die Legislative besteht aus einer Generalversammlung im Zweikammersystem, der North Carolina General Assembly. Diese besteht aus einem Repräsentantenhaus mit 120 vom Volk für zwei Jahre gewählten Abgeordneten sowie einem Senat mit 50 Mitgliedern. Die Senatoren werden für eine Amtszeit von zwei Jahren gewählt. Der Vizegouverneur des Staates ist in North Carolina ex officio zugleich auch der Präsident des Senates. Als stellvertretender Präsident des Senats fungiert analog der Amtsbezeichnung in der Union der President pro tempore of the North Carolina Senate. Seit 1992 wird dieses Amt durch Marc Basnight wahrgenommen, ein Mitglied der Demokratischen Partei. Der Sprecher des Repräsentantenhauses, Speaker of the North Carolina House of Representatives ist Joe Hackney, ebenfalls ein Demokrat. Exekutive An der Spitze der Exekutive steht der Gouverneur, der für eine Amtszeit von jeweils vier Jahren gewählt wird. Amtierender Gouverneur des Bundesstaates ist seit 2017 der Demokrat Roy Cooper, Mark Keith Robinson ist der Vizegouverneur. Die als Council of State bezeichnete Regierung wird durch den Gouverneur, den Vizegouverneur sowie acht gewählte Minister gebildet. Zehn weitere Minister werden vom Gouverneur ernannt und bilden, analog zum Kabinett der Vereinigten Staaten, das Kabinett North Carolinas. Siehe Liste der Gouverneure von North Carolina und Liste der Vizegouverneure von North Carolina Judikative An der Spitze der Rechtsprechung steht der Oberste Gerichtshof von North Carolina mit Sitz in der Hauptstadt Raleigh. Das sieben Richter umfassende Supreme Court ist das höchste Appellationsgericht des Bundesstaates. Unterhalb des Supreme Courts steht als einziges Berufungsgericht der North Carolina Court of Appeals. Es besteht aus 15 Richtern, die in einem rotierenden System Recht sprechen. Es entscheiden jeweils fünf Gruppen zu drei Richtern. Diese beiden Gerichte, der Supreme Court und der Court of Appeals, bilden gemeinsam das Berufungssystem des Staates. Prozesse werden vor dem Superior Court und dem untergeordneten District Court geführt, alle Strafprozesse wegen Kapitalverbrechen, Zivilklagen mit einem Streitwert über 10.000 US-Dollar und Berufungen zu Gesetzesübertretungen und Ordnungswidrigkeiten aus den District Courts werden vor dem Superior Court verhandelt, dabei werden Strafrechtsprozesse vor einer zwölfköpfigen Jury gehört. Zivilrechtliche Prozesse, beispielsweise Scheidungen, Sorgerechts- und Unterhaltspflichtregelungen, werden vom District Court entschieden, wobei hier auch minderschwere Fälle aus dem Strafrecht verhandelt werden. Strafrechtsprozesse vor dem District Court werden immer ohne Jury verhandelt, ebenso finden vor diesen Gerichten alle Jugendgerichtsverhandlungen statt, solange die Kinder und Jugendlichen als Straftäter unter 16 Jahre alt und als Opfer beispielsweise einer Vernachlässigung oder eines Kindesmissbrauchs unter 18 Jahre alt sind. Friedensrichter nehmen Schuldbekenntnisse in minderschweren Fällen und bei Verkehrsübertretungen an, sie akzeptieren Verzichtserklärungen und dürfen zivilrechtliche Verhandlungen bis zu einer Summe von 4.000 US-Dollar führen und Zwangsräumungen anordnen. Sie führen außerdem standesamtliche Eheschließungen durch. Mitglieder im 117. Kongress Vertretung im Kongress North Carolina wird derzeit von 13 Abgeordneten im Repräsentantenhaus der Vereinigten Staaten in Washington vertreten und von zwei Senatoren im Senat der Vereinigten Staaten. Dem seit 2019 amtierenden 116. Kongress der Vereinigten Staaten gehören zwölf Republikaner und drei Demokraten an, darunter die beiden Senatoren Richard Burr (Senior Senator, Republikaner) und Thom Tillis (Junior Senator, Republikaner). Die ehemaligen Senatoren des Staates werden in der Liste der Senatoren von North Carolina aufgeführt. Politische Entwicklung North Carolina war, wie ursprünglich der ganze Süden, lange eine Hochburg der Demokratischen Partei. Erst seit der Wahl von 1968 verschoben sich die Mehrheiten zugunsten der Republikaner. Heute ist zwar in North Carolina der Wandel von der Plantagenwirtschaft hin zur Dienstleistungs- und Zukunftsindustrie weitgehend vollzogen, die konservative Grundhaltung blieb jedoch besonders im ländlichen Raum und unter der weißen Bevölkerungsmehrheit bestehen. Insbesondere zeigt sich dies im jüngst verabschiedeten Gesetz zur Toilettenbenutzung Transsexueller, das als „Diskriminierungsgesetz“ kritisiert wird. Erstmals seit Jimmy Carters Sieg 1976 konnte Barack Obama 2008 North Carolina bei einer Präsidentschaftswahl wieder für die Demokraten gewinnen. 2004 hatten noch die Republikaner gewonnen, und das, obwohl der Vizepräsidentschaftskandidat der Demokraten, John Edwards, diesen Staat im Senat repräsentiert hatte. Im Electoral College konnte North Carolina seine Stellung wegen der Bevölkerungszunahme ausbauen: 1988 waren es 13 Stimmen, 1992 14 und 2004, 2008, 2012 und 2016 15 Stimmen. Im Jahr 2020 gewann Donald Trump knapp vor Joe Biden in North Carolina. Auch der Senatssitz bleibt republikanisch. Thom Tillis gewann auch da knapp vor seinem demokratischen Herausforderer Cal Cunningham. Regionale Verwaltungsbezirke North Carolina ist seit 1911 in 100 Countys untergliedert. Im Schnitt sind die Countys 1394 Quadratkilometer groß, der kleinste der Countys ist mit etwa 350 Quadratkilometern Clay County, der größte ist Dare County mit rund 2500 Quadratkilometern. Im bevölkerungsärmsten Verwaltungsbezirk, Tyrrell County, leben 4149 Menschen, im bevölkerungsreichsten County Mecklenburg leben 695.454 Menschen. Mecklenburg County verfügt zugleich auch mit 510,2 Einwohnern pro Quadratkilometer über die höchste Bevölkerungsdichte des Staates, am wenigsten besiedelt ist Hyde County mit 3,67 Einwohnern pro Quadratkilometer. Alle Countys des Bundesstaates werden in der Liste der Countys in North Carolina aufgeführt. Staatssymbole Neben der Flagge und dem Siegel North Carolinas hat der Staat eine Reihe weiterer offizieller Staatssymbole, die als Wahrzeichen des Staates dienen. Darunter sind die Sumpfkiefer, der Staatsbaum North Carolinas, die Staatsblume ist der Blüten-Hartriegel, der Rotkardinal als Staatsvogel und das verbreitete Grauhörnchen ist das Staatstier. Die traditionell verzehrten Süßkartoffeln und Scuppernongs gehören zu den Staatslebensmitteln, ebenso symbolisieren die Farben Rot und Blau als Staatsfarben North Carolina. North Carolina trägt die Beinamen The Old North State und Tar Heel State – Alter Nord-Staat oder Staat der Teerfersen, die Einwohner werden als „Tar Heels“ bezeichnet. Die genaue Herkunft des Ausdrucks ist unklar, aber die meisten Experten vermuten, dass die Ursprünge in der Gewinnung von Teer, Pech und Terpentin aus den weitläufigen Kiefernwäldern der ehemaligen britischen Kolonie liegen. Kultur Museen und Ausstellungen Von zentraler Bedeutung ist das seit 1947 existierende North Carolina Museum of Art in Raleigh, das einzige Museum des Staates, das mit öffentlichen Geldern aufgebaut wurde und das die größte Kunstsammlung North Carolinas unterhält. Im Gegensatz zu den meisten anderen Kunstmuseen des Bundesstaates beschäftigt sich dieses auch mit außeramerikanischer Kunst und Kunstgeschichte. Viele Orte verfügen über ein Arts Council, einen von Bürgern organisierten Kunstverein, der sich mit der Förderung der regionalen Künstler und der Organisation von deren Ausstellungen beschäftigt. Die meisten Museen North Carolinas beschäftigen sich jedoch überwiegend mit der Geschichte, der Natur und den Künstlern des Staates selbst und sind in privater Trägerschaft häufig direkt an die entsprechenden historischen oder militärischen Stätten, an Naturparks oder Universitäten angeschlossen. Einen Gesamtüberblick über die Naturgeschichte des Staates gibt das North Carolina Museum of Natural Sciences, das Museum ist das größte naturhistorische Museum im Südosten des Landes und hat überregionale Bedeutung. Zur Gruppe der naturwissenschaftlichen Museen gehört auch das von der University of North Carolina unterhaltene North Carolina Arboretum im Pisgah National Forest, ein weitläufiger öffentlicher Garten, in dem unter anderem die Folgen der Umweltverschmutzung und die aussterbenden Pflanzenarten des Staates dargestellt werden. Zur weiteren Museenlandschaft gehören vor allem kleinere Museen wie das Graveyard of the Atlantic Museum in Hatteras, das sich mit den Schiffswracks in den Outer Banks befasst oder das Museum of the Cherokee Indian in Cherokee, in dem die Geschichte des Eastern Band of Cherokee Indians für den Besucher aufbereitet wird. Vielfach werden historische Bauten wie das Graves-Florance-Gatewood House aus dem Jahre 1822, die Buckner Hill Plantation von 1855 oder die 1767 entstandene Old Mill of Guilford restauriert und der Öffentlichkeit zugänglich gemacht oder für Ausstellungen zu regional wichtigen Ereignissen genutzt. Theater und Musik North Carolina verfügt über eine Reihe professioneller Theater, darunter auch das seit 1952 bestehende Staatstheater in Flat Rock, das Flat Rock Playhouse, in dem sowohl Musicals, wie auch Theaterstücke aufgeführt werden. Das North Carolina Theatre in Raleigh zeigt vor allem Musicals und Broadway-Shows während sich das North Carolina Shakespeare Festival in Highpoint seit 1977 mit den Werken William Shakespeares beschäftigt. Einen besonderen Schwerpunkt in der Theaterlandschaft des Staates bilden die Freilichttheater, in denen historische Ereignisse dargestellt werden. Seit 1937 wird im Waterside Theatre in der Fort Raleigh National Historic Site das Stück „The Lost Colony“ aufgeführt, das als erstes und ältestes Outdoor Drama (engl. für Freilichtdrama) der Vereinigten Staaten gilt. Seit 1948 wird im Mountainside Theatre die Geschichte der Cherokee im Stück „Unto These Hills“ gezeigt, in Boone erzählt das Stück „Horn in the West“ seit 1952 die Geschichte der Besiedlung der Blue Ridge Mountains. Die North Carolina University in Chapel Hill unterhält ein Institute of Outdoor Drama, das sich mit den Aufführungen in Freilufttheatern beschäftigt, das einzige seiner Art in den USA. North Carolina ist für seine Tradition der Old-Time Music bekannt, einflussreiche Künstler der frühen Country-Musik waren die North Carolina Ramblers in den 1920ern. Wie in den benachbarten Staaten Tennessee und Kentucky ist der Bluegrass verbreitet, aus North Carolina stammende bedeutende Künstler dieser Musikrichtung waren Earl Scruggs, Doc Watson und Del McCoury. North und South Carolina gelten als Ausgangspunkt des traditionellen ländlich geprägten Blues, im Piedmont entstand eine eigene Stilrichtung, der Piedmont Blues, der unter anderen von Blind Boy Fuller geprägt wurde. Aus der Region um Chapel Hill, Raleigh und Durham stammen verschiedene Rock-, Metal- und Punkbands, darunter die Flat Duo Jets, Corrosion of Conformity, Superchunk, Safehouse, Sleeping Giant, The Popes, Queen Sarah Saturday, Purple Schoolbus und Barefoot Servant. Bauwerke und Architektur In North Carolina sind über 2600 Gebäude, Stadtteile und Orte historischen Interesses im National Register of Historic Places gelistet und stehen unter Denkmalschutz. Im Bundesstaat hat sich aufgrund der Lage zwischen Nord und Süd sowie der Reihe unterschiedlichster Einwanderer kein eigenständiger architektonischer Stil entwickelt, sondern er spiegelt eine Vielzahl der an der Ostküste verbreiteten Baustile wider. Erhaltene Bauwerke aus der neoklassizistischen Antebellum-Periode im Federal und Georgianischen Stil sind beispielsweise das James Iredell House (1759) und das John Wright Stanly House (1779). Die in anderen Südstaaten ebenfalls verbreitete Architektur der Revolutionszeit zeigt sich besonders ausgeprägt in den Plantagengebäuden wie der Orton Plantation aus dem Jahre 1735, die im Greek-Revival-Stil erbaut wurde. Eine Reihe denkmalgeschützter Gebäude, insbesondere Kirchen, stammen aus der Neogotik; zwei außergewöhnlich gut erhaltene Anwesen, zum einen Blandwood Mansion and Gardens im Italianate-Stil und das Biltmore Estate im Châteauesque-Stil zeigen die Einflüsse der Neorenaissance im Süden. Ende des 19. Jahrhunderts verbreiteten sich die Stilrichtungen Second Empire und Queen Anne, im 20. Jahrhundert auch der American Craftsman Style. Aus der Moderne stammen einige Hochhäuser und die elliptische Dorson Arena. Neben einzelnen Bauwerken stehen einige architektonisch bedeutsame Stadtbezirke unter Schutz, unter anderem die Old Salem National Historic Site, die sich innerhalb des restaurierten Stadtteils der ehemaligen mährischen Siedlung in Winston-Salem befindet. Einen Überblick über die verschiedenen Baustile und die innerstädtische Entwicklung von 1870 bis 1940 gibt beispielsweise der Apex Historic District, der die Altstadt von Apex umfasst. Parks, Monumente und Sehenswürdigkeiten North Carolina verfügt über eine Reihe von touristisch genutzten Schutzgebieten, die sich in unterschiedlicher Trägerschaft sowohl mit dem Schutz der Natur wie auch mit der Erhaltung historischer Stätten widmen und diese Besuchern zugänglich machen. Der in den Appalachen teilweise in Tennessee gelegene und vom National Park Service (NPS) verwaltete Great-Smoky-Mountains-Nationalpark ist der meistbesuchte Nationalpark der Vereinigten Staaten; jährlich besuchen über 9 Millionen Menschen das 1934 unter Schutz gestellte Gebiet, das seit 1983 auch zum Weltnaturerbe gehört. Neben einem der größten zusammenhängenden Urwaldgebiete im Osten der USA, stellen über 90 historische Stätten und Gebäude innerhalb des Parks ein bedeutendes Zeugnis der Besiedlung der Bergregion dar. In den Park führen die ebenfalls von NPS unterhaltenen Routen des Blue Ridge Parkway, ein 755 Kilometer langer National Scenic Byway und der Appalachian National Scenic Trail, ein etwa 3440 Kilometer langer Fernwanderweg der einen Teil des National Trails System bildet. Ebenfalls in den Bergen verläuft der durch Privatinitiativen entstandene Overmountain Victory National Historic Trail, der entlang der Route der Overmountain Men von der Westseite der Appalachen bis zum Kings Mountain National Military Park führt. In North Carolina beginnt der vom NPS verwaltete Trail of Tears National Historic Trail, der durch neun Bundesstaaten führt und an die Vertreibung der Indianer während des 19. Jahrhunderts erinnert. An der Ostküste sind zwei Küstenabschnitte als National Seashore ausgezeichnet, der Cape Hatteras National Seashore und der Cape Lookout National Seashore. Beide verfügen über historische Gebäude, Leuchttürme und seltene Tierarten. Bedeutende historische Stätten auf dem Gebiet North Carolinas sind beispielsweise die Carl Sandburg Home National Historic Site, die an den Lyriker und Historiker erinnert; das dem ersten Flug der Wright Brothers gewidmete Wright Brothers National Memorial. Schlachtfelder und Ausflugsziele sind die Fort Raleigh National Historic Site, der Guilford Courthouse National Military Park und das Moores Creek National Battlefield. Neben den Schutzgebieten mit überregionaler Bedeutung, die durch den NPS verwaltet werden, betreut der State Park Service North Carolinas eine Reihe weiterer natur- und denkmalschutzbedürftiger Gebiete, die in der Liste der State Parks in North Carolina aufgeführt werden. Medienlandschaft In North Carolina wird eine Reihe kleinerer Fernsehsender, Regionalstudios und Spartenkanäle betrieben, die Unterhaltungs-, Sport- und Regionalprogramme anbieten. Die meisten Fernsehstationen gehören oder kooperieren mit einem der großen landesweiten Sender wie der CBS Corporation oder der American Broadcasting Company. Die Sendestationen werden zumeist in den Metropolregionen betrieben. Mehrere Radiosender decken ein breites Unterhaltungs- und Regionalprogramm ab, darunter sind auch sehr kleine Sender, die beispielsweise von den Universitäten oder Kleinstädten betrieben werden. Zeitungen erscheinen in beinahe jeder größeren Stadt, in vielen Kleinstädten erscheinen die Lokalnachrichten jedoch nur an zwei bis drei Tagen pro Woche. Die älteste Zeitung des Staates ist der Fayetteville Observer, der seit 1816 ununterbrochen erscheint. Der News and Observer, der in Raleigh verlegt wird, ist das auflagenstärkste Blatt North Carolinas und gehörte 2008 zu den 100 größten Zeitungen der Vereinigten Staaten. Viele Städte unterhalten zusätzlich ein Weblog, um die Einwohner mit lokalen Nachrichten zu versorgen. Essen und Trinken Die Südstaatenküche ist die traditionelle Küche des Staates, zu den wichtigsten gesellschaftlichen Ereignissen gehört das Barbecue. Bei der Zubereitung in North Carolina wird beinahe ausschließlich Schweinefleisch verwendet, im Osten üblicherweise in Stücken, im Westen am Stück. Die Frage der dazugehörigen Saucen trennt das Land in Anhänger des Eastern Style, basierend auf Essig oder Senf, und des Lexington Style, einer Essig-Pfeffer-Sauce, der Ketchup zugesetzt wird. Typische Beilagen sind Kartoffeln oder Süßkartoffeln sowie Hushpuppies. Ein regionales Gericht des Piedmont ist das Livermush, das aus Schweineleber, Teilen des Schweinekopfes und Maismehl besteht. Moravian Cookies (engl. für Moravier-Kekse) oder Pfirsichkuchen werden als Nachtisch gereicht. In North Carolina verbreitet ist die Traubenart Scuppernong, aus der sowohl Saft und Wein als auch Marmelade hergestellt werden. Zu den Getränken gehört neben dem traditionell bevorzugten Pepsi, das 1898 in North Carolina entwickelt wurde, auch Moonshine, der selbst- und meist auch schwarz gebrannte Whisky aus der Bergregion des Staates. Bildung Die öffentlichen Einrichtungen der elementaren und sekundären Bildung, von der Grundschule bis zur High School, werden durch das North Carolina Department of Public Instruction und dessen Vorsitzenden, den North Carolina Superintendent of Public Instruction, überwacht. Der Superintendent ist zugleich auch der Sekretär des North Carolina State Board of Education, in dem die öffentliche Bildungspolitik entschieden wird. Das öffentliche Schulsystem des Staates ist in 115 lokale Einheiten unterteilt, jede wird durch eine örtliche Schulkommission, das School Board, überwacht. Insgesamt gibt es in North Carolina 2338 öffentliche Schulen. 1795 eröffnete North Carolina die erste staatliche Universität der Vereinigten Staaten, die University of North Carolina at Chapel Hill, die heute zu den besten staatlichen Universitäten des Landes, der Gruppe der Public Ivies, gerechnet wird. Mehr als 200 Jahre nach der Gründung der ersten Universität umfasst der tertiäre Bildungsbereich mit der University of North Carolina 16 staatliche Universitäten, darunter auch die fünf größten des Staates: Die North Carolina State University, die University of North Carolina at Chapel Hill, die East Carolina University, die University of North Carolina at Charlotte und die Appalachian State University. Zum staatlichen Universitätssystem gehören außerdem einige der historischen afroamerikanischen Bildungseinrichtungen, die als Historically Black Colleges and Universities bezeichnet werden und während der Segregation entstanden sind. Beispiele hierfür sind die North Carolina Agricultural and Technical State University, die North Carolina Central University und die Fayetteville State University. North Carolina verfügt darüber hinaus über 58 staatliche Colleges, die im North Carolina Community College System zusammengefasst werden. Die bekanntesten privaten Hochschulen sind die Wake Forest University und die 1924 gegründete Duke University, die zu den führenden Universitäten des Landes gehört. Die Duke gehört nicht zur Ivy League, wird aber als die südlichste der amerikanischen Eliteuniversitäten an der Ostküste auch „Harvard of the South“ (engl. für Harvard des Südens) genannt. Die Universität ist, ebenso wie die University of North Carolina at Chapel Hill, Mitglied der Association of American Universities, einem seit 1900 bestehenden Verbund führender forschungsorientierter nordamerikanischer Universitäten. Weitere Hochschulen sind in der Liste der Universitäten in North Carolina verzeichnet. Sport Verhältnis zum College- und Profisport Die sportinteressierten Bewohner North Carolina haben traditionell eine Vorliebe für den Hochschulsport sowie Stock-Car-Rennen, was durch das früher fehlende Engagement im professionellen Sportbetrieb erklärt wird. Denn obwohl North Carolina rund zehn Millionen Einwohner hat und die Metropolregionen über entsprechende Mittel verfügen, war Profisport in North Carolina lange Zeit kein Thema. Der erste Verein einer Profi-Liga kam 1974 nach North Carolina: Als Mitglied der kurzlebigen World Football League zogen die vormaligen New York Stars dorthin um und nannten sich Charlotte Stars. In der Folgesaison, die allerdings gleichzeitig die letzte war, starteten sie als Charlotte Hornets. Eine merkliche Entwicklung im Bereich des Profisports setzte in den späten 1980ern und seit Mitte der 1990er Jahre ein, als zunächst 1988 ein NBA-, 1995 ein NFL- und schließlich 1997 ein NHL-Team ihre Heimat fanden. Trotz intensiver Bemühungen konnte bis heute kein Major-League-Baseball-Team nach North Carolina gelockt werden; der Versuch, die Florida Marlins 2006 umzusiedeln, scheiterte. Hingegen werden die hart umkämpften Meisterschaften zwischen den Universitäten in North Carolina im ganzen Staat sehr aufmerksam und leidenschaftlich verfolgt. North Carolina verfügt seit Februar 1963 über die North Carolina Sports Hall of Fame, welche die Handelskammer der Stadt Charlotte sponserte. Die Sports Hall of Fame hat ihren Sitz in Raleigh. Die ersten fünf Sportler wurden im Dezember 1963 aufgenommen. Profisport Die Charlotte Hornets spielen als einzige Basketballmannschaft aus North Carolina seit 2005 in der National Basketball Association, bis 2014 unter dem Namen Charlotte Bobcats. Sie füllten die Lücke der von 1988 bis 2002 dort spielenden aber nach New Orleans abgewanderten alten Charlotte Hornets (heute New Orleans Pelicans). Die National Football League wird durch die Carolina Panthers repräsentiert, die ebenfalls in Charlotte ihre Heimspiele austragen. Das erfolgreichste National Hockey League Team North Carolinas sind die in Raleigh beheimateten Carolina Hurricanes, die am 19. Juni 2006 den Stanley Cup gewannen. Damit sind sie das erste Franchise North Carolinas, das je die wichtigste Meisterschaft seines Sportes erringen konnte. In North Carolina existieren auch einige professionelle Fußballmannschaften. In der zweithöchsten amerikanischen Profiliga, der North American Soccer League, spielen die Carolina RailHawks aus Cary. Mit den Charlotte Eagles und den Wilmington Hammerheads spielen zwei weitere Mannschaft in der drittklassigen USL Professional Division. In der Amateurliga, der USL Premier Development League, spielen die Carolina Dynamos aus Greensboro. Von den 1930ern bis in die 1990er hatte die Mid Atlantic Championship Wrestling, ein Verband für professionelle Wrestler, ihren Sitz in Charlotte. Mid Atlantic gehört zu den langjährigen Mitgliedern der National Wrestling Alliance (NWA) und ihre Stars sind bei der NWA, sowie später bei der World Championship Wrestling oder World Wrestling Federation aufgetreten. Heute leben viele ehemalige und aktive Wrestler in der Region um Charlotte und Lake Norman, darunter Ric Flair, Ricky Steamboat, Matt und Jeff Hardy. Das professionelle Bullenreiten hat in North Carolina Tradition. Der Weltmeister von 1995 (PRCA World Champion Bull Rider), Jerome Davis, stammt aus North Carolina und viele Manager, Veranstalter sowie Bullenbesitzer kommen ebenfalls aus dem Staat, beispielsweise Thomas Teague von Teague Bucking Bulls. Das Hauptquartier der Southern Extreme Bull Riding Association hat seinen Sitz in Archdale. Zwei Motocross-Rennen der Grand National Cross Country (GNCC) werden in North Carolina ausgetragen, das eine in Morganton das andere in Yadkinville. Hochschulsport Der in North Carolina sehr beliebte Collegesport ist in der National Collegiate Athletic Association organisiert. Die Sportteams der Universitäten treten in rund 20 verschiedenen Sportarten gegeneinander an, die wichtigste der Sportarten ist dabei der College Football. Jede Universität verfügt über ein Sportteam, deren Name für alle Sportarten gleich ist, beispielsweise heißt das Sportteam der Appalachian State University in allen Sparten Mountaineers. Die Mannschaften der Duke, Wake Forest, North Carolina at Chapel Hill und North Carolina State University sind Teil in der Atlantic Coast Conference, die Appalachian State ist Teil der Southern Conference. Die Universitäten unterhalten in der Regel professionell ausgestattete Sportstätten für ihre Teams, die bis zu 40.000 Zuschauer aufnehmen können und deren Spiele im Fernsehen übertragen werden. Besondere Aufmerksamkeit erhalten dabei die sogenannten Rivalrys (engl. für Rivalität), die zwischen den Universitäten ausgetragen werden. Dazu gehören die verbissen geführten Spiele der Footballteams der University of Virginia und der University of North Carolina at Chapel Hill, die als die South’s Oldest Rivalry bezeichnet werden. Weitere solcher Spiele finden zwischen den Universitäten North Carolina und der North Carolina State in den Sportarten Baseball, Football und Basketball, sowie zwischen der University of North Carolina at Chapel Hill und Duke University im Basketball statt. Die Universitäten selbst, die umliegenden Städte und Regionen identifizieren sich oft sehr stark mit den Collegeteams. Schülern und Studenten wird bei entsprechenden sportlichen Leistungen ein Stipendium verliehen. Da die Universitäten gebührenpflichtig sind, ist dies insbesondere für sozial benachteiligte Schüler eine Chance auf einen höheren Bildungsabschluss an einer renommierten Universität. Rennsport (NASCAR) North Carolina ist ein Zentrum des amerikanischen Motorsports, mehr als 80 % aller NASCAR-Rennteams und verwandter Industrien haben ihren Sitz in der Piedmont Region North Carolinas. Entstanden ist das Stockcar-Rennen aus dem Schmuggel von selbstgebranntem Schnaps, des sogenannten „Moonshine“, der in North Carolina eine lange Tradition genießt und der während der Prohibition mit frisierten Autos über die Landstraßen transportiert wurde. Der größte Ovalkurs North Carolinas, der Charlotte Motor Speedway, befindet sich in Concord, dort finden jährlich drei wichtige Rennen für die höchste Motorsportliga, den Monster Energy Cup statt. Die NASCAR Hall of Fame hat ihren Sitz in Charlotte. Rund um Charlotte leben auch viele der bekanntesten Fahrerdynastien der NASCAR, beispielsweise die Familien Petty, Earnhardt, Allison, Jarrett und Waltrip. Breitensport Das sportliche Angebot des Staates umfasst eine Vielzahl verschiedener Sportarten. Einer der Schwerpunkte des Breitensports liegt dabei ganzjährig auf den Outdoorsportarten, wie Wandern, Klettern, Mountainbiken, Schwimmen, Golf und Skifahren, aber auch Jagdsport und Angeln haben eine lange Tradition. Der Breitensport wird in North Carolina überwiegend durch den gemeinnützigen Verband der North Carolina Amateur Sports (NCAS) gefördert. Für Amateure finden jährlich die von der NCAS veranstalteten, multidisziplinären Wettbewerbe im Rahmen der State Games of North Carolina statt. Außerdem finden verschiedene allgemeine Fitness- und Radwettbewerbe, wie beispielsweise die Cycle North Carolina, statt. Die NCAS stellt darüber hinaus durch einen Fonds auch Mittel für den Betrieb öffentlich zugängliche Sportstätten, wie Schwimmbädern oder Eislaufhallen, zur Verfügung. Wirtschaft Wirtschaftliche Entwicklung North Carolina war in seiner Geschichte ein stark landwirtschaftlich geprägter Staat, vielfach wurde auf Plantagen Reis, Baumwolle und Tabak angebaut. Die Forstwirtschaft, die vor allem Teer und Terpentin produzierte, war ebenfalls von Bedeutung. Wie in den meisten Südstaaten begann nach dem Sezessionskrieg erst sehr langsam eine Umstrukturierung hin zu einer industrialisierten Gesellschaft; ein Schwerpunkt der Wirtschaft liegt bis heute in der Landwirtschaft und in der Verarbeitung land- und forstwirtschaftlicher Produkte. Nach dem Verlust vieler Arbeitsplätze im produzierenden Gewerbe im Zuge der Globalisierung hat North Carolina vielfache Anstrengungen unternommen, um Forschungs- und Entwicklungsunternehmen anzusiedeln. Neben der positiven Entwicklung im Finanzsektor gehören heute High-Tech-Unternehmen zu den wichtigsten Arbeitgebern in der ehemaligen Niedriglohnregion. Das reale Bruttoinlandsprodukt pro Kopf lag im Jahre 2018 bei 51.041 US-Dollar. Damit rangiert der Staat im nationalen Vergleich im Mittelfeld, auf Platz 30 von 50 US-Bundesstaaten. Der nationale Durchschnitt beträgt 57.118 US-Dollar. Die Arbeitslosenquote lag im November 2017 bei 4,3 % (Landesdurchschnitt: 4,1 %). Allerdings stieg die Arbeitslosenquote aufgrund der Coronapandemie und lag Ende August 2020 bei 5,1 %. Land- und Forstwirtschaft Der Anbau von Tabak ist seit 1633 nachgewiesen, die sandigen und trockenen Böden der Küstenregion sind dafür besonders geeignet. Heute ist North Carolina der größte Tabak produzierende und verarbeitende Bundesstaat der USA. 2005 waren 15,5 % der gesamten landwirtschaftlichen Produktion Tabak, der Umsatz erreichte 2006 einen Wert von 506,2 Millionen Dollar. Große tabakverarbeitende Betriebe wie beispielsweise R.J. Reynolds Tobacco Company und Phillip Morris haben ihren Sitz oder wesentliche Unternehmensteile im Bundesstaat und zählen zu den wichtigsten Arbeitgebern. Weitere wichtige landwirtschaftliche Erzeugnisse sind Mais, Süßkartoffeln, Sojabohnen, Eier, Milch, Baumwolle und Erdnüsse. Auch die Viehwirtschaft, insbesondere die Hühner- und die traditionell verankerte Schweinezucht, sowie Fischereibetriebe sind für den ländlichen Raum von Bedeutung. Mittlerweile gehört der Weinbau in North Carolina ebenfalls zu den wichtigen landwirtschaftlichen Zweigen; North Carolina zählt zu den 10 bedeutendsten Weinbau treibenden Bundesstaaten der Vereinigten Staaten. Technologie und Forschung Durch die Schaffung entsprechender Rahmenbedingungen für die Forschungseinrichtungen und Technologieunternehmen ist es dem Staat in den Jahren seit 2000 gelungen, besonders in den sogenannten High-Tech-Branchen wie Biotechnologie und die Informationstechnologie, starke Wachstumsraten von bis zu 15 % zu erzielen. 2009 bestanden im Bundesstaat 520 Biotechnologieunternehmen, unter ihnen GlaxoSmithKline, Merck und Bayer AG mit insgesamt 56.000 Beschäftigten. Begünstigende Faktoren, beispielsweise für die Entwicklung des „Research Triangle“ (Forschungsdreieck) um Raleigh, Durham und Chapel Hill zu einer der führenden und erfolgreichsten High-Tech-Regionen der USA, sind unter anderem die Bereitstellung gut ausgebildeter Fachkräfte, unterstützender Infrastruktur und die Bemühungen der Universitäten, sich an der Forschung und Entwicklung neuer Technologien zu beteiligen. Industrie Die wichtigsten Industriezweige des produzierenden Gewerbes sind die Möbel- und Textilproduktion, beide sind traditionell in North Carolina angesiedelt. Die Möbelherstellung ist vor allem im Piedmont Triad ansässig, dort arbeiten mehr als 60 % aller in der Möbelindustrie des Staates beschäftigten Menschen. Beide Branchen haben jedoch insbesondere durch die Verlagerung der arbeitsintensiven verarbeitenden Betriebe in Billiglohnländer stark an Bedeutung verloren. Beispielsweise wurden seit 1990 40 % aller textilherstellenden Betriebe geschlossen, die Anzahl der Arbeitnehmer in der Textilbranche fiel von über 233.000 im Jahre 1990 um mehr als 60 % auf etwas über 80.000 im Jahr 2006. Daneben sind im produzierenden Bereich auch Autohersteller beziehungsweise deren Zulieferbetriebe relevant, in Greensboro ist beispielsweise die USA-Zentrale des Busherstellers Setra, der zur Daimler AG gehört. Die Industrie fing Anfang 2017 an zu boomen, da die teuren Umweltauflagen stark zurückgedreht wurden war. Dieser Aufschwung hielt allerdings nur bis 2020, als die Coronapandemie auch den Bundesstaat wirtschaftlich stark trifft. Finanz- und Bankwesen Das Finanz- und Bankenwesen ist maßgeblich am Wirtschaftswachstum North Carolinas in der letzten Dekade des 20. Jahrhunderts und in den ersten Jahren des 21. Jahrhunderts beteiligt. Seit 1997 wurden kontinuierliche Wachstumsraten von 9 % und in den Jahren nach 2002 von über 25 % verzeichnet. Im Jahr 2007 war der Finanzsektor nach der öffentlichen Verwaltung und dem produzierenden Gewerbe der drittstärkste Wirtschaftsfaktor im Staat. Die Zahl der in diesem Sektor verfügbaren Stellen war von knapp 75.000 im Jahre 1998 auf etwa 104.000 gewachsen, während sich die Löhne mehr als verdoppelt hatten. Auf bundesstaatlicher Ebene hat North Carolina im Bankensektor zunehmend an Einfluss gewonnen, einige nationale und regionale Großbanken wie die Bank of America, Wachovia oder die in Wilson gegründete Branch Banking & Trust, haben ihren Sitz in einer der Metropolregionen des Staates. Militär Das Militär ist ein Wirtschaftsfaktor im Staat. North Carolina ist ein traditioneller Militärstützpunkt sowie Standort von Zulieferbetrieben der Rüstungsindustrie und steht dem Militär und seinen Einrichtungen sehr positiv gegenüber. Der größte und umfassendste militärische Stützpunkt der Vereinigten Staaten, Fort Bragg, der zugleich das Hauptquartier des XVIII. US-Luftlandekorps, der 82. US-Luftlandedivision und der United States Special Operations Command ist, liegt unweit der Küstenstadt Fayetteville. Ebenfalls in der Nähe der Kleinstadt liegt die Pope Air Force Base, die als Flughafen für Fort Bragg dient. Die US Air Force unterhält das 4th Fighter Wing und das 916th Air Refueling Wing auf der Seymour Johnson Air Force Base in Goldsboro. Die United States Coast Guard unterhält eine ihrer größeren Luftbasen mit Trainingscamp, die Coast Guard Air Station in Elizabeth City, gleichzeitig sind dort fünf Coast Guard Commands angesiedelt. Die zentrale Basis für die Schiffseinheiten des Sektors North Carolina, der zu dem District Five der US Coast Guard gehört, ist Fort Macon in Atlantic Beach. Zusätzlich sind einzelne Einheiten in Southport, Wilmington, Wrightsville Beach, Morehead City und Cape Hatteras stationiert. Die weltweit größte Konzentration an militärischen Häfen und Marineinfanterie und -Soldaten befindet sich in dem Gebiet um Jacksonville. Dort sind die Marinebasen MCB Camp Lejeune, MCAS Cherry Point (in Havelock), MCAS New River, MCB Camp Geiger und die MCB Camp Johnson angesiedelt. MCAS Cherry Point ist der Stützpunkt der II. Marine Expeditionary Force, einem von nur drei amphibischen Großverbänden auf Korps-Ebene des US Marine Corps weltweit. Verkehr Straßen Die Infrastruktur North Carolinas ist, wie in den meisten Regionen Amerikas, auf die Nutzung von Kraftfahrzeugen ausgelegt. Daher ist neben dem gut ausgebauten innerstaatlichen Straßennetz eine sehr gute Anbindung an das landesweite Netz der Fernverkehrsstraßen vorhanden. Durch den Staat führen mehrere Interstates, darunter die 26, 74, 85 sowie die 95, außerdem mehrere U.S. Highways. Unter diesen ist auch eine der wichtigen Nord-Süd-Verbindung des Landes, die U.S. Highway 1, die auf ihrem Weg von Key West, Florida an die kanadische Grenze entlang der Ostküste durch North Carolina führt. Das Highwaynetz ist insgesamt 126.500 Kilometer lang, North Carolina unterhält damit das größte durch einen Bundesstaat finanzierte Autobahnnetz der Vereinigten Staaten. Der Staat unterhält insgesamt 18.540 Brücken mit einer Gesamtlänge von knapp über 606 Kilometern, die mit 8,4 Kilometern längste der Brücken verbindet Roanoke Island mit Manns Harbor. Schienenverkehr Die erste Eisenbahn fuhr 1833, ein Jahr später wurde mit der Wilmington and Raleigh Railroad die erste Bahngesellschaft North Carolinas gegründet. Die 1848 gegründete staatseigene North Carolina Railroad verband Charlotte mit dem Atlantik und diente als Rückgrat für die wirtschaftliche Entwicklung des Landes. 2006 umfasste das Schienennetz rund 5200 Kilometer, welches durch 23 Güterbahngesellschaften betrieben wird, darunter die CSX Transportation und Norfolk Southern. Aufgrund der Lage North Carolinas werden die Bahnstrecken vor allem im Transit genutzt; Nord-Süd-Routen verbinden die Ballungszentren New York City, Philadelphia und Washington mit New Orleans und Florida, Ost-West-Strecken führen aus dem Bereich Chicago und Detroit zum Atlantik. Außerdem werden in North Carolina vier touristisch genutzte Bahnen betrieben. In der Projektphase befindet sich der Southeast High Speed Rail Corridor, eine Hochgeschwindigkeitsstrecke zwischen Washington und Charlotte, die bis 2020 realisiert werden soll. Der Personenverkehr wird durch die staatliche Bahngesellschaft Amtrak durchgeführt. Einmal täglich verbindet der „Carolinian“ Charlotte mit New York City. Andere überregionale Züge halten auf der Durchfahrt nach Florida, New Orleans und Savannah. Die „Piedmont“ genannte Intercity-Verbindung verkehrt täglich zwischen Raleigh und Charlotte. Die Gesamtfahrzeit auf der knapp 300 Kilometer langen Strecke beträgt reichlich drei Stunden. Öffentlicher Personennahverkehr Die größeren Städte, insbesondere in den Metropolregionen, bemühen sich mehr und mehr um die Förderung des öffentlichen Personennahverkehrs, die Städte verfügen zunehmend über öffentliche Verkehrsverbände, die Verkehrsdienstleistungen anbieten und öffentliche Verkehrsmittel zur Verfügung stellen. Darunter sind städtische Transportsysteme wie das Charlotte Area Transit System (CATS), das sowohl Straßenbahnen als auch moderne Nahverkehrszüge (Light Rail) für entfernter gelegene Vorstädte betreibt. Die Hauptstadt Raleigh unterhält mit ihrem Capital Area Transit nur Busse, nachdem Versuche, ein Stadtbahnsystem zur Verbindung von Durham und Raleigh zu installieren, scheiterten. Ein weiteres großes Bustransportsystem ist die überwiegend staatlich organisierte Triangle Transit Authority, die die Städte der Metropolregion Durham-Raleigh-Cary verbindet. Chapel Hill, die als einzige Stadt einen kostenlosen Busservice anbietet, ist ebenfalls an dieses Netz angeschlossen. Flugverkehr Internationale Anbindung an den Flugverkehr erhält North Carolina zum einen durch den Douglas International Airport in Charlotte, der US Airways als Hauptdrehkreuz dient und bei rund 580 abgefertigten Flügen 24 internationale Nonstopverbindungen anbietet. Zum anderen dient der Raleigh-Durham International Airport in Raleigh und Durham mit rund 400 abgefertigten Flügen als internationaler Flughafen, neben nationalen Zielen werden Flüge nach Kanada und England angeboten. Flughäfen für den nationalen und regionalen Flugverkehr sind neben anderen der Piedmont Triad International Airport in Greensboro, Winston-Salem und High Point, der Wilmington International Airport in Wilmington, der Asheville Regional Airport in Asheville, der Pitt-Greenville Airport in Greenville, der Fayetteville Regional Airport in Fayetteville und der Craven County Regional Airport in New Bern. Für den privaten Flugverkehr stehen einige kleinere Flughäfen zur Verfügung, darunter der Albert J. Ellis Airport in Jacksonville und der für Golftouristen konzipierte Moore County Airport in Pinehurst. Persönlichkeiten In North Carolina wurden eine Reihe bedeutender Persönlichkeiten geboren, die entscheidenden Einfluss auf einen gesellschaftlichen Bereich des Staates oder des Landes hatten. Dazu zählen beispielsweise die Politiker Richard Dobbs Spaight (1758–1802), einer der Unterzeichner der amerikanischen Verfassung, James K. Polk (1797–1849), der 11. Präsident der Vereinigten Staaten und die 1936 geborene Elizabeth Dole, US-Senatorin sowie Verkehrsministerin unter Ronald Reagan. Ebenfalls aus North Carolina stammt der 1937 geborene Nobelpreisträger für Wirtschaft 2000 Daniel McFadden und der zweifache Pulitzer-Preisträger und Herausgeber des Wall Street Journal, Vermont C. Royster (1914–1996). Sowohl die Schauspielerin Ava Gardner (1922–1990), wie auch ihr Kollege und Gospelsänger Andy Griffith (1926–2012) sind im Bundesstaat geboren, sowie der Hip-Hop-Produzent 9th Wonder (* 1975), die Sängerin Tori Amos (* 1963) und der Jazzmusiker John Coltrane (1926–1967). Der Schriftsteller Charles Frazier (* 1950), der sich in seinen Werken unter anderem mit seiner Heimat auseinandergesetzt hat und der Erweckungsprediger Billy Graham (1918–2018) sind gebürtige North Caroliner. Weitere einflussreiche Bürger North Carolinas sind in der Liste von Persönlichkeiten aus North Carolina aufgeführt. Dokumentarfilme Otto Deppe, Kerstin Woldt, Martin Brinkmann: North Carolina – Vom Atlantik zu den Great Smoky Mountains. Real-Film Medien-Vertrieb, Erstausstrahlung am 12. Januar 1997. Literatur Allgemeine Werke und Übersichten Tracey Boraas: North Carolina. Capstone Press, 2003, ISBN 0-7368-2190-2. William S. Powell, Jay Mazzocchi (Hrsg.): Encyclopedia of North Carolina. The University of North Carolina Press, 25. Oktober 2006, ISBN 0-8078-3071-2. Douglas Orr, Al Stuart (Hrsg.): The North Carolina Atlas: Portrait for a New Century. The University of North Carolina Press, März 2000, ISBN 0-8078-2507-7. Sarah Rafle: North Carolina: The Tar Heel State. Gareth Stevens Publishing, 2002, ISBN 0-8368-5289-3. Geschichte, Wirtschaft und Politik Val Atkinson: Southern Racial Politics & North Carolina’s Black Vote, Trafford Publishing, 18. Januar 2007, ISBN 978-1-4120-9324-8. Rob Christensen: The Paradox of Tar Heel Politics: The Personalities, Elections, and Events That Shaped Modern North Carolina. The University of North Carolina Press, 27. März 2008, ISBN 978-0-8078-3189-2. Milton Ready: The Tar Heel State: A History of North Carolina. University of South Carolina Press, Oktober 2005, ISBN 1-57003-591-1. Donald B. Ricky: Indians of North Carolina. Somerset Publishers 1999, ISBN 0-403-09938-2. Richard C. Simmons: The American Colonies. From Settlement to Independence. Norton, New York 1981, ISBN 0-393-00999-8. Michael L. Walden: North Carolina in the Connected Age: Challenges and Opportunities in a Globalizing Economy, The University of North Carolina Press, September 2008, ISBN 978-0-8078-3221-9. W. Buck Yearns: North Carolina Civil War Documentary. The University of North Carolina Press, 2001, ISBN 0-8078-5358-5. H. Trawick Ward, R. P. Stephen Davis Jr.: Time Before History: The Archaeology of North Carolina. Chapel Hill: University of North Carolina Press 1999. Sport, Bildung und Kultur Pamela Grundy: Learning to Win: Sports, Education, and Social Change in Twentieth-Century North Carolina. The University of North Carolina Press, 4. Dezember 2000, ISBN 0-8078-4934-0. Belletristik Delia Owens: Der Gesang der Flusskrebse, 2019 (engl.: Where the Crawdads Sing, 2018). Weblinks Offizielle Website des Staates North Carolina (englisch) Colonial and State Records of North Carolina (Quellen) Einzelnachweise Bundesstaat der Vereinigten Staaten Karl I. (England) als Namensgeber
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https://de.wikipedia.org/wiki/Taxon
Taxon
Taxon (, das, Pl.: Taxa; von ) bezeichnet in der Systematik der Biologie eine Einheit, der entsprechend bestimmter Kriterien eine Gruppe von Lebewesen zugeordnet wird. Meist drückt sich diese Systematik durch einen eigenen Namen für diese Gruppe aus. Grundsätzlich lassen sich Formtaxa und echte Taxa unterscheiden. Formtaxa weisen ähnliche Merkmale auf, müssen jedoch stammesgeschichtlich nicht direkt miteinander verwandt sein (etwa Wirbellose, Laubbäume oder Einzeller). Die entsprechenden Merkmale sind an verschiedenen Orten unabhängig voneinander entstanden (analoge Entwicklung). Echte Taxa hingegen bilden idealerweise geschlossene Abstammungsgemeinschaften („natürliche Gruppen“), sodass die entsprechende Systematik ein Abbild der evolutionär entstandenen Verwandtschaftsbeziehungen liefert. Die Verwandtschaftsbeziehungen weisen eine hierarchische, mehrfach-verzweigte Baumstruktur („Stammbaum“) auf. Entsprechend hierarchisch ist auch die biologische Systematik aufgebaut: Die meisten Taxa sind Subtaxa eines übergeordneten Taxons und enthalten selbst Subtaxa. In der traditionellen Systematik sind die Hierarchieebenen, die auch als Rangstufen oder Ränge bezeichnet werden, benannt. Die höchste Rangstufe ist die Domäne (enthält die Taxa Bakterien, Archaeen und Eukaryoten). Die nächstniedrigere Rangstufe ist das Phylum (innerhalb der Bakterien und Archaeen) oder das Reich (innerhalb der Eukaryoten), die wiederum jeweils in niedrigere Rangstufen gegliedert werden. Bei den Eukaryoten werden diese weiteren Rangstufen in absteigender Reihenfolge traditionell als Stämme, Klassen, Ordnungen, Familien, Gattungen und Arten bezeichnet. Diese Rangstufen werden zudem oft in Über- und/oder Unterränge gegliedert (z. B. Überordnungen oder Untergattungen). Die eigentlichen Taxa sind die individuell benannten Einheiten innerhalb einer Rangstufe. Mit wachsender Bedeutung der Kladistik in der Biologie, aus deren Methoden zur Ermittlung der Verwandtschaftsbeziehungen sich, im Vergleich zur traditionellen Systematik, ein Vielfaches an potenziellen Hierarchieebenen ergibt, wird auf die Benutzung der traditionellen Rangstufen zunehmend verzichtet. Da Viren nicht als Lebewesen gelten, steht die Virus-Taxonomie außerhalb der hier behandelten Hierarchie. Die Verwandtschaft der jeweils zu einem übergeordneten Taxon zusammengefassten Taxa kommt durch mindestens ein gemeinsames Merkmal zum Ausdruck, durch das sich diese Taxa von anderen gleichrangigen Taxa unterscheiden. In der kladistisch geprägten Systematik haben diese Merkmale per Definition jeweils einen gemeinsamen evolutionären Ursprung, das heißt, sie sind einander homolog und wurden von einer Stammart ererbt. Während in der Kladistik das Taxon, das durch eine bestimmte Stammart definiert wird, immer auch alle deren Nachfahren (also sämtliche Subtaxa aller Rangstufen) einschließt, gibt es in der traditionellen Systematik auch Taxa, die nicht alle Nachfahren der Stammart enthalten. So enthält beispielsweise die Klasse der Reptilien nicht die Vögel (sondern diese bilden eine eigene Klasse der Landwirbeltiere), obwohl die Vögel nach weit verbreiteter Auffassung die engsten lebenden Verwandten der Krokodile (einer traditionellen Ordnung der Reptilien) sind. Die Regeln für die Vergabe wissenschaftlicher Namen für Taxa sind Inhalt des jeweils zuständigen nomenklatorischen Regelwerkes (ICZN, ICBN, ICNB). Die Einordnung nach dem Grad der Verwandtschaft in das entsprechende hierarchische System wird von der akademischen Disziplin der sich auf die biologische Systematik stützenden Taxonomie vorgenommen. Unterschiedliche methodische Ansätze und/oder Merkmalsinterpretationen können zu alternativen Ergebnissen bei der Ermittlung der Verwandtschaftsverhältnisse führen und mithin zu voneinander abweichenden Taxon-Konzepten und oft auch zu unterschiedlich benannten Taxa. Traditionell werden häufig aus dem Lateinischen oder Griechischen abgeleitete Namen vergeben. Ein solchermaßen mit Namen versehenes Taxon wird als nominelles oder formelles Taxon bezeichnet. Formtaxa Formtaxa sind Gruppen von Lebewesen, die von der Systematik zwar als nicht stammesgeschichtlich zusammengehörig erkannt worden sind, aber aus praktischen Gründen dennoch mit eigenem Namen beibehalten werden. Beispiele für solche Formtaxa sind: die Wirbellosen (Invertebrata), die sich dadurch auszeichnen, dass sie keine Knochen besitzen. Zu dieser von Jean-Baptiste de Lamarck benannten Gruppe gehört der weitaus größte Teil aller Tierarten. Wirbellose Tiere wie Schwämme (Porifera), Insekten (Insecta) oder Seesterne (Asteroidea) sind jedoch nur sehr entfernt miteinander verwandt und bilden keine natürliche Verwandtschaftsgruppe. die Flechten (Mycophycophyta), die als symbiotische Lebensgemeinschaften von Pilzen und Algen keine selbständigen Lebewesen sind, sondern aus zwei fundamental verschiedenen Partnern bestehen. Dennoch werden sie teils bis heute als eigenes Taxon mit dazugehörigen Untergruppierungen wie Gattungen und Arten geführt. die Fungi imperfecti (Deuteromycota), die eine Sammelgruppe für all diejenigen Pilze darstellen, die entweder über keine sexuellen Fortpflanzungsstrukturen verfügen oder deren Fortpflanzungswege noch unverstanden sind. Teilweise werden sogar ungeschlechtliche Stadien von Pilzen aufgenommen, die ansonsten durchaus zur sexuellen Vermehrung im Stande sind. Stammesgeschichtlich gehören viele Organismen dieser Gruppe zu anderen Gruppen der Pilze wie den Schlauch- (Ascomycota) oder Ständerpilzen (Basidiomycota). Hierbei werden Anamorphe und Teleomorphe nicht selten unter verschiedenen Taxa geführt. die Protisten (Protista), die als Gesamtheit aller Organismen mit echtem Zellkern (Eukaryota) definiert werden, ohne Tiere (Animalia), Pilze (Fungi) oder Pflanzen (Plantae) zu sein. Oft werden sie Einzeller genannt, obwohl sich in dieser Gruppe zahlreiche mehrzellige Organismen finden, die, wie beispielsweise die Braunalgen (Phaeophyta), zu den größten Lebewesen unseres Planeten zählen. Während heute weitgehend unumstritten ist, dass es sich bei vorstehenden Beispielen um Formtaxa handelt, ist die Frage, was als echtes Taxon anzusehen ist, problematisch und hängt von grundsätzlichen Überlegungen hinsichtlich der Systematik ab: Was aus Sicht der einen ein gültiges Taxon ist, kann aus der Perspektive einer anderen lediglich eine formelle Gruppe sein. Synonyme Am einfachsten aufzulösen sind Unstimmigkeiten, die lediglich aufgrund synonymer Benennungen entstehen. So können zum Beispiel zwei Biologen, die in unterschiedlichen Regionen derselben Art begegnen, dieser zunächst unterschiedliche Namen zuordnen oder es können zwei ursprünglich als getrennt angesehene Arten als Teilpopulationen einer einzigen erkannt werden. Auf diese Weise hat zum Beispiel der Feldhase (Lepus europaeus) im Laufe der Zeit dreiundvierzig verschiedene wissenschaftliche Bezeichnungen (Synonyme) erhalten. Eine andere Möglichkeit ist, dass aufgrund neuer wissenschaftlicher Erkenntnisse eine veraltet geglaubte Gruppierung doch wieder als echtes Taxon angesehen wird, aber in Unkenntnis einer vielleicht Jahrhunderte zurückliegenden Benennung zunächst einen neuen Namen erhält. In beiden Fällen wird der Konflikt dadurch gelöst, dass der älteste verfügbare Name als „gültiger“ Name nach der Prioritätsregel Vorrang über die „jüngeren Synonyme“ erhält. Nur in seltenen Fällen gibt es Ausnahmen, z. B. geht Equus ferus Boddaert, 1785 vor Equus caballus Linnaeus 1758, da nach einer Entscheidung der ICZN-Kommission von 2003 dem jüngeren Namen Vorrang vor dem älteren gegeben wurde. Eine andere Ausnahme ist Tyrannosaurus rex Osborn, 1905, ausnahmsweise mit Vorrang vor Manospondylus gigas Cope, 1892. Der umgekehrte Fall, dass zwei verschiedenen Taxa derselbe Name zugeordnet wird, kann ebenfalls auftreten. Auch hier ist dann der Name nur für das zuerst benannte Taxon verwendbar (wenn überhaupt), für das andere Taxon kann dieser Name nicht verwendet werden. Von größerer theoretischer Bedeutung für die Gültigkeit eines Taxons sind aber tiefergehende systematische Überlegungen zu der Frage, nach welchen Kriterien bestimmt wird, welche Gruppe von Lebewesen ein echtes Taxon bildet und welche nicht. Als bedeutendste Systeme gelten zu Beginn des 21. Jahrhunderts die klassische und die kladistische Taxonomie. Ihre folgende Gegenüberstellung ist zur Herausarbeitung der Unterschiede idealisiert; in der biologischen Praxis werden oft beide Systeme nebeneinander oder in Kombination verwendet. Taxa in der klassischen Taxonomie Die klassische Taxonomie geht auf ein durch den schwedischen Naturforscher Carl von Linné (dessen Name in dieser Zeit Carl Linnæus lautete) eingeführtes Klassifikationssystem zurück. Danach werden nicht nur alle Lebewesen in eine Hierarchie ineinander verschachtelter Taxa gruppiert, sondern diesen Gruppen wird auch je eine Kategoriestufe zugeordnet. Die basale Kategorie, die Grundlage für die gesamte Klassifikation, bildet die Art, die nach den unterschiedlichsten Gesichtspunkten definiert sein kann, bei sich geschlechtlich fortpflanzenden Organismen aber oft durch das Kriterium der Interfertilität festgelegt ist, was bedeutet, dass Mitglieder einer Art unter natürlichen Bedingungen gemeinsame fruchtbare Nachkommen zeugen können. Diese Definition des Artbegriffs ist wie auch ihre Alternativen nicht unproblematisch, eine weitergehende Erläuterung findet sich im Artikel zur Art. Namensregeln für klassische Taxa Jede Art (Spezies) erhält nach einer auf Linné zurückgehenden Konvention einen zweiteiligen (binären) Namen, der aus dem Namen der nächsthöheren Kategorie, der Gattung, und dem so genannten Artepithet oder Artepitheton (in der Zoologie: dem Artnamen) zusammengesetzt ist und deshalb auch als Binomen bezeichnet wird. Diese beiden Teile des Art-Binomens werden nach den Konventionen heute meist kursiv geschrieben: Gattungsname groß und Artepithet/-name klein. Alle Taxa höheren Ranges haben nach diesen Regeln einen aus einem einzelnen Wort bestehenden Namen, der mit einem Großbuchstaben anfängt und nicht kursiv geschrieben wird. Jeder Gattungsname kann innerhalb des Organismenreiches nur einmal vergeben werden (derselbe Gattungsname kann aber in der Zoologie und in der Botanik parallel vergeben werden). Der zweite Teil des Art-Binomens kann in verschiedenen Gattungen mehrmals vergeben und verwendet werden. Linné führte neben der Gattung auch die Ränge Ordnung, Klasse und Reich ein. Später wurde dieses System um die zwischen Gattung und Ordnung gelegene Familie und den zwischen Klasse und Reich gelegenen Stamm (in der Zoologie) beziehungsweise die Abteilung (in der Botanik) erweitert. In neuester Zeit wurden noch weitere Ränge wie Domäne, Reihe, Kohorte, Legion oder Tribus eingeführt. Alle Kategorien können noch durch die Vorsätze „Über-“ beziehungsweise „Unter-“ feiner untergliedert werden. Bei manchen Taxa lässt sich schon durch den Namen feststellen, welcher Kategorie der klassischen Rangsysteme sie angehören: So bezeichnet zum Beispiel die Endung „-aceae“ eine Familie von Pflanzen, während eine Familie von Tieren die Endung „-idae“ trägt. Die genauen Benennungsregeln sind in den jeweiligen und voneinander unabhängigen Regelwerken der Biologischen Nomenklatur festgeschrieben. Für die Benennung von Unterarten werden dreiteilige (trinominale) Namen verwendet. Sie bezeichnen Taxa innerhalb einer Art, die zwar gut charakterisiert und voneinander unterschieden werden können, deren Individuen aber mit denen anderer, ebenfalls gut abgrenzbarer Taxa innerhalb der gleichen Art noch fruchtbar kreuzungsfähig sind. Beim Trinomen von Unterarten wird dem Art-Binomen der Unterartname, stets kleingeschrieben, nachgestellt, und genau wie das Art-Binomen wird das Unterart-Trinomen vollständig kursiv geschrieben. Abgrenzung klassischer Taxa Die Abgrenzung der Taxa erfolgte bei Linné noch nach rein formellen Kriterien, den so genannten essentiellen Merkmalen. So unterteilte er zum Beispiel die Blütenpflanzen nach der Zahl und Anordnung der Staub- und Fruchtblätter der Blüte, also nach ihren Fortpflanzungsstrukturen. Schon sein Zeitgenosse, der französische Naturforscher Georges Louis Leclerc Graf von Buffon, wies jedoch auf die Willkürlichkeit dieses Kriteriums hin. Seit den bahnbrechenden Arbeiten des britischen Geologen und Naturforschers Charles Darwin hat sich stattdessen die Vorstellung durchgesetzt, dass die Einteilung der Lebewesen in Taxa ihre natürlichen Verwandtschaftsverhältnisse berücksichtigen sollte. Aber auch diese Sicht- und Vorgehensweise war nicht neu. Viel frühere Forscher einschließlich Linné hatten immer wieder, sobald neue Erkenntnisse über die Verwandtschaften bekannt geworden waren, die Taxonomie angeglichen und dementsprechend die Fledermäuse nicht mehr den Vögeln und die Wale nicht mehr den Fischen zugeordnet. Ausgesprochen willkürliche Taxa, die auf rein formellen Kriterien basierten, wie beispielsweise Flugtiere, wurden spätestens seit 1700 nicht mehr verwendet und flossen in Linnés moderne wissenschaftliche Namensgebung nicht mehr ein. Allerdings versuchen klassische Systematiken, wie die von dem deutsch-amerikanischen Evolutionsbiologen Ernst Mayr und dem amerikanischen Paläontologen George Gaylord Simpson formulierte so genannte evolutionäre Systematik nicht nur die stammesgeschichtlichen Verzweigungen in die Definition von Taxa einfließen zu lassen, sondern auch weitere Kriterien zur Klassifikation heranzuziehen, um wesentliche evolutionsgeschichtliche Neuerungen abzubilden. So stellt Ernst Mayr zum Beispiel in seiner 1990 vorgestellten Klassifikation die einzelligen Protisten (Protista) in einer eigenen Unterdomäne den Mehrzellern (Metabionta) gegenüber, zu denen er Tiere (Animalia), Pflanzen (Plantae) und Pilze (Fungi) zählt, obwohl das Kriterium der Mehrzelligkeit im Laufe der Evolutionsgeschichte sehr wahrscheinlich mehrfach unabhängig voneinander entstanden ist. Entscheidend ist nach Mayr hier aber nicht der nur molekulargenetisch feststellbare Verwandtschaftsgrad, sondern eben auch die äußere Erscheinungsform (Morphologie). Das System der bedeutenden Evolutionsbiologin Lynn Margulis (1988, 1996) fasst bewusst entgegen den (wahrscheinlichen) Verwandtschaftsverhältnissen die beiden Gruppen der Archaebakterien (dann Archaebacteria) und echten Bakterien (dann Eubacteria) zu dem Taxon der Prokaryoten (Procaryota) zusammen, weil sie als Organismen, deren Zellen keinen Zellkern besitzen, eine andere Organisationsform haben als die Eukaryoten (Eukaryota), in deren Zellen sich ein solcher befindet. Der Strukturunterschied, der mit der „Erfindung“ des Zellkerns einherging, wird damit als bedeutender eingeschätzt als eine möglichst genaue Abbildung des evolutionären Stammbaums. Ein weiteres Beispiel lässt sich an den beiden Gruppen der Vögel (Aves) und Reptilien (Reptilia) erkennen. Sie werden in der klassischen Taxonomie als gleichrangige Klassen geführt, obwohl heute unumstritten ist, dass erstere entwicklungsgeschichtlich aus letzteren hervorgegangen sind, was sich auch darin äußert, dass eine Kriechtiergruppe, die Krokodile (Crocodylia), stammesgeschichtlich enger mit den Vögeln verwandt ist als mit anderen Kriechtieren wie zum Beispiel den Schlangen (Serpentes) – siehe dazu auch Archosaurier (Archosauria). Die Abtrennung der Vögel als separate Klasse wird jedoch von traditionellen Taxonomen wie Mayr oder Simpson nicht nur mit Verweis auf die bedeutenden Unterschiede in Anatomie und Physiologie, die Vögel heute von den Reptilien trennen, sondern auch in Hinsicht auf den bedeutenden ökologischen Rollenwechsel, der mit der Eroberung des Luftraums verbunden war, als gerechtfertigt angesehen. Die Robben (Pinnipedia), die stammesgeschichtlich von landlebenden Raubtieren (Carnivora) abstammen, aber wegen des extremen Wandels ihres Lebensraumes oft als selbständige Ordnung im gleichen Rang wie die Raubtiere geführt werden, sind ein vergleichbarer Fall. Charakteristisch ist in jedem Fall, dass nicht nur das Kriterium der stammesgeschichtlichen Verwandtheit, sondern darüber hinaus auch deutliche morphologische Unterschiede (Diskontinuitäten), ökologische Nischenwechsel, die Komplexität des anatomischen Bauplans oder die Artenvielfalt einer Gruppe zur Abgrenzung eines Taxons herangezogen werden. Daraus folgt, dass Mitglieder eines Taxons durch ihre weitere evolutionäre Entwicklung in ein anderes, gleichrangiges Taxon übertreten können, wie dies zum Beispiel bei den Vögeln geschehen ist, die wie bereits erwähnt nach klassischer Sicht eine gleichrangige Gruppe neben den Kriechtieren bilden. Umgekehrt werden nach rein stammesgeschichtlichen Kriterien gebildete Gruppen, die morphologisch stark voneinander abweichende Untertaxa enthalten, aus klassischer Sicht oft abgelehnt; so wird zum Beispiel die Zusammenfassung der Schwestergruppen der Vögel und Krokodile zu den Archosauriern (Archosauria) als absurd verworfen. Während heutige Anhänger der klassischen Systematik polyphyletische Taxa, also Gruppen, die nicht einmal ihren letzten gemeinsamen Vorfahren einschließen, dennoch meist ablehnen, besteht weitgehende Einigkeit, dass paraphyletische Taxa, Gruppen, die nicht alle Nachkommen ihres letzten gemeinsamen Vorfahren enthalten, nicht nur erlaubt, sondern wegen der – trotz neu eingeführter Stufen wie Kohorte oder Legion – begrenzten Zahl an Kategorien nahezu unumgänglich sind. Als Vorteil der klassischen Taxon-Definition gilt ihre vergleichsweise Stabilität: Da sich wissenschaftliche Ansichten über die genauen Verwandtschaftsverhältnisse von Lebewesen weitaus schneller wandeln können als Ansichten über die äußere Erscheinungsform, ist eine solche Klassifikation insbesondere für nicht-biologische Anwendungsgebiete wie zum Beispiel in der Land- und Forstwirtschaft von größerer Praxisrelevanz. Als Nachteil gilt jedoch heute die relative Willkürlichkeit bei der Abgrenzung der Taxa: So ist in einem gegebenen Fall ohne genaue Angaben des Taxonomen für Außenstehende oft nicht zu erkennen, welches Kriterium – Diversität, ökologischer Nischenwechsel oder stammesgeschichtliche Verwandtschaft – gerade zur Abgrenzung des Taxons herangezogen wurde. Kritiker der klassischen Taxonomie haben daher in Anlehnung an den englischen Biologen Thomas Henry Huxley ironisch die Einführung eines eigenen Reiches „Psychozoa“ für den Menschen gefordert, das gleichrangig neben den Reichen der Tiere, Pflanzen und Pilze stehen soll, um den bedeutenden ökologischen Nischenwechsel des Menschen beim Verlassen der afrikanischen Savanne auch taxonomisch zur Geltung zu bringen. Taxa in der kladistischen Taxonomie Einen gänzlich anderen Weg bei der Abgrenzung von Taxa geht die auf den deutschen Systematiker und Insektenforscher Willi Hennig zurückgehende so genannte kladistische Taxonomie, die sich auf die Ergebnisse der kladistischen Systematik stützt. Ihr Grundprinzip ist, dass nur natürliche Gruppen von Lebewesen benannt werden sollten. Als solche werden nur Fortpflanzungs- und Abstammungsgemeinschaften akzeptiert, also Gruppen von Lebewesen, die einen gemeinsamen Genpool bilden (Arten) oder alle Nachkommen eines gemeinsamen Vorfahren enthalten. Diese monophyletische Taxa werden auch Kladen (Plural, von Singular die Klade) oder Monophyla genannt. Kriterien wie morphologische Diskontinuitäten, Artenvielfalt etc. werden bewusst nicht zur Abgrenzung eines Taxons herangezogen, die Klassifikation soll damit ausschließlich die natürlichen Verwandtschaftsverhältnisse der Lebewesen getreu abbilden. Unter kladistisch orientierten Taxonomen wird mitunter der Begriff Taxon dann als Synonym für Klade gebraucht, da andere Taxa nicht als gültig akzeptiert werden. Mit der Zurückweisung paraphyletischer Gruppen einher geht die Ablehnung der als Überbleibsel der typologisch orientierten Klassifikation des 18. und 19. Jahrhunderts angesehenen Kategorien. Sie gelten der kladistischen Taxonomie mit Ausnahme der allerdings etwas anders definierten Art als biologisch bedeutungslos, weil in der Natur zwar mitunter eine vertikale, aber keine horizontale Ordnung der Taxa existiert: So ergibt es zwar Sinn, etwa davon zu sprechen, dass die Raubtiere (Carnivora) eine Untergruppe der Säugetiere (Mammalia) sind, die wiederum eine Untergruppe der Wirbeltiere (Vertebrata) bilden. Dagegen wird die Aussage, dass den Entenvögeln (Anatidae) dieselbe Rangstufe zukommt wie den Korbblütlern (Asteraceae), als wissenschaftlich leer betrachtet, die Vergleichbarkeit aus klassischer Sicht gleichrangiger Taxa also bestritten. Um die Tradierung biologischer Informationen nicht zu gefährden, werden die alten Taxonnamen allerdings fast immer beibehalten – ohne die teilweise in diesen Namen enthaltenen Rangstufen zu berücksichtigen. Die Bedeutung der traditionellen Ränge geht in einem kladistischen System auf die so genannten Schwestergruppen (Adelphotaxa) über, darunter versteht man zwei Taxa, die einst durch den Prozess der Artbildung (Speziation) aus einer Stammart hervorgegangen sind, welche nach der Aufspaltung dann gemäß strenger kladistischer Anschauung als erloschen, also nicht mehr existent gilt. Durch weitere Aufspaltungsprozesse (Kladogenese) können sich aus den beiden ursprünglichen Schwesterarten mit der Zeit zwei nun zahlreiche Arten umfassende Gruppen von Lebewesen entwickeln, die aber zu jedem Zeitpunkt im selben Verwandtschaftsverhältnis – eben als Adelphotaxa – zueinander stehen. Phänomene wie horizontale Genübertragung oder insbesondere bei Pflanzen Hybridbildung können dieses Bild komplizieren, von grundsätzlicherer Bedeutung sind diese Prozesse auf lange Sicht zumindest für Organismen mit echtem Zellkern (Eukaryota) jedoch nicht. Beispiele für Schwestertaxa sind: die Krokodile (Crocodylia) und Vögel (Aves), die als Archosaurier (Archosauria) zusammengefasst werden. Nur moderne Lebewesen sind hierbei berücksichtigt, der Begriff Schwestertaxon ändert sich also, je nachdem, ob auch fossile Arten hinzugezogen werden oder nicht. die Strahlenflosser (Actinopterygii) und Muskelflosser (Sarcopterygii), allerdings nur, wenn letztere Gruppe auch die Landwirbeltiere (Tetrapoda) umfasst. Nicht verwechselt werden darf der Begriff der Schwestertaxa mit den ursprünglichen Unterarten, aus denen diese hervorgegangen sind. Während sich zwei Schwestertaxa im idealen Fall allein aus der Merkmalsanalyse heute existierender Lebewesen ableiten lassen, ist ihre Stammart beziehungsweise die beiden Schwesterarten, in die diese sich aufgeteilt hat, heute auch bei bester fossiler Überlieferung in nahezu keinem Fall mehr rekonstruierbar. Ausnahmen bestehen nach strenger Ansicht nur bei einer wissenschaftlich beobachteten Artbildung – ein äußerst seltenes Phänomen. Aus diesem Grunde werden in kladistischen Taxonomien auch niemals Vorfahren beziehungsweise Nachkommen eines Taxons identifiziert: Alle existierenden (monophyletischen) Taxa einer gegebenen Gruppe, die auch fossile Gruppen umschließen kann, werden in ein System aus Schwestertaxa eingeordnet, von denen jedes zwar als logische Zusammenfassung oder Teilmenge, niemals aber als historischer Vorgänger oder Nachfolger anderer Taxa gelten kann. Dargestellt wird dieses System in diagrammatischer Weise in einem so genannten Kladogramm, einem Baumdiagramm, in dem sich jeder Ast idealerweise jeweils in zwei Unteräste aufspaltet. Am Ende der feinsten Verästelung sitzen die (fossilen oder modernen) Arten; die Knotenpunkte werden dagegen nicht benannt, sie stehen für die virtuellen, das heißt nie festgelegten Stammarten. Bei der Benennung von Taxa nach kladistischer Systematik ergeben sich gewisse Schwierigkeiten: Wie bereits erwähnt, führen klassische Taxa oft ihre Rangstufe im Namen mit, daneben ist durch die binäre Nomenklatur für Arten festgeschrieben, dass ein Artname Informationen über seine Gattung enthält. Damit ist es erstens problematisch, zwischen Gattung und Art gelegene Taxa zu benennen, zweitens zieht ein Wechsel in der systematischen Stellung einer Art zugleich auch immer eine Umbenennung nach sich. Deshalb gibt es heute Bestrebungen, die bisherige Nomenklatur zugunsten von neuen auf die kladistische Taxonomie zugeschnittenen Namensregeln zu überwinden. Vom 6. bis zum 9. Juli 2004 fand dazu eine Konferenz in Paris statt, auf der die Internationale Gesellschaft für phylogenetische Nomenklatur (International Society for Phylogenetic Nomenclature (ISPN)) begründet wurde, welche die in internationaler Zusammenarbeit erarbeiteten Regeln des „PhyloCode“ überwachen wird, der nach der Vorstellung seiner Verfasser langfristig alle bisherigen Nomenklatur-Regelwerke wie den botanischen (ICBN) oder zoologischen Nomenklatur-Code (ICZN) ablösen soll. Das Erstpublikationsdatum der Konferenzberichte wird als Startdatum des „PhyloCode “angegeben. Ihren Befürwortern gilt die nach kladistischen Kriterien errichtete Taxonomie als einzige wirklich wissenschaftliche Methode zur Beschreibung, Einteilung und Benennung von Taxa, die im Gegensatz zur traditionellen Klassifikation, die als reines Schubladensystem angesehen wird, echte biologische Information widerspiegelt. Kritikern wie den oben erwähnten Ernst Mayr oder Gaylord Simpson gilt die kladistische Taxonomie dagegen als zu instabil und daher nicht praxistauglich. Wie bereits zu Beginn angesprochen, muss die obenstehende Gegenüberstellung der beiden Taxonomien als idealisiert angesehen werden. Während es sich auch in der klassischen Taxonomie zunehmend durchsetzt, nach Möglichkeit monophyletische Taxa zu bilden und nur in Ausnahmefällen auf paraphyletische Gruppen auszuweichen, sind bei kladistisch arbeitenden Taxonomen zumindest auf Art- und Gattungsebene oft noch die klassischen binären Namen in Gebrauch. Auch bei höheren Taxa werden paraphyletische Gruppen zumindest informell noch weiterverwendet. Operationale taxonomische Einheiten (MOTU) Mit Hilfe molekularbiologischer Methoden können taxonomische Zugehörigkeiten erkannt werden. Nach DNA-Analyse und Vergleich in Genbibliotheken lassen sich molecular operational taxonomic units (MOTUs) definieren, was ermöglichen kann, Arten zu definieren. Damit konnten bei Saprolegnia 18 Arten bestätigt und weitere 11 potenzielle Arten identifiziert werden. Literatur Gottlieb Wilhelm Bischoff: Wörterbuch der beschreibenden Botanik oder Die Kunstausdrücke, welche zum Verstehen der phytographischen Schriften nothwendig sind, lateinisch-deutsch und deutsch-lateinisch. 2. Auflage. Schweizerbart, Stuttgart 1857 (Digitalisat) Willi Hennig: Grundzüge einer Theorie der Phylogenetischen Systematik. Deutscher Zentralverlag, Berlin 1950, Koeltz, Königstein 1980 (Repr.), ISBN 3-87429-188-X. Willy Hennig: Phylogenetic Systematics. Univ. of Illinois Press, London 1966, ISBN 0-252-06814-9. Lynn Margulis, Karlene V. Schwartz: Die fünf Reiche der Organismen. Spektrum d. Wiss., Heidelberg 1989, ISBN 3-89330-694-3. Lynn Margulis, Karlene V. Schwartz: Five Kingdoms, an Illustrated Guide to the Phyla of Life on Earth. Freeman, New York NY ³1998 (englisch. Orig.), ISBN 0-7167-3027-8. Ernst Mayr: Cladistic Analysis or Cladistic Classification. in: E. 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Johannes Calvin
Johannes Calvin (* 10. Juli 1509 in Noyon, Picardie; † 27. Mai 1564 in Genf) war einer der einflussreichsten systematischen Theologen unter den Reformatoren des 16. Jahrhunderts. Sein Hauptwerk, die Institutio Christianae Religionis, wird als eine „protestantische Summa“ bezeichnet. Die Verfolgung der französischen Protestanten unter König Franz I. zwang den Juristen, Humanisten und theologischen Autodidakten Calvin wie viele Gleichgesinnte zu einem Leben im Untergrund, schließlich zur Flucht aus Frankreich. Die Stadtrepublik Genf hatte bei seiner Ankunft dort (1536) gerade erst die Reformation eingeführt. Der Reformator Guillaume Farel machte Calvin zu seinem Mitarbeiter. Nach zweijähriger Tätigkeit wurden Farel und Calvin vom Stadtrat ausgewiesen. Martin Bucer lud Calvin nach Straßburg ein. 1539 erhielt er eine Professur für Theologie an der Hohen Schule von Straßburg. Außerdem war er Pfarrer der französischen Flüchtlingsgemeinde. Als ihn der Stadtrat von Genf zurückrief, war Calvins Stellung wesentlich stärker als bei seinem ersten Genfer Aufenthalt. Er hatte Erfahrungen mit der Gemeindeorganisation gewonnen, die ihm jetzt zugutekamen. Im Herbst 1541 kam Calvin nach Genf und arbeitete umgehend eine Kirchenordnung aus. Calvins Rückhalt in den folgenden Jahren war das Pastorenkollegium (Compagnie des pasteurs). Der starke Zuzug verfolgter Hugenotten veränderte die Bevölkerungsstruktur Genfs und die Mehrheitsverhältnisse im Stadtrat, was 1555 zur Entmachtung der Calvin-kritischen Ratsfraktion führte. Die 1559 gegründete Akademie profitierte vom Ruf Calvins und machte Genf zum Ziel von Studenten aus mehreren europäischen Staaten. Calvins Wirken in Genf war durch schwere Konflikte gekennzeichnet, unter denen zwei hervorstechen: Die Vertreibung Jérôme-Hermès Bolsecs. Er hatte Calvins Prädestinationslehre kritisiert, wurde deshalb 1551 aus Genf ausgewiesen und verfasste später eine viel rezipierte, polemische Calvin-Biografie. Die Hinrichtung des Antitrinitariers Michel Servet (1553). Calvin hatte bereits die Römische Inquisition, die Servet im französischen Vienne verhörte, mit Belastungsmaterial versorgt. Servet floh vor seiner Hinrichtung nach Genf; dort wurde er auf Betreiben Calvins ebenfalls vor Gericht gestellt. Es war ein politischer Prozess, den der Kleine Rat der Stadt an sich zog. Calvin war daran als theologischer Gutachter, nicht als Richter beteiligt. Er befürwortete das Todesurteil und rechtfertigte es nachträglich gegen die Kritik des Basler Humanisten Sebastian Castellio. Calvins theologisches Hauptwerk ist die Institutio Christianae Religionis, die aber zusammengesehen werden sollte mit Calvins Bibelkommentaren. Die Institutio ist einerseits aus dem Bibelstudium erwachsen, andererseits aus einer intensiven Auseinandersetzung mit den altkirchlichen Dogmen und den Schriften der Kirchenväter, besonders Augustinus von Hippo. Das Zentrum von Calvins Theologie wird unterschiedlich bestimmt: die Majestät Gottes (Benjamin B. Warfield) oder Christus als der Mittler (Wilhelm Niesel); die doppelte Prädestination ist ein Nebenthema. Die Kirchenordnung hatte für Calvin religiöse Relevanz, denn die Kirche solle in ihrer Gestalt ihrem Auftrag entsprechen. Kirchenzucht sei sowohl für die Integrität der Kirche als auch für die persönliche Heiligung der Mitglieder unverzichtbar. Name Der Reformator hieß eigentlich Jehan (Jean) Cauvin (). Bereits als Jugendlicher, bei Studienbeginn in Paris, latinisierte er seinen Namen: aus Jean Cauvin wurde Ioannes Calvinus. Dabei mag eine Rolle gespielt haben, dass reale und fiktive Personen namens Calvinus in der Antike mehrfach bezeugt sind, unter anderem ein fiktiver Schriftsteller Calvinus in Martials Epigrammen. Im französischen Sprachraum ist heute die re-gallizierte Namensform Jean Calvin () üblich, im deutschen Sprachraum dagegen Johannes Calvin ( oder, in der Schweiz, ). Leben Herkunftsfamilie Jean Cauvin stammte aus einer wohlhabenden und angesehenen Familie der Bischofsstadt Noyon in der Picardie. Sein Vater Gérard Cauvin war von Pont-l’Évêque hierher zugezogen und arbeitete als Jurist und Finanzberater für den Bischof Charles I. de Hangest und das Domkapitel. Seine erste Ehefrau Jeanne le Franc verstarb früh, von ihr ist wenig bekannt. Der gemeinsame Sohn Jean wurde am 10. Juli 1509 geboren und von einem Domherrn namens Jean de Vatines getauft. Er hatte einen älteren Bruder Charles, einen jüngeren Bruder Antoine und eine Schwester Marie. Weitere Geschwister starben früh. Auch mit Bezug auf den Beruf des Vaters formuliert Wilhelm H. Neuser, Calvin sei „im Schatten einer großen Kathedrale aufgewachsen“; die in der Familie gelebte Frömmigkeit scheint ganz dem damals Üblichen entsprochen zu haben. Jugend und Studium in Paris, Orléans und Bourges Gérard Cauvin sah seinen Sohn Jean, wie schon den älteren Bruder Antoine, für die geistliche Laufbahn vor. Mit etwa sieben Jahren trat er ins Collège des Capettes in Noyon ein, eine Elementarschule. Durch den Kontakt des Vaters zu der adligen Familie de Hangest-Montmort hatte Jean Cauvin Umgang mit den etwa gleichaltrigen Brüdern Jean und Claude de Hangest, den Neffen des Bischofs von Noyon. Er durfte auf Kosten seines eigenen Vaters an deren Hausunterricht teilnehmen und lernte so auch aristokratische Umgangsformen. (Calvin widmete Claude de Hangest, mittlerweile Abt von St. Eligius in Noyon, 1532 seinen Senecakommentar und erinnerte im Vorwort an den gemeinsamen „Unterricht in Leben und Gelehrsamkeit“.) Am 19. Mai 1521, kurz vor seinem zwölften Geburtstag, erhielt er einen Teil einer Pfründe der Kathedrale von Noyon und wurde so zum Kleriker. Das erforderte eine Dispens, da der Junge das kanonische Alter noch nicht erreicht hatte; das war aber nur eine Formalität. Die Pfründe war eine Art Stipendium für das geplante Theologiestudium. Wahrscheinlich kurz darauf, noch im Jahr 1521 (so Peter Opitz) oder aber 1523/24 (so Wilhelm H. Neuser) kam Calvin gemeinsam mit den Brüdern Jean und Claude de Hangest und deren Tutor nach Paris. Die Universität von Paris bestand aus zahlreichen Kollegien. Einige Monate verbrachte Calvin am Collège de la Marche, um seine Lateinkenntnisse zur Vorbereitung auf das eigentliche Studium zu perfektionieren. Zu seinem Lateinlehrer Mathurin Cordier hatte Calvin eine sehr positive Beziehung. Der Tutor veranlasste aber schon bald, dass Calvin ins Collège de Montaigu wechselte, wo er in Philosophie und Disputationstechnik ausgebildet wurde. Das Collège stand unter der Leitung von Noël Béda, der als Gegner des Bibelhumanismus bekannt war. Vor Calvin hatten bereits Erasmus von Rotterdam und François Rabelais die angesehene Einrichtung besucht, die nach ihren relativ unerfreulichen Erinnerungen eine „Stätte des harten römischen Konservativismus“ (Peter Opitz) war. Wohl etwas später als Calvin studierte Ignatius von Loyola hier. Es scheint, dass Calvin nicht im Internat lebte, sondern als Externer in der Nähe ein Zimmer bewohnte. Er schloss sein Studium an der Artistenfakultät mit dem Magistergrad ab. Hier deuteten sich wohl schon die Konflikte Gérard Cauvins mit dem Domkapitel von Noyon an, die später eskalierten. (1528 wurde er als Disziplinierungsmaßnahme mit dem Kleinen Kirchenbann belegt: er sollte eine Erbschaftsangelegenheit regeln und hatte sich wegen Krankheit entschuldigen lassen. Nach seinem Tod konnte er deswegen nicht in geweihter Erde bestattet werden.) Calvin fügte sich den väterlichen Plänen. In Paris konnte man nur das Kanonische Recht studieren, und so wechselte er etwa 1526 an die Universität Orléans zum Studium des Zivilrechts. Damit sah Gérard Cauvin für seinen Sohn eine Karriere als Anwalt oder Richter vor, aber nicht (wie er selbst) im Dienst der Kirche. Calvin hätte nun ein freieres Studentenleben führen können als auf dem Collège de Montaigu; aber er befolgte einen selbstgeschaffenen strikten Lernplan. Der bedeutendste Jurist in Orléans war Pierre de L’Estoile. Er vertrat einen konservativen Zugang zu den Texten. Eine Art Gegenpol war der Humanist Andrea Alciato, der 1529 den Lehrstuhl für Jurisprudenz an der Universität Bourges erhielt. Calvins erster im Druck erschienener Text war ein Vorwort zur Antapologia seines Studienfreundes Nicholas Duchemin (datiert 6. März 1529), in dem dieser seinen akademischen Lehrer Pierre de L’Estoile gegen die Kritik Andrea Alciatos verteidigte. Calvin nahm in seinem Vorwort eine vermittelnde Position ein. Er wechselte im Verlauf des Jahres 1529 von Orléans nach Bourges, um Alciato zu hören. Mit der Aufnahme des Jurastudiums kam Calvin auch mit dem Humanismus in Kontakt, von dem er auf dem Collège de Montaigu abgeschirmt gewesen war. Duchemin und andere Studienfreunde waren humanistisch interessiert, der für Calvin prägendste Kontakt war jedoch der zu Melchior Volmar in Bourges. Bei ihm nahm er Griechischunterricht und lernte das Neue Testament in der Ursprache zu lesen. Volmars theologische Ansichten und sein Einfluss auf Calvins Entwicklung zum Protestanten sind aber nicht genauer bekannt. Ähnliches gilt auch für Calvins Cousin Pierre-Robert Olivétan. Er beherrschte Hebräisch und Griechisch und übersetzte die Bibel ins Französische (Bible d’Olivétan). Olivétans Aufenthalte in Paris und Orléans fallen zeitlich mit denen Calvins zusammen. Calvins Hinwendung zur Reformation war keine plötzliche Bekehrung. Er selbst schrieb von Fortschritten im Bibelstudium, die ihn der Heiligen- und Bilderverehrung allmählich entfremdeten. Neuser datiert diese Entwicklung in die Jahre 1528/29, als Calvin in Orléans Jura studierte. Eine Zeit der Unsicherheit schloss sich an, in der Calvin sich an den Positionen des bekannten Humanisten Jacques Lefèvre d’Étaples orientierte und in der Öffentlichkeit nicht als Anhänger der Reformation in Erscheinung trat. Lefèvre d’Étaples hielt es zwar für wichtig, das Evangelium zu predigen (Evangelisme), forderte aber keine Änderungen des Gottesdienstes. Im Mai 1531 kehrte Calvin nach Noyon zurück, weil sein Vater schwer erkrankt war. Sein Tod am 26. Mai war für Calvin eine Zäsur, denn er fühlte sich nicht länger verpflichtet, eine juristische Karriere zu verfolgen, und konnte seinen humanistischen Interessen nachgehen. Dazu zog er nach Paris und besuchte Vorlesungen am Collège des trois langues. Er studierte Altgriechisch bei Pierre Danès, wie er in einem Brief erwähnte; dass er auch Hebräischunterricht bei François Vatable nahm, ist wahrscheinlich. Calvin gehörte zu einem Kreis von Reformhumanisten, der sich im Haus von Étienne de la Forge traf. Hier dürften auch Schriften von Martin Luther und Huldrych Zwingli diskutiert worden sein. In seiner ersten selbständigen Publikation trat Calvin im April 1532 als ambitionierter junger Humanist hervor. Es war ein Kommentar zu Senecas Schrift De clementia („Über die Milde“). Erasmus von Rotterdam hatte sie ediert und zu ihrem Studium aufgerufen. Das setzte Calvin nun um und zeigte, dass er das philologische Instrumentarium beherrschte. Wahrscheinlich kehrte Calvin nach der Veröffentlichung seines Seneca-Kommentars noch einmal nach Orléans zurück (1532/33) und schloss dort sein Jurastudium ab. Im Herbst 1533 war Calvin dann wieder in Paris und erlebte die Auseinandersetzungen zwischen reformhumanistischen und konservativen Akteuren mit. Calvin zeigte in einem Brief an François Daniel in Orléans (27. Oktober 1533) seine Sympathie für die Reformer. Margarete von Navarra, die Schwester des französischen Königs Franz I., protegierte die Reformer und stand deshalb in der Kritik. Nicolas Cop nutzte seine Antrittsrede als Rektor der Universität Paris zur Verteidigung Margaretes (1. November 1533). Diese Rede ist eine Auslegung der Seligpreisungen der Bergpredigt im Sinne eines Bibelhumanismus, der mit Erasmus, Martin Bucer und vielleicht auch Philipp Melanchthon vertraut war. Cop war mit Calvin befreundet; in der Forschung wird deshalb diskutiert, wie weit seine Rede Calvins Handschrift trägt. Théodore de Bèze, ein späterer Mitarbeiter Calvins, schrieb, Calvin habe diese Rede für Cop verfasst. Während die Artistenfakultät und die Medizinische Fakultät hinter Cop standen, hatte er die Theologische und die Juristische Fakultät gegen sich. Ein Haftbefehl des Parlaments zwang ihn zur Flucht nach Basel. Auch Calvin ging nun in den Untergrund. Seine Wohnung am Collège Fortet wurde durchsucht, seine Briefe beschlagnahmt. Leben im Untergrund: Angoulême und Basel (1533–1536) Das Königreich Navarra bot den religiösen Dissidenten mehr Schutz als Paris oder auch Orléans. Calvins Studienfreund Louis du Tillet, Kanoniker der Kathedrale von Angoulême und seit 1532 Pfarrer im benachbarten Ort Claix, gab ihm ein Quartier. Im Schloss von Angoulême konnte Calvin die Bibliothek der Familie Du Tillet für das Studium der Bibel und der Kirchenväter nutzen. Das waren Vorarbeiten für die 1536 in Basel gedruckte „Unterweisung in der christlichen Religion“ (Institutio Christianae Religionis). Die wichtigste Quelle für Calvins Aufenthalt in Angoulême ist das Werk des Florimond de Raemond (1623), eines Autors der Gegenreformation, der weitere Details über Calvins Aktivitäten dort zu wissen beansprucht. Wilhelm H. Neuser zufolge ist diese Quelle unbrauchbar, da Fiktion und historische Erinnerung nicht mehr zu trennen seien. Calvin war mittlerweile 25 Jahre alt und konnte die Priesterweihe empfangen; er entschied sich dagegen. Am 4. Mai 1534 reiste er deshalb nach Noyon und gab seine Pfründe offiziell zurück. Streng genommen hätte er sich auch vertreten lassen können, doch geht die Forschung allgemein von einem Besuch Calvin in seinem Herkunftsort aus. Das Datum steht für Calvins Bruch mit der Papstkirche. Die Plakataffäre (Affaire des Placards) markiert das Ende der relativ toleranten Religionspolitik in Frankreich. Der Anlass dafür war ein Text, in dem die Feier der Heiligen Messe und die Transsubstantiationslehre als Werk des Antichristen diffamiert wurden. Dieser Angriff auf das Allerheiligste Sakrament des Altares traf ins Zentrum spätmittelalterlicher Frömmigkeit. Nach einer ersten Flugblattaktion des Protestanten Antoine Marcourt im Oktober 1534 hatte die altgläubige Seite vorwiegend mit Hostieninszenierungen, etwa durch Prozessionen, reagiert. Das galt als kollektive Buße der Bevölkerung für die Schmähung des Sakraments, war daneben aber auch ein Weg, die Menschen zu mobilisieren und den öffentlichen Raum zu besetzen. Der zweiten Flugblattaktion des gleichen Autors im Januar 1535 folgten landesweite Verhaftungen von Tätern, Mitwissern und verdächtigen „Lutheranern“ (Luthériens). Die monatelange Repression endete mit einem Amnestieangebot für reuige Protestanten (Edikt von Coucy, 16. Juli 1535). Von Oktober 1534 bis Juli 1535 waren allein in Paris 24 Menschen hingerichtet worden, „in so kurzer Zeit wurden nie zuvor und nie danach so viele Todesurteile gegen ‚Ketzer‘ in einer französischen Stadt vollsteckt.“ Eines der Opfer war Étienne de la Forge, in dessen Haus Calvin in seiner Pariser Zeit verkehrt hatte. Du Tillet und Calvin flohen gemeinsam über Metz und Straßburg nach Basel, wo sie wahrscheinlich Anfang 1535 eintrafen. Die Hinrichtung von Häretikern auf dem Scheiterhaufen war in den 1530er Jahren in Frankreich eine Neuerung und wurde aufwändig inszeniert, deshalb auch nur an ausgesuchten, relativ wenigen Einzelpersonen vollzogen. Es war die Elite der (inhaftierten) Protestanten, die so starb. Das Ziel war, diese Personen zu erniedrigen, vollständig zu vernichten und damit die von ihnen in Frage gestellte alte religiöse Ordnung symbolisch wieder in Kraft zu setzen. Die zuschauende Menge war in diesen Anfangsjahren vorwiegend neugierig, im späteren Verlauf aber immer aggressiver gegenüber den Todeskandidaten und ihren Sympathisanten, so dass das inszenierte Ritual der Obrigkeit entglitt und es zu Lynchjustiz und Tumulten kam. Am 23. August 1535 schrieb Calvin einen Brief an König Franz I., in dem er für die Opfer der Protestantenverfolgung Partei ergriff und die Vorwürfe gegen sie zu entkräften suchte. Es wurde als Widmungsschreiben der 1536 gedruckten Institutio vorangestellt. Calvin lebte in Basel im Untergrund, so dass für diese anderthalb Jahre nur wenige direkte Quellen vorhanden sind. Es war indes eine für Calvins Entwicklung wichtige Zeit: Erstmals trat er in den Kommunikationsraum der oberdeutsch-schweizerischen Reformation ein, die maßgeblich durch Huldrych Zwingli in Zürich und Johannes Oekolampad in Basel geprägt war. Beide waren im Jahr 1531 verstorben. Als Calvin nach Basel kam, amtierte dort Oswald Myconius als leitender Pfarrer (Antistes), ein Schüler Zwinglis. In Basel begegnete Calvin Heinrich Bullinger, dem Zürcher Reformator. Er freundete sich mit Simon Grynaeus an und besuchte seine Römerbriefvorlesung. Calvin verfasste unter seinem vollen Namen eine Vorrede für die Olivétanbibel; die Abkehr von Jacques Lefèvre d’Étaples wird deutlich. Ein mit den Initialen V. F. C. versehenes weiteres Vorwort bezeichnet die Juden als „das mit uns verbundene und konföderierte Volk des Sinaibundes“; diese Formulierung stammt nicht von Calvin selbst, aber aus seinem Umfeld. Im März 1536 druckten Thomas Platter und Balthasar Lasius in Basel Calvins lateinische Erstfassung der Institutio, deren Text weitgehend in Frankreich verfasst worden war. Dieses Werk machte Calvin bekannt. Es gibt starke Gemeinsamkeiten mit Luthers Kleinem Katechismus und generell Berührungen mit Luthers Theologie, aber Calvin fügte weitere Themen hinzu, so dass die Institutio eine komplette, wenn auch knappe Dogmatik darstellt. Sehr kennzeichnend ist, wie Calvin den Ausgangspunkt der Theologie bestimmt: Erkenntnis Gottes und Selbsterkenntnis des Menschen (cognitio Dei ac nostri). Erste Genfer Zeit (1536–1538) Das Genf des Jahres 1536 war keine Metropole wie Basel, Bern oder Zürich, hatte aber durch einen Burgrechtsvertrag mit Bern und Freiburg die städtische Unabhängigkeit vom Bischof errungen. Diesen Bischofssitz hatten Mitglieder des Hauses Savoyen traditionell innegehabt, nun galt es, sich dem politischen Zugriff des Herzogtums Savoyens zu entziehen. Genf war damit erfolgreich, gewann „als einzige Stadt Europas seine Unabhängigkeit und wurde eine selbstregierte Stadtrepublik.“ (Philip Benedict) Die Kehrseite dieser Unabhängigkeit von Savoyen war allerdings, so Volker Reinhardt, die politische Anlehnung an die „europäische Großmacht Bern.“ Genfs Übergang zum Protestantismus war weniger religiös motiviert gewesen als vielmehr ein Schritt der Emanzipation von Savoyen. Guillaume Farel war 1532 mit einem Berner Geleitbrief nach Genf gekommen. Zunächst hatte sich der Stadtrat gegen Veränderungen gesträubt, aber nach einem Bildersturm im Sommer 1535 war für Farel der Weg frei, neue Regeln des religiösen und bürgerlichen Alltags in Kraft zu setzen: Gottesdienstreformen, Abschaffung der Heiligenverehrung, Verbot von Prostitution, Tanz und Wirtshäusern, eine Neuordnung des Schulwesens und der Armenfürsorge. Nachdem die Stadt Bern Anfang 1536 die Waadt erobert hatte und damit das Umland von Genf kontrollierte, hatte die „Allgemeine Versammlung“ (Conseil général) der Genfer am 21. Mai 1536 gelobt, nach dem „heiligen evangelischen Gesetz und Wort Gottes“ leben zu wollen. Im Frühjahr 1536 reisten Johannes Calvin und Louis du Tillet von Basel nach Ferrara. Sie besuchten den Hof der Herzogin Renée de France; hier hielten sich viele protestantische Flüchtlinge aus Frankreich auf. Die Religionsverfolgung wurde im Sommer 1536 in Frankreich vorübergehend ausgesetzt, damit Personen aus dem Exil zurückkehren und der Häresie abschwören könnten. Calvin nutzte dies, um Erbschaftsfragen in seiner Familie zu klären. Am 2. Juni 1536 traf er deshalb mit seinen Brüdern Charles und Antoine in Paris zusammen. Anschließend wollte er nach Straßburg reisen, war aber gezwungen, einen Umweg über Genf zu nehmen. Als er dort im Juli 1536 eintraf, war er gerade 27 Jahre alt, aber durch die Institutio kein Unbekannter mehr. Deshalb suchte ihn der rund 20 Jahre ältere Guillaume Farel auf und setzte ihn unter Druck, in Genf zu bleiben und sich dort am Aufbau einer reformierten Kirche zu beteiligen. Diese Episode aus Calvins Biografie kann aber auch eine nachträgliche Stilisierung der Ereignisse sein, die begründen sollte, warum Calvin, ein Jurist ohne theologische Ausbildung und ohne Ordination, in Genf die Aufgaben eines Pfarrers wahrnahm. Am 5. September 1536 ernannte der Stadtrat von Genf Calvin zum Lektor. Er hielt fortan Vorträge in der Kathedrale St. Peter und leitete Gottesdienste. In den folgenden zwei Jahren wirkte Calvin stets als Mitarbeiter Farels, der die Agenda bestimmte. Anfang Oktober 1536 nahm Calvin an einer Disputation in Lausanne teil. Der Rat von Bern hatte die französischsprachigen katholischen Geistlichen der Waadt hierhin eingeladen; man plante, sie in einer theologischen Diskussion für die Anliegen der Reformation zu gewinnen, um sie anschließend als Seelsorger auf dem Lande einsetzen zu können. Es war allerdings kein großer Erfolg: von etwa 160 katholischen Pfarrern, die in Lausanne erschienen waren, ließen sich weniger als 20 überzeugen. In zeitlicher Nähe zur Disputation von Lausanne, vermutlich früher, verfasste Calvin einen französischen Katechismus für die Einwohner Genfs, inhaltlich eine Zusammenfassung der Institutio in ihrer Erstfassung von 1536. Farel kürzte Calvins Text erheblich, erweiterte ihn aber auch um Passagen, die die Erfahrungen der Disputation von Lausanne spiegeln. Die Papstkirche, die in Calvins Katechismus nicht explizit kritisiert worden war, wird nun als teuflisch gebrandmarkt: Ortskirchen, die sich Rom unterstellen, seien „eher Synagogen des Teufels als christliche Kirchen.“ Mitte Januar 1537 beantragte Farel im Namen der Pastorenschaft beim Stadtrat von Genf, Reformen einzuführen, die einen deutlichen Bruch mit dem Katholizismus darstellten: Regelmäßige Feier des Abendmahls (idealerweise wöchentlich, zunächst aber monatlich); Vollmacht der Geistlichen, Gemeindeglieder vom Abendmahlsempfang auszuschließen (Exkommunikation); Psalmengesang der Gemeinde anstelle des Chorgesangs; Katechismusunterricht der Jugend; Abschaffung der päpstlichen Eheverbote; Einsetzung eines Ehegerichts aus Ratsmitgliedern, in dem Pfarrer als Berater beteiligt sind. Dass Calvin diese Maßnahmen mittrug, führte dazu, dass sein damals engster Freund Louis du Tillet zu ihm auf Distanz ging. Er zog im Sommer 1537 zunächst von Genf nach Straßburg und kehrte dann nach Frankreich zurück, wo er seinen Frieden mit der römisch-katholischen Kirche machte. Er meinte, dass es in dieser Kirche schwere Missstände gebe. Aber es blieb die Kirche, in die er hineingetauft war. An Calvin schrieb er, dieser neige dazu, sein Urteil mit dem Urteil Gottes zu verwechseln. Menschen wie du Tillet waren für Calvin „Nikodemiten“: Wie die biblische Figur Nikodemus hatten sie die Wahrheit erkannt, verweigerten aber die Konsequenz – in diesem Fall den Bruch mit der Papstkirche. Die „Nikodemiten“-Polemik zieht sich ab 1537 (Epistolae duae) durch Calvins Werk; seine Argumentation mit biblischen Paradigmen erschwert es für Historiker, die tatsächlichen Positionen der so diffamierten Personen zu erkennen. Pierre Caroli, der seit November 1537 als Pfarrer von Lausanne amtierte, stammte wie Calvin aus dem Humanistenkreis um Jacques Lefèvre d’Étaples und war ebenfalls nach der Plakataffäre aus Frankreich geflohen. Er verstand sich als Protestant, vertrat aber konservativere Ansichten als Farel und Calvin. Als ihm das vorgeworfen wurde, bezichtigte er die Genfer Pfarrer des Arianismus und forderte sie auf, um sich vom Verdacht der Häresie zu reinigen, das Athanasische Glaubensbekenntnis (Athanasianum) zu unterschreiben. Calvin wurde also eine häretische Abweichung von der Trinitätslehre unterstellt. Er weigerte sich, eine Unterschrift zu leisten, weil er Caroli die Autorität bestritt, ihn dazu zu nötigen. Dabei ließ er aber auch durchblicken, dass die Bibel wichtiger als das Athanasianum sei. Eine Synode in Lausanne und die Berner Pfarrerschaft erklärten im Mai 1538 die Trinitätslehre Calvins für rechtgläubig. Caroli verlor seine Stelle. Er kehrte nach Frankreich und damit auch in die römisch-katholische Kirche zurück. Angehörige der Genfer Oberschicht erklärten, sie seien für die Reformation, aber wollten in Freiheit leben und nicht nach den Regeln Farels. Der Widerstand machte sich an zwei Punkten fest: man verweigerte den Eid auf das im Katechismus formulierte Glaubensbekenntnis, und man gab den Geistlichen nicht das Recht zur Exkommunikation. Anfang 1538 eskalierte der Konflikt; Farel und Calvin erklärten, Unruhestifter vom Abendmahl ausschließen zu wollen, was der Stadtrat ihnen untersagte. Im Februar wurden Mitglieder der Stadtregierung gewählt; nun kamen einige erklärte Gegner Farels neu in den Stadtrat. Im März nahmen Farel und Calvin an einer Synode in Lausanne teil, wo die politisch dominierende Stadt Bern versuchte, ihre eigenen Gottesdienstformen auch für Genf verbindlich zu machen, zum Beispiel Spendung der Taufe an Taufsteinen und Abendmahlsfeier mit Hostien statt mit Brot. Genf hatte alle christlichen Feiertage abgeschafft, die nicht wie Ostern auf einen Sonntag fielen, nun sollten die wichtigsten, darunter Weihnachten und Christi Himmelfahrt, wieder begangen werden. Farel und Calvin hatten Bedenken und sollten daraufhin dem Stadtrat zusichern, dass sie beim anstehenden Osterfest das Abendmahl mit Hostien feiern würden. Sie reagierten ausweichend. Die Verhaftung des blinden Pfarrers Jean Corauld wegen polemischer Predigt verschärfte den Konflikt zwischen Pastorenschaft und Stadtrat weiter; schließlich verbot der Stadtrat Farel und Calvin, Ostergottesdienste zu feiern. Die beiden setzten sich in provokanter Weise darüber hinweg: am Ostersonntag, dem 21. April 1538 bestiegen Calvin in der Kathedrale St. Peter und Farel in St. Gervais die Kanzeln, predigten und erklärten danach, das Abendmahl nicht feiern zu wollen. Das war „die großartigste Exkommunikation …, welche die Geschichte kennt: eine ganze Stadt wurde vom Abendmahl ausgeschlossen durch zwei Prädikanten …“ (Walther Köhler) Der Stadtrat reagierte umgehend. Am 23. April wies er die beiden Pfarrer aus. Calvin ging daraufhin nach Basel und Straßburg, Farel war ab Sommer 1538 Pfarrer in Neuchâtel. Straßburg (1538–1541) Calvin, aus Genf ausgewiesen, hatte sich zunächst in Basel niedergelassen, aber Martin Bucer überzeugte ihn, zu ihm nach Straßburg zu kommen. Er verließ Basel am 23. August 1538. In Straßburg wohnte er zuerst bei Wolfgang Köpfel, dann bei Bucer und schließlich in einem Haus im Thomaskirchenviertel. Am 29. Juli 1539 erwarb er das Straßburger Bürgerrecht. Köpfel schlug vor, Calvin mit Vorlesungen zum Neuen Testament an der Hohen Schule von Straßburg zu beauftragen. Am 1. Februar 1539 wurde er, zuvor ehrenamtlich tätig, für ein Jahr zum Professor der Theologie ernannt. Als Exeget hatte Calvin bald einen guten Ruf und zog Studenten aus Frankreich an. Sein Kennzeichen war die knappe und klare Kommentierung des Bibeltextes (perspicua brevitas), während Bucer vom Bibeltext ausgehend thematische Exkurse einschob. Durch den Kontakt mit dem 18 Jahre älteren Martin Bucer wurde Calvin in seiner Theologie geprägt, beispielsweise in der Prädestinationslehre, im Abendmahlsverständnis, in der Pneumatologie, Ekklesiologie und Bundestheologie. „Mehr als Luther legen sie [Bucer und Calvin] den Schwerpunkt auf die Heiligung des Glaubenden […]. Sie teilen das Idealbild von einer christlichen Stadt […]“ Die Institutio erschien 1539 in erweiterter Fassung. 1540 erschien mit dem Römerbriefkommentar ein Hauptwerk innerhalb von Calvins Bibelauslegungen. In Straßburg gab es schon seit 1535 einige hundert französische Glaubensflüchtlinge, meist aus Metz. Calvin organisierte sie als Gemeinde mit ihm selbst als Pfarrer, sowie Kirchenältesten und Diakonen, die zusammen das Konsistorium bildeten. Die Kirchenältesten sollten sowohl gegenüber den Gemeindegliedern die Kirchenzucht ausüben, als auch Predigt und Lebenswandel der Geistlichen überprüfen. Die Gottesdienste fanden zunächst in St. Nikolaus, dann in St. Magdalena und ab 1541 im Chor der Dominikanerkirche statt. Calvin predigte sechsmal pro Woche, davon zweimal am Sonntag. Die Liturgie entsprach dem, was in Straßburg üblich war. Um am monatlich gefeierten Abendmahl teilzunehmen, benötigte man bei Bucer eine Einzelbeichte mit Absolution, in Calvins französischer Gemeinde dagegen eine Zulassung, die nach einem Prüfungsgespräch erteilt wurde. Die Gemeinde sang im Gottesdienst Psalmen; 1539 veröffentlichte Calvin mehrere französische Psalmbereimungen zu Melodien von Matthias Greitter und Wolfgang Dachstein (Aulcuns pseaulmes et cantiques mys en chant). Nur die Reimfassung von Psalm 25 und Psalm 46 ist sicher Calvin zuzuweisen; 13 der insgesamt 22 Texte stammen aus der Feder von Clément Marot. Aus eigener Initiative schloss sich Calvin im Februar 1539 der Straßburger Delegation zum Frankfurter Konvent an. Einerseits wollte er um Unterstützung für die verfolgten französischen Protestanten werben – hier ist aber nicht dokumentiert, was er konkret unternahm oder erreichte. Das andere Motiv war, dass er Philipp Melanchthon persönlich kennenlernen wollte. An Guillaume Farel schrieb er Ende März, er habe mit Melanchthon über viele Dinge reden können. In der Abendmahlslehre bestehe Übereinstimmung, und Melanchthon finde die Kirchenzucht ebenfalls sehr wichtig. Er würde auch gern die kirchlichen Zeremonien stärker reduzieren, setze aber auf ein schrittweises Vorgehen. Zweite Genfer Zeit (1541–1564) Neuordnung der Genfer Kirche 1540 bat der Rat der Stadt Genf Calvin um seine Rückkehr. Ausschlaggebend hierfür war, dass er und Farel nach ihrer Ausweisung weiterhin eine Anhängerschaft in Genf hatten, die Guillermins (nach Farels Vornamen Guillaume benannt). Sie setzten sich im August 1540 politisch durch; im Oktober erreichte Calvin dann die Einladung, wieder nach Genf zu kommen. Der Kurienkardinal Jacopo Sadoleto hatte an die Genfer eine Einladung gerichtet, in den Schoß der römischen Kirche zurückzukehren, und die Genfer wünschten eine schroffe Zurückweisung dieses Angebots, aber mit theologischem Niveau: dazu brauchte man Calvin. Dieser lieferte dann auch eine glänzende Streitschrift ab. In längeren Verhandlungen setzte Calvin Zugeständnisse für seine Rückkehr durch, unter anderem die Zusage, eine Kirchenordnung, einen Katechismus und die Kirchenzucht einzuführen. Calvin hatte in Straßburg miterlebt, wie Bucers Versuch, kirchliche Disziplinarmaßnahmen durchzusetzen, gescheitert war. „Er wollte in Genf das durchführen, was Bucer in Straßburg nicht erreichte.“ Calvins Stellung in Genf Im September 1541 kehrte Calvin nach Genf zurück, und noch im gleichen Jahr entstand unter seiner Federführung die Genfer Kirchenordnung (Ordonnances ecclesiastiques). 1542 folgte der zweite Genfer Katechismus. Calvin hatte nun verschiedene Möglichkeiten, auf die Genfer Bevölkerung Einfluss zu gewinnen: Predigten: Er predigte sonn- und werktags, wobei er aktuelle Bemerkungen in seine Schriftauslegung einfließen ließ und mitunter die Stadtregierung offen kritisierte. Konsistorium: Dies war eine kirchliche Disziplinarbehörde, je zur Hälfte Älteste und Pastoren. Sie behandelte Anzeigen gegen Personen, die beispielsweise katholischen Glaubenspraktiken weiter anhingen, Fälle von Streit, Ehebruch, Spiel, Tanz, Alkoholgenuss, Wirtschaftsvergehen (Betrug, Wucher), übler Nachrede usw. Meist endete das Verfahren mit einer Ermahnung der Betroffenen durch Calvin selbst. Wenn das nicht wirkte, wurde die Person vom Abendmahl ausgeschlossen, bis sie Besserung zeigte. Manchmal musste eine öffentliche Wiedergutmachung stattfinden. Gesetzgebung: Der juristisch ausgebildete Calvin wurde zum Berater der Genfer Stadtregierung. Das Ergebnis waren zum Beispiel Gesetze, die unpassende Taufnamen verboten (und damit in das Recht der Eltern zur Namenswahl eingriffen), Sonntagsheiligung, die Bewirtung von Auswärtigen in Gaststätten (Tischgebet, Vorhandensein von Bibeln), Strafen gegen Blasphemie, Unzucht, Trunkenheit, Landstreicherei usw. Calvin machte auch Vorschläge zur Straßenreinigung, Lebensmittelkontrolle, zum Unfallschutz (Geländer an Fenstern) und zum Aufbau einer Textilindustrie, um Arbeitsplätze für die nach Genf strömenden französischen Flüchtlinge zu schaffen. Politische Organisation Genfs Die Stadtrepublik Genf wurde zu Calvins Zeit „durch eine Mischform von oligarchischen, demokratischen und ständischen Elementen regiert“, so Peter Opitz: An der Allgemeinen Versammlung (Conseil Général) konnte man als alteingesessener Genfer (citoyen) ebenso wie als Neubürger (bourgeois), nicht aber als bloßer Einwohner (habitant) teilnehmen und dort über neue Gesetze oder die Vergabe von Ämtern mitentscheiden. Dem Kleinen Rat (Petit Conseil) gehörten 25 gebürtige Genfer an, die jährlich von der Allgemeinen Versammlung aus dem Rat der Zweihundert gewählt wurden. Der Kleine Rat bestimmte seinerseits die personelle Zusammensetzung des Rats der Zweihundert. Vier Bürgermeister (Syndics), die jährlich neu von der Allgemeinen Versammlung ernannt wurden, hatten während ihrer Amtszeit die größte Machtfülle. Kirchliche Organisation Genfs: Compagnie des pasteurs und Konsistorium Die Reformierte Kirche von Genf wurde zur gleichen Zeit von der Compagnie des pasteurs geleitet, in der Regel 10 Pastoren unter dem Vorsitz des sogenannten Moderators – dieses Amt hatte Calvin meist selbst inne. Grundlegend für Calvins Erfolg in Genf war, so Volker Reinhardt, dass er diese Pastorenschaft zu einer Solidargemeinschaft formte, bzw. zu einer „Lehr- und Kampfgemeinschaft von monolithischer Geschlossenheit.“ Wenn Calvin sich mit Wünschen an den Stadtrat wandte, so tat er das stets als Sprecher der Compagnie des pasteurs; dabei wurde er oft von anderen Mitgliedern dieses Gremiums begleitet. Das Konsistorium, das mit der Kirchenzucht beauftragt war, wurde von einem städtischen Syndic geleitet. Mitglieder waren alle Pastoren der Stadt und ein jährlich neu gewählter Ausschuss der Stadtregierung, die zwölf Kirchenältesten. Sie wurden faktisch oft in ihrem Amt bestätigt und nicht neu bestimmt. Das Konsistorium tagte wöchentlich. Die Akten zeigen, dass Calvin sich bei den hier verhandelten Fällen sehr unterschiedlicher Art aktiv einbrachte und meist die Zurechtweisung der angezeigten Personen formulierte, mit der das Konsistorium seine Verhandlung abschloss. Viermal im Jahr wurde in Genf ein Abendmahlsgottesdienst gefeiert. Dort nicht das Abendmahl empfangen zu dürfen (Exkommunikation), war eine gefürchtete Strafe. Die Folgen betrafen auch das bürgerliche Leben: Ein Exkommunizierter konnte in Genf nicht heiraten und kein Patenamt übernehmen, war also gesellschaftlich ausgegrenzt. Hinzu kam die öffentliche Beschämung. Das Konsistorium bestand darauf, die Exkommunikation nach eigenem Ermessen zu verhängen, ohne dass ein Betroffener dagegen an die Stadtregierung appellieren konnte. Ami Perrin, ein prominenter Genfer Bürger, und die „Kinder Genfs“ (Enfants de Genève) opponierten dagegen. Auch andere Mitglieder der Schweizer Konföderation, wie Bern und Zürich, lehnten die Exkommunikationsstrafe wegen ihrer Missbrauchsmöglichkeiten ab. Sie erinnere an die Art, wie Päpste und Bischöfe in vorreformatorischer Zeit regiert hätten. Calvin und die Compagnie des pasteurs bestanden aber darauf, dass sie ohne Recht zur Exkommunikation nicht amtieren könnten und lieber Genf verlassen wollten. Prozesse wegen „Pestverbreitung“ (1545) Seit dem Herbst 1542 wurde Genf mehrfach von Pestwellen heimgesucht. Der Rat verpflichtete die Pfarrer, die Pestkranken im Spital zu betreuen; Pierre Blanchet übernahm diese Aufgabe, Calvin meldete sich als dessen Stellvertreter. Als Blanchet im Frühjahr 1543 selbst an der Pest starb, wurde Calvin von der gefährlichen Tätigkeit im Spital freigestellt, da er anderswo gebraucht werde. Indes war es nicht einfach, einen Nachfolger für Blanchet zu finden. Die Pfarrer räumten gegenüber dem Rat ein, ihnen fehle die „Standfestigkeit“, um Pestkranke zu besuchen. Dass kurz nach den Reformen des kirchlichen Lebens in Genf die Pest grassierte, war beunruhigend: Handelte es sich womöglich um eine Strafe des Himmels? Zwei Jahre später wurden rund 30 Männer und Frauen aus dem Umkreis des Spitals als „Pestverbreiter“ verhaftet; angeblich hatten sie Haustüren mit Salben bestrichen, um die Pest vom eigenen Haus weg auf andere Häuser zu lenken. Also war die Epidemie nicht Gottes Werk, sondern eine Verschwörung böser Menschen. Calvin stellte als Jurist weder die Folter als Verhörmethode noch die Todesstrafe für das Delikt „Pestverbreitung“ in Frage. Er setzte sich für kürzere Verhöre und für eine schnelle, weniger qualvolle Hinrichtung ein, allerdings vergeblich. Der Rat der Stadt verurteilte 24 Frauen und 7 Männer 1545 zum Tode; die Frauen wurden verbrannt, die Männer gevierteilt. Diese Gruppenhinrichtung fiel zufällig mit dem Ende der Pestepidemie in Genf zusammen. In einem älteren Gutachten hatte Calvin Zauberei als Selbsttäuschung erklärt. Aber im Frühjahr 1545 war er von der Gefährlichkeit der Pestsalben überzeugt. Am 27. März 1545 schrieb er an Oswald Myconius: „Sieh, in welcher Gefahr wir schweben. Gott hat bisher unser Haus unversehrt erhalten, obwohl es schon mehrmals angegriffen wurde. Gut ist nur, dass wir uns in seinem Schutze wissen.“ Calvin meinte zwar, dass Hexen hingerichtet werden sollten, weil das in der Bibel stand (). Er war aber, so Brian P. Levack, am Hexenwesen wenig interessiert und äußerte sich kaum dazu. Wirkungsgeschichtlich sei für Hexenverfolgung im Raum des Calvinismus wichtig geworden, dass Calvin die Macht Satans herausstellte, gegen die der Christ einen ständigen Kampf führen müsse. Der Fall Ameaux (1546) Der offene Widerstand Genfer Bürger gegen Calvin begann in Folge der Bestrafung des Ratsherrn Pierre Ameaux. Dieser hatte am 26. Januar 1546 in geselliger Runde über die „Franzosenherrschaft“ geschimpft und in diesem Kontext Calvin als „picardischen Bösewicht“ und Irrlehrer bezeichnet. Ameaux wurde angezeigt, verhaftet und vom Rat dazu verurteilt, Gott, den Rat und Johannes Calvin wegen der ihnen angetanen Ehrverletzung um Entschuldigung zu bitten. Im Blick auf Ameaux’ hohen sozialen Rang gestaltete der Rat die Modalitäten dieser Zeremonie recht milde. Calvin akzeptierte das nicht. Er erklärte, die Beleidigung seiner Person sei unwichtig, aber Ameaux habe die Ehre Gottes verletzt. Die Pfarrerschaft und das Konsistorium unterstützten Calvin, so dass der Rat einlenkte. Ameaux musste im April 1546 im Büßerhemd und mit brennender Kerze in der Hand durch Genf laufen und auf dem Marktplatz kniend um Verzeihung bitten. Besonders in alten Genfer Familien wurde das Urteil gegen Ameaux als reine Machtdemonstration Calvins interpretiert. Der Unmut wuchs durch die Weigerung Genfer Pastoren, populäre Heiligennamen (wie Claude) als Taufnamen zuzulassen. „Und das hatte zur Folge, dass Väter, die einen kleinen Claude aus der Taufe heben wollten, aus den Armen des Pastors einen Abraham zurückerhielten.“ Als Calvin verhinderte, dass der Genfer Jean Trolliet in Genf eine Pfarrstelle erhielt, verstärkte dies den Widerstand gegen die nur aus Exilfranzosen bestehende Pfarrerschaft. Eher lästige als bedrohliche Störaktionen gingen von den „Kindern Genfs“ (Enfants de Genève) aus. Man bekam das Phänomen weder durch städtische Sanktionen noch durch Calvins Gesprächsangebote in den Griff. Der Fall Bolsec (1551) Jérôme-Hermès (Hieronymus) Bolsec war ein ehemaliger französischer Karmelit, der sich der Reformation angeschlossen hatte und seit dem Frühjahr 1551 in Veigy nahe Genf als Mediziner praktizierte. Er widersprach öffentlich der von den Genfer Pastoren gelehrten doppelten Prädestination. Calvin wandte sich an den Kleinen Rat, um Bolsecs theologische Kritik zu unterdrücken. Der Rat ließ Bolsec verhaften, war aber unschlüssig, wie mit ihm zu verfahren sei – zumal das Verhältnis der Compagnie des Pasteurs zum Rat und zu Teilen der Bevölkerung gerade angespannt war. Daher erbat man Gutachten von den Schweizer Nachbarkirchen. Aus Bern, Basel und Zürich trafen Stellungnahmen ein, die zwar für Calvin Partei ergriffen, aber sehr verhalten, und zur Versöhnung mit Bolsec aufriefen. Auch von Philipp Melanchthon in Wittenberg, mit dem er einen freundschaftlichen Briefkontakt pflegte, erhielt Calvin jetzt nicht die klare Unterstützung, die er gebraucht hätte. Dem Genfer Rat gegenüber erklärte er, Melanchthon sei mehr Philosoph als Theologe, außerdem von Natur aus zaghaft. Da die Genfer Pfarrerschaft sich in der Prädestinationslehre einig war, wurde Bolsec am 22. Dezember 1551 aus Genf verbannt. Dass er vergleichsweise milde bestraft wurde, verdankte er den Gutachten aus den Schweizer Nachbarkirchen, aber auch der Protektion durch den niederländischen Adligen Jakob von Burgund, Herr von Falaise und Bredam, dessen Leibarzt er war. Mit diesem Adligen verband Calvin eine enge Freundschaft, die über der Causa Bolsec zerbrach, da Jakob von Burgund der Prädestinationslehre Bolsecs folgte. Von Berner Gebiet aus führte Bolsec seinen theologischen Disput mit Calvin weiter, kehrte aber 1563 in die römisch-katholische Kirche zurück und verfasste schließlich eine polemische, viel rezipierte Lebensbeschreibung Calvins (1577), die das katholische Bild des Reformators bis weit ins 19. Jahrhundert prägte. Der Fall Servet (1553) Michel Servet, ein spanischer Arzt und Universalgelehrter, lehnte die Trinitätslehre und damit die ganze Kirchengeschichte seit dem Konzil von Nicäa (325) ab. Er hoffte auf eine „Wiederherstellung des Christentums“ (Christianismi Restitutio, so der Titel seines 1552 gedruckten Hauptwerks) und suchte den Kontakt zu mehreren Reformatoren, wohl in der Absicht, sie von seinem Programm zu überzeugen. Das gelang ihm weder bei Philipp Melanchthon noch bei Johannes Oekolampad oder Martin Bucer. „Alle verurteilten sie Servets theosophisch-synkretistisches Denken, das in durchaus origineller Weise die vornizänische christliche Tradition mit Elementen aus dem Neuplatonismus, der Kabbala, aber auch mit chiliastischen Zügen verband.“ Eine für beide Seiten gefährliche Kontaktaufnahme Servets mit Calvin 1534 in Paris kam nicht zustande, aber Anfang 1546 kam es zu einem Briefwechsel zwischen ihnen. Calvin beendete diesen Austausch und äußerte bereits zu diesem Zeitpunkt, dass Servet den Ketzertod verdient habe: Servet lebte unter dem Pseudonym Michel de Villeneuve einige Jahre unbehelligt in Lyon und war seit 1538 Leibarzt des Erzbischofs von Vienne, Pierre Palmier. Ihm wurde zum Verhängnis, dass in Genf, im Umkreis Calvins, seine wahre Identität bekannt war. Guillaume de Trie, ein französischer Glaubensflüchtling, der in Genf lebte, schrieb seinem katholischen Verwandten in Lyon, dessen Stadt dulde einen Gottesleugner. De Trie erhielt von Calvin die Briefe, die Servet diesem geschickt hatte, und ein Exemplar der Institutio, das Servet mit kritischen Anmerkungen versehen hatte. Servet wurde in Lyon von de Tries Vetter mit diesem Beweismaterial angezeigt und seit März 1553 von der Römischen Inquisition verhört. Ihm gelang aber die Flucht, so dass das Todesurteil am 17. Juni 1553 in Vienne in seiner Abwesenheit erfolgte und durch eine symbolische Verbrennungsaktion (in effigie) vollstreckt wurde. Warum Servet auf der Flucht ausgerechnet nach Genf kam, ist unbekannt. Hier wurde er am 13. August 1553 während eines Gottesdienstes erkannt, und Calvin sorgte für seine Festnahme und formelle Anklage. Der Kleine Rat zog den Prozess an sich, da er als politisch relevant beurteilt wurde. Calvin wurde als Experte zur Beurteilung von Servets antitrinitarischer Theologie angefragt. Bisher hatte Genf religiöse Dissidenten, zum Beispiel Täufer, ausgewiesen, was verglichen mit Verfolgungsmaßnahmen anderswo in Europa relativ milde war. Genf setzte sich auch für inhaftierte Häretiker im katholischen Frankreich ein. Nun selbst einen Häretiker hinzurichten, hätte dieses Engagement entwertet. Die Genfer Politiker kamen zu dem Schluss, dass Servets Ablehnung der Trinitätslehre keine Häresie sei, sondern „Atheismus“. Auch in Genf galt das kaiserliche Strafgesetzbuch (Constitutio Criminalis Carolina § 106), das für Leugnung der Trinität die Todesstrafe festsetzte. Nach der Befragung Servets beschloss der Rat von Genf, bei den reformierten Schweizer Schwesterkirchen Gutachten einzuholen. Das war nach William G. Naphy der Versuch, die Verantwortung für das Todesurteil zu teilen. Ende August traf ein Auslieferungsersuchen aus Vienne ein. Servet, vor die Wahl gestellt, entschied sich dafür, in Genf zu bleiben. Mitte Oktober trafen die Gutachten aus Schaffhausen, Zürich, Bern und Basel ein; alle sprachen sich für eine strenge Bestrafung aus und überließen das Strafmaß dem Genfer Rat. Das Todesurteil erging am 23. Oktober: Aus den Quellen geht hervor, dass Calvin den Todeskandidaten im Gefängnis besuchte. „Calvin hatte für den spanischen Arzt nur Missachtung übrig und für dessen Angst vor dem Tod kein Verständnis.“ (Miriam G. K. van Veen) Am 27. Oktober starb Michel Servet auf dem Scheiterhaufen. Im Dezember kursierten in Basel Manuskripte einer anonymen „Geschichte von Servets Tod“ (Historia de morte Serveti), die Einzelheiten über die Hinrichtung mitteilte: Guillaume Farel habe Servet zur Richtstätte begleitet; der Todeseintritt sei durch Verwendung von nassem Holz hinausgezögert worden. Viele religiöse Menschen hätten diese Hinrichtung als Skandal empfunden, da Gottes Strafe vorgegriffen worden sei und Calvin den Prozess Servets aktiv vorangetrieben habe. Das ganze Verfahren sei eine Annäherung an die Papstkirche, bzw. an das Vorgehen der Römischen Inquisition. Obwohl er im Fall Servet (anders als im Fall Bolsac) die volle Unterstützung anderer Reformatoren hatte, verfasste Calvin eine „Verteidigung des orthodoxen Glaubens an die heilige Trinität“ (Defensio orthodoxae fidei de sacra Trinitate), gedruckt 1554. Darin begründete er, warum die politische Obrigkeit das Recht habe, Antitrinitarier hinzurichten. Sebastian Castellio, Humanist und Griechischprofessor in Basel, antwortete mit einer Gegenschrift: „Ob man Häretiker verfolgen soll“ (De haereticis, an sint persequendi). Sie erschien 1554 unter Pseudonym und mit dem falschen Druckort Magdeburg, wahrscheinlich druckte Johannes Oporin in Basel das Werk. Wie wichtig es Calvin war, gegen Servet Recht gehabt zu haben, zeigt der Umstand, dass er in der Endfassung der Institutio (1559) der Widerlegung dieses Autors breiten Raum gibt: „Tumult“ von 1555 Aufgrund der politischen Situation in Frankreich nahm die Zahl der nach Genf geflohenen Hugenotten seit 1551 stark zu. Sie waren fremdenfeindlichen Attacken ausgesetzt, von Calvin und seinen Parteigängern wurden sie als Märtyrer idealisiert. Es waren oft Personen von hohem sozialem Status, die sich mit ihren aristokratischen Umgangsformen vom Genfer Bürgertum unterschieden. Sie brachten einerseits Geld, andererseits neue berufliche Qualifikationen mit. Die städtische Ökonomie änderte sich durch steigende Preise, Mieten und Immobilienwerte. Ein Teil der Hugenotten wollte dauerhaft in Genf bleiben, und indem sie von Einwohnern zu Neubürgern aufstiegen, wurden sie zu einem politischen Machtfaktor. Die Calvin-kritische Ratsfraktion um Ami Perrin hatte in der Vergangenheit eine stärkere Einbindung Genfs in die Schweizer Konföderation angestrebt und dabei die Verhältnisse in Zürich als eine Art Modell betrachtet. 1555 erlitten die Perrinisten eine Wahlniederlage, und die Gegner Perrins erhielten eine Mehrheit von einer Stimme im Kleinen Rat. Sie nutzten dies umgehend zur Einbürgerung von 127 Hugenotten (zum Vergleich: im ganzen Jahrzehnt zuvor waren 269 Flüchtlinge eingebürgert worden). Da Neubürger nur das aktive Wahlrecht erhielten, hatten sie auf diese Weise eine loyale Wählerschaft sichergestellt. Am 16. Mai revoltierten die Perrinisten gegen diese politischen Verschiebungen. Ein spontanes Handgemenge, das unblutig endete, – „eine ebenso lärmende wie desorganisierte Demonstration der Verlierer“ – hatte einen Prozess wegen Landesverrats zur Folge. Die anschließenden Säuberungen ermöglichten es den Parteigängern Calvins, die Opposition zu zerschlagen: Einige Anführer wurden zum Tode verurteilt und trotz verschiedener Gnadengesuche, auch der Stadt Bern, schließlich hingerichtet. Ihr Vermögen wurde eingezogen. In anderen Fällen wurde eine Ausweisung aus Genf auf Lebenszeit verhängt. Ein Drittel der traditionellen Genfer Oberschicht verschwand so im Lauf eines halben Jahres. Genf hatte nun nach 20-jährigen politischen Machtkämpfen Stabilität. Gründung der Akademie (1559) Calvin hatte schon seit seiner Ankunft 1536 kontinuierlich Vorlesungen über biblische Bücher gehalten; ein Ersatz für ein Theologiestudium konnten einige Wochen in Calvins Auditorium allerdings nicht sein. Entsprechend schlecht ausgebildet gingen viele reformierte Pfarrer in die Gemeinden. Nach der Niederschlagung des „Tumults“ von 1555 konfiszierte der Magistrat Grundstücke von oppositionellen Genfern. Nun war das Geld vorhanden, um eine Lateinschule für Jungen (Collège de Genève) und eine Universität (Académie de Genève) zu gründen (5. Juni 1559). Die Studentenzahl zu Calvins Lebzeiten wird auf etwa 300 Personen geschätzt; der Studienplan war wenig reguliert – man konnte nach Interesse unter den Veranstaltungen auswählen. Théodore de Bèze war der erste Rektor. Calvin hatte offiziell keine Aufgabe in der Verwaltung, übte aber durch seine biblischen Vorlesungen und sein Engagement bei Stellenbesetzungen einen prägenden Einfluss aus. Es bestand ein hoher Bedarf an Pastoren in reformierten Kirchen, besonders in Frankreich, und die Gemeinden schickten Kandidaten bevorzugt an die Genfer Akademie beziehungsweise forderten Absolventen von dort an. Calvins Ruf trug zum Aufblühen der Akademie wesentlich bei, außerdem warb Calvin beim Magistrat Geld für die Akademie ein. Von den Absolventen der Jahre 1559 bis 1562, die bekannt sind, kam ein Drittel aus dem Adel und fast alle übrigen aus dem gehobenen Bürgertum. Sie stammten aus Frankreich, und dorthin kehrten sie unter großem persönlichem Risiko zurück – schwerpunktmäßig in die Provinzen Dauphiné, Guyenne, Languedoc und Provence. Die Akademie trug dazu bei, dass Genf eine internationale Ausstrahlung hatte. Die Bevölkerung stieg: Lebten 1536, als Calvin in Genf eintraf, etwa 10.000 Menschen hier, so waren es 1560 etwa 21.000. Es gab nicht nur französische, sondern auch englische, spanische und italienische Gottesdienste. Calvins europäische Kontakte Frankreich Die französische reformierte Kirche, deren Entwicklung Calvin beratend begleitete, hatte eine ausgeprägt presbyterial-synodale Struktur. Das stellt einen eigenen Beitrag zur reformierten Kirchenorganisation dar, denn eine Synodalordnung findet sich in Calvins Werk nicht: „In seinen Bemerkungen in der Institutio über den Aufbau der Kirche kommt er so gut wie nicht auf die Synoden zu sprechen, und abgesehen von begrenzten, eingeschobenen Hinweisen in seinen Briefen an die französischen Gemeinden finden sich keinerlei Belege dafür, dass Calvin sich stark für eine Synodalverfassung eingesetzt habe.“ Calvin tat sich schwer damit, den aktiven militärischen Widerstand der Protestanten in Frankreich gutzuheißen. Er verurteilte lange Zeit alle gegen die katholischen Monarchen gerichteten Pläne. Die Revolte unter Louis I. de Bourbon, prince de Condé (1562) billigte er allerdings. Sie erfüllte aus seiner Sicht die notwendigen Kriterien: an ihrer Spitze stand ein Fürst aus königlichem Haus, und sie hatte eine realistische Aussicht auf Erfolg. In Calvins Schülerkreis gingen einige Autoren unter dem Eindruck der französischen Religionskriege (Massaker von Vassy 1562, Bartholomäusnacht 1572) deutlich über Calvin hinaus, zum Beispiel François Hotman, Théodore de Bèze und Philippe Duplessis-Mornay. England und Schottland Seit 1548 stand Calvin im Kontakt mit Edward Seymour, der von 1547 bis 1549 als Lordprotektor de facto England regierte. 1548 machte Calvin ihm konkrete Reformvorschläge; nach dessen Sturz 1549 schrieb er Edward als Privatperson weiterhin Briefe. Trotzdem war Calvin in dieser Phase der englischen Geschichte weniger einflussreich als etwa Martin Bucer, der eine Professur in Cambridge antrat, oder Peter Martyr Vermigli in Oxford. Als Folge der katholischen Restauration unter Maria I. entstanden englischsprachige reformierte Gemeinden (Marianische Exulanten) zum Beispiel in Frankfurt am Main und in Genf. John Knox kam zunächst nach Genf und wurde von Calvin damit beauftragt, die Frankfurter englische Gemeinde zu leiten. Er stieß auf Widerstand, als er die Genfer Gottesdienstordnung einführen wollte. Calvin versuchte zu vermitteln und riet der Frankfurter Flüchtlingsgemeinde dazu, in Äußerlichkeiten Kompromisse zu machen. Knox brachte die Genfer Gottesdienstordnung, mit der er sich in Frankfurt nicht durchsetzen konnte, später nach Schottland, wo die Feier von Taufe und Abendmahl sowie die Hochzeitsliturgie „nach dem Genfer Buch“ 1562 beschlossen wurde. Nachdem Knox vom Frankfurter Rat ausgewiesen worden war, ließ er sich 1558 in Genf nieder und veröffentlichte dort ein Pamphlet, in dem er zum Widerstand gegen Maria I. aufrief, weil die Herrschaft einer Frau unbiblisch sei (The first blast of the Trumpet against the monstrous regiment of women). Als die protestantisch gesonnene Elisabeth I. 1559 die Herrschaft antrat, sah sie dieses Pamphlet als Infragestellung ihrer Regierung an. Calvin versuchte vergeblich, über William Cecil ein gutes Verhältnis mit der Königin herzustellen, indem er sich von Knox distanzierte. Während Calvin als Person kaum noch Einfluss auf die englische Reformation hatte, wurden seine Bücher sehr stark nachgefragt. Diese Entwicklung kam nach Calvins Tod in Gang. In den 1560er Jahren wurden vier theologische Autoren am meisten gelesen: Erasmus von Rotterdam, Philipp Melanchthon, Johannes Calvin und Wolfgang Musculus. 1580 dagegen dominierte Calvin den englischen theologischen Büchermarkt, an zweiter Stelle kam Théodore de Bèze, sein Nachfolger in Genf. Von 1559 bis 1603 erschienen 93 Schriften Calvins in englischer Übersetzung, das übertraf die Übersetzung in alle weiteren Sprachen deutlich. Dass das schottische Parlament die von Knox erarbeitete Confessio Scotica annahm (1560), kam für Calvin unerwartet. Er rechnete nicht damit, dass sich die Reformation in Schottland unter der streng katholischen Regierung von Maria Stuart rasch ausbreiten könnte und verhielt sich abwartend. Die Korrespondenz zwischen Calvin und dem nach Schottland zurückgekehrten Reformator John Knox zeigt, dass Knox radikaler vorging, als Calvin dies billigte. Knox wollte zum Beispiel die Kinder von Priestern und Exkommunizierten nicht taufen. Calvin ließ einige Briefe von Knox unbeantwortet, in denen es um Maßnahmen gegen Maria Stuart ging; vermutlich stand Calvin gleichzeitig mit Protestanten am Hof Marias in Kontakt, die ihr gegenüber loyal waren. Trotz der Unterschiede zwischen Knox und Calvin sind die Confessio Scotica, die Kirchenordnung (First Book of Discipline) und die Liturgie (Book of Common Order) stark von Calvin geprägt, ohne die Verhältnisse in Genf einfach nachzuahmen. Schottland behielt das Bischofsamt bei. Die Bischöfe wurden vom Herrscherhaus ernannt und hatten oft mehr Macht als das Presbyterium. Nach Peter Opitz sind Calvins Einflüsse auf England und Schottland im ausgehenden 16. Jahrhundert komplex und „nicht einfach als bruchlose Weiterführungen vorzustellen.“ Wilhelm H. Neuser stellt dagegen fest, Schottland sei das einzige Land Europas, „in dem sich der Calvinismus völlig durchgesetzt hat.“ Niederlande Abgesehen von persönlichen Kontakten mit Niederländern wirkte Calvin dort über seine Schriften, die im Untergrund zirkulierten. Reformierte Gemeinden entstanden in den 1540er Jahren in Tournai, Lille und Valenciennes; es folgten Gent, Brügge und Antwerpen; mit dem Aufstand gegen Spanien verbreitete sich der Calvinismus weiter nach Norden. Bezeichnenderweise waren diese ersten reformierten Untergrundkirchen nicht direkt nach Genf orientiert. Über die Londoner (zeitweise: Emder) Gemeinde von Johannes a Lasco wurden Calvins Abendmahlslehre, Ämterlehre und Kirchenzucht in die Niederlande vermittelt. Italien Für Protestanten in katholischen Ländern, die durch die Gegenreformation unter Druck standen, übte Genf als eine Art heilige Stadt eine starke Faszination aus. Zu den bekanntesten Persönlichkeiten der italienischen Flüchtlingsgemeinde in Genf gehörten Bernardino Ochino und Hieronymus Zanchi. Die Kontakte zwischen Genf und den Waldensergemeinden in Italien führten dazu, dass diese sich in den 1550er Jahren immer mehr am Genfer Vorbild orientierten und 1560 das Bekenntnis der französischen Reformierten (Confessio Gallicana) auch offiziell annahmen. Calvins Familie Das Ehepaar Jean Stordeur und Idelette de Bure gehörte der Täuferbewegung an und war um 1533 von Lüttich nach Straßburg geflohen. Calvin bekehrte die beiden kurz nach seiner eigenen Ankunft in Straßburg 1538. Stordeur verstarb an der Pest. Im August 1540 heiratete Calvin die Witwe, die einen Sohn unbekannten Namens und eine Tochter Judith mit in die Ehe brachte. Die Trauung vollzog Guillaume Farel, der dazu nach Straßburg reiste. Am 28. Juli 1542 brachte Idelette de Bure einen Sohn zur Welt, Jacques, der nach wenigen Tagen starb. Seit dieser Geburt war sie kränklich und starb am 29. Mai 1549 in Genf. In seinen Briefen erwähnte Calvin seine Sorge um Idelettes Gesundheit und seine Trauer, in der ihm Freunde beistanden. 1554 heiratete die Stieftochter Judith Stordeur, und 1557 taufte Calvin ihren Sohn. 1562 wurde sie wegen Ehebruchs verurteilt und geschieden. Calvin lag daraufhin fiebernd im Bett. Antoine Cauvin, der jüngere Bruder des Reformators, lebte seit der Straßburger Zeit mit diesem im gleichen Haushalt. Er war verheiratet mit Anne le Fert. Bald nachdem Calvin mit seiner Frau nach Genf gezogen war, folgte Antoine mit Familie nach; gemeinsam bewohnten sie ein repräsentatives Haus in der Nähe von St. Peter. 1548 kam im Konsistorium zur Sprache, dass Anne le Fert angeblich die Ehe gebrochen hatte, und Calvin bat, für seine Schwägerin keine Ausnahme zu machen. Der Konflikt wurde mit einem Versöhnungsgespräch beigelegt. 1557 klagte Antoine Cauvin seine Frau des Ehebruchs an. Calvin trat in diesem Verfahren als Rechtsbeistand seines Bruders auf. Diesmal wurde Anne le Fert verhaftet und verhört, zweimal unter Anwendung der Folter; sie bestand aber auf ihrer Unschuld. Daraufhin wurde die Ehe geschieden. Anne le Fert wurde von ihren vier Kindern getrennt und aus Genf verbannt; sie ging nach Lausanne und heiratete dort Jean-Louis Ramel, einen politischen Gegner Calvins. Krankheiten, Tod und Begräbnis Schon die Zeitgenossen vermuteten, dass Calvin durch sein immenses Arbeitsvolumen seine Gesundheit früh ruinierte. Krankheiten waren ein ständig wiederkehrendes Thema in Calvins Briefwechsel: Tuberkulose, Rheumatismus, Nierensteine und Darmstörungen. Ende 1563 wurde sein Gesundheitszustand definitiv schlechter. Im Februar 1564 hielt er seine letzte Vorlesung, im März war er letztmals im Konsistorium und in der Compagnie des pasteurs. Am Ostergottesdienst (2. April), den Théodore de Bèze leitete, nahm er noch teil. Nachdem er am 25. April sein Testament gemacht hatte, besuchten ihn Freunde und Mitarbeiter am Krankenbett, um Abschied zu nehmen. Sein letzter Brief am 2. Mai 1564 war an Guillaume Farel gerichtet. Dieser Brief erreichte Farel nicht, denn der 75-jährige war bereits unterwegs nach Genf. Er traf Calvin noch lebend an, und die beiden aßen miteinander, eingedenk der alten Freundschaft. Am 27. Mai starb Johannes Calvin, 54 Jahre alt. Calvin hatte gewünscht, dass sein Grab nicht mit einem Stein markiert würde. Am Tag nach seinem Tod, Sonntag, den 28. Mai, wurde er nachmittags in einem einfachen Holzsarg auf dem Friedhof des Genfer Stadtteils Plainpalais (Cimetière des Rois) beigesetzt. Die genaue Grabstelle ist unbekannt. Werk Schriften Der Reformator verstand sich in erster Linie als Ausleger der Heiligen Schrift und hinterließ zahlreiche Bibelkommentare und Vorreden auf biblische Bücher. Er verfolgte dabei ein praktisches Ziel: Den Pfarrern und Lehrern, die wenig freie Zeit hatten, sollten gut verständliche, kurzgefasste Informationen bereitgestellt werden. Während zum Beispiel Philipp Melanchthon in seiner Bibelauslegung die Regeln der Rhetorik nutzte und auf diese Weise Zentralaussagen im Text hervorhob, hielt Calvin eine Vers-für-Vers-Kommentierung für sachgerechter. Calvins Hauptwerk ist die mehrfach umgearbeitete Institutio. Hier kam vieles zur Sprache, was aufgrund der gewählten Auslegungsmethode in den Bibelkommentaren nicht gut unterzubringen war. Institutio und exegetische Werke ergänzen sich daher. Die starken Überarbeitungen rechtfertigen es, bei der Institutio drei Werke zu unterscheiden: die Erstfassung von 1536, die einem Katechismus ähnelte, die zweite Fassung, die in den Ausgaben von 1539, 1543 und 1550 vorliegt und gegenüber der ursprünglichen Version stark erweitert wurde, und die Institutio von 1559, mit der Calvin schließlich zufrieden war – praktisch ein neues Werk. Nicht nur sind aus den sechs Kapiteln von 1536 nun rund 80 Kapitel geworden, es gibt auch eine neue Struktur, die sich am Aufbau des Apostolischen Glaubensbekenntnisses orientiert (dieses hat bei Calvin nicht drei, sondern vier Artikel): Buch 1: Erkenntnis Gottes des Schöpfers, Trinität, Gottebenbildlichkeit des Menschen. Buch 2: Christologie. Das Gesetz ist vor allem Richtschnur für das Leben der Christen (Usus in renatis). Buch 3: Pneumatologie (Lehre vom Heiligen Geist). Heiligung und Rechtfertigung – in dieser Reihenfolge. Ausführliche Gebetslehre und Prädestinationslehre im Kontext der Glaubensgewissheit. Buch 4: Ekklesiologie. Die äußeren Mittel, die Gott gebraucht, um Menschen in Gemeinschaft mit Christus zu bringen. Calvin verstand seine Theologie als ein Unterwegssein; seit 1543 schloss er das Vorwort der Institutio stets mit einem Augustinus-Zitat ab: „Ich bekenne, einer von denen zu sein, die im Weiterschreiten der Gedanken schreiben und im Schreiben weiterschreiten.“ Theologie Dogmatik Calvin war theologischer Autodidakt; seine Quellen sind neben der Bibel die Schriften der Kirchenväter, vor allem Augustinus. Unter den Zeitgenossen war er mit den Werken von Luther, Melanchthon, Bucer und Zwingli offensichtlich vertraut. Die mittelalterlichen Theologen werden pauschal und meist negativ als „Sophisten“ bezeichnet; eine Ausnahme bildet Bernhard von Clairvaux, den Calvin schätzte. Theologische Hermeneutik Der Ausgangspunkt jeder Theologie ist nach Calvin: Erkenntnis Gottes und Selbsterkenntnis des Menschen (cognitio Dei ac nostri). Wer Gott und Mensch eigentlich sind, zeige sich in Jesus Christus. Calvin nannte ihn den „Mittler“ (Mediator). Er ist nach der altkirchlichen, von Calvin bejahten Christologie wahrer Gott und wahrer Mensch. Die Gottebenbildlichkeit hat nach Calvin ihren Sitz in der Seele. Calvin blieb etwas unklar bei der Frage, wie groß der durch den Sündenfall angerichtete Schaden sei (an dieser Stelle entstand 1934 eine Kontroverse zwischen den beiden reformierten Theologen Karl Barth und Emil Brunner). Grundlegend für Calvins Verständnis der Bibel ist der Gedanke des Bundes (foedus). In Straßburg hatte er sich mit dem Verhältnis von Altem und Neuem Testament zueinander beschäftigt, sein theologischer Lehrer war Martin Bucer, der seinerseits Impulse von Heinrich Bullinger und anderen Reformatoren mit humanistischem Hintergrund aufnahm. Calvins Wertschätzung des Alten Testaments ergibt sich aus dem Grundsatz: Der Bund Gottes mit Israel „ist im Wesen und in der Sache von dem unsrigen nicht zu unterscheiden, sondern ein und derselbe. Verschieden ist dagegen die äußere Darbietung.“ (Institutio 2.10.2) So gebe es im Alten Testament irdische Güter, wie die Verheißung des Landes Israel, und mit dem Jerusalemer Tempel verbundene Zeremonien, im Dienst einer göttlichen Pädagogik. „Christus war zwar schon den Juden unter dem Gesetz bekannt, er tritt uns aber erst im Evangelium klar entgegen“ (Institutio 2.9). Calvin gebrauchte zur Verdeutlichung die Metaphorik des zunehmenden Lichts. Er wandte sich gegen Versuche, einzelne Stellen des Alten Testaments losgelöst vom Kontext allegorisch auf Christus zu deuten, und widersprach dabei mitunter auch einer alten Auslegungstradition, wie bei . Trinität Calvin ging von der Bibel aus und bejahte gleichzeitig die altkirchlichen Dogmen. Dabei war ihm klar, dass die dogmatischen Begriffe nicht aus der Bibel erhoben, sondern von außen an sie herangetragen worden waren. Das hielt er für sachgerecht. Die Kirchenväter waren für Calvin einerseits Autoritäten, andererseits Gesprächspartner, die er auch kritisierte, etwa wenn sie durch Allegorese Schriftbeweise für die Dreieinigkeit fanden. Calvin stützte sich bei der biblischen Begründung der Trinitätslehre im Alten Testament auf und im Neuen Testament auf triadische Formulierungen, etwa im Taufbefehl (Vater, Sohn, Heiliger Geist) und (eine Taufe, ein Glaube, ein Gott). Bei den Beziehungen der drei göttlichen Personen zueinander war Calvin sehr zurückhaltend: Die Bibel setze sie voraus, erläutere sie aber nicht. Er betonte die Selbständigkeit der drei Personen stärker als ihre Verbundenheit untereinander, um damit den Modalismus und den Patripassianismus abzuweisen. Michel Servets Lehre war für ihn ein besonders klarer Fall für die Konfusion, die sich aus der Vermischung der göttlichen Personen ergebe. Veränderungen (mutationes) und Gefühle (passiones) seien von der Gottheit strikt fernzuhalten. Bei grundsätzlicher Bewahrung der traditionellen Trinitätslehre bevorzugte Calvin eine vereinfachte, von ihm selbst formulierte Variante: Gott Vater sei die Quelle (fons), Jesus Christus als der Sohn die Weisheit (sapientia) und der Heilige Geist die Kraft (virtus). Jesus Christus Calvin folgte dem Kirchenvater Augustinus von Hippo in seinem Verständnis der Sünde als Erbsünde, einer völligen, schuldhaften Trennung des Menschen von seinem Schöpfer, die nur Gott überwinden könne. Jesus Christus (solus Christus, allein Christus) hebe durch seine Person und sein erlösendes Werk diese Trennung auf und schenke dem Glaubenden durch den Heiligen Geist Gemeinschaft mit sich und dem Vater. Damit sei der Glaubende, der dieses Geschenk dankbar annimmt, gerechtfertigt und geheiligt (sola fide, allein durch den Glauben). Die aus dem Glauben kommenden Werke des gerechtfertigten Menschen werden nach Calvin von Gott angenommen und belohnt. Mit diesen Überlegungen, so Otto Weber, bewege sich Calvin in der Nähe eines Syllogismus practicus. Mit dem dreifachen Amt Christi als Priester, König und Prophet zeigte Calvin im Sinne seiner Bundestheologie, wie Jesus Christus sich in die Geschichte Gottes mit Israel einfügt. Alle Priester, Könige und Propheten des Alten Testaments weisen nämlich seiner Meinung nach voraus auf Christus. Calvin machte diesen Gedanken in innovativer Weise für das Kirchenverständnis (Ekklesiologie) fruchtbar. Die Gemeinde hat demnach Anteil an den Ämtern Christi (Institutio 2.15): Priesterliches Amt: Die Gemeinde leistet Fürbitte; Königliches Amt: Die Gemeinde tritt für die Überwindung lebensfeindlicher Mächte ein; Prophetisches Amt: Die Gemeinde setzt das Evangelium zur eigenen Gegenwart in Beziehung. Eine Besonderheit calvinischer Christologie ist sein Verständnis der Formulierung „hinabgestiegen in das Reich des Todes“ im Apostolischen Glaubensbekenntnis. Dieser sogenannte Descensus Christi ad inferos war für Calvin kein Triumphzug des Auferstandenen durch die Unterwelt, sondern Beschreibung seines Leidens und seiner Gottverlassenheit am Kreuz. Eine weitere Besonderheit wird als Extra Calvinisticum bezeichnet. Der ewige Sohn (als zweite Person der Trinität) sei Mittler zwischen Gott und der Schöpfung, auch abgesehen von der Inkarnation (etiam extra carnem). Eine Schlüsselstelle hierfür lautet: In dogmatischen Lehrbüchern wird das Extra Calvinisticum oft durch die Formel „Das Endliche kann das Unendliche nicht fassen“ (finitum non capax infiniti) erläutert; dieses philosophische Axiom findet sich bei Calvin aber nicht und verfehlt nach Heiko A. Oberman die Intention von Calvins Argumentation. Sakramente: Taufe und Abendmahl Wie die anderen Reformatoren ließ Calvin als Sakramente nur die Taufe und das Abendmahl gelten. Calvin lehnte die von Katholiken und Lutheranern vertretene Heilsnotwendigkeit der Taufe ab. Damit entfällt die Begründung der Nottaufe, „ungetauft sterbende Säuglinge frommer Eltern sind in den Bund eingeschlossen.“ In seiner Abendmahlstheologie zeigt sich Calvin klar als Reformator der jüngeren Generation: nachdem die Fronten zwischen den Wittenbergern („Realismus“) und den Zürchern („Symbolismus“) verhärtet waren, begab er sich auf die Suche nach neuen, konsensfähigen Formulierungen. Zunächst setzte er sich vom symbolischen Abendmahlsverständnis eines Huldrych Zwingli ab und formulierte möglichst im Einklang mit den Autoren der Wittenberger Reformation. Im Consensus Tigurinus, einem innerschweizer Konsensdokument, kam Calvin dem Züricher Reformator Heinrich Bullinger im Sakramentsverständnis weit entgegen (1549). Es folgte der Abendmahlsstreit mit dem Hamburger Gnesiolutheraner Joachim Westphal (ab 1552) und der Bruch mit Melanchthon. In den 1550er Jahren näherte sich Calvin zwinglianischen Positionen an. In den 1560er Jahren suchte Calvin aber wieder Gemeinsamkeiten mit dem Luthertum und wählte Formulierungen, die an die Confessio Augustana und an Melanchthons Confessio Saxonica anklingen. Wenn im Folgenden „das“ Abendmahlsverständnis Calvins wie etwas Feststehendes vorgestellt wird, so handelt es sich angesichts seiner fortwährenden Gesprächs- und Vermittlungsbemühungen um eine Vereinfachung: Das Abendmahl selbst ist eine Gabe Gottes, nicht nur die Erinnerung an eine göttliche Wohltat. Der Heilige Geist bewirkt, dass Jesus Christus in Brot und Wein als Person gegenwärtig ist (praesentia personalis). Die Teilnehmer der Abendmahlsfeier sind durch diese in Gemeinschaft mit Christus und untereinander. Der Heilige Geist ist das Band (vinculum participationis), das den einzelnen Gläubigen mit Leib und Blut Christi verbindet und zum Teil der Kirche als dem mystischen Leib Christi macht. Das Abendmahl stärkt den einzelnen Christen und vertieft seine Christusbeziehung. Darum sollte man häufig am Abendmahl teilnehmen. Die Feier ist außerdem ein Gedächtnis- und Bekenntnismahl. Was der Christ beim Abendmahl empfängt, ist eine vom Heiligen Geist vermittelte reale Gabe: der ganze Christus und sein erlösendes Handeln. Wo Calvin stärker lutherisch formulierte, heißt es: Das Zeichen (Brot und Wein) bietet das Bezeichnete, nämlich Christus, dar. Mit dem Begriff der Darbietung (exhibitio) hatte Calvin eine Sprachregelung gefunden, die sowohl reinen Symbolismus als auch massiven Sakramentsrealismus vermied. Wo Calvin sich mehr Zwingli annäherte, formulierte er: Das Zeichen ist ein Bild oder etwas dem Bezeichneten Ähnliches (imago oder similitudo), das Gott gebraucht, ohne sich daran zu binden. Entsprechend schwankte Calvins Verständnis der Art und Weise, wie der Gläubige einerseits Brot und Wein, andererseits Christus selbst empfängt (duplex manducatio). Doppelte Prädestination In der Erstfassung der Institutio von 1536 sind die Hauptbegriffe der späteren Prädestinationslehre schon vorhanden: Erwählung Gottes, Vorsehung Gottes, ewiger Ratschluss Gottes, vor Grundlegung der Welt, Erwählte und Verworfene, Beharren bis ans Ende. Aber der Tenor der Ausführungen von 1536 lässt sich laut Wilhelm H. Neuser auf folgende Formel bringen: „Gott ist barmherzig, und die Glaubenden sollen daher Hoffnung für die Außenstehenden hegen.“ Noch lehrte Calvin nicht die doppelte Prädestination. Bereits im folgenden Jahr erfolgte mit dem ersten Genfer Katechismus (Instruction et Confession de Foy dont on use en l’Eglise de Genève) eine Neubestimmung, und der Grund dafür war anscheinend die stärkere Gewichtung des Sündenfalls. Die Entscheidung, ob der einzelne Mensch ein Erwählter oder ein Verworfener sein werde, fällte Gott demnach bereits vor Erschaffung der Welt. Einen Bezug dieses sogenannten „ewigen Ratschlusses“ (decretum aeternum) zum Erlösungshandeln Jesu Christi konnte Calvin nicht herstellen. In der Institutio von 1539 liegt Calvins Prädestinationslehre dann schon fertig vor, in der Endfassung von 1559 nahm er diesen 20 Jahre alten Text und teilte ihn: die göttliche Vorsehung erscheint 1559 im ersten Buch im Rahmen der Schöpfungslehre, die Prädestination im dritten Buch nach den Themen Heiligung und Rechtfertigung; der größere Kontext ist hier die Glaubensgewissheit. Zwischen 1539 und 1559 setzte sich Calvin mit Gegnern seiner Prädestinationslehre auseinander, neben Jérôme-Hermès Bolsec vor allem mit dem Niederländer Albert Pigge (Pighius). Pigge schlug folgende Faustregel für das Verständnis schwieriger Bibelverse vor: In der Abwehr der Argumentation Pigges betonte Calvin nun Gottes Zorn über die Sünde. Unter dem Motto „Augustinus gehört uns!“ (Augustinus totus noster) trat die Beweisführung aus den Schriften des Kirchenvaters gleichwertig neben die Begründung der Prädestinationslehre aus der Bibel. Die Gegenposition zu Pigge klingt bei Calvin so: In der Genfer Gemeinde gab es Vorbehalte gegen Calvins Prädestinationslehre. Die Compagnie des Pasteurs verpflichtete Calvin deshalb, eine Predigt eigens zu diesem Thema zu halten; er tat das am 18. Dezember 1551. Interessant ist, dass Calvin den Hörern hier weniger zumutete als in seinen dogmatischen Schriften; er predigte die Gnadenwahl, nicht die doppelte Prädestination. Der Christ solle ehrfürchtig auf Gottes Majestät und die Größe seiner Gnade schauen, mit der er „uns“ aus der ganzen seit Adams Fall verdammten Menschheit erlöst hat. Dann fuhr Calvin fort: Neuser weist darauf hin, dass Calvins Predigt zwar nicht im Widerspruch zu den dogmatischen Ausführungen der Institutio steht, aber den Hörern vorenthielt, dass er in der Institutio weitere Konsequenzen zog: „D. h. er verteidigt die doppelte Prädestination [in der Institutio] logisch und uneingeschränkt. Dazu gehört auch die Verborgenheit des decretum aeternum.“ Mit anderen neueren Calvinforschern schließt er daraus, dass die Prädestinationslehre in der Endfassung der Institutio von 1559 nicht absolut gesetzt werden solle, sondern dass es in Calvins Werk verschiedene Aussagen zum Thema gibt. Kirche Die Kirche war für Calvin die „Mutter“ der Glaubenden – eine auf Tertullian zurückgehende Formulierung (Institutio, 4.1.1.). Die Unterscheidung zwischen sichtbarer und unsichtbarer Kirche, die Augustinus von Hippo begründete, hat bei Calvin kein besonderes Gewicht. Letzten Endes wisse nur Gott, wer zu ihm gehöre. Wenn Calvin auf die „sichtbare Kirche“ einging, so interessierte ihn meist nicht die Problematik, dass Fromme und Unfromme dieser Organisation angehören, sondern, dass die Kirche sich eine ihrem Auftrag entsprechende Organisationsform geben sollte. Gottes Erwählung der Kirche (zu der Calvin auch das Bundesvolk des Alten Testaments, die Juden, rechnet) und ihre Gestaltwerdung sind bei Calvin aufeinander bezogen wie Rechtfertigung und Heiligung des einzelnen Christen. Daraus ergibt sich, dass für Kirchen calvinistischer Tradition die Kirchenverfassung große Bedeutung hat. Die Kennzeichen der wahren Kirche (notae ecclesiae) bestimmte Calvin in der Institutio übereinstimmend mit der Confessio Augustana (Artikel 7), die von Philipp Melanchthon als Konsensdokument der Wittenberger Reformation und der altgläubigen Seite formuliert worden war. Predigt des Worts und Verwaltung der Sakramente sind auch für Calvin die beiden Merkzeichen (symbola) der Kirche und konstituieren sie. Auch wenn es viele Missstände (vitii) gibt und etwa in der Liturgie Unterschiede bestehen, ist daher Gemeinschaft mit anderen Konfessionen möglich. Der Prediger des Worts, an dem nach diesem Modell liegt, ob vor Ort die wahre Kirche vorhanden ist, stelle in seiner Person eine Korrelation zwischen Bibeltext und Heiligem Geist her; weder rezitiert er bloß Bibeltexte, noch löst er sich in seiner Predigt vom Bibelwort, denn der Heilige Geist hat sich an diese Texte gebunden. Im Gegensatz zu einigen Bekenntnisschriften reformierter Kirchen (Confessio Scotica 1560, Confessio Belgica 1561) rechnete Calvin die Kirchenzucht nicht unter die notae ecclesiae. Die römisch-katholische Kirche des 16. Jahrhunderts erfüllte nach Meinung Calvins und anderer Reformatoren die notae ecclesiae nicht, war also nicht Kirche im eigentlichen Sinn. Calvin fand aber, im Gegensatz etwa zu Melanchthon, im Katholizismus Spuren von Kirche (Vestigia ecclesiae), ein Motiv, das im 20. Jahrhundert im ökumenischen Gespräch aufgegriffen wurde. Er setzte sich für die Einheit der Kirche ein. Deshalb arbeitete er Anfang der 1540er Jahre bei Einigungsversuchen auch mit katholischen Theologen zusammen. Nachdem sich das Konzil von Trient (1545–1563) scharf gegen die Reformation abgegrenzt hatte, beschränkte Calvin seine Anstrengungen darauf, eine Einigung der evangelischen Kirchen herbeizuführen. In seiner Kirchenordnung von 1541 führte Calvin nach dem Vorbild der urchristlichen Gemeinden das Amt der Ältesten (anciens) ein. Diese Ältesten waren zugleich Mitglieder des weltlichen Rates der Stadt Genf. Zusammen mit den Pfarrern (pasteurs, ministres), die für das gottesdienstliche Leben zuständig waren, bildeten sie das Konsistorium (consistoire). Weitere Ämter hatten die Lehrer (docteurs) inne, die für den kirchlichen Unterricht sorgten, und die Diakone (diacres), die die Armenpflege ausübten (Vierämterlehre). Calvins Lehre von der Kirche begründete einen neuen Kirchentyp, der als viertes neben die römisch-katholische Kirche, die anglikanische Staatskirche und das landesherrliche Kirchenregiment des Luthertums trat: Kirche als selbständiges Gegenüber des Staates, das den Staat in seinen Aufgabenbereichen respektiert. Missiologie Calvins Missionsgedanken bewegen sich weitgehend in den Bahnen reformatorischer Anschauungen. Auch Calvin ist erstaunt über die Verbreitung des Evangeliums in der Welt. Obwohl Christus nach seiner Auferstehung diese „wie ein Blitz […] durchdrungen“ habe, wird der umfassende Missionsauftrag jedoch erst mit Christi Wiederkunft vollendet sein. Bis dahin könne Gott, wie Calvin glaubt, noch immer Apostel als Sendboten erwecken oder auch die Obrigkeit in seinen Dienst stellen. Eine organisierte Missionsunternehmung indes tritt nicht in das Blickfeld des Reformators. Der einzelne Christ, so Calvin fortfahrend, sei keineswegs seiner Verantwortung enthoben: Soweit es uns möglich ist, „sollen [wir] uns bemühen, alle Menschen auf der Erde zu Gott zu führen“ resp. „arme Seelen aus der Hölle herauszuziehen […], damit er [sc. Gott] „von allen einmütig geehrt werde und ihm alle dienen.“ Ethik Dass Calvin von seiner Ausbildung her Jurist war, hatte Folgen für sein theologisches Denken, das, so Christian Link, „zeitlebens geprägt [war] von der Strenge und Faszination des Gesetzes.“ Gewisse Vorstellungen von Gerechtigkeit und Rechtschaffenheit seien dem Menschen „eingeprägt“ (Institutio 2.8.1.). Es entspreche der Autorität Gottes des Schöpfers, das Leben der Menschen mit dem Gesetz zu regeln; dies sei eine Wohltat Gottes und zeige seine Gerechtigkeit, Heiligkeit und Güte (Institutio 3.23.2.). Calvin lehrt eine dreifache Funktion des Gesetzes: Es zeigt, worin Gerechtigkeit besteht und hält den Menschen den Spiegel vor; In der Bürgergemeinde wird mit dem Gesetz ein einigermaßen harmonisches Zusammenleben ermöglicht; Strafandrohung und Strafverfolgung halten die Ungerechten weitgehend davon ab, Schaden anzurichten; Der wichtigste Gebrauch des Gesetzes ist für Calvin, dass es den Christen anleitet, in der Erkenntnis voranzuschreiten, sich für Gerechtigkeit einzusetzen und sich vor Müßiggang und Gesetzesübertretung zu hüten (Usus in renatis). Calvins Ethik betont die christliche Freiheit und die Gewissensfreiheit. Unter Freiheit versteht Calvin erstens die aus der Sündenvergebung resultierende Freiheit von Werkgerechtigkeit, zweitens die Freiheit, aus Dankbarkeit gute Werke zu tun und sich für Gerechtigkeit einzusetzen, drittens die Freiheit, die Güter dieser Welt zu genießen und zu gebrauchen, immer orientiert an dem, was dem Nächsten nützt und der Ehre Gottes dient. Die Kirchenzucht ist nach Calvin unerlässlich, sowohl um die Integrität der Kirche zu wahren als auch um den Fortschritt der einzelnen Gläubigen in der Heiligung zu fördern. Vorrangig geht es dabei um öffentliche und provokante Verletzungen der Gebote, aber Calvin ließ unbestimmt, in welchem Umfang private Fehler und persönliche Schwächen ein Thema der Kirchenzucht sind. Das Vorgehen bei Kirchenzucht, vom persönlichen Gespräch bis schlimmstenfalls zum Ausschluss des Unbußfertigen (Exkommunikation) entnahm Calvin dem Neuen Testament. Grundsätzlich sei jeder Christ befugt, sich für die Kirchenzucht in seiner Gemeinde einzusetzen, aber ein besonderer Auftrag sei dies für Pastoren und Presbyter. Innovativ war Calvin beim Thema Ehe und Familie. Ausgehend von und , verstand er die Ehe als Bund: „So wie Gott den erwählten Gläubigen in eine Bundesbeziehung mit ihm hineinzieht, so zieht er die Eheleute in eine Bundesbeziehung miteinander.“ Die Eltern der Brautleute, die Gefährten (Trauzeugen), der Geistliche und der Magistrat müssen bei der Eheschließung zwingend beteiligt sein, da sie für unterschiedliche Dimensionen der Mitwirkung Gottes stehen. Ehe war für Calvin eine heterosexuelle, monogame, auf Lebenszeit angelegte Verbindung zweier Menschen. Alles, was von dieser Norm abwich, wurde von Calvin bekämpft und im Genf seiner Zeit bestraft. (Dabei hatte er argumentative Schwierigkeiten bei der Ablehnung der von den biblischen Patriarchen gelebten Vielehe.) Ehebruch war für Calvin ein Verbrechen und konnte im schweren und wiederholten Fall im Genf seiner Zeit die Todesstrafe zur Folge haben. Alle Arten von sexuellen Normverstößen, ja sogar Tanzen, zweideutige Spiele, Humor, Literatur klassifizierte Calvin tendenziell als Unzucht, die mit Verwarnung oder Geldbuße sanktioniert wurde. Das Konsistorium suchte Eheprobleme durch Mediation zu lösen (was einen erheblichen Teil der Konsistoriumsakten füllt) und eine Versöhnung herbeizuführen. Wo das nicht möglich war, konnte der nichtschuldige Ehepartner auf Scheidung klagen und erhielt so die Möglichkeit der Wiederheirat. Aber auch der schuldige Ehepartner sollte nach einer gewissen Bußzeit wieder heiraten. Neben der Kirche hat für Calvin der Staat wichtige sozialethische Funktionen. Personen mit Amtsgewalt (magistratz) seien „Stellvertreter und Statthalter Gottes“ (vicaires et lieutenants de Dieu), formulierten Farel und Calvin bereits 1536 in der Confession de la Foy, die sie der Stadt Genf vorlegten. Ihre Aufgabe sei es, den Frieden, die Religion und die Ehrbarkeit durch Gesetze und Rechtsprechung zu gewährleisten. Um Missbrauch der politischen Macht auszuschließen, müssen Regierungsorgane unterschiedlichen Ranges geschaffen werden, die sich gegenseitig stützen, aber auch kontrollieren. Calvin war der Ansicht, dass sich aus der Bibel keine Staatsform verbindlich ableiten lasse. Die Monarchie sah er kritisch, da sie zu Tyrannis neige. Er tendierte zu einer aristokratischen Regierungsform, die ein Element bürgerlicher Selbstverwaltung haben konnte, aber nicht musste. Die Bevölkerung sei verpflichtet, Erlasse zu befolgen, Steuern zu zahlen und Aufgaben für das Gemeinwohl zu übernehmen, darunter der Kriegsdienst in gerechten Verteidigungskriegen. Sie müsse auch Tyrannen erdulden. Diese zu stürzen sei Recht und Pflicht der niederen Obrigkeiten (z. B. Adel, Stände). Nur im Grenzfall sei Widerstandsrecht auch für den Einzelnen erlaubt, nämlich dann, wenn die Obrigkeit Ungehorsam gegen Gott befiehlt. Seine Bibelexegese führte Calvin zu einer „eingeschränkte[n] Billigung des Zinses und des Erwerbs von Eigentum durch ehrliche und harte Arbeit“. Er befürwortete den Zins als Anreiz, Geld produktiv anzulegen, wollte ihn aber auf wirtschaftlich Leistungsfähige beschränken, Arme sollten von der Zinszahlung verschont werden und Wucher war untersagt. Unter seinem Einfluss wurde in Genf ein staatlicher Höchstzins von 5 % festgesetzt. In Genf setzte sich Calvin für sozialpolitische Maßnahmen ein: kostenlose medizinische Versorgung der Armen, Preiskontrolle bei Grundnahrungsmitteln, Arbeitszeitbegrenzung, Lohnerhöhung, Umschulung von Arbeitslosen usw. Dies alles sei Aufgabe der Stadtregierung. Wirkungsgeschichte Altreformierte Orthodoxie Der Konsens der älteren Forschung (Ernst Bizer, Basil Hall) besagte, dass Calvins Theologie bereits von der Generation seiner Schüler, vor allem Théodore de Bèze, in ein System gebracht worden sei, das die Beschäftigung mit der Bibel und die Bedeutung von Jesus Christus zurücktreten ließ zugunsten der dominierenden Prädestinationslehre. Mit den Arbeiten Richard A. Mullers setzte eine Neubewertung ein, die zum Beispiel Heiko A. Oberman und David C. Steinmetz vertreten. Demnach ist Johannes Calvin eine von mehreren prägenden Persönlichkeiten seiner Theologengeneration. Die altreformierte Theologie setzte Calvins Institutio nicht in der Weise als normativ voraus wie die Lutheraner das Konkordienbuch. Schon mit den nationalen Bekenntnisschriften des späten 16. Jahrhunderts begann eine Differenzierung und Weiterentwicklung. So enthält das Zweite Helvetische Bekenntnis (1566) nicht die Lehre der doppelten Prädestination, weil es sich um einen Text Heinrich Bullingers handelt, der Calvins Prädestinationslehre nicht teilte. Der Anteil Calvins an der Entwicklung der altreformierten Orthodoxie im 17. Jahrhundert ist noch schwerer zu bestimmen. Die Dordrechter Synode war mit einem kleinen Problemkreis befasst, der sich in den Niederlanden durch das Auftreten des Arminianismus ergeben hatte. Die Westminstersynode dagegen erarbeitete einen Gesamtentwurf reformierter Theologie, der offensichtlich in der Tradition Calvins steht. „Dennoch ist der Inhalt der Westminster-Dokumente theologisch gesprochen so allgemein, dass es unmöglich ist, bestimmte Elemente mit Calvin als Einzelperson in Verbindung zu bringen.“ Auseinandersetzung mit der Person Calvins im 18. Jahrhundert Im 18. Jahrhundert wurde Calvin weniger gelesen, was auch daran lag, dass Calvins Französisch nun schwer verständlich war. Über die Leserkreise von Calvins Werken ist wenig bekannt. Seine Persönlichkeit wurde in der Aufklärung meist kritisch gesehen. Im römisch-katholischen Raum wurde die polemische Biografie seines zeitgenössischen Gegners Jérôme-Hermès Bolsec viel rezipiert, der zufolge Calvin sexuell aggressiv gewesen sei, sich als Gott habe verehren lassen und an einer „stinkenden Krankheit“ zugrunde gegangen sei. Thomas Jefferson hielt Calvin, Athanasius den Großen und Ignatius von Loyola für drei religiöse Psychopathen, die verantwortlich seien für die Verbreitung vernunftwidriger Dogmen, darunter den Dreigötterglauben. Ganz anders Benjamin Franklin, der sich für Calvins Arbeitsmoral begeisterte. Da er nur wenige Stunden Schlaf brauchte, habe der mit 54 Jahren verstorbene Calvin ein langes Leben gehabt. Sowohl Jean-Jacques Rousseau, der aus Genf stammte, als auch Voltaire, der dort ein Anwesen besaß, waren der Stadt verbunden und setzten sich mit Calvin auseinander. Rousseau pries Calvin als Genie, das man als Patriot und freiheitsliebender Mensch verehren solle. Voltaire dagegen verachtete den „Papst der Protestanten“, der die Gewissen kontrollieren wollte und, wie der Fall Servet zeige, ein Tyrann gewesen sei. Er gratuliere der Genfer Pastorenschaft dazu, dass sie gegenwärtig keine Calvinisten mehr seien. Der leitende Genfer Pastor, Jacob Vernet, entwickelte die Argumentation zu Calvins Verteidigung, die als klassisch gelten kann: Servet sei überhaupt nur nach Genf gelangt, weil er vor seiner Hinrichtung durch die Inquisition entflohen sei. Nicht Calvin verurteilte ihn zum Tod auf dem Scheiterhaufen, sondern der Genfer Rat. Calvin tat nur seine Pflicht, als er Dokumente herausgab, die Servet ihm selbst geschickt hatte. Die Hinrichtungsmethode zeige die Brutalität der Zeit, dafür könne man nicht Calvin als Person verantwortlich machen. Calvinrezeption im 19. und 20. Jahrhundert Nach Arnold Huijgen beherrschten zwei gegenläufige Trends die Beschäftigung mit Calvin im 19. Jahrhundert: Für die einen war Calvin wegen seiner Rolle im Prozess gegen Servet eine Symbolfigur der religiösen Intoleranz, und Servet wurde als Freigeist stilisiert. Anderen galt das Genf Calvins als ideale, musterhafte christliche Gesellschaft. Für diesen „politischen Calvinismus“ steht der niederländische Premierminister Abraham Kuyper. Calvin-Biografien Paul Henry, Prediger an der Französischen Friedrichstadtkirche in Berlin, legte die erste große Biografie Calvins vor: Das Leben Calvins, des großen Reformators, 3 Bände 1835–1844. Henry schrieb als Verehrer Calvins, ebenso wie Ernst Staehelin (1863). Zwei römisch-katholische Autoren, Franz Wilhelm Kampschulte (1869; 1899) und Carl Adolph Cornelius (1899), stellten Calvin distanzierter dar; beider Arbeiten blieben unvollendet. Von 1899 bis 1927 erschien die siebenbändige Calvin-Biografie Émile Doumergues, die auf den älteren Arbeiten aufbaute und ganz auf den Ton der Calvin-Bewunderung und Calvin-Apologetik gestimmt ist. Doumergue betreute mehrere Doktoranden, die Einzelaspekte der Biografie Calvins erforschten. Erinnerung an Servet Der Prozess Servets zog als Einzelthema große Aufmerksamkeit auf sich. Der Tenor dieser Publikationen ist starke Kritik der Rolle Calvins. Antonius van der Linde bezeichnete Servet im Titel seiner Schrift geradezu als „Brandopfer der reformierten Inquisition“ (Michael Servet, een brandoffer der gereformeerde inquisitie, 1899). Servet wurde auch in Theaterstücken als Märtyrer der Meinungsfreiheit dargestellt. 1903 jährte sich Servets Todestag zum 350. Mal. Freidenker planten, aus diesem Anlass für Servet ein Denkmal zu errichten. Calvinisten verhinderten dies und kamen ihnen zuvor, indem sie ihrerseits einen Servetus-Gedenkstein aufstellten. Der von Doumergue verfasste Text entlastete Calvin von der Verantwortung für Servets Tod. Er drückt Respekt für Calvin, „unseren großen Reformator“, aus, verdammt „eine Irrung, die die Irrung seiner Zeit war“ und bekennt sich zur Gewissensfreiheit, die den Prinzipien der Reformation und des Evangeliums entspreche. Neocalvinismus Niederlande Der Politiker Abraham Kuyper kann als Initiator und bekanntester Vertreter des niederländischen Neocalvinismus gelten. Er verstand den Calvinismus als „Lebensprinzip“, der als einziges dem „Modernismus“ Widerstand leisten könne, hinter dem er die Französische Revolution sah. Es gebe eine Menschheitsentwicklung von den Hochkulturen des Alten Orients über Griechenland und Rom, das Papsttum, die calvinistischen Gesellschaften Westeuropas und von dort weiter nach Amerika, erläuterte er in den Stone Lectures, die er 1898 in Princeton hielt. Kuyper stützte sich bei seiner modernen Interpretation Calvins vor allem auf Buch 1 der Institutio (Schöpfung, Gottes Vorhersehung) und Buch 4 (Kirchenordnung, Staat und Politik). Herman Bavinck legte mit der Gereformeerde Dogmatiek (1895) eine systematische Darstellung des modernen Calvinismus vor. Weitere Vertreter waren in den Niederlanden Herman Dooyeweerd und Gerrit Cornelis Berkouwer, in Deutschland Hermann Friedrich Kohlbrügge und Adolf Zahn. Eine besondere Weiterentwicklung des niederländischen Neocalvinismus fand innerhalb der Niederländisch-reformierten Kirche in Südafrika statt. Theologen, die an der Freien Universität Amsterdam studiert hatten und dort durch Kuyper und Bavinck geprägt worden waren, leiteten aus dem Kuyperismus eine religiöse Begründung der Apartheid ab (und das, obwohl Kuyper selbst Rassentrennung nicht befürwortete). Besonders einflussreich war F. J. M. Potgieter, der von 1946 bis 1977 einen Lehrstuhl für Theologie an der Universität Stellenbosch hatte. Er vertrat diese Spielart des Neocalvinismus nicht nur im akademischen Raum, sondern war auch an Dokumenten seiner Kirche, die das Apartheidsystem rechtfertigten, maßgeblich beteiligt. Vereinigte Staaten Das Princeton Theological Seminary galt von 1812 bis seiner Neuorganisation 1929 als Hochburg des amerikanischen Neocalvinismus, der mit den Namen Archibald Alexander, Charles Hodge, Benjamin Breckinridge Warfield und John Gresham Machen verbunden ist. Nächst der Bibel, die mit dem Vorzeichen der strikten Verbalinspiration gelesen wurde, und den Werken Calvins war François Turretini und die Westminster Confession grundlegend für die reformierte Theologie Princetons. Sie wurden von Hodge in die Formel gefasst: „Der Calvinismus ist schlicht die Religion in Reinform.“ Die Reorganisation Princetons 1929 führte zur Gründung des Westminster Theological Seminary, das die Tradition des alten Princeton weiterführen sollte. Nachdem die großen Kirchen reformierter Tradition in den Vereinigten Staaten heute nicht mehr als konfessionell-calvinistisch anzusprechen sind, sieht Scott M. Manetsch die Pflege des calvinistischen Erbes eher bei einer Reihe von Verlagshäusern, die Werke von und über Calvin für ein großes Publikum anbieten: Baker, Eerdmans, Puritan-Reformed und Westminster/John Knox. Max Weber In einem Klassiker der Religionssoziologie, Die protestantische Ethik und der Geist des Kapitalismus (1904/05) entwickelte Max Weber den Gedanken, dass Calvins Lehre der doppelten Prädestination Ängste weckte, die durch eine bestimmte Arbeitsethik überwunden oder wenigstens erträglich gemacht wurden. Dabei unterscheidet er zwischen Calvins eigenen Auffassungen und dem, was die Epigonen daraus machten: „Er [Calvin] verwirft prinzipiell die Annahme: man könne bei anderen aus ihrem Verhalten erkennen, ob sie erwählt oder verworfen seien, als einen vermessenen Versuch, in die Geheimnisse Gottes einzudringen. Die Erwählten unterscheiden sich in diesem Leben äußerlich in nichts von den Verworfenen.“ Der Schluss von der eigenen Lebensführung auf den Stand der Erwählung (Syllogismus practicus) ist demnach ein Phänomen des späteren Calvinismus, das sich aber, nach Weber, folgerichtig aus den Problemen der damaligen Seelsorger ergab. Sie rieten ihren Gemeindegliedern dazu, sich für erwählt zu halten und jeden Zweifel daran zu unterdrücken, und schufen so den Typ der „selbstgewissen «Heiligen», […] die wir in den stahlharten puritanischen Kaufleuten […] wiederfinden.“ Außerdem war nicht wie im vorreformatorischen Katholizismus eine möglichst große Zahl einzelner guter Werke gefordert (insofern auch keine Werkgerechtigkeit), sondern eine rationale Lebensführung: „eine zum System gesteigerte Werkheiligkeit.“ (ebd.) Für diese calvinistische Lebensführung prägte Weber den Begriff innerweltliche Askese als Gegensatz zu einer katholischen Askese des Rückzugs aus der Welt ins Kloster. Weber betonte, wie befremdlich der asketische Heroismus des puritanischen Bürgertums im 20. Jahrhundert wirkte. Er postulierte eine „Höchstrelevanz des Religiösen“ (Hartmann Tyrell) im Calvinismus des 17. Jahrhunderts, das Jenseits (Life, eternal life) sei alles gewesen, während Webers Kritiker die Bedeutung religiöser Momente für die reale Entwicklung stark überbewertet sahen. Webers Calvinist ist für sein Seelenheil ganz auf sich gestellt. „Das bedeutet nun aber praktisch, im Grunde, daß Gott dem hilft, der sich selber hilft, daß also der Calvinist […] seine Seligkeit – korrekt müßte es heißen: die Gewißheit von derselben – selbst ‚schafft‘ […] in einer zu jeder Zeit vor der Alternative: erwählt oder verworfen? stehenden systematischen Selbstkontrolle.“ Kurt Samuelsson betont, dass die Parenthese eine Schwäche von Webers Argumentation zeige: Ist der wirtschaftliche Erfolg für den Calvinisten ein Zeichen seiner Erwählung („Seligkeit“) oder ein Mittel, um seine Erwählung selbst zu „schaffen“? Nur die erste Option ist konsistent mit der Lehre der doppelten Prädestination. Weber erwähnte, dass jemand sich seiner Erwählung statt durch asketisches Handeln auch durch „mystische Gefühlskultur“ versichern könne. Diese Option ordnete er aber dem Luthertum zu. Samuelsson kritisiert, dass Weber diese konfessionell verschiedene Rezeption des Prädestinationsgedankens nicht begründete, sondern als Selbstverständlichkeit betrachtete. Dieter Schellong und Heinz Steinert kritisieren Webers selektiven Umgang mit Quellentexten. Seine Hauptquelle für die puritanische Befindlichkeit sei Richard Baxter, der die doppelte Prädestination ablehnte. Weber zitiere aus Baxters Frühwerk The Saints’ Everlasting Rest („Die ewige Ruhe der Heiligen“) und blende weg, dass Baxter darin berufliche Arbeit nur als Hindernis der Kontemplation sieht. Calvin-Jubiläum 1909 Die Feiern zu Calvins 400. Geburtstag 1909 wurden im Reformierten Bund in Deutschland als Chance begriffen, in der deutschen Öffentlichkeit Sympathie für Calvin zu wecken, die mehrheitlich nur zweierlei über ihn wusste: „daß er den lästernden Servet verbrannt und die grausame Lehre von der Prädestination aufgestellt habe“, wie ein Zeitgenosse formulierte. Der Bund unternahm erhebliche Anstrengungen, das Jubiläum mit den damaligen Mitteln als „Multimedia-Ereignis“ (Hans-Georg Ulrichs) zu inszenieren. Die Genfer Festwoche im Juli 1909 hatte ein dichtes kirchlich-akademisches und volksfestartiges Programm. Einige Beobachter meinten, dass es nicht der reformierten Tradition entspreche, eine Person so in den Mittelpunkt zu stellen. Karl Barth vermutete, Calvin wäre die „reformierte Siegesallee“ (das 1909 begonnene, 1917 eingeweihte Internationale Denkmal der Reformation) „ganz einfach ein Greuel gewesen.“ Der wichtigste wissenschaftliche Ertrag des Calvin-Jubiläums war die Edition von Calvins Briefwechsel durch den Pfarrer und Schriftsteller Rudolf Schwarz. Sie zeigte unbekannte Seiten des Reformators und wurde als Korrektur von Kampschultes Calvin-Biografie begrüßt. Karl Barth Barths Calvin-Vorlesung an der Universität Göttingen 1922 war der Auftakt für eine neue Beschäftigung mit der Theologie Calvins im Raum der Dialektischen Theologie. Seine Neugier auf Calvins Schriften formulierte Barth mit den Mitteln des Expressionismus: Barth war sich aber auch der Distanz bewusst, die zwischen dem 16. und dem 20. Jahrhundert besteht: „Die Einzelheiten des viel bewunderten Genfer Lebenssystems kann man wirklich nicht kennenlernen, ohne daß einem Worte wie Tyrannei und Pharisäismus fast unwillkürlich auf die Lippen kommen. Keiner von uns, der wirklich Bescheid weiß, würde in dieser heiligen Stadt haben leben wollen.“ Calvins Stärke sah Barth in der Synthese: Gotteserkenntnis und Selbsterkenntnis, Dogmatik und Ethik. Unter den Autoren, die sich in der ersten Hälfte des 20. Jahrhunderts mit Calvins Theologie befassten, sind Max Dominicé (L’humanité de Jesu Christ, 1933) und Wilhelm Niesel (Calvins Lehre vom Abendmahl, 1930) hervorzuheben. Niesel, ein akademischer Schüler Barths, legte 1938 Die Theologie Calvins vor, eine Gesamtschau, die die Christologie als Zentrum von Calvins Denken bewertet und von hier aus Calvins Ekklesiologie interpretiert. „Calvins Kirchenverständnis machte sich Niesel im Kirchenkampf zur Beschreibung der durch Gottes Wort versammelten Gemeinde und später für seine Aufgaben als reformierter Kirchenpolitiker und Ökumeniker nutzbar.“ (Matthias Freudenberg) Die Calvin-Jubiläen 1959 (450. Geburtstag) und 1964 (400. Todestag) waren durch die in der deutschen Theologie dominierende Barth-Schule geprägt. Hans-Georg Ulrichs spricht in diesem Zusammenhang von einer „Calvinisierung“ der Reformierten in Deutschland. Stefan Zweig Am 24. Mai 1935 schrieb der Genfer Pfarrer an St. Peter, Jean Schorer, an Stefan Zweig und schlug dem Schriftsteller vor, die Kontroverse zwischen Castellio und Calvin zum Thema eines historischen Romans zu machen. Schorer stand als Liberaler seinem Amtsvorgänger Calvin sehr kritisch gegenüber. Zweig kannte Castellio bisher nicht und war von dessen Persönlichkeit fasziniert. Bei seinen Literaturrecherchen stellte er sich die Aufgabe, Calvin gerecht darzustellen; Schorer las den am 12. März 1936 abgeschlossenen Text Korrektur. Zweigs Roman Castellio gegen Calvin betitelt das Kapitel über Calvins erste Ankunft in Genf als „Die Machtergreifung Calvins“; die von Calvin nach seiner Rückkehr umgesetzte Kirchenordnung als „Gleichschaltung eines ganzen Volkes“; anders als in den Romanen über Erasmus von Rotterdam und Maria Stuart zieht Zweig in diesem historischen Roman zahlreiche Parallelen zur Neuzeit und zur eigenen Gegenwart. Die Lehre Calvins entspreche dessen Physiognomie, wie Zweig erläutert: Freudenberg sieht Castellio gegen Calvin als „idealtypische Historiographie“, in der einzelne Personen geschichtliche Phänomene verkörperten; Calvin werde dabei in die Nähe von Adolf Hitler gerückt. Zweig sei von seiner Sekundärliteratur, insbesondere von Kampschulte, abhängig, deren Negativurteile er übernehme. Römisch-katholische Calvinrezeption Nach dem Zweiten Vatikanischen Konzil wurden Martin Luther und Philipp Melanchthon von katholischen Kirchengeschichtlern neu und positiver bewertet; in Bezug auf Johannes Calvin kam eine Neubewertung dagegen nur stockend in Gang. Wolfgang Thönissen erläutert: Bis ins 21. Jahrhundert wirke nach, dass die Ausbreitung des Calvinismus in Westeuropa im Ringen mit der katholischen Gegenreformation voranschritt. Das habe auf beiden Seiten die Verhärtung konfessioneller Frontstellungen bewirkt. Karl Barths Theologie regte Yves Congar zu Calvin-Studien an. Calvins Lehre von der Kirche wirkte, vermittelt durch Congar, auf die Ekklesiologie des Zweiten Vatikanischen Konzils ein, und zwar mit dem Motiv der Vestigia ecclesiae und mit der Lehre vom dreifachen Amt Christi – das ganze Volk Gottes habe Anteil an den Ämtern Christi (Lumen gentium 10–12. 31; Apostolicam actuositatem 10). Mit Alexandre Ganoczys Untersuchungen über Amt und Kirche bei Calvin setzte die neuere katholische Calvinforschung ein, die sich vor allem der Ekklesiologie und Sakramentenlehre des Reformators widmete. Eva-Maria Faber bietet eine Auseinandersetzung mit der gesamten Theologie Calvins (Symphonie von Gott und Mensch, 1999): Calvins Theologie ist zwar Kontroverstheologie, aber seine Christologie bietet sich als ein zentrales Thema an, bei dem jenseits der Polemik des 16. Jahrhunderts Gemeinsamkeiten gefunden werden können. Vermittelt über reformierte Theologen (Franz Jehan Leenhardt, Max Thurian, Jean-Jacques von Allmen), lässt sich außerdem in neuerer römisch-katholischer Sakramententheologie ein Grundgedanke Calvins aufzeigen: „Die Gaben von Brot und Wein werden durch Jesus Christus selbst … in der Kraft seines Hl. Geistes in eine völlig neue Beziehung zu uns gesetzt.“ Das Schlussdokument des Dialogs zwischen Reformiertem Weltbund und dem Sekretariat für die Einheit der Christen, Die Gegenwart Christi in Kirche und Welt (1977), zeigt, welche Konvergenzen im Verständnis der Gegenwart Christi im Abendmahl möglich sind, wobei der reformierte Vorbehalt gegenüber dem Messopfer allerdings bleibt. Calvin-Jahr 2009 Das Calvin-Jahr anlässlich seines 500. Geburtstags wurde im Rahmen der Reformationsdekade von der gesamten Evangelischen Kirche in Deutschland begangen; das unterscheidet es von den Calvin-Jubiläen des 20. Jahrhunderts, die die deutschen Reformierten als Minderheit tendenziell in eine apologetische Rolle brachten. Unter dem Titel „Reformation und Bekenntnis“ wurde neben Calvin auch der vor 75 Jahren beschlossenen Barmer Theologischen Erklärung gedacht. Das Deutsche Historische Museum in Berlin, zusammen mit der Johannes a Lasco Bibliothek in Emden, widmete Calvin von April bis Juli 2009 eine eigene Ausstellung (Calvinismus. Die Reformierten in Deutschland und Europa), die am 31. März 2009 vom damaligen niederländischen Ministerpräsidenten Jan Peter Balkenende eröffnet wurde. Bei der zentralen Gedenkfeier zu Calvins Geburtstag am 10. Juli 2009 in Berlin sprach Frank-Walter Steinmeier, der damalige deutsche Außenminister. Beide Politiker entstammen reformierten Kirchen. Weitere Calvin gewidmete Ausstellungen waren im Jahr 2009: Internationales Museum der Reformation (Genf): Ein Tag im Leben Calvins (Une journée dans la vie de Calvin); National- und Universitätsbibliothek Straßburg: Als Straßburg Calvin aufnahm, 1538–1541 (Quand Strasbourg accueillait Calvin 1538–1541); Große Kirche Dordrecht: Calvin und wir (Calvin & Wij). In zahlreichen Städten der Schweiz, Deutschlands und der Niederlande fanden Kolloquien und Studienreisen, Kurse, Ausstellungen und Vorträge aus Anlass des Calvin-Festjahres statt. Gedenktag Evangelische Kirche in Deutschland: 27. Mai im Evangelischen Namenkalender Evangelisch-Lutherische Kirche in Amerika: 27. Mai Werkausgaben Im 19. und frühen 20. Jahrhundert stellten mehrere Calvin-Editionen die Forschung auf eine neue Grundlage. Herausragend war die fast vollständige Straßburger Edition der Calvini Opera von Johann Wilhelm Baum, August Eduard Cunitz, Eduard Reuss: sie löste die Calvin-Gesamtausgabe von J. J. Schipper (1671) ab. 1833/34 gab August Tholuck die Kommentare Calvins zum Neuen Testament heraus, und Aimé-Louis Herminjard veröffentlichte 1866/67 Calvins französischen Briefwechsel. Im 20. Jahrhundert förderte E. F. Karl Müller durch seine Übersetzungen von Calvins Werken ins Deutsche dessen Bekanntheit (1909 ein Auszug aus der Institutio, 1901–19 Calvins Bibelauslegungen in 14 Bänden) und bereitete so die Calvin-Renaissance in der Dialektischen Theologie vor. In den Originalsprachen (lateinisch, französisch) Johann Wilhelm Baum, August Eduard Cunitz, Eduard Reuss (Hrsg.): Ioannis Calvini opera quae supersunt omnia, 59 Bände (= Corpus Reformatorum, Bände 29–87). C.A. Schwetschke, Braunschweig / Berlin, 1863–1900 (Zugang zu Digitalisaten). Klassische Werkausgabe (Abkürzung: CO), immer noch wissenschaftlich zitierfähig. Peter Barth, Wilhelm Niesel (Hrsg.): Ioannis Calvini opera selecta. 5 Bände. Kaiser, München 1926–1936. Werkauswahl (Abkürzung: OS). Irena Backus u. a. (Hrsg.): Ioannis Calvini opera omnia denuo recognita et adnotatione critica instructa notisque. Droz, Genf 1992 ff. Auf 12 Bände angelegte Neuausgabe der Calvini Opera mit Anmerkungen und Bibliographie nach dem aktuellen Forschungsstand (Abkürzung: COR). In deutscher Übersetzung Rudolf Schwarz (Hrsg.): Johannes Calvins Lebenswerk in seinen Briefen. Eine Auswahl von Briefen in deutscher Übersetzung. 1. Aufl. 2 Bände, Tübingen 1909; 2. Aufl. 3 Bände, Neukirchen 1961/62. Otto Weber (Hrsg.): Unterricht in der christlichen Religion / Institutio Christianae religionis. Nach der letzten Ausgabe übersetzt und bearbeitet von Otto Weber. Neukirchener Verlag, (1. Aufl. 1955) 5. Auflage Neukirchen 1988, ISBN 3-7887-0148-X. (online) Matthias Freudenberg (Hrsg.): Unterricht in der christlichen Religion / Institutio Christianae religionis. Die Übersetzung von Otto Weber im Auftrag des Reformierten Bundes bearbeitet und neu herausgegeben. Neukirchener Verlag, Neukirchen-Vluyn 2008, ISBN 978-3-7887-2327-9. Werner Raupp (Hrsg.): Mission in Quellentexten. Geschichte der Deutschen Evangelischen Mission von der Reformation bis zur Weltmissionskonferenz Edinburgh 1910, Erlangen/Bad Liebenzell 1990 (ISBN 3-87214-238-0 / 3-88002-424-3), S. 29–33 (Auszüge, u. a. aus: Defensio orthodoxae fidei de sacra trinitate, 1554 (Corpus reformatorum 36); Commentarius in Harmoniam Evangelicam, 1555 (ebd., 73); Sermons sur le Deutéronome, 1556 (ebd., 57); Institutio Christianae Religionis, 1559; einschl. Einl. u. Lit.). Eberhard Busch (Hrsg.): Calvin-Studienausgabe. Neukirchener Verlag, Neukirchen-Vluyn 1994–2011. Lateinische bzw. französische Originaltexte mit deutscher Übersetzung. Band 1: Reformatorische Anfänge (1533–1541). Teilband 1, 1994, ISBN 3-7887-1483-2; Teilband 2, 1994, ISBN 3-7887-1484-0. Band 2: Gestalt und Ordnung der Kirche. 1997, ISBN 3-7887-1554-5. Band 3: Reformatorische Kontroversen. 1999, ISBN 3-7887-1698-3. Band 4: Reformatorische Klärungen. 2002, ISBN 3-7887-1842-0. Band 5: Der Brief an die Römer. Ein Kommentar. Teil 1, 2005, ISBN 3-7887-2100-6 ; Teil 2, 2007, ISBN 978-3-7887-2175-6. Band 6: Der Psalmenkommentar. Eine Auswahl. 2008, ISBN 3-7887-2310-6. Band 7: Predigten über das Deuteronomium und den 1. Timotheusbrief. 2009, ISBN 978-3-7887-2362-0. Band 8: Ökumenische Korrespondenz. Eine Auswahl aus Calvins Briefen. 2011, ISBN 978-3-7887-2535-8. Matthias Freudenberg, Georg Plasger (Hrsg.): Calvin-Lesebuch. Neukirchener, Neukirchen-Vluyn 2008, ISBN 978-3-7887-2305-7. Literatur Calvins Biografie Reiner Rohloff: Johannes Calvin: Leben – Werk – Wirkung. Vandenhoeck & Ruprecht, Göttingen 2011. ISBN 978-3-8252-3456-0. 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Jahrhundert) Person des evangelischen Namenkalenders Person des Christentums (Frankreich) Autor Literatur (Neulatein) Literatur (16. Jahrhundert) Sachliteratur (Religion) Täter der Hexenverfolgung Person des Christentums (Basel) Person des Christentums (Genf) Franzose Geboren 1509 Gestorben 1564 Mann
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https://de.wikipedia.org/wiki/Maurice%20Ravel
Maurice Ravel
Joseph-Maurice Ravel (* 7. März 1875 in Ciboure; † 28. Dezember 1937 in Paris) war ein französischer Komponist und neben Claude Debussy Hauptvertreter des Impressionismus in der Musik. Sein bekanntestes Werk ist das ursprünglich als Ballettmusik konzipierte Orchesterstück Boléro. Leben Herkunft Joseph-Maurice Ravel wurde als erster von zwei Söhnen im äußersten Südwesten Frankreichs geboren. Sein Vater Joseph Ravel (1832–1908) stammte aus Versoix in der französischsprachigen Schweiz und war von Beruf Ingenieur. Sein Lieblingsprojekt, in das er viel Zeit und Geld investierte, war die Weiterentwicklung des Gasmotors. Mit dem Deutsch-Französischen Krieg zwischen 1870 und 1871 zerschlugen sich jedoch seine Hoffnungen, das Projekt jemals vollenden zu können. Er hielt sich zeitweilig in Spanien auf, wo er Marie Delouart, eine Baskin, kennenlernte. Das Paar heiratete 1873 und ließ sich im französischen Teil des Baskenlandes in der Nähe von Biarritz nieder. Kurz nachdem Maurice geboren war, siedelte die Familie noch 1875 nach Paris über, wo der Vater eine Anstellung gefunden hatte. Maurice’ Bruder Edouard, der wie der Vater Ingenieur wurde, kam 1878 auf die Welt. Jugendjahre Den ersten Klavierunterricht erhielt Ravel mit sieben Jahren. Die Idee, eine Laufbahn als Musiker anzustreben, kam früh und wurde von den Eltern unterstützt. Mit 13 erhielt er an einer privaten Musikschule Klavierunterricht und Unterweisung in Harmonielehre. Sein Lehrer Émile Descombes war Schüler bei Frédéric Chopin gewesen. 1888 lernte Ravel den Mitschüler Ricardo Viñes kennen, ein junges Pianistentalent aus Spanien. Zwischen beiden entwickelte sich eine tiefe Jugendfreundschaft, die ein Leben lang halten sollte. Am 4. November 1889 traten Ravel und Viñes zur Aufnahmeprüfung beim Pariser Konservatorium an. Von 46 Kandidaten wurden nur 19 zu den Klavierklassen zugelassen: Viñes kam in die Klasse der Fortgeschrittenen, bei Ravel reichte es für die Vorbereitungsklasse. Mit der 1891 erreichten Auszeichnung eines Vortrags bei der Zwischenprüfung qualifizierte er sich für die Klasse bei Charles-Wilfrid Bériot, in der auch Viñes unterrichtet wurde. Lange Zeit spielte Ravel mit dem Gedanken, eine Pianistenlaufbahn einzuschlagen. Aber die Voraussetzungen dafür waren bei ihm nicht optimal ausgeprägt. Wärme, Gefühl und Temperament wurden seinem Spiel zwar bescheinigt, die Bravour anderer Mitschüler erreichte er indessen nicht. Das schien sich auf seine Motivation auszuwirken: Ravel war der sprichwörtliche „faule Hund“. Seine Lehrer nahmen es ihm übel; das schien seine Haltung nur noch weiter zu verstärken. 1893, 1894 und 1895 versagte er in den obligatorischen Zwischenprüfungen und musste die Meisterklasse wieder verlassen. Sein Interesse, Pianist zu werden, war nun endgültig auf dem Nullpunkt angelangt. In späteren Jahren sollte er sich nur noch ans Klavier setzen, um eigene Kompositionen zu Gehör zu bringen – und selbst das nur widerwillig. Im Januar 1897 kehrte Ravel an das Konservatorium zurück und trat in die Kompositionsklasse von Gabriel Fauré ein, daneben studierte er Kontrapunkt, Fuge und Orchestration bei André Gedalge (Lehrer von Jacques Ibert, Arthur Honegger und Darius Milhaud). Fauré war es auch, der Ravel Zutritt zu den mondänen Salons des damaligen Paris ermöglichte. Über die Erlebnisse spottete Ravel zwar gemeinsam mit Viñes, aber als mittlerweile ausgeprägter Dandy konnte er den Abenden dort auch etwas abgewinnen. Seine im Salon kultivierten blasierten, zynischen Auftritte mit plissiertem Hemd und Monokel irritierten sogar seinen besten Freund Viñes. Auf die Frage, welcher Schule oder Strömung er angehöre, pflegte Ravel zu antworten: „Überhaupt keiner, ich bin Anarchist.“ Les Apaches und Miroirs Les Apaches Die Apachen waren Musiker, Kritiker, Maler und Komponisten wie Paul Sordes, Maurice Delages, Manuel de Falla, Florent Schmitt, Michel Dimitri Calvocoressi und Ricardo Viñes, die um 1900 durch das nächtliche Paris zogen und als Stadtindianer sich den Konventionen entzogen. Sie trafen sich häufig und Ravel brachte in ihrem Kreis viele seiner neuen Kompositionen zu einer inoffiziellen Uraufführung. So auch die Miroirs, die Spiegelbilder, die er 1905 für Klavier solo fertigstellte. Die Gruppe um Ravel bezeichnete sich auch als Noctuelles, als Nachtschwärmer oder Nachtfalter und eine Analogie zum ersten Titel der Miroirs Noctuelles liegt nahe. Ravel widmete seine fünf Klavierstücke folgerichtig den Apachen. Noctuelles an Léon-Paul Fargue Oiseaux tristes an Ricardo Viñes Une barque sur l'océan an Paul Sordes Alborada del gracioso an Michel-Dimitri Calvocoressi La vallée des cloches an Maurice Delage Prix de Rome Erste Anläufe Zu den größten Enttäuschungen Ravels zählt die Tatsache, dass er sich fünf Mal um den Prix de Rome bewarb, doch immer scheiterte. Der Prix de Rome war damals die höchste Auszeichnung für junge französische Komponisten. Im Januar eines jeden Jahres gab es eine Zulassungsprüfung; wer diese bestand, musste sich im Mai einer Vorrunde stellen, in der eine vierstimmige Fuge und ein Chorwerk nach verbindlich vorgegebenem Text verlangt wurden, die in sechs Tagen in Klausur zu fertigen waren. Nur maximal sechs Teilnehmer wurden zur Schlussrunde zugelassen. Hier bestand die Aufgabe in der Vertonung eines ebenfalls vorgegebenen Textes als zwei- oder dreistimmige Kantate. Der Gewinner des Prix de Rome – der erste Preis wurde aber nicht zwingend vergeben – erhielt ein vierjähriges Stipendium für den Besuch der Académie des Beaux-Arts. Im Jahr 1900 bewarb Ravel sich zum ersten Mal. Im März 1900 schrieb er einem Freund: „Ich bereite mich derzeit auf den Rompreis-Wettbewerb vor und habe mich ganz ernsthaft an die Arbeit gemacht. Mit der Fuge klappt es inzwischen ziemlich leicht; was mir freilich einige Sorgen macht, ist die Kantate.“ Doch Ravel schied schon in der Vorrunde aus; der Preis ging an seinen Freund Florent Schmitt. Ravel resümierte resigniert: Im gleichen Jahr scheiterte die Teilnahme an einem weiteren Fugenwettbewerb mit null Punkten noch verheerender. Dubois urteilte: „Unmöglich, wegen schrecklicher Nachlässigkeiten in der Schreibweise.“ Infolgedessen wurde Ravel aus der Kompositionsklasse Faurés ausgeschlossen. Da aber auch Nicht-Studenten sich um den Prix de Rome bewerben durften, nahm Ravel 1901 einen neuen Anlauf. Diesmal schaffte er es bis in die Schlussrunde, musste sich aber am Ende mit einem Kommilitonen den zweiten Preis teilen. Der Sieger hieß André Caplet, den Ravel wiederum als mittelmäßig bezeichnete. Später notierte er: „Fast das ganze Auditorium hätte mir den Preis gegeben.“ So sah es wohl auch Camille Saint-Saëns, der an einen Kollegen schrieb: „Der dritte Preisträger, ein gewisser Ravel, scheint mir das Zeug zu einer ernsthaften Karriere zu haben.“ 1902 und 1903 versuchte Ravel es erneut – und ging leer aus. Der Eklat Seine letzte Teilnahme vor Erreichen des Bewerbungshöchstalters ging Ravel 1905 an. Obwohl er als Favorit für den Preis galt, schied er wegen vieler Verstöße gegen Satz- und Kompositionsregeln schon in der Vorrunde aus dem Wettbewerb aus. Den Preis gewann Victor Gallois. Ravels „Fall“ löste eine heftige öffentliche Diskussion aus, weniger über die von ihm vorgelegten Kompositionen als vielmehr über die Frage, wie der Konservatoriums- und Wettbewerbsbetrieb eigentlich gehandhabt wurde. Der in der Presse als „Ravel-Affäre“ bezeichnete Skandal führte letztlich zum Rücktritt von Dubois als Direktor des Konservatoriums. Der Schriftsteller und Musikkritiker Romain Rolland schrieb am 26. Mai 1905 an den Direktor der Académie des Beaux-Arts, Paul Léon: Der junge Komponist Wie Rollands Brief zeigt, war Ravel dabei, sich als Komponist einen Namen zu machen, auch wenn viele seiner Werke eine höchst kontroverse Aufnahme fanden. Gemessen an der Zahl der fertiggestellten Arbeiten waren die Jahre von der Jahrhundertwende bis zum Ersten Weltkrieg seine produktivste Zeit. Hatte er bis dahin fast ausschließlich Klavierstücke und Lieder geschaffen, erschloss er sich mit der Orchesterouvertüre Shéhérazade, dem F-Dur-Streichquartett, der Oper L’Heure espagnole, der Rhapsodie espagnole (die Manuel de Fallas Aufmerksamkeit erregte) und der im Auftrag Djagilews komponierten Ballettmusik Daphnis et Chloé jetzt auch größere musikalische Formen. 1913 lernte Ravel Strawinski kennen, mit dem er bei einer Bearbeitung von Mussorgskis unvollendeter Oper Chowanschtschina zusammenarbeitete. Der Erste Weltkrieg Beim Ausbruch des Ersten Weltkriegs wurde Ravel von der allgemeinen patriotischen Begeisterung ergriffen. Sein Bruder Edouard war eingezogen worden, und Ravel, den man als jungen Mann wegen seiner geringen Körpergröße als dienstuntauglich eingestuft hatte, bemühte sich, ebenfalls zum Militär zu kommen. 1915 wurde er dem Sanitätsdienst des 13. Artillerieregiments als Kraftfahrer zugeteilt. In Paris konstituierte sich eine „Liga zur Verteidigung französischer Musik“: Werke deutscher und österreichischer Komponisten sollten geächtet und nicht mehr aufgeführt werden. Ravel hielt davon nichts. Er äußerte: Verlust der Mutter 1916 erkrankte Ravel an Ruhr (siehe Dysenterie, Amöbenruhr und Bakterienruhr) und trat in der Folge einen Genesungsurlaub in Paris an. Während diesem starb Ravels Mutter am 5. Januar 1917 im Alter von 76 Jahren, ein für Ravel unersetzlicher Verlust. Er hatte bis dahin immer mit ihr unter einem Dach zusammengelebt. Aber auch ihr Tod konnte ihn nicht dazu bewegen, ein eigenes Domizil aufzuschlagen. Stattdessen zog er nach dem Krieg mit seinem Bruder Edouard zusammen. Als dieser aber 1920 überraschend heiratete, war das Zusammenleben mit ihm auch nicht mehr möglich. 1921 kaufte Ravel schließlich 50 Kilometer von Paris entfernt in Montfort-l’Amaury die Villa „Le Belvédère“ (siehe Musée Maurice Ravel), in der er bis zu seinem Tod lebte. Ravel blieb sein Leben lang unverheiratet und kinderlos; eine (nicht ausgelebte) Homosexualität wird angenommen. Verweigerung eines Ordens Am 15. Januar 1920 wurde Ravel mit der Nachricht konfrontiert, für den Orden eines Ritters der Ehrenlegion (Chevalier de la Légion d’honneur) nominiert worden zu sein. Ravel wollte das gar nicht und meinte erbost: „Was für eine lächerliche Geschichte. Wer mag mir wohl diesen Streich gespielt haben?“ Die unwillkommene Ehrung bügelte er gegen den Rat seiner Freunde gleich auf seine Weise ab: Er bezahlte einfach die mit der Nominierung anfallenden Gebühren nicht. So wurde er automatisch von der Kandidatenliste entfernt. Das ungebührliche Verhalten löste indessen eine aufgeregt geführte öffentliche Diskussion aus, an der er sich aber nicht beteiligte. Warum er sich der Auszeichnung verweigerte, ist nicht geklärt. Manche halten seine Weigerung für eine späte Rache wegen des ihm nie zuerkannten Rompreises. Anderen Ehrungen hat er sich nicht entzogen: Im Oktober 1928 nahm er gern die Ehrendoktorwürde der Universität Oxford entgegen, dasselbe gilt für die Ehrenmitgliedschaft der International Society for Contemporary Music ISCM (Internationale Gesellschaft für Neue Musik), welche er 1923 zusammen mit Jean Sibelius, Igor Strawinsky und Ferruccio Busoni als erste Ehrenmitglieder der eben gegründeten Gesellschaft erhielt. Bei der ISCM trat er im Rahmen der Weltmusiktage (ISCM World Music Days) 1923, 1925, 1928 und 1934 als Komponist (unter anderem mit der Tzigane und dem Klavierkonzert für die linke Hand) in Erscheinung, 1929 wirkte er dort auch als Juror. Lebensende Wann genau die Krankheiten begannen, die Ravels letzte Lebensjahre überschatteten, ist nicht gesichert. Ebenso konnte die Ursache seiner Erkrankung bis heute nicht abschließend geklärt werden. Vermutet wurden unter anderem ein Hirnschlag, Morbus Pick, eine andere Demenzerkrankung oder ein Hirntumor. Schon Mitte der 20er Jahre hatte er wiederholt über Schlaflosigkeit und langanhaltende, unerträgliche Kopfschmerzen geklagt. Erschöpfungszustände, angesichts derer die Ärzte ihm rieten, eine längere Pause einzulegen, überspielte er mit einer geradezu hektischen Aktivität, die in zahlreiche Konzertreisen durch Europa mündete, auf denen er seine Werke als Dirigent und Pianist vorstellte. 1928 unternahm er eine viermonatige Tournee durch die USA und Kanada, die ihn durch 25 Städte führte. Der Umfang seines kompositorischen Schaffens nahm dagegen ab. 1931 unternahm Ravel eine größere Europatournee mit der Pianistin Marguerite Long. Ein Autounfall am 8. Oktober 1932, den er als Fahrgast eines Taxis in Paris mit Brustkorbquetschung und Schnittwunden überlebte, bedeutete für sein weiteres Leben eine Zäsur. Eine Läsion der linken Großhirnrinde führte zu Sprachstörungen (Wernicke-Aphasie und Alexie), und durch Amusie verlor er die Fähigkeit zu komponieren. Gegen eine Demenzerkrankung spricht auch, dass Ravel bis zuletzt bei klarem Verstand war und seinen Verfall beobachtete, als stecke ein Fremder in ihm. Verzweifelt äußerte er: „Ich habe noch so viel Musik im Kopf. Ich habe noch nichts gesagt. Ich habe noch alles zu sagen.“ Am 17. Dezember 1937 begab Ravel sich in die Klinik des berühmten Neurochirurgen Clovis Vincent, um durch eine Schädeloperation dem Verdacht auf einen Gehirntumor nachzugehen. Zuvor soll er noch als letzten verständlichen Satz: ,,Ich sehe aus wie ein Maure" gesagt haben. Ein Tumor wurde bei der Operation am 19. Dezember nicht gefunden, das Gehirn wirkte äußerlich normal bis auf eine Senkung der linken Hemisphäre, die man durch eine Seruminjektion zu behandeln suchte. Ravel erwachte aus der Narkose, fragte nach seinem Bruder, sank aber bald darauf in ein tiefes Koma, aus dem er nicht mehr erwachte. Am Morgen des 28. Dezember 1937 hörte sein Herz auf zu schlagen. Am 30. Dezember wurden seine sterblichen Überreste auf dem Friedhof von Levallois-Perret im Westen von Paris neben seinen Eltern begraben. Ihm zu Ehren trägt seit 1961 der Ravel Peak seinen Namen, ein Berg auf der Alexander-I.-Insel in der Antarktis. Musikalische Einflüsse und Beziehungen Vorbilder Ein großes Vorbild für Ravel war der Komponist Emmanuel Chabrier. 1893 hatten Ravel und Viñes die Gelegenheit erhalten, ihm vorzuspielen. Von dieser Begegnung sprach Ravel auch später immer wieder voller Stolz und Rührung. Chabrier gehört zu den Musikern, die Ravel in der Anfangszeit stark beeinflusst haben. Ravel schreibt in seinen autobiografischen Skizzen von 1928: In diesem Zitat fällt auch der Name des zweiten Komponisten, dem Ravel unbegrenzte Bewunderung entgegenbrachte: Erik Satie. Dessen archaische Akkord-Rückungen, sein karger Stil, der im diametralen Gegensatz zu den überladenen Klängen des hochaktuellen „Wagnérisme“ standen, faszinierten ihn. Über ihn schreibt Ravel: Ravel schrieb seinem Kontrapunkt-Lehrer André Gedalge großen Einfluss auf die Entwicklung seiner kompositorischen Fähigkeiten zu. Er erklärte auch einmal, er habe kein Stück geschrieben, das nicht von Edvard Grieg beeinflusst sei. Ravels Distanz zu Wagners Stil bedeutet nicht, dass Ravel ihn nicht geschätzt hätte. Von vielen Aufführungen hat er sich mitreißen lassen, beeinflusst haben sie sein Schaffen indessen nicht. Claude Debussy Distanzierte Freundschaft Wann genau Ravel Claude Debussy begegnet ist, ist nicht bekannt. Es dürfte um 1901 gewesen sein. Ravel hegte durchaus Bewunderung für die Werke des 13 Jahre älteren Debussy, dieser indessen zeigte umgekehrt kein besonderes Interesse am Schaffen seines Kollegen. Beide hatten aber regelmäßigen, wenn auch distanziert höflichen Kontakt, und bei einem neuen Streichquartett Ravels, von dem Fauré gemeint hatte, er solle es dringend überarbeiten, beschwor Debussy ihn wohlwollend, keine Note daran zu ändern. Den Bruch zwischen beiden initiierte der mächtige Musikkritiker Pierre Lalo, der erstmals am 30. Januar 1906 und nachfolgend in weiteren Kritiken sich in Andeutungen erging, Ravel täte nichts anderes, als Debussy zu kopieren. Er behauptete es zwar nicht direkt, setzte aber den Namen Ravel so häufig in einen bestimmten Kontext, dass keine andere Schlussfolgerung möglich war. Schließlich sah Ravel sich zu einer Gegendarstellung veranlasst, die der Herausgeber von Les Temps auch abdruckte, doch in der gleichen Ausgabe der Zeitung erschien ein weiterer höhnischer Artikel von Lalo unter der Überschrift „Monsieur Ravel verteidigt sich, ohne angegriffen worden zu sein“. In der Folgezeit ließen Ravel und Debussy ihren Kontakt, offensichtlich ohne persönliche Aussprache, fallen. Beide haben später unabhängig voneinander ihr Bedauern darüber ausgedrückt. Auf die scherzhafte Frage seines Freundes Manuel Rosenthal im Jahr 1937, welche Musik er sich denn bei seiner Beerdigung wünschen würde, nannte Ravel Debussys Prélude à l’après-midi d’un faune, denn, so Ravel: „(...) es ist die einzige Partitur, die je geschrieben wurde, die absolut perfekt ist.“ Duplizität der Ereignisse Es lassen sich bei der Themenwahl einige auffällige Ähnlichkeiten zwischen Debussy und Ravel feststellen. Den Vogel schossen beide 1913 ab: Unter dem gleichlautenden Titel Trois Poèmes de Stéphane Mallarmé vertonten sowohl Ravel wie Debussy drei Gedichte des Poeten, von denen zwei („Soupir“ und „Placet futile“) in beiden Werken vorkamen. Da Ravel vorab die Erlaubnis zur Vertonung bei den Erben des Dichters eingeholt hatte, lag das Urheberrecht an einer musikalischen Bearbeitung der Texte bei ihm. Debussy klagte in einem Brief an einen Freund vom 8. August 1913: Ravel intervenierte schließlich schriftlich zugunsten Debussys bei dem Verleger, der Debussy eine Absage erteilt hatte. Bei aller Themengleichheit wäre jedoch die Suche nach musikalischen Plagiaten müßig – Debussy und Ravel haben sehr individuell komponiert. Auch wenn bei manchen Werken (als Beispiel möge Ravels Klavierstück Jeux d’eau dienen) gewisse „typisch impressionistische“ Gemeinsamkeiten in der Benutzung erweiterter und übermäßiger Dreiklänge, der Verwendung von Kirchentonarten sowie der Bitonalität bestehen, so unterscheiden sich Ravels Kompositionen von denen Debussys zum Beispiel durch die häufigere Verwendung geschlossenerer Formen, Tanzformen (Bolero, Walzer, Habanera, Malagueña) sowie den Bezug auf historische musikalische Modelle. Ravels melodische Linien wirken mitunter klarer. Außerdem sind häufiger relativ klare Kadenzen anzutreffen als bei Debussy. Seine Musik wirkt oft lichter und transparenter als die Klangpalette von Debussy, bei dem sich die Einzelstimmen mitunter ins „Uferlose“ verlieren. Musikerkollegen Ravel hat in seinem Leben eine Reihe von Musikern kennengelernt, die bis heute namhaft geblieben sind: Neben Debussy waren dies u. a. Igor Strawinski, Arthur Honegger, Béla Bartók und Arnold Schönberg. Zu den heute vielleicht weniger bekannten zählte der Pianist Paul Wittgenstein. Gleichwohl hat Wittgensteins Schicksal der Nachwelt ein außergewöhnliches Werk beschert: das „Klavierkonzert für die linke Hand“. Wittgenstein hatte im Ersten Weltkrieg seinen rechten Arm verloren, und seine Karriere als Pianist schien damit besiegelt. Er beschloss dennoch seine Pianistenlaufbahn fortzusetzen und gab bei zahlreichen Komponisten, darunter auch Ravel, Klavierwerke für die linke Hand in Auftrag. Das von Ravel eigens für ihn komponierte Werk führte jedoch zum Bruch zwischen Komponist und Künstler. Das „Klavierkonzert für die linke Hand“ wurde am 5. Januar 1932 in Wien mit Wittgenstein am Klavier aus der Taufe gehoben. Da Ravel bei der Uraufführung nicht anwesend war, organisierte Wittgenstein für ihn eine Soirée, bei der Ravel das Stück (an zwei Klavieren) zu Gehör gebracht wurde. Nach dem Konzert ging Ravel auf Wittgenstein zu und sagte: „Aber das stimmt doch alles gar nicht!“ Seiner Auffassung nach hatte der Pianist das Stück nicht in seinem Sinne dargeboten (Wittgenstein hatte Verzierungen benutzt, die nicht im Notentext enthalten waren). Der Streit eskalierte in einem anschließenden Briefwechsel, in dem Wittgenstein einwandte, die Interpreten dürften keine Sklaven sein. Ravel antwortete kurz und bündig: „Die Interpreten sind Sklaven!“ Ravel hatte nur sehr wenige Schüler, darunter Maurice Delage und Ralph Vaughan Williams. Theodor W. Adorno, der Philosoph, Komponist und scharfzüngige Kritiker, war restlos begeistert von Ravels L'Enfant et les sortilèges: Zum Formaspekt bei Ravel schreibt Adorno: ... überschaut er (gemeint ist Ravel; d. V.) die Formwelt, in die er selbst gebannt ist; durchschaut sie wie Glas; aber durchstößt nicht die Scheiben, sondern richtet sich ein, raffiniert wie ein Gefangener. Weitere Einflüsse Anregungen für sein Schaffen holte sich Ravel auch von Musikrichtungen wie dem Jazz (etwa im Satz Blues der G-Dur-Violinsonate), der orientalischen Musik und dem europäischen Volkslied. Von besonderer Bedeutung für Ravels Kompositionen war die spanische Musik. Ravel hat zu Lebzeiten stets betont, dass er ja auch Baske sei und sich seiner zweiten Heimat verbunden fühle. Zu den Werken, die diesen Einfluss widerspiegeln, gehören u. a. die Oper L’Heure espagnole, der Boléro, die Habanera der Sites auriculaires, das Alborada del gracioso aus den Miroirs, die Vocalise-Étude en forme de Habanera, einige Lieder aus den Chants populaires, das Triptychon Don Quichotte à Dulcinée, das unvollendete Konzertstück für Klavier und Orchester Zaspiak-Bat (der Titel bedeutet in baskischer Sprache „Die Sieben sind Eins“ und meint die sieben baskischen Regionen) sowie die Rhapsodie espagnole. In deren erstem Satz wird eine viertönige, absteigende ostinate Figur ähnlich wie in Ravels berühmten Boléro ständig wiederholt. Sie erscheint dabei zuerst in den Streichinstrumenten und später in den Hörnern, Klarinetten und Oboen. Der Komponist Manuel de Falla schrieb: Der zweite Satz Malagueña bringt ein rhythmisch betontes Tanzthema in den Trompeten und Streichern, welches von Pauken und anderem Schlagwerk begleitet zunehmend gesteigert wird. Ravel vertrat die Auffassung, dass Komponisten sich ihrer individuellen und nationalen Besonderheiten bewusst sein sollten, und kritisierte an den amerikanischen Komponisten, dass sie die europäische Tradition nachahmten, statt Jazz und Blues als ihre eigene musikalische Tradition anzuerkennen. Als George Gershwin bei einer Begegnung bedauerte, nicht sein Schüler gewesen zu sein, erwiderte Ravel: „Warum sollten Sie ein zweitklassiger Ravel sein, wenn Sie ein erstklassiger Gershwin sein können?“ Einflüsse von Gershwins Stil lassen sich in den beiden Klavierkonzerten Ravels feststellen. Musikalisches Schaffen Arbeitsweise und Stil Ravel arbeitete seine Kompositionen mit größter Sorgfalt und Detailversessenheit aus und benötigte deshalb oft lange zu ihrer Fertigstellung, obwohl er sich wünschte, ähnlich fruchtbar sein zu können wie die von ihm bewunderten großen Komponisten. Igor Strawinski nannte ihn wegen der Kompliziertheit und Genauigkeit seiner Werke einmal den „Schweizer Uhrmacher“ unter den Komponisten. Die frühen Druckausgaben seiner Werke waren weit fehlerhafter als seine minutiös gearbeiteten Manuskripte, und Ravel arbeitete mit seinem Verleger Durand unermüdlich an ihrer Verbesserung. Während der Korrektur von L’enfant et les sortilèges – so schrieb er in einem Brief – fand er, nachdem schon zahlreiche Korrektoren das Werk durchgesehen hatten, immer noch zehn Fehler auf jeder Seite. An Ravels Musik wird vor allem die Kunst der Harmonik und der subtilen Klangfarben gerühmt. Ravel selbst betrachtete sich in mancher Hinsicht als Klassizisten, der seine neuartigen Rhythmen und Harmonien gern in traditionelle Formen und Strukturen einbettete, wobei er häufig die strukturellen Grenzen durch unmerkliche Übergänge verwischte. In der Pavane pour une infante défunte wird der modernen Harmonik aus Sept- und Septnonakkorden sowie dem „flirrenden“, impressionistischen orchestralen Kolorit des Werkes auf weiten Strecken durch eine einprägsame, in klarer Periodik gegliederte Melodie ein Teil der Radikalität genommen. Dabei ist im zweiten um ein Achtel verlängerten Zweitakter das oben erwähnte „Verwischen struktureller Grenzen“ zu beobachten. Ravel äußerte sich zu diesem Thema selber folgendermaßen: „Was nicht leicht von der Form abweicht, entbehrt des Anreizes für das Gefühl – daraus folgt, daß die Unregelmäßigkeit, das heißt das Unerwartete, Überraschende, Frappierende einen wesentlichen und charakteristischen Teil der Schönheit ausmacht.“ Weitere Beispiele dafür sind seine Valses nobles et sentimentales (inspiriert durch Schuberts Valses nobles und Valses sentimentales), deren acht Sätze ohne Pause aufeinander folgen, seine Kammermusik, in der viele Sätze die Form eines Sonatenhauptsatzes ohne deutliche Unterscheidung von Durchführung und Reprise haben, sowie das Menuett aus der stilistisch an die französischen Clavecinisten angelehnten Klaviersuite Le Tombeau de Couperin. Impressionistische Einflüsse werden hier durch die Verwendung von großen Septakkorden (zweites Viertel Takt 1), Moll-Septnonakkorden (drittes Viertel Takt 2), scheinbar funktionslos gereihten Moll-Akkorden (h-Moll, a-Moll, d-Moll, h-Moll, fis-Moll in Takt 9 bis 12) sowie die zeitweilige Aufhebung der für ein Menuett typischen schreitenden Bewegung (Takt 3, Takt 9 bis 11) deutlich. Als Orchestrator studierte Ravel sorgfältig die Möglichkeiten jedes einzelnen Instruments. Seine Orchestrierungen eigener und fremder Klavierwerke, wie Mussorgskis Bilder einer Ausstellung, bestechen durch Brillanz und Farbenreichtum. Werke Kammermusik Von Ravels Kammermusik ist das Streichquartett in F-Dur heutzutage am häufigsten zu hören. Das Werk stieß bei der Uraufführung 1904 auf vehementen Widerstand, aufgrund dessen Ravel vom Wettbewerb um den Rompreis ausgeschlossen wurde. Das Werk beeindruckt durch den klaren strukturellen Aufbau und die konsequente Themendurchführung. Die beiden Themen des 1. Satzes (Hörbeispiel) werden im 3. Satz (Hörbeispiel) und 4. Satz variiert wieder aufgegriffen und miteinander kombiniert. Der Musikwissenschaftler Armand Machabey äußerte sich folgendermaßen über das Werk: Die Sonate für Violine und Violoncello von 1922, die er Claude Debussy widmete, zeigt einen harmonisch gewagter operierenden Ravel, das Stück weist bitonale Elemente und entwickelnde Variationen auf. Bei der Sonate für Violine und Klavier von 1923 bis 1927 ist im 2. Satz (einem Blues) der Einfluss des damals in Europa gerade in Mode kommenden Jazz zu spüren. Hierzu meinte Ravel bei seinem USA-Besuch 1928: Klaviermusik Ravels Klavierwerk vereinigt verschiedenste Elemente: tonmalerisch-impressionistische Darstellungen; vom ruhig Verträumten, wie zum Beispiel der Nachbildung von Kirchenglockenklang in La vallée des cloches aus den Miroirs und Le Gibet aus dem Gaspard de la nuit oder der Darstellung von Vogelgesang in Oiseaux tristes bis zum Komisch-Bizarren oder Bedrohlichen; moderne Aussagen in klassischen Formen, zum Beispiel in der Sonatine oder in Le tombeau de Couperin. Ein weiteres wichtiges Element ist die manchmal fast schon harte, an Strawinski erinnernde Motorik Ravels sowie die rhythmische Kraft des Tanzes, welche uns zum Beispiel in Stücken wie Alborada del gracioso aus den Miroirs begegnet. Hinzu kommt eine pianistische Virtuosität auf höchstem technischen Niveau wie in der Alborada del gracioso aus den Miroirs und Ondine oder Scarbo (Hörbeispiel) aus dem Gaspard de la nuit. Von Ravel selbst stammt eine Aussage, in der er die Überwindung von technischen Schwierigkeiten selbst schon als künstlerischen Akt bezeichnet. Als die beiden bedeutendsten Klavierwerke Ravels können die Miroirs und Gaspard de la nuit angesehen werden. Aufnahmen für Welte-Mignon, Ampico, Duo-Art 1912 spielte Ravel für die Freiburger Firma M. Welte & Söhne, Hersteller des Reproduktionsklaviers Welte-Mignon, zwei eigene Kompositionen auf Klavierrollen ein: Sonatines No. 1 und 2 Valses nobles et sentimentales No. 1–8 Weitere Aufnahmen eigener Kompositionen auf Klavierrollen wurden in den Jahren 1923–1928 u. a. von der US-amerikanischen Firma Ampico (American Piano Company) und Duo-Art produziert: Toccata aus Tombeau de Couperin (Herstellungsdatum der Klavierrolle: 1923) Oiseaux Tristes aus Miroirs Nr. 2 (Herstellungsdatum der Klavierrolle: 1923) Pavane für eine verstorbene Prinzessin (Herstellungsdatum der Klavierrolle: 1923) Galgen aus Gaspard de la Nuit (Herstellungsdatum der Klavierrolle: 1925) Tal der Glocken aus Miroirs Nr. 5 (Herstellungsdatum der Klavierrolle: 1928) Resonanz beim zeitgenössischen Publikum Das zeitgenössische Publikum reagierte auf Ravels Werke höchst unterschiedlich. Die Zuhörer, die Konzerte nicht als Fachleute, sondern als Musikliebhaber besuchten, bevorzugten konservative, harmonisch gefällige Werke und waren mit den ungewohnten Harmonien und rhythmischen Wechseln in den Kompositionen Ravels häufig überfordert. Dementsprechend fiel die Resonanz auf Neuaufführungen aus. Anders verhielt es sich bei einigen der sachverständigen Kritiker, die für manche neue Idee Ravels Sympathie bekundeten. Histoires naturelles Die Uraufführung der Histoires naturelles, eines Werks für Gesang und Klavier, fand am 12. Januar 1907 statt. Die musikalische Darbietung wie auch die Artikulation der Gesangtexte waren so ungewöhnlich, dass das Publikum die Interpreten in Buh-Rufen und Pfiffen untergehen ließ. Doch einer erwartungsgemäßen Anfeindung durch Pierre Lalo in Les Temps folgten prompt Kritiken, die das Werk in den höchsten Tönen lobten. Ravel hingegen sah sich durch die einst von Saint-Saëns gegründete Société Nationale de Musique, die sich eigentlich die Förderung französischer Musik auf die Fahne geschrieben hatte, im Stich gelassen. Er beteiligte sich daher 1910 an der Gegengründung der Société Musicale Indépendante. Rapsodie espagnole Am 15. März 1908 kam die Rapsodie espagnole im Rahmen der von Edouard Colonne geleiteten „Concerts Colonne“ erstmals zur Aufführung. Das Abonnement-Publikum hatte wohl angesichts des Musiktitels eine Darbietung in der Art von Saint-Saëns’ Havannaise oder Rimski-Korsakows Capriccio espagnol mit pseudo-folkloristischen, schmissigen Effekten erwartet und sah sich enttäuscht. Unruhe kam auf, Pfiffe ertönten nach der Malagueña, da rief der im Rang sitzende Florent Schmitt: „Noch einmal für die da unten, die nichts kapiert haben.“ Tatsächlich wiederholte Colonne den Satz noch einmal, und auch der Rest wurde vom Publikum schließlich wohlwollender aufgenommen. L’Heure espagnole Das einaktige Bühnenstück L’Heure espagnole wurde am 19. Mai 1911 uraufgeführt und vom Publikum mit Ablehnung quittiert. Die Musikkritik sprach von „musikalischer Pornografie“, Lalo setzte noch eins drauf und erklärte, dass die „mechanische Kälte“ Ravels überhaupt kennzeichnend für alle seine Werke sei. Daphnis et Chloé Die Konzeption des Balletts Daphnis et Chloé begann Ravel 1909 im Auftrag von Sergei Djagilew, des Impresarios der Ballets russes, für den Ravel dann auch seine Klavierduette Ma Mère l’Oye als Ballettmusik umarbeitete. Wie bei vielen seiner Werke schien die Arbeit daran nicht recht vorangehen zu wollen. Am 8. Juni 1912 wurde es im Pariser Théâtre du Châtelet uraufgeführt und zum Misserfolg gestempelt. Boléro Das bekannteste und am häufigsten gespielte Werk Ravels ist der Boléro. Als es am 22. November 1928 als Ballett mit der Tänzerin Ida Rubinstein, die den Anstoß für das Stück gegeben hatte, uraufgeführt wurde, wurde es mit donnerndem Beifall bedacht. Der Weltruhm des Werks war Ravel indessen zeitlebens suspekt; er bezeichnete es als „simple Orchestrationsübung“ und äußerte sich auch sonst distanziert und fast abschätzig dazu: „Mein Meisterwerk? Der Boléro natürlich. Schade nur, dass er überhaupt keine Musik enthält.“ Werkauswahl Die folgende Auswahl der wichtigsten Werke Ravels beruht auf dem von Maurice Marnat zusammengestellten chronologischen Gesamtkatalog der Werke (siehe Weblinks): Klaviermusik Habanera für zwei Klaviere (1895) La parade (1896) Pavane pour une infante défunte (1899; Orchesterfassung 1910) Jeux d’eau (1901) Sonatine pour piano (1903–1905); Sätze: Modéré; Mouvement de menuet; Animé Miroirs (1904–1905); Sätze: Noctuelles; Oiseaux tristes; Une barque sur l’océan (Orchesterfassung 1906); Alborada del gracioso (Orchesterfassung 1918); La vallée des cloches Gaspard de la nuit nach Aloysius Bertrand (1908), Sätze: Ondine; Le gibet; Scarbo Ma mère l’oye, Stücke für Klavier zu vier Händen nach Fabeln von Perrault und Mme. d’Aulnoy (1908–1910); Sätze: Pavane de la belle au bois dormant; Petit poucet; Laideronnette, impératrice des pagodes; Les entretiens de la belle et de la bête; Le jardin féerique Valses nobles et sentimentales (1911; Orchesterfassung 1912) Le Tombeau de Couperin (1914–1917); Sätze: Prélude; Fugue; Forlane; Rigaudon; Menuet; Toccata (Orchesterfassung des 1. und 3.–5. Satzes 1919) Frontispice für zwei Klaviere zu fünf Händen (1918) Kammermusik Violinsonate Nr. 1 (1897) Streichquartett F-Dur (1902–1903); Sätze: Allegro moderato; Assez vif, très rythmé; Très lent; Vif et agité Introduktion und Allegro für Harfe, Flöte, Klarinette, zwei Violinen, Viola und Cello (1905) Klaviertrio a-Moll (1914), Sätze: Modéré; Pantoum. Assez vite; Passacaille. Très large; Final. Animé Sonate für Violine und Cello (1920–1922) Violinsonate Nr. 2 (1923–1927) Orchesterwerke (siehe auch die Orchesterfassungen der Klavierwerke) Shéhérazade, ouverture de féerie für Orchester (1898) Rapsodie espagnole (1907); Sätze: Prélude à la nuit; Malagueña; Habanera; Feria Daphnis et Chloé Orchestersuite Nr. 1 (1911); Sätze: Nocturne avec choeur a cappella ou orchestration seulement; Interlude; Danse guerrière Daphnis et Chloé Orchestersuite Nr. 2 (1912); Sätze: Lever du jour; Pantomime; Danse générale La Valse, choreographisches Gedicht für Orchester (1919–1920) Boléro, Ballettmusik (1928; Fassung für Klavier zu vier Händen 1929) Konzerte und Konzertstücke Tzigane, Rhapsodie für Violine und Luthéal (1924) (auch als Fassung für Violine und Klavier oder Orchester) Klavierkonzert D-Dur für die linke Hand (1929–1930) Klavierkonzert G-Dur (1929–1931) Vokalmusik Ballade de la reine morte d’aimer, Lied mit Klavierbegleitung, Text von Roland de Marès (1893) Les Bayadères für Sopran, gemischten Chor und Orchester (1900) Shéhérazade, Liederzyklus für Sopran oder Tenor und Orchester, Texte von Tristan Klingsor (1903); Sätze: Asie; La flûte enchantée; L’indifférent Histoires naturelles, Liederzyklus für mittlere Singstimme und Klavier nach Texten von Jules Renard (1906); Sätze: Le paon; Le grillon; Le cygne; Le martin-pêcheur; La pintade Vocalise-étude en forme de habanera, Lied für tiefe Singstimme und Klavier (1907) Trois poèmes de Stéphane Mallarmé, Liederzyklus für Singstimme und Pikkoloflöte, zwei Flöten, Klarinetten, Bassklarinette, zwei Violinen, Viola, Cello und Klavier (1913; Fassung für Singstimme und Klavier 1913); Sätze: Soupir; Placet futile; Surgi de la croupe et du bond Drei Lieder für gemischten Chor a cappella, Texte von Ravel (1914–1915; Fassung für mittlere Singstimme und Klavier 1915); Sätze: Nicolette; Trois beaux oiseaux du paradis; Ronde Deux mélodies hébraïques (1914) für Singstimme und Klavier, Sätze: Kaddisch und L'énigme éternelle (jidisches Volkslied) Chansons madécasses, Liederzyklus für Sopran, Flöte, Cello und Klavier nach Texten von Evariste-Désiré Parny de Forges (1925–1926); Sätze: Nahandove; Aoua; Il est doux Don Quichotte à Dulcinée, Liederzyklus für Bariton und Orchester nach Texten von Paul Morand (1932–33); Sätze: Chanson romanesque; Chanson épique; Chanson à boire Bühnenwerke L’Heure espagnole (Die spanische Stunde), Oper, Libretto von Franc-Nohain (1907) Daphnis et Chloé, Ballettmusik (1909–1912) Ma mère l’oye, Ballett für Orchester nach der gleichnamigen Klaviersuite (1911–1912) L’enfant et les sortilèges, lyrische Fantasie nach Texten von Colette mit 21 Rollen für Sopran-, Mezzosopran-, Tenor- und Bass-Stimmen, gemischten Chor, Kinderchor und Orchester (1919–25) Bearbeitungen Cinq mélodies populaires grecques (1904) Claude Debussy: Trois Nocturnes, Fassung für zwei Pianos (1909) Claude Debussy: Prélude à l’après-midi d’un faune, Fassung für Klavier zu vier Händen (1910) Les Sylphides, Orchesterfassung von Klavierstücken von Frédéric Chopin (1914) (Prélude, Op. 28/7; Nocturne, Op. 32/2; Valse, Op. 70/1; Mazurka, Op. 33/2, 67/3; Prélude, Op. 28/7; Valse, Op. 64/2; Grande valse brillante, Op. 18) Robert Schumann: Karneval op. 9 (Orchesterfassung) (1914) Orchesterfassung des Klavierzyklus Bilder einer Ausstellung von Modest Mussorgski (1922) Literatur Siglind Bruhn: Ravels Klaviermusik. Waldkirch: Edition Gorz 2021, ISBN 978-3-938095-28-7. Siglind Bruhn: Ravels Lieder und Opern. Waldkirch: Edition Gorz 2021, ISBN 978-3-938095-29-4. Siglind Bruhn: Ravels Orchester- und Kammermusik. Waldkirch: Edition Gorz 2022, ISBN 978-3-938095-31-7. Jean Echenoz: Ravel. Roman. Deutsch von Hinrich Schmidt-Henkel. Berlin Verlag, Berlin 2007, ISBN 978-3-8270-0693-6 Theo Hirsbrunner: Maurice Ravel. Laaber-Verlag, Laaber 1989, ISBN 3-89007-143-0; 2., erweiterte und überarbeitete Auflage. 2014, ISBN 978-3-89007-253-1. Vladimir Jankélévitch, Willi Reich, Paul Raabe: Maurice Ravel in Selbstzeugnissen und Bilddokumenten. (= Rowohlts Monographien; 13). Rowohlt, Reinbek 1958 (zahlreiche Neuauflagen, zuletzt 1991), ISBN 3-499-50013-2 Roger Nichols: Ravel. Yale University Press, New Haven und London um 2011, ISBN 978-0-300-10882-8 (Inhaltsverzeichnis) Arbie Orenstein: Maurice Ravel. Leben und Werk. Reclam, Stuttgart 1978, ISBN 3-15-010277-4 Roland-Manuel: Ravel. Potsdam, Akademische Verlagsgesellschaft Athenaion 1951 Gerd Sannemüller: Das Klavierwerk von Maurice Ravel. (Versuch einer stilistischen Grundlegung). Dissertation, Kiel 1961 Michael Stegemann: Maurice Ravel. (= Rowohlts Monographien; 538). Rowohlt, Reinbek 1996, ISBN 3-499-50538-X Hans Heinz Stuckenschmidt: Maurice Ravel. Variationen über Person und Werk. Suhrkamp, Frankfurt am Main 1984, ISBN 3-518-36853-2 Willy Tappolet: Maurice Ravel. Leben und Werk. Olten 1950 Stephen Zank: Maurice Ravel. A Guide to Research. Routledge, New York und London 2005, ISBN 0-8153-1618-6 (Biographie, Bibliographie und Werkverzeichnis) Peter Kaminsky: Unmasking Ravel: New Perspectives on the Music (Eastman Studies in Music). University of Rochester Press, Rochester 2011, ISBN 978-1-58046-337-9. (englisch) Jean-François Monnard: Neue kritische Ausgabe der sinfonischen Werke von Maurice Ravel, 10 Bände, Breitkopf & Härtel, Wiesbaden, 2008 bis 2014 Weblinks Literatur über Maurice Ravel in der Bibliographie des Musikschrifttums Marnat-Katalog der Werke von Maurice Ravel (französisch) Biographie von Maurice Ravel (englisch) Biographische Angaben mit Links Piano Society – Ravel (Freie Aufnahmen) Académie internationale de Musique Maurice Ravel in Saint-Jean-de-Luz Maurice Ravels Freunde : Les Amis de Maurice Ravel Einzelnachweise Komponist (Frankreich) Komponist klassischer Musik (20. Jahrhundert) Komponist (Oper) Komponist (Ballett) Person (Baskenland) Franzose Geboren 1875 Gestorben 1937 Mann
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https://de.wikipedia.org/wiki/Atari%20800
Atari 800
Der Atari 800 ist ein auf dem 6502-Mikroprozessor basierender Heimcomputer des US-amerikanischen Herstellers Atari, Inc. Der Atari 800 wurde ab Ende 1979 zunächst nur im US-amerikanischen Versandhandel angeboten und wegen seiner vielseitigen Möglichkeiten zur Erweiterung und damit Zukunftsfähigkeit massiv als „zeitloser Computer“ angepriesen. Nach verschiedenen von Atari angestoßenen Kooperationen im Bildungssektor, der Veröffentlichung von Spiele-Kassenschlagern wie Star Raiders und dem Ausbau des Atari-Händlernetzes gelang es, die Bekanntheit kontinuierlich zu steigern. Verkaufsfördernd kam die ab Mitte 1981 vollzogene Expansion nach Europa hinzu, die schließlich in der bis Ende 1982 währenden Marktführerschaft Ataris gipfelte. Durch den Misserfolg seines Anfang 1983 parallel eingeführten Computermodells Atari 1200XL und den seinen Höhepunkt erreichenden Preiskrieg mit anderen Herstellern, verlor Atari binnen eines Jahres wieder viele seiner Marktanteile hauptsächlich an Commodore. Etwa zeitgleich mit Ankündigung der Modelle Atari 600XL und Atari 800XL stellte man Mitte 1983 die Produktion des Atari 800 ein. Bis etwa Anfang 1985 währende Lagerverkäufe miteingerechnet wurden von den beiden Computermodellen Atari 400 und 800 zusammen insgesamt etwa zwei Millionen Einheiten verkauft. Bereits kurz nach der Veröffentlichung galt der Atari 800 als Meilenstein in der Heimcomputergeschichte: Er habe nach Meinung vieler Autoren durch seine auf Benutzerfreundlichkeit ausgelegte Konstruktion und die robuste Verarbeitung auch völlig unerfahrenen Benutzern einen leichten Einstieg in die bis dahin eher Spezialisten vorbehaltene Computertechnik eröffnet. Geschichte Noch während der letzten Entwicklungsphase für die Videospielekonsole Atari 2600 begann Atari Anfang 1977 mit den Planungsarbeiten für ein Nachfolgemodell. Die Bemühungen der Ingenieure konzentrierten sich dabei hauptsächlich auf die Erweiterung der Grafikfähigkeiten des im Atari 2600 verbauten hochintegrierten Spezialschaltkreises Television Interface Adapter (TIA). Die Verbesserungen versprachen anspruchsvollere Spiele bei gleichzeitig verringertem Aufwand zu ihrer Entwicklung. Entwicklung und Prototypen Ein noch handverdrahteter früher Prototyp des Alphanumeric Television Interface Controller (ANTIC) wurde der Leitung von Atari kurz darauf vorgestellt. Anschließende Machbarkeitsstudien zu möglichen Kombinationen des neuen Spezialbausteins mit weiteren elektronischen Baugruppen zeigten rasch über den Einsatz in einer reinen Spielkonsole hinausgehende Potentiale auf. So schienen eine integrierte Tastatur für Programmierzwecke und die Ansteuerung externer Geräte beispielsweise zum Datentransfer sowohl technisch als auch ökonomisch möglich. Ein modularer Aufbau und die Fähigkeit zur Programmierung waren damals lediglich den in Industrie und Forschung eingesetzten teuren Computern von IBM oder DEC und mit deutlichen Abstrichen den wesentlich günstigeren Heimcomputern wie Altair 8800, TRS-80, PET 2001 und Apple II vorbehalten. Insbesondere letztere krankten jedoch an der Umständlichkeit der Bedienung, der Unzuverlässigkeit der Technik und im Vergleich zu Spielkonsolen der damals neuesten Generation immer noch an der Höhe der Anschaffungskosten. Technisch wenig versierte, jedoch elektronischer Datenverarbeitung gegenüber aufgeschlossene Interessengruppen mit schmalem Geldbeutel blieben so außen vor. Diese Zielgruppe im Auge, verwarfen die Verantwortlichen von Atari rasch die ursprünglichen Pläne für eine auf dem ANTIC basierende neue Spielekonsole zugunsten eines eigenen, preisgünstigen und konzeptionell neuartigen Heimcomputers. Die Benutzung hatte einfach und sicher auch für Anfänger zu sein und das Gerät musste ohne technische Detailkenntnisse des Anwenders mit handelsüblichen Fernsehern betrieben werden können. Daneben sollte die Möglichkeit zum schnellen und bequemen Laden von Spielen und Anwendungsprogrammen ähnlich den von Spielekonsolen bekannten Steckmodulen vorhanden sein. Neben der angestrebten leichten Bedienbarkeit spielten insbesondere niedrige Herstellungskosten des zu entwickelnden Gerätes eine große Rolle; die zunächst geforderte Kompatibilität mit Spielen der Atari-VCS-2600-Konsole verwarfen die Verantwortlichen bereits nach kurzer Zeit. Die daraufhin von den Hauptentwicklern vorgelegten technischen Eckpunkte des neuen Systems wurden von der Firmenleitung im August 1977 für gut befunden und weitere finanzielle Mittel auch zur Aufstockung des Entwicklungspersonals zur Verfügung gestellt. Damit einhergehend erhielt das Heimcomputerprojekt den firmeninternen Codenamen Colleen. Projekt Colleen Mit fortschreitendem Stand der Arbeiten entschieden sich die Verantwortlichen, die Entwicklung zweier unterschiedlicher Ausbaustufen des Heimcomputers zu verfolgen: eine stark abgerüstete Variante hauptsächlich für Zwecke der Unterhaltung und ein anwendungsorientiertes Gerät mit Schreibmaschinentastatur und Möglichkeiten zur Erweiterung. Die Entwicklungsarbeiten für die erste Variante wurde im November in ein separates Projekt mit dem Namen Candy – dem späteren Atari 400 – ausgegliedert, die für das hochwertige Gerät unter dem Namen Colleen weitergeführt. Erste Entwürfe sahen 4 KB Arbeitsspeicher, zwei Steckmodulschächte, eine parallele Schnittstelle für Peripheriegeräte, eine Tastatur und diverse Erweiterungsmöglichkeiten vor. Nachdem die Konstruktion des ANTIC im Januar 1978 abgeschlossen worden war, konzentrierten sich die weiteren Bemühungen auf die Fertigstellung der Spezialbausteine Color Television Interface Adapter (CTIA) und Potentiometer and Keyboard Integrated Circuit (POKEY). Die Entwicklungsarbeiten an den als handverdrahteten Steckplatinen vorliegenden Spezialbausteinen zogen sich bis Ende März hin und kosteten insgesamt mehr als zehn Millionen US-Dollar. Die Abstimmung der Spezialbausteine auf den zwischenzeitlich ausgewählten Hauptprozessor 6502 von MOS wurden mithilfe von Cromencos Computersystem Z-2 durchgeführt. Bis Mitte Juni konnte die Entwicklung der Leiterplatten für den neuen Computer abgeschlossen werden; letzte Arbeiten, die vor allem die Tastatur betrafen, wurden im August beendet. Das äußere Erscheinungsbild des Computers war bereits Ende April festgelegt und nur wenig später das Gehäuse nebst integrierter elektromagnetischer Abschirmung fertiggestellt worden. Parallel zu den noch verbliebenen Arbeiten an einigen mechanischen Komponenten des Computers erfolgte die Sondierung des Marktes für höhere Programmiersprachen. Die Verantwortlichen entschieden sich dabei für BASIC, eine einsteigerfreundliche Sprache, mit der das neue Computersystem durch den Benutzer für eigene Zwecke programmiert und eingesetzt werden kann. Eine Eigenentwicklung durch Atari schied wegen fehlender Kapazitäten bei einer nur kurz zur Verfügung stehenden Frist von sechs Monaten aus. Nachdem der Einsatz des damals marktbeherrschenden Microsoft BASIC an Ataris technischen Erfordernissen gescheitert war, wurde Anfang Oktober 1978 Shepardson Microsystems, Inc. mit der Erstellung eines eigenen, speziell auf die Atari-Computer zugeschnittenen BASIC-Dialektes betraut. Umbenennung in Atari 800 Nach Festsetzung der Konfiguration des Arbeitsspeichers auf marktübliche 8 KB änderte Atari im November 1978 den inoffiziellen Namen Colleen in den direkt an die Speichergröße angelehnten offiziellen Produktnamen Atari 800. Die der Ziffer 8 nachgestellte Doppelnull klassifiziert dabei den Computer als Basisgerät der ihm zugehörigen Peripheriegeräte. Kurz darauf, am 6. Dezember 1978, erfolgte die Verkündung des Heimcomputerprojektes mit seinen beiden Geräten Atari 400 und Atari 800 publikumswirksam in einem Artikel der auflagenstarken New York Times. Einen ersten Blick auf seine neue Produktlinie gewährte Atari Interessenten erstmals im Januar 1979 auf der Winter Consumer Electronics Show in Las Vegas. Der Atari 800 war dort zusammen mit dem dazu passenden Diskettenlaufwerk Atari 810 und dem Drucker Atari 820 zu sehen. Einem größeren Publikum war der Atari 800 erstmals im Mai im Rahmen der 4th West Coast Computer Faire in San Francisco zugänglich. Auf der Summer CES in Chicago wurde die unverbindliche Preisempfehlung in Höhe von 1000 US-Dollar bekanntgegeben. Im Juni wurden letzte Arbeiten abgeschlossen und der Abnahmetest zur elektromagnetischen Verträglichkeit durch die US-amerikanische Federal Communications Commission im August erfolgreich absolviert – eine maßgebliche Voraussetzung zur Verkaufbarkeit des Gerätes in Nordamerika. Die Fertigung der Computer, deren Entwicklung bislang etwa 100 Millionen US-Dollar gekostet hatte, wurde Ataris Fabrik im kalifornischen Sunnyvale übertragen. Die Produktion konnte jedoch erst im Oktober 1979 aufgenommen werden, da die rasch wachsende Heimcomputerbranche ab Spätsommer 1979 unter einer anhaltenden Teileknappheit litt. Vermarktung Bereits geraume Zeit vor dem Verkaufsstart pries der Hersteller seinen Atari 800 unter Anspielung auf die universelle Erweiterbarkeit und damit die langwährende Nutzbarkeit als „Timeless Computer“ an, der für Einsteiger und Spezialisten gleichermaßen geeignet sei („[…] can be used by people with no previous computer experience, although it doesn’t compromise capability for the sophisticated user“). Markteinführung als Bündelangebot Die erste Serie von Geräten wurde ab November 1979 im Rahmen einer Testvermarktung sowohl in der Weihnachtsausgabe des Versandkatalogs als auch in den Fotoabteilungen einiger Ladengeschäfte der Handelskette Sears Roebuck angeboten. Neben dem Computer mit Netzteil, Anschluss- und Anleitungsmaterial erhielt der Käufer für 999,99 US-Dollar einen Programmrekorder Atari 410 und weiteres Zubehör. Dazu zählte die Grundausstattung für das Educational System und die Programmiersprache BASIC beide jeweils in Form eines Steckmoduls nebst zugehörigem Anleitungsmaterial. Kurz nach dem Verkaufsstart begann Atari, seine Geräte und dazugehörige Unterhaltungssoftware wie das Spiel Star Raiders auf Fachmessen vorzustellen. Neben allgemeiner Produktwerbung gelang es damit auch, neue Vertriebskanäle zu erschließen. Begleitet wurden die Präsentationen ab dem zweiten Quartal 1980 durch weitere umfangreiche und langfristig geplante Werbeoffensiven. Nach einer zwischenzeitlichen Preiserhöhung auf 1080 US-Dollar änderte Atari am 1. Juni 1980 zudem die Vermarktungsstrategie für den Atari 800 weg vom Bündelangebot hin zum Einzelgerät. Programmrekorder und Educational System waren nun nicht länger im Lieferumfang enthalten, dafür wurde der ab Werk verbaute Arbeitsspeicher auf zeitgemäße 16 KB erhöht. Ab Mitte 1980 war die Bekanntheit der Atari-Computer so gestiegen, dass auch Dritthersteller vielversprechende Absatzpotentiale sowohl für Hard- als auch Software sahen und ihrerseits Produkte auf den Markt brachten. Erschließung des Bildungssektors Ergänzend zur Herstellung und zum Vertrieb von Unterhaltungssoftware verstärkte Atari die Bemühungen zur Platzierung seiner Heimcomputer in nordamerikanischen Bildungseinrichtungen, einem bislang von Apple II und Commodore PET dominierten Bereich. Dem lag das Kalkül zugrunde, dass Schüler und Studenten im Rahmen von späteren Privatanschaffungen auf das bereits aus der Schule Bekannte und Vertraute – einen Computer von Atari – zurückgreifen würden. Neben speziellen Verkaufskonditionen für das Bildungswesen war mit der Programmreihe Talk & Teach Cassette Courseware bereits frühzeitig auch die passende Software aufgelegt worden. Zudem setzte Atari ab Mitte 1980 verstärkt auf die Zusammenarbeit mit der zu IBM gehörigen Organisation Science Research Associates, die sich der Förderung des computergestützten Unterrichts verschrieben hatte und den Vertrieb für Atari im Bildungssektor übernahm. Im Rahmen dieser Kooperation finanzierte IBM einen Rabatt, der Bildungseinrichtungen von der Grundschule bis hin zur Universität beim Kauf eines Atari-800-Computers einen zusätzlichen kostenfreien Atari 400 gewährte. Atari selbst legte für Schulen wenig später eine ähnliche Preisaktion in Form des 3 for 2 deal auf: Beim Kauf zweier Atari-800- oder Atari-400-Computer erhielt der Käufer einen weiteren Atari 400 gratis dazu. Die für die Jahre 1979 und 1980 angegebenen Verkaufszahlen für die Modelle Atari 400 und Atari 800 zusammengenommen schwanken zwischen 50.000 und 300.000 Geräten. Die Umsätze allein für 1980 beliefen sich auf etwa 20 Millionen US-Dollar. Massenvermarktung Bereits im Laufe des ersten Halbjahres 1981 konnten sich die Atari-Computer trotz permanenter Lieferschwierigkeiten und einiger technischer Probleme bei Zubehörteilen als feste Größen auf dem bislang hauptsächlich von Tandy, Apple und Commodore beherrschten Heimcomputermarkt etablieren. Die von Ataris Computersparte erzielten Umsätze lagen Mitte des Jahres 1981 bei zehn Millionen Dollar – die Summe der durch die laufende Produktion verursachten Verluste belief sich jedoch auf einen ähnlich hohen Betrag. Zur Bewältigung der zunehmenden Nachfrage und zur zügigen Umsetzung der geplanten weltweiten Vermarktung nahm Atari im April personelle Erweiterungen im Firmenmanagement vor. Damit einhergehend führte Ataris individuell auswählbare und speziell auf Techniklaien zugeschnittene Erweiterungspakete für seine Computer ein. Diese „Starter Kits“ enthielten jeweils aufeinander abgestimmte, anschlussfertige Hard- und Software für die Einsatzbereiche Programmieren (Atari Programmer), Unterhaltung (Atari Entertainer), Bildung (Atari Educator) und Netzwerk-Aktivitäten (Atari Communicator). Nur wenig später im August 1981 gelang es bereits, den Umsatz auf 13 Millionen Dollar zu steigern, womit erstmals die Gewinnzone erreicht wurde. Außer in den Ausbau des Hardwaresektors investierte Atari auch in die Fortbildung seines Kundendienstes und der Vertragshändler sowie in die Softwareunterstützung für die Heimcomputer. Dazu zählten die beinahe monatlich erfolgenden Veröffentlichungen neuer hauseigener Programme und Spiele, die von Drittherstellern langerwartete Publikation technischer Dokumentationen und die Unterstützung unabhängiger Programmautoren. Letzteres umfasste die Ausrichtung von offenen Programmierwettbewerben mit entsprechend hoch dotierten Preisen, technische Schulungen in Ataris Acquisition Centers und die Gründung der Publikationsplattform Atari Program Exchange (APX). Durch die Gründung von APX ermöglichte Atari den betriebswirtschaftlich häufig gänzlich unerfahrenen Softwareherstellern den Vertrieb ihrer Programme durch das mittlerweile in Nordamerika voll ausgebaute Atari-Händlernetz. Internationaler Vertrieb Im Fahrwasser der amerikanischen Verkaufserfolge startete Atari im Sommer 1981 die Erschließung des lukrativen europäischen Marktes. Wie in den USA auch wurde die Veröffentlichung in Großbritannien (645 £), Italien (1.980.000 ₤) und den Benelux-Staaten von umfangreichen Werbemaßnahmen im Printbereich und von Präsentationen auf speziellen Ausstellungen begleitet. In Frankreich dagegen begann der Verkauf (7500 F) vermutlich wegen zeitaufwendiger Hardware-Anpassungen an die SECAM-Fernsehnorm erst im September 1982. In Westdeutschland übernahm ab August 1981 die bereits seit 1980 für die Atari-2600-Vermarktung zuständige Atari Elektronik Vertriebsgesellschaft mbH den Vertrieb und den Kundendienst. Die Vermarktung der „Privatcomputer“, so die offizielle Bezeichnung von Atari Deutschland, erforderte erhebliche Investitionen insbesondere für die Werbung, Verkäuferschulungen und Serviceaktivitäten. Analog den Promotionsbemühungen im Videospielebereich schaltete Atari entsprechende Werbung in Printmedien. Neben dem Verkauf im Versandhandel und in Fachgeschäften waren die Rechner auch in größeren Kaufhausketten wie Horten und Karstadt erhältlich. Die unverbindliche Preisempfehlung des Atari 800 mit 16 KB Arbeitsspeicher lag bei 2995 DM, das Diskettenlaufwerk Atari 810 kostete knapp 2000 DM und das BASIC-Steckmodul konnte für 272 DM erworben werden. Vor dem offiziellen Verkaufsstart bot Telectron GmbH bereits im Jahr 1980 die US-amerikanische Ausführung des Atari 800 mit 8 KB Arbeitsspeicher für 4200 DM an. Während der internationalen Expansionsphase reagierte Atari auf die sich immer weiter zuspitzende Konkurrenzsituation vor allem in Nordamerika unter anderem mit technischen Überarbeitungen seiner Computer. Dazu zählte unter anderem ein revisioniertes Betriebssystem für Neugeräte („OS Version B“) und eine fehlerbereinigte Version der Programmiersprache BASIC. Im Geschäftsjahr 1981 konnte Atari so nach eigenen Angaben etwa 300.000 Heimcomputer absetzen, womit sich diese endgültig als Massenware etabliert hatten und Atari zum US-amerikanischen Marktführer aufsteigen ließen. Preiskriege und Marktführerschaft Die Einführung diverser Billigcomputer wie dem Sinclair ZX81 trotzten auch Atari erhebliche Preisreduktionen ab. Einen ersten Nachlass in Höhe von 16 Prozent gewährte Atari im Januar 1982, womit der unverbindliche Verkaufspreis des Atari 800 auf 899 US-Dollar sank. Darüber hinaus erfolgte die Auslieferung fortan in einer silberfarbenen Hochglanzverpackung, wie sie für den Atari 400 bereits ein Jahr zuvor eingeführt worden war. Auch in Westdeutschland zeitigte die aggressive Preispolitik von Commodore ihre Wirkung: Atari Deutschland sah sich im August 1982 zu einer ersten aber drastischen Senkung des Verkaufspreises von 2995 auf 1995 DM gezwungen. Ab Frühherbst 1982 – vermutlich mit dem von Texas Instruments im amerikanischen Heimcomputermarkt begonnenen Preiskrieg – sah Atari von weiteren direkten Preisnachlässen ab und schwenkte vielmehr auf kaufbegleitende Rabattaktionen um: Beim Erwerb von Ataris Hard- und Software wurden den Käufern durch „Softwarecoupons“ Ersparnisse von bis zu 60 US-Dollar auf viele Produkte aus Ataris Programmsortiment ermöglicht. Daneben erhielten Käufer des Atari 800 ab Oktober zwei zusätzliche 16-KB-Speichererweiterungen gratis, womit Atari den Rechner faktisch nur noch in der höchsten Ausbaustufe mit 48 KB Arbeitsspeicher anbot. Parallel zu seinen Rabattaktionen baute Atari im Laufe des Jahres 1982 vor allem in Nordamerika den Kundendienst massiv aus. Die in den USA landesweit eingerichteten Atari Service Center übernahmen fortan Beratungs- und Reparaturdienstleistungen, aber auch die Umrüstung älterer Computer auf den neuen GTIA-Grafikbaustein und das revisionierte Betriebssystem. Sie ermöglichten zudem die durch Ataris Firmenleitung angestrebten profitträchtigen Verkäufe durch große Handelsketten wie J. C. Penney, Kmart und Toys “R” Us, die aufgrund fehlenden qualifizierten Personals keinerlei Beratung oder Garantiedienstleistungen anzubieten in der Lage waren. Diese mittlerweile hauptsächlich auf Massenvermarktung ausgerichtete Verkaufspolitik bescherte Atari im Laufe des Jahres 1982 annähernd 600.000 Heimcomputerverkäufe, wovon auf den Atari 800 allein etwa 200.000 Einheiten entfielen. Mit insgesamt etwa 1,2 Millionen verkauften Geräten der Modelle 400 und 800 konnte Atari damit seine Marktführerschaft erfolgreich verteidigen. Trotz Ataris weltmarktbeherrschender Stellung konnten in Westdeutschland im Laufe des Jahres 1982 nur etwa 2000 Atari-800-Computer verkauft werden. Wegen der Absatzprobleme und des damit verbundenen hohen Preisdrucks amortisierten sich die Investitionen von Atari Deutschland nur schleppend und die Heimcomputersparte entwickelte sich allmählich zum ungeliebten „Stiefkind“ des nationalen Videospiele-Marktführers. Ankündigung der Nachfolger und Ausverkäufe Im März 1983 brachte Atari ein Nachfolgemodell mit zeitgemäßen 64 KB RAM und neuem Gehäusedesign in den Handel. Aufgrund mangelnder Kompatibilität zu seinen Vorgängern war diesem Atari 1200XL jedoch kein großer Erfolg beschieden, sodass er über eine nur sehr kurzzeitige Veröffentlichungsphase in den USA nicht hinauskam. Um so mehr schnellten die Verkäufe des Atari 800 in unerwartete Höhen, da dessen Preis mit Einführung des neuen Gerätes auf 500 US-Dollar gesenkt worden war und er zudem keine Programminkompatibilitäten befürchten ließ. Mit Ankündigung des offiziellen Nachfolgers Atari 800XL auf der Summer CES in Chicago und der damit verbundenen Produktionseinstellung im August beschleunigte sich der Preisverfall immer weiter; im September 1983 schließlich wurden die Geräte für 165 US-Dollar angeboten. Die Modelle 400 und 800 zusammengenommen, verkaufte Atari insgesamt etwa 2 Millionen Geräte. Moderne Nachbauten Die überschaubare Architektur des Systems und umfangreiche Dokumentationen des Herstellers ermöglichen den miniaturisierten Nachbau der Elektronik des Atari 800 und dazu kompatibler Modelle mit heutigen technischen Mitteln bei gleichzeitig überschaubarem Aufwand. Eine solche moderne Realisierung erfolgte erstmals 2014 – wie bei anderen Heimcomputersystemen auch – als Implementierung auf einem programmierbaren Logikschaltkreis (FPGA) nebst Einbettungssystem. Die Nachbildung mittels FPGA-Technologie war zunächst lediglich als technische Machbarkeitsstudie gedacht, stellte jedoch im Nachhinein auch ihren praktischen Nutzen unter Beweis: Durch die Miniaturisierung und die Möglichkeit des Batteriebetriebs ist sie eine leicht verstaubare, zuverlässig arbeitende und transportable Alternative zur originalen schonenswerten Technik. Technische Daten Das Gehäuse des Atari 800 enthält insgesamt drei Leiterplatten und ein stabiles Aluminiumgussgehäuse zur Abschirmung der vom Computer verursachten elektromagnetischen Störfelder. Die Hauptbestandteile der größten Platine bilden der Spezialbaustein POKEY sowie die Ein-/Ausgabebaugruppen nebst Peripherieanschlüssen. Daneben stellt sie als Bauelementeträger Steckplätze für die kleineren Platinen bereit. Diese enthalten die Prozessor-Baugruppe mit 6502-CPU (englisch Central Processing Unit) nebst den Spezialbausteinen GTIA sowie ANTIC und die Baugruppen zur Spannungsregelung plus Fernsehsignalerzeugung. Der Festwertspeicher (ROM) wie auch der Arbeitsspeicher sind im Erweiterungsschacht in Form von Steckkarten untergebracht. Zur Grundausstattung gehörte neben dem Computer ein externes Netzteil, ein Antennenkabel nebst Antennenschaltbox und die Bedienungsanleitung für das Gerät. CPU- und 16-KB-RAM-Karte eines Atari 800. Zum Identifizieren der einzelnen Bauteile diese mit dem Mauszeiger überfahren und für weitere Informationen ggf. anklicken. Hauptprozessor Der Atari 800 basiert auf dem 8-Bit-Mikroprozessor MOS 6502, der häufig in zeitgenössischen Computern eingesetzt wurde. Die CPU kann auf einen Adressraum von 65536 Byte zugreifen, was auch die theoretisch mögliche Obergrenze des Arbeitsspeichers von 64 Kilobytes (KB) festlegt. Der Systemtakt beträgt bei PAL-Geräten 1,77 MHz, für solche mit NTSC-Ausgabe dagegen 1,79 MHz. Spezialbausteine zur Erzeugung von Grafik und Ton Wesentlicher Bestandteil der Rechnerarchitektur sind die drei von Atari entwickelten Spezialbausteine Alphanumeric Television Interface Controller (ANTIC), Graphic Television Interface Adapter (GTIA) mit seinem Vorläufer Color Television Interface Adapter (CTIA) und Potentiometer And Keyboard Integrated Circuit (POKEY). Sie sind funktionell derart konzipiert, dass sie innerhalb ihres Aufgabenbereiches flexibel einsetzbar sind und gleichzeitig die CPU entlasten. Die beiden Grafikbausteine ANTIC und CTIA/GTIA erzeugen das am Fernseher oder Monitor angezeigte Bild. Dazu sind zuvor vom Betriebssystem oder den Benutzer im Arbeitsspeicher entsprechende Daten in der Form der „Display List“ zu hinterlegen. Der CTIA/GTIA erlaubt unter anderem das Integrieren von maximal acht unabhängigen aber jeweils einfarbigen Grafikobjekten, den Sprites. Diese im Atari-Jargon auch „Player“ und „Missiles“ genannten Objekte werden gemäß benutzerdefinierbaren Überlappungsregeln in das vom ANTIC erzeugte Hintergrundbild kopiert und einer Kollisionsprüfung unterzogen. Dabei wird festgestellt, ob sich die Sprites untereinander oder bestimmte Teile des Hintergrundbildes („Playfield“) berühren. Diese Fähigkeiten wurden – wie sich bereits anhand der Namensgebung „Playfield“, „Player“ und „Missiles“ abzeichnet – zur vereinfachten Erstellung von Spielen mit interagierenden Grafikobjekten und schnellem Spielgeschehen entwickelt. Die Fähigkeiten der beiden Spezialbausteine ANTIC und CTIA/GTIA zusammengenommen, verleihen den Darstellungsmöglichkeiten der Atari-Rechner eine von anderen damaligen Heimcomputern unerreichte Flexibilität. Im dritten Spezialbaustein POKEY sind weitere elektronische Komponenten zusammengefasst. Diese betreffen im Wesentlichen die Tonerzeugung für jeden der vier Tonkanäle, die Tastaturabfrage und den Betrieb der seriellen Schnittstelle Serial Input Output (SIO) zur Kommunikation des Rechners mit entsprechenden Peripheriegeräten. Durch die hochintegrierte Ausführung (LSI) vereinen die Spezialbausteine viele elektronische Komponenten in sich und senken dadurch die Anzahl der im Rechner benötigten Bauteile, was wiederum eine nicht unerhebliche Kosten- und Platzersparnis mit sich bringt. Nicht zuletzt weil ihre Konstruktionspläne nie veröffentlicht wurden, waren sie mit damaliger Technik nicht wirtschaftlich zu kopieren, womit der in der Heimcomputerbranche durchaus übliche illegale Nachbau von Computern für den Atari 800 ausgeschlossen werden konnte. Die Bildschirmnormen PAL, NTSC und SECAM werden durch unterschiedliche externe elektronische Beschaltungen der CPU, entsprechend modifizierte Spezialbausteine ANTIC (NTSC-Version mit Teilenummer C012296, PAL-Version mit C014887) und GTIA (NTSC-Version mit Teilenummer C014805, PAL-Version mit C014889, SECAM-Version mit C020120) sowie verschiedene darauf abgestimmte Versionen des Betriebssystems realisiert. Speicher und Speicheraufteilung Der von der CPU und ANTIC ansprechbare Adressraum segmentiert sich beim Atari 800 in verschiedene Abschnitte unterschiedlicher Größe. Aus praktischen Gründen ist es üblich, für deren Adressen anstelle der dezimalen Notation die hexadezimale zu verwenden. Ihr wird zur besseren Unterscheidbarkeit üblicherweise ein $-Symbol vorangestellt. Den Adressen von 0 bis 65535 in dezimaler Notation entsprechen im hexadezimalen System die Adressen $0000 bis $FFFF. Der 32 KB große Bereich von $0000 bis $7FFF ist ausschließlich für Arbeitsspeicher vorgesehen und in der kleinsten Ausbaustufe des Atari 800 mit 16 KB RAM ausgestattet. Darüber hinaus sind Erweiterungen bis beispielsweise 48 KB möglich, wobei die belegten Speicheradressen dann bis $BFFF reichen. Nach dem Einfügen eines Steckmoduls wird der 8 KB große, inmitten des Arbeitsspeichersegments gelegene Bereich von $8000 bis $9FFF abgeschaltet und dort die im Steckmodul befindlichen ROMs eingeblendet. Damit stehen bei der Verwendung steckmodulbasierter Programme wie beispielsweise von Atari-BASIC etwa 8 KB Arbeitsspeicher weniger zur Verfügung. Die Adressen der Spezialbausteine und anderer Hardwarebestandteile befinden sich innerhalb eines von $D000 bis $D7FF reichenden Segmentes, unmittelbar gefolgt von den mathematischen Fließkommaroutinen ($D800 bis $DFFF) und dem Betriebssystem ($E000 bis $FFFF). Der Bereich von $C000 bis $CFFF ist für später durch Atari zu ergänzende Systemsoftware vorgesehen, kann aber auch durch Arbeitsspeicher oder alternative Betriebssystemkomponenten genutzt werden. Nach dem Einschalten des Rechners liest die CPU zunächst die Inhalte der ROM-Bausteine mit dem Betriebssystem aus, womit der Atari 800 nebst angeschlossenen Peripheriegeräten initialisiert wird. Sind keine Steckmodule mit ausführbaren Inhalten vorhanden, wird vom Betriebssystem das sogenannte Memo Pad gestartet. Es handelt sich dabei um ein rudimentäres Texteingabeprogramm ohne weitere Möglichkeiten wie etwa die des Speicherns. Schnittstellen für Ein- und Ausgabe Als Verbindungen zur Außenwelt stehen vier Kontrollerbuchsen an der Vorderseite des Gehäuses, ein koaxialer HF-Antennenanschluss für den Fernseher, ein Schacht zur ausschließlichen Verwendung von ROM-Steckmodulen sowie eine Buchse der proprietären seriellen Schnittstelle (Serial Input Output, kurz SIO) zur Verfügung. Letztere dient dem Betrieb von entsprechend ausgestatteten „intelligenten“ Peripheriegeräten mit Identifikationsnummern. Dabei kommt ein von Atari speziell für diesen Zweck entwickeltes Übertragungsprotokoll und Steckersystem zum Einsatz. Drucker, Diskettenlaufwerke und andere Geräte mit zwei SIO-Buchsen können so mit nur einem einzigen Kabeltyp „verkettet“ angeschlossen werden. Dabei dient jeweils eine der beiden Buchsen zur Kommunikation des Geräts mit dem Computer (serial bus input) und die verbleibende zum Anschluss und Verwalten eines weiteren Geräts (serial bus extender). Die in vielen anderen zeitgenössischen Computersystemen verwendeten Standardschnittstellen RS-232C (seriell) und Centronics (parallel) werden durch die extra zu erwerbende Schnittstelleneinheit Atari 850 zur Verfügung gestellt. Ein- und Ausgänge des Atari 800. Zum Identifizieren der einzelnen Bauteile diese mit dem Mauszeiger überfahren und für weitere Informationen ggf. anklicken. Peripheriegeräte Der Atari 800 ist grundsätzlich mit allen von Atari auch später veröffentlichten Peripheriegeräten für die XL- und XE-Reihe betreibbar, die zum Anschluss nicht den bei XL- und XE-Computern herausgeführten Parallelbus benötigen. Im Folgenden wird ausschließlich auf die von Ende 1979 bis Ende 1983 erhältlichen eingegangen. Massenspeicher In Zusammenhang mit vor allem westlichen Heimcomputern der 1980er Jahre kamen zur Datensicherung hauptsächlich Kassettenrekorder und Diskettenlaufwerke, im professionellen Umfeld bei den Personalcomputern zunehmend auch Fest- und Wechselplattenlaufwerke zum Einsatz. Die günstigste Variante der Datenaufzeichnung durch Kompaktkassetten hat im Allgemeinen den Nachteil niedriger Datenübertragungsraten und damit langer Ladezeiten, wohingegen die wesentlich schnelleren und verlässlicheren Disketten- und Plattenlaufwerke sehr viel teurer in der Anschaffung waren. Bei Veröffentlichung des Atari 800 standen ihm Kassetten- und wenig später auch Disketten- und Festplattensysteme als Massenspeicher zur Verfügung. Kassettensysteme Im Gegensatz zu anderen zeitgenössischen Heimcomputern wie beispielsweise dem TRS-80 oder dem Sinclair ZX81 kann der Atari 800 zum Speichern von Daten nicht mit handelsüblichen Kassettenrekordern betrieben werden. Vielmehr benötigt er ein auf seine serielle Schnittstelle abgestimmtes Gerät – den Atari-410-Programmrekorder. Die durchschnittliche Datenübertragungsrate beträgt dabei 600 Bit/s; auf einer 30-Minuten-Kassette finden 50 KB an Daten Platz. Daneben verfügt der Atari 410 noch über die Besonderheit eines Stereo-Tonkopfes, wodurch parallel zum Lesevorgang das Abspielen von Musik oder gesprochenen Benutzungsanweisungen möglich ist. Aus Gründen der Kosten- und Platzersparnis ist im Gerät kein Lautsprecher verbaut, die Audiosignale werden vielmehr über das SIO-Kabel via POKEY am Fernsehgerät ausgegeben. Auch ist keine SIO-Buchse im Atari-410-Programmrekorder verbaut, so dass er stets als letztes Glied in der Kette von Peripheriegeräten anzuschließen ist. Diskettensysteme Zusammen mit dem Atari-410-Programmrekorder war kurz nach Markteinführung von Atari 400 und 800 auch ein auf Ataris SIO-Schnittstelle abgestimmtes Diskettenlaufwerk erhältlich, die Floppystation Atari 810. Mit dem Atari-810-Diskettenlaufwerk können 5¼″-Disketten einseitig in einfacher Schreibdichte mit 720 Sektoren à 128 Bytes beschrieben werden, womit sich pro Diskettenseite 90 KB Daten abspeichern lassen. Die mittlere Datenübertragungsrate beträgt etwa 6000 Bit/s, das Zehnfache dessen, was der Datenrekorder Atari 410 in derselben Zeit zu übertragen in der Lage ist. Während des gesamten Produktionszeitraumes wurden vom Hersteller an den Laufwerken mehrfach Änderungen vorgenommen. So existieren beispielsweise Ausführungen mit teilweise fehlerhafter Systemsoftware und solche mit verschiedenen Laufwerksmechaniken. Vorder- und Rückansicht des Diskettenlaufwerks Atari 810 in der „Garagentor“-Ausführung, d. h. mit einer Laufwerksmechanik des Herstellers Tandon. Zum Identifizieren der einzelnen Bauteile diese mit dem Mauszeiger überfahren und für weitere Informationen ggf. anklicken. Neben der Diskettenstation 810 war für kurze Zeit in Nordamerika ein weiteres Gerät in Form des wesentlich leistungsfähigeren Atari-815-Diskettenlaufwerks erhältlich. Es verfügt über zwei Laufwerksmechaniken, wobei jede zudem mit doppelter Schreibdichte operiert und so pro 5¼″-Diskettenseite 180 KB Daten gespeichert werden können. Aufgrund der damit verbundenen komplizierten Konstruktion war lediglich eine manuelle Herstellung möglich. Durch den daraus resultierenden hohen Preis von 1500 US-Dollar bei gleichzeitig großer Fehleranfälligkeit wurde das Gerät nach Auslieferung nur geringer Stückzahlen in Höhe von etwa 60 Exemplaren von Atari aus dem Sortiment genommen. Ab Mitte 1982 erschien eine Vielzahl von Atari-kompatiblen Diskettenlaufwerken diverser Dritthersteller. Dazu zählen unterschiedlich leistungsstarke Geräte von Percom, Laufwerke mit zusätzlicher Datenspuranzeige von Rana und auch Doppellaufwerke von Astra. Festplattensysteme Etwa Mitte des Jahres 1982 stellte das US-amerikanische Unternehmen Corvus 5¼″-Festplattenmodelle mit Speicherkapazitäten von 5 bis 20 MB für den Atari 800 vor. Im Gegensatz zu Ataris Peripheriegeräten wie beispielsweise dem Diskettenlaufwerk 810 erfolgt der Anschluss nicht über die serielle Schnittstelle. Vielmehr werden zwei der vier Joystickbuchsen durch entsprechende Hard- und Software von Corvus für den Datenaustausch mit dem Festplattenlaufwerk zweckentfremdet. Durch die Verkettung von bis zu vier Corvus-Laufwerken kann eine maximale Speicherkapazität von 80 MB erreicht werden. Neben der deutlich erhöhten Speicherkapazität bieten die Festplatten im Vergleich zum Diskettenlaufwerk Atari 810 eine deutlich kürzere mittlere Zugriffszeit und eine wesentlich größere Verlässlichkeit, was ein effektiveres Arbeiten ermöglicht. Daneben erlaubt eine damals separat von Corvus vertriebene Erweiterung namens Corvus Multiplexer local network den gleichzeitigen Anschluss mehrerer Atari-800-Computer an ein und dieselbe Festplatte. Diese Netzwerkfähigkeit nutzten beispielsweise der computergestützte Unterricht in diversen Schulen und größere Mailboxen. Der Preis des günstigsten Corvus-Laufwerkes betrug zusammen mit der benötigten Ansteuerelektronik und Software bei Markteinführung 3195 US-Dollar. Aufgrund der damals eingesetzten vielfältigen Kopierschutzmechanismen funktionierten nur die wenigsten Programme ohne zusätzliche Modifikationen zusammen mit den Festplatten von Corvus. Das 1983 von einem weiteren Drittanbieter vorgestellte Integrator board behob diese Schwierigkeiten und erlaubt zudem das Benutzen der Festplattenlaufwerke, ohne zuvor deren Ansteuerungssoftware von einem Diskettenlaufwerk laden zu müssen. Ausgabegeräte Die Bildausgabe am Atari 800 kann an einem Monitor oder via eingebautem HF-Modulator an einem handelsüblichen Farb- oder Schwarz-Weiß-Fernsehgerät erfolgen. Zur schriftlichen Fixierung von Text und Grafik dienen der Thermodrucker Atari 822 und die nadelbasierten Modelle Atari 820 und Atari 825. Drucker von Fremdherstellern können nur mithilfe von Zusatzgeräten betrieben werden, da der Atari 800 nicht über entsprechende Standardschnittstellen verfügt. Abhilfe lässt sich durch die Zwischenschaltung eines Atari-850-Schnittstellenmoduls schaffen, womit RS-232- und Centronics-Drucker von Epson, Mannesmann und weiteren betrieben werden können. Daneben existieren von Fremdherstellern eine Fülle von Ausgabezusätzen: Angefangen bei der zur Sprachausgabe gedachten The Voicebox von The Alien Group über eine selbstzubauende 3D-Brille zum Betrachten von stereografischen Inhalten am Fernseher bis hin zum programmierbaren Robotergreifarm werden alle damals interessierenden Teilbereiche abgedeckt. Eingabegeräte Die Schreibmaschinentastatur des Atari 800 enthält insgesamt 56 Einzeltasten, eine Leer- und vier Funktionstasten. Als Erweiterung zur Tastatur bot Atari einen externen Ziffernblock mit der Bezeichnung CX85 zur vereinfachten Eingabe von Ziffern zum Gebrauch mit diversen Anwenderprogrammen wie beispielsweise Tabellenkalkulationen oder Buchhaltungsprogrammen an. Sämtliche weitere Eingabegeräte werden wie der Ziffernblock auch an eine oder mehrere der vier an der Vorderseite des Computergehäuses vorhandenen Kontrollerbuchsen angeschlossen. Dazu zählen Joysticks verschiedenster Hersteller, Paddle-Controller, spezielle Kleintastaturen, der Trackball-Controller von TG Products und Grafiktabletts von Kurta Corporation und Koala Technologies Corp. Erweiterungen Der Atari 800 wurde von vornherein als erweiterbares System konzipiert. Dazu steht ein leicht zugänglicher Erweiterungsschacht mit insgesamt vier Steckplätzen zur Verfügung, wobei einer der Steckplätze durch die Karte mit dem Betriebssystem ständig belegt ist. Die restlichen drei erlauben die Aufnahme von Speicheraufrüstungen oder 80-Zeichen-Karten. Die nachfolgenden Ausführungen beschränken sich auf die am häufigsten in zeitgenössischen Fachzeitschriften vorgestellten kommerziellen Produkte. Arbeitsspeicher Mit dem anfänglich verbauten Arbeitsspeicher in Höhe von 8 KB war kaum mehr als Spielen möglich, denn bei der Benutzung von BASIC reicht der Speicherplatz nicht einmal für die Einbindung der höchstaufgelösten Grafikstufe. Wenn zum Laden und Abspeichern der erstellten BASIC-Programme ein Diskettenlaufwerk benutzt werden soll, wird mit den später ausgelieferten 16 KB RAM ebenfalls schnell die Kapazitätsgrenze erreicht. Ursächlich hierfür ist das speicherintensive Diskettenoperationssystem (DOS), das neben dem BASIC-Programm des Anwenders einen großen Teil des Arbeitsspeichers für sich beansprucht. Beim Atari 800 kann jedoch mithilfe der leicht zugänglichen Erweiterungsschächte und den von Atari bereitgestellten, mit maximal 16 KB RAM bestückten Karten problemlos auf komfortable 48 KB Arbeitsspeicher aufgerüstet werden. Der Nachteil des maximalen Speicherausbaus mit ausschließlich 16-KB-Steckkarten ist die damit verbundene vollständige Belegung des Erweiterungschachtes. Es stehen somit keine weiteren Steckplätze für beispielsweise 80-Zeichen-Karten zur Verfügung. Aus diesem Grunde brachten Anfang 1981 Dritthersteller wie Mosaic und Axlon erste 32-KB-RAM-Karten auf den Markt. Ende 1981 kamen Modelle hinzu, die mithilfe technischer Raffinessen (Speicherbankumschaltung) bis zu 128 KB Arbeitsspeicher bereitstellten. Diese RAM-Disk-Systeme emulieren ein oder mehrere Diskettenlaufwerke mit einer Datenübertragungsrate, die die des Atari-810-Diskettenlaufwerkes um das Zwanzigfache übersteigen können. 80-Zeichen-Karten Für eine übersichtlichere und weniger ermüdende Anzeige der Bildinhalte dienen die für den Atari 800 produzierten 80-Zeichen-Karten. Aufgrund der hohen horizontalen Auflösung von 560 Bildpunkten sind diese nicht zum Betrieb mit einem Fernseher geeignet, sondern erfordern entsprechende Computermonitore. Die Ende 1982 von der Firma Bit3 veröffentlichte Karte Full-View 80 wird im letzten der Erweiterungschächte platziert. Per Befehlsaufruf kann der 80-Zeichen-Modus aktiviert werden, wobei ANTIC und GTIA abgeschaltet werden und der auf der Steckkarte befindliche Grafikprozessor Synertek 6545A-1 die Bilderzeugung übernimmt. Die entsprechende Software ist im Festwertspeicher der Steckkarte enthalten, im Gegensatz zu der später von Austin Franklin Associates herausgebrachten Erweiterung Austin-80 Video Processor. Deren Ansteuerungssoftware ist auf einem für den rechten Schacht bestimmten Steckmodul untergebracht. Software Wie bei anderen Heimcomputern der 1980er Jahre auch erfolgte der Vertrieb kommerzieller Software auf verschiedenen Datenträgern. Die insbesondere bei Spieleherstellern beliebten preiswerten Kompaktkassetten waren durch die starke mechanische Beanspruchung des Magnetbandes allerdings sehr anfällig für Fehler und ihr Einsatz war oft mit langen Ladezeiten verbunden. Zudem sind mit Datasetten bestimmte Betriebsarten wie die beispielsweise zum Betrieb von Datenbanken vorteilhafte relative Adressierung nicht möglich. Bei den in der Herstellung vielfach teureren Steckmodulen dagegen standen die darin enthaltenen Programme sofort nach dem Einschalten des Computers zur Verfügung, was insbesondere bei Systemsoftware und oft genutzten Anwendungen von großem Vorteil war. Den besten Kompromiss zwischen Ladezeit, möglichen Betriebsarten, Verlässlichkeit und Speicherkapazität erzielten die Disketten, deren Verwendung bei Veröffentlichung des Atari 800 durch das 810-Diskettenlaufwerk unterstützt wurde. Die Programmpalette für den Atari-800-Computer umfasste neben der von Atari und APX vertriebenen Auswahl kommerzieller Programme auch von Drittherstellern entwickelte und in Zeitschriften und Büchern publizierte Software (Listings) zum Abtippen. Die kommerziellen Programme wurden auf Steckmodul, Diskette und Kassette angeboten. Von der in Umlauf befindlichen Software machten illegale Kopien („Raubkopien“) stets einen großen Teil aus und stellten damit kleinere Softwareentwickler häufig vor existentielle wirtschaftliche Schwierigkeiten. Daraufhin wurden zunehmend Kopierschutzsysteme insbesondere bei Spielen als der meistverkauften Software eingesetzt. Systemprogramme Die Initialisierung und Konfiguration der Atari-800-Hardware fällt in den Aufgabenbereich des im Festwertspeicher untergebrachten Operating System (OS), des Betriebssystems. Nachdem zahlreiche Fehler bekannt geworden waren, veröffentlichte Atari mit OS-B im Jahr 1982 eine fehlerbereinigte Version. Die Unterprogramme des 10 KB umfassenden Betriebssystems steuern verschiedene Systemprozesse, die auch vom Benutzer angestoßen werden können. Dazu gehören die Durchführung von Ein- und Ausgabeoperationen wie etwa die Tastatur- und Joystickabfrage, Fließkommaberechnungen, die Abarbeitung von Systemprogrammen nach Unterbrechungen (Interrupts) und die Bereitstellung eines Bildschirmtreibers zum Erzeugen der verschiedenen Grafikmodi. Die Startadressen der einzelnen Unterprogramme sind in einer Sprungtabelle zusammengefasst, um die Kompatibilität mit späteren Betriebssystem-Revisionen oder neuen Versionen zu wahren. Zur Abgrenzung vom Betriebssystem der später erschienenen XL- und XE-Modelle wird das OS des Atari 400 häufig auch als Oldrunner bezeichnet. Programmiersprachen und Anwendungsprogramme Die Bearbeitung benutzerspezifischer Aufgabenstellungen erfordert häufig speziell darauf zugeschnittene Softwarelösungen, die Anwendungsprogramme. Existieren diese nicht oder können sie aus technischen oder wirtschaftlichen Gründen nicht eingesetzt werden, kommen geeignete Programmiersprachen zum Einsatz. Insbesondere in den ersten Jahren nach Markteinführung des Atari 800 mussten viele Programme durch den Benutzer in Eigenregie erstellt werden. Assemblersprache Die Erstellung zeitkritischer Actionspiele und beispielsweise Anwendungen in der Regelungstechnik erforderten Anfang der 1980er Jahre eine optimale Nutzung der Hardware. Im Heimcomputerbereich war dies ausschließlich durch die Verwendung von Assemblersprache mit entsprechenden Übersetzerprogrammen, den Assemblern, möglich. Die Auslieferung von Assemblern erfolgte in vielen Fällen mit einem zugehörigen Editor zur Eingabe der Programmanweisungen („Sourcecode“), häufig auch als Programmpaket mit Debugger und Disassembler zur Fehleranalyse. Im professionellen Entwicklerumfeld kamen vielfach Cross-Assembler zum Einsatz. Damit war es möglich, ausführbare Programme für Heimcomputer auf leistungsfähigeren und komfortabler zu bedienenden Fremdcomputerplattformen zu erzeugen. Kurz nach Veröffentlichung der Atari-Computer war lediglich der auf Steckmodul ausgelieferte langsame Assembler Editor von Atari erhältlich. Er bot wenig Komfort und konnte daher nur für kleinere Projekte sinnvoll eingesetzt werden. Im Gegensatz zu anderen Assemblern erlaubte er jedoch das Abspeichern der erstellten Quelldateien und ausführbaren Programme auf Kassette, was insbesondere für viele Atari-800-Benutzer ohne Diskettenstation von Vorteil war und sie so über die Nachteile leicht hinwegsehen ließ. Die für professionelle Programmentwicklung benötigten Assembler standen erst später mit Synassembler (Synapse Software), Atari Macro Assembler (Atari), Macro Assembler Editor (Eastern Software House), Edit 6502 (LJK Enterprises) und dem leistungsfähigen MAC 65 (Optimized Systems Software) zur Verfügung. Programmiereinsteiger zogen in vielen Fällen die übersichtlichen und einfach zu bedienenden, dafür aber weniger leistungsfähigen Programmier-Hochsprachen vor. Interpreter-Hochsprachen Dem von Atari veröffentlichten BASIC standen zwei weitere zur Seite: Das den damaligen Quasi-Standard bildende Microsoft BASIC und ein zum Atari BASIC abwärtskompatibles Produkt mit dem Namen BASIC A+ von Optimized System Software. Insbesondere BASIC A+ enthält erweiterte Editiermöglichkeiten, Vereinfachungen in der Befehlsstruktur und es ergänzt viele im Atari- und Microsoft-BASIC nicht implementierte Leistungsmerkmale. Dazu zählt beispielsweise eine bequeme Benutzung der Sprites („Player-Missiles-Grafik“) durch eigens dafür bereitgestellte Befehlswörter. Im Gegensatz zum Atari 400 erlaubt der Atari 800 den gleichzeitigen Betrieb zweier, jeweils für die verschiedenen Schächte speziell ausgelegter Steckmodule. So kann beispielsweise mithilfe des Programms The Monkey Wrench II das Atari BASIC um verschiedene Befehle erweitert werden. Nachteilig auf die Einsetzbarkeit von BASIC-Programmen wirkten sich die in der Natur des Interpreters liegenden prinzipiellen Beschränkungen wie etwa die geringe Ausführungsgeschwindigkeit und der große Arbeitsspeicherbedarf aus. Diese Nachteile können durch spezielle Programme, BASIC-Compiler, abgemildert werden. Dabei werden ausführbare Maschinenprogramme erzeugt, die ohne BASIC-Interpreter lauffähig sind und damit häufig eine schnellere Ausführung erlauben. Für das Atari BASIC stehen mit ABC BASIC Compiler (Monarch Systems), Datasoft BASIC Compiler (Datasoft) und BASM (Computer Alliance) verschiedene Compiler zur Verfügung. Neben der Programmiersprache BASIC in ihren verschiedenen Dialekten war mit Verkaufsstart des Atari 800 die Interpretersprache Logo erhältlich. Unterstützt durch Elemente wie die turtle graphics (Schildkrötengrafik) ist damit eine kindgerechte und interaktive Einführung in die Grundlagen der Programmierung möglich. Ähnlich gelagert in ihren Eigenschaften ist die später in den Handel gebrachte Programmiersprache Atari PILOT. Mit QS-Forth (Quality Software), Extended fig-Forth (APX) und Data-Soft Lisp (Datasoft) reihen sich weitere Programmiersprachen in die Produktpalette für den Atari 800 ein. Compiler-Hochsprachen Als Mittelweg zwischen Interpreter-Hochsprache (langsam in der Ausführung, aber gut lesbare Sourcecodes und einfache Fehleranalyse) und Assemblersprache (schwer zu erlernen und umständlich zu handhaben, aber Anfang der 1980er Jahre alternativlos zur Erzeugung schneller und speichereffizienter Programme) etablierten sich auch im Heimcomputerbereich im Laufe der 1980er Jahre die Compiler-Hochsprachen. Die Ausführungsgeschwindigkeit der damit erzeugten Maschinenprogramme war im Vergleich zu interpretierten Programmen wie beim eingebauten BASIC sehr viel größer, reichte aber nicht ganz an die von Assemblern erzielte heran. Die Geschwindigkeitsnachteile gegenüber assemblierten Programmen wurden jedoch vielfach zugunsten eines leichter zu wartenden Quelltextes in Kauf genommen. Im Laufe der Produktlebenszeit bis Ende 1983 war für die Atari-800-Anwender als Compilersprache lediglich APX Pascal erhältlich. Anwendungssoftware Die Programmpalette für die Atari-Computer umfasst neben den Programmiersprachen zum Erstellen eigener Applikationen eine im Vergleich zum zeitgenössischen Konkurrenten Apple II lediglich kleine Auswahl an vorgefertigter kommerzieller Anwendungssoftware. Zu den bekanntesten Anwendungsprogrammen zählen VisiCalc (Visicorp, Tabellenkalkulation), The Home Accountant (Continental Software, Buchführung), Atari Writer (Atari, Textverarbeitung), Bank Street Writer (Broderbund, Textverarbeitung) und Letter Perfect (LJK Enterprises, Textverarbeitung). Daneben wurde der Atari 800 auch für Online-Anwendungen eingesetzt, wozu vor allem Banking mit der Pronto-Software und der Betrieb von Mailboxen durch diverse auch selbstgeschriebene Programme zu zählen ist. Darüber hinaus ermöglichte vermutlich eigenentwickelte Anwendungssoftware einen Einsatz als offiziellen Computer der Tennisorganisation ATP, im Logistikbereich des Flugzeugträgers USS Nimitz, zur Erzeugung von Bühnenbildern für die deutsche Musikgruppe Kraftwerk und als Simulationscomputer zur Ausbildung von Mitarbeitern eines kalifornischen Meeresforschungsinstituts. Lernprogramme Es existiert eine Vielzahl an Programmen, die dem computergestützten Vermitteln von Lehrinhalten und seiner anschließenden interaktiven Abfrage dienen. Das zu vermittelnde Wissen wird in spielerischer Form mit ständig steigendem Schwierigkeitsgrad präsentiert, um den Lernenden anhaltend zu motivieren. Dabei wird großer Wert auf eine altersgerechte Darbietung gelegt, die von Kleinkindern bis hin zu Studenten reicht. Bei den Jüngsten kommen häufig animierte Geschichten mit comicartigen Charakteren als begleitende Tutoren zum Einsatz, bei Jugendlichen werden abzufragende Lehrinhalte in Abenteuerspiele oder actionsreiche Weltraumabenteuer gekleidet, bei den höherstufigen Lehrinhalten für Studenten und Erwachsene überwiegt hingegen meist lexikalisch präsentiertes Wissen mit anschließender Abfrage nebst Erfolgsbilanzierung. Die von der Software abgedeckten Lerngebiete erstrecken sich auf Lesen und Schreiben, Fremdsprachen, Mathematik, Technik, Musik, Geographie, Demografie, Tippschulen und Informatik. Zu den bekanntesten Herstellern zählen Atari, APX, Dorsett Educational Systems, Edufun, PDI und Spinnaker Software. Spiele Den mit Abstand größten Teil der sowohl kommerziellen als auch frei erhältlichen Atari-Software stellen die Spiele dar. Zu den frühen Shoot-’em-up-Spielen wie etwa Star Raiders oder der Brettspieleumsetzung 3-D Tic-Tac-Toe kamen bereits ein Jahr später weitere Actionspiele, Adventures und Arcade-Umsetzungen hinzu. Sowohl professionelle Hersteller als auch Hobbyprogrammierer profitierten dabei von der Veröffentlichung technischer Dokumentationen seitens Atari, den Programmieranleitungen in den Computermagazinen und -büchern sowie von den mittlerweile aufgekommenen leistungsfähigen Entwicklungswerkzeugen. Unter den publizierten Titeln befanden sich jedoch auch viele schlechte Portierungen von beispielsweise Apple-II-Spielen ohne den unverwechselbaren „Atari-Look“, nämlich eine Mischung verschiedener „farbenprächtiger“ und weichverschobener Grafiken, ergänzt um die typische POKEY-Musik nebst Geräuscheffekten. Unter den für die Atari-Computer veröffentlichten Spielen befinden sich viele, die bereits in den frühen 1980er-Jahren als Videospieleklassiker galten: Star Raiders (vermutlich 1979), Asteroids (1981) und Pac-Man (1982). Insbesondere das 3D-Spiel Star Raiders galt vielen Spieledesignern der damaligen Zeit als prägendes Erlebnis und Grund, sich für einen Atari-Computer und nicht etwa einen Apple II oder Commodore PET zu entscheiden. In der Folge entstandene Werke wie Miner 2049er (Bill Hogue, Big Five Software, 1982), Eastern Front (1941) (Chris Crawford, APX, 1982), Capture the Flag (Paul Edelstein, Sirius Software, 1983), Archon (John Freemann, Electronic Arts, 1983) und M.U.L.E. (Daniel Bunten, Electronic Arts, 1983) zählen zu den herausragenden Titeln ihrer Zeit und ermöglichten Softwarehäusern wie beispielsweise MicroProse und Electronic Arts den raschen Aufstieg zu Branchenriesen. Zu den beliebtesten Spielen für die Atari-Computer gehören neben den Infocom-Abenteuern großteils Shoot-’em-up-Spiele wie Crossfire (Sierra On-Line, 1981) und Blue Max (Synapse Software, 1983), Rennspiele wie Pole Position (Atari, 1983), Kriegssimulationen wie Combat Leader (SSI, 1983), aber auch Grafik-Adventures wie Excalibur (APX, 1983) und Murder on the Zinderneuf (Electronic Arts, 1983). Zeitschriften In den 1980er Jahren spielten neben den Fachbüchern die Computerzeitschriften für viele Heimcomputerbesitzer eine große Rolle. Die häufig monatlich erschienenen Ausgaben enthielten Testberichte zu Neuheiten, Programmieranleitungen und Software zum Abtippen. Sie dienten weiterhin als Werbe- und Informationsplattform sowie zur Kontaktaufnahme mit Gleichgesinnten. Speziell mit den Atari-Heimcomputern befassten sich die englischsprachigen Magazine Antic, Analog Computing, Atari Connection und Atari Age; gelegentliche Berichte und Programme für die Atari-Rechner veröffentlichten unter anderem auch die auflagenstarken Byte Magazine, Compute! und Creative Computing. Während der Atari 800 in Deutschland verkauft wurde, waren Informationen und Programme unter anderem in den Zeitschriften Chip, Happy Computer, P.M. Computermagazin, Computer Persönlich und Mein Home-Computer zu finden. Emulation Nach dem Ende der Heimcomputerära Anfang der 1990er Jahre und mit dem Aufkommen leistungsfähiger und erschwinglicher Rechentechnik Ende der 1990er Jahre wurden von engagierten Enthusiasten verstärkt Programme zum Emulieren von Heimcomputern und deren Peripheriegeräten entwickelt. Zum Spielen alter Klassiker verschiedenster Heimcomputersysteme reichte mithilfe der Emulatoren ein einzelnes modernes System mit Datenabbildern („Images“) der entsprechenden Heimcomputerprogramme. Das Aufkommen der Emulatoren setzte damit u. a. ein verstärktes Transferieren von sonst möglicherweise verloren gegangener Software auf moderne Speichermedien in Gang, womit ein wichtiger Beitrag zur Bewahrung digitaler Kultur geleistet wird. Als leistungsfähigste Emulatoren für Windows- und Linux-Systeme gelten Atari++, Atari800Win Plus, Mess32 und Altirra. Rezeption Zeitgenössisch Nordamerika Das Erscheinen des Atari 400 und 800 wurde durchweg positiv aufgenommen. Die auflagenstarke Zeitschrift Compute! schrieb von einer neuen Generation von Computern: Von denselben Rezensenten wird zudem ausgeführt, dass die Einordnung der neuen Geräte am ehesten mit der eines Hybriden zwischen Videospiel und Computer zu umschreiben sei. Sie enthielten das Beste beider Welten, was sie damit zu einem Personalcomputer und Heimgerät gleichermaßen mache. Diese Eigenschaften prädestinierten den Atari 800 geradezu für Lern- und Unterhaltungszwecke. Da die beste Hardware ohne entsprechende Software zu ihrem Gebrauch jedoch nutzlos sei, habe Atari aus den Fehlern der Konkurrenz gelernt und dem Benutzer mit der Programmiersprache Atari BASIC einen ausgesprochen leichten Zugang zu den farbenprächtigen Grafik- und Toneigenschaften seiner Geräte zur Seite gestellt. Diese Vermarktung von aufeinander abgestimmter Hard- und Software – auch beim direkt auf die Atari-8-Bit-Computer zugeschnittenen äußerst populären Spiel Star Raiders – stelle ein Novum dar. Durch das modulare Konzept wären jedoch mehr Anschlusskabel als etwa beim kompakten Commodore PET vonnöten, was unter Umständen von Nachteil sein könne ebenso wie das nicht-validierende Abspeichern von Programmen auf Kassette. Ab Sommer 1980 wurden vor allem Lieferschwierigkeiten und das Ausbleiben von anwendungsorientierter Software bemängelt und den Rechnern von Adam Osborne keine große Zukunft vorausgesagt. Als sich die Atari-Computer entgegen den Voraussagen Osbornes dennoch etablieren konnten und sogar zum Marktführer aufgestiegen waren, wurden von der Fachpresse weiterhin Empfehlungen hauptsächlich für preisbewusste Haushalte ausgesprochen: Übereinstimmend mit der Fachpresse sahen auch Spieleautoren wie David Fox (Programmierer bei Lucasfilm-Games) und Scott Adams (Gründer von Adventure International) in den Ataris die grafisch und tontechnisch leistungsfähigsten Geräte des gesamten Heimcomputermarktes: Im Laufe der Zeit geriet Ataris Vermarktungskonzept aber auch in die Kritik, da die Fähigkeiten als Anwendungscomputer nicht klar genug herausgestellt und unterstützt würden. Obwohl die Atari-Computer seit ihrer Einführung einen guten Ruf auch als leistungsfähige Personal Computer genossen hätten, sei spätestens mit der Produktionseinstellung des leistungsfähigen Diskettenlaufwerks Atari 815 der Einsatzschwerpunkt der Geräte auf den Heimbereich mit besonderem Augenmerk auf den Unterhaltungs- und Bildungssektor verschoben worden. Dazu kämen Fehler bei der Wahl der Vertriebswege. Die Verlagerung des Verkaufs durch große Ladenketten hätte kleinere Fachgeschäfte mit entsprechender Kompetenz und Serviceleistungen bewogen, mangels Konkurrenzfähigkeit die Atari-Rechner aus dem Angebot zu nehmen. Damit wäre ein weiteres wichtiges Standbein zur Versorgung der Rechner mit leistungsfähiger Anwendungssoftware entfallen, so dass auch der Atari 800 letztlich nur noch als reine Spielekonsole wahrgenommen und gekauft wurde. Deutschsprachiger Raum Kurz nach seinem Erscheinen in Deutschland wurde der Atari 800 vom damals auflagenstärksten Computermagazin Chip als Gerät für den fortgeschrittenen Anwender charakterisiert, „der neben seiner Hobbyanwendung auch den professionellen Bereich bei seiner Kaufentscheidung zugrundelegt.“ Positiv hervorgehoben wurden zudem die stabile Geräteausführung, die grafischen Möglichkeiten, die Farbausgabe, eine ausführliche Dokumentation, die bereits vorhandene große Programmbibliothek nebst verschiedenen Programmiersprachen wie Atari PILOT und Atari Assembler. Retrospektiv Bereits kurz nach der Ablösung durch die technisch kaum veränderten Nachfolgemodelle 600XL und 800XL wird dem Atari 800 eine exzellente Konstruktion bescheinigt, die einen neuen Standard auf dem Heimcomputermarkt gesetzt habe. Die phantastische Grafik spiegele sich vor allem in den guten Spielen wider, einer der Stärken des Atari 800. Einer der wenigen Kritikpunkte bildete nach Meinung von Michael S. Tomczyk und Dietmar Eirich der bei Einführung zu hohe Preis: Rückblickend verstand es Atari laut Bill Loguidice und Matt Barton erstmals, die Eigenschaften einer reinen Spielemaschine mit den Fähigkeiten damaliger Heimcomputer bei gleichzeitig leichter Bedienbarkeit zu kombinieren. Als einer der Hauptgründe für das Gelingen dieser anspruchsvollen Aufgabe gelten den beiden Autoren die in die Entwicklung einfließenden Erfahrungen der bereits am Bau der erfolgreichen VCS-2600-Spielekonsole beteiligten Atari-Ingenieure. Als Ergebnis waren erstmals in einem Heimcomputer elektronische Spezialbausteine zur Entlastung des Hauptprozessors zur Anwendung gekommen. Deren grafische Raffinessen in Form von beispielsweise der Player/Missile-Grafik seien wegweisend für spätere Geräte gewesen. Auch die Soundeigenschaften hätten durch Verwendung eines Spezialbausteins zur damals obersten Qualitätskategorie gehört und der Atari 400 habe den Apple II damit als besten Spiele-Computer abgelöst. Als entscheidenden Grund für die innerhalb kürzester Zeit ansteigende Popularität der Atari-Computer sehen die Autoren der Internetplattform Gamasutra die Veröffentlichung des Spiels Star Raiders: Für den permanenten Mangel an leistungsfähiger Anwendungssoftware macht Tomczyk Ataris ursprüngliche und umstrittene Praktiken bezüglich der Veröffentlichung technischer Dokumentationen verantwortlich: Eine spätere Änderung der restriktiven Informationspolitik hätte den bereits entstandenen Rückstand nicht mehr aufholen helfen können. So seien mit fortschreitender Zeit hauptsächlich Spiele für die Atari-Heimcomputer erschienen, womit diese nun mehr und mehr als reine Spielemaschinen wahrgenommen wurden: Durch die damit von Atari selbstgeschaffene Konkurrenz zur hauseigenen Spielekonsole VCS 2600 und hauptsächlich infolge aufkommender Konkurrenz durch Texas Instruments und Commodore mit ihren umfangreichen Programmbibliotheken im Anwendungsbereich hätten die Verkaufserfolge nicht weitergeführt werden können. Entscheidende Marktanteile wären damit ab 1983 wieder dem Apple II und vor allem dem neu erschienenen Commodore 64 zugefallen. Literatur Atari Inc.: Technical Reference Notes. 1982. Atari Inc.: Field Service Manual. Jeffrey Stanton, Robert P. Wells, Sandra Rochowansky, Michael Mellin: Atari Software 1984. The Book Company, 1984, ISBN 0-201-16454-X. Julian Reschke, Andreas Wiethoff: Das Atari Profibuch. Sybex-Verlag GmbH, Düsseldorf, 1986, ISBN 3-88745-605-X. Eichler, Grohmann: Atari 600XL/800XL Intern. Data Becker GmbH, 1984, ISBN 3-89011-053-3. Marty Goldberg, Curt Vendel: Atari Inc. – Business is Fun. Syzygy Company Press, 2012, ISBN 978-0-9855974-0-5. Weblinks Atari++ Emulator für UNIX/Linux-Systeme (englisch) Altirra Emulator für Windows-Systeme (englisch) Xformer 10 Emulator für Windows 10 (englisch) AtariAge Internationales Forum für Atari-8-Bit-Freunde (englisch) Michael Currents Webseite mit vielen Ressourcen, u. a. den häufig gestellten Fragen zum Thema Atari (F.A.Q., englisch) Anmerkungen 800 Heimcomputer
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https://de.wikipedia.org/wiki/Gro%C3%9Fglockner
Großglockner
Der Großglockner (häufig auch kurz Glockner genannt) ist mit einer Höhe von der höchste Berg Österreichs. Die markante Spitze aus Gesteinen der Grünschieferfazies gehört zur Glocknergruppe, einer Bergkette im mittleren Teil der Hohen Tauern, und gilt als einer der bedeutendsten Gipfel der Ostalpen. Seit den ersten Erkundungen Ende des 18. Jahrhunderts und der Erstbesteigung durch vier Teilnehmer einer Großexpedition unter der Leitung von Fürstbischof Salm-Reifferscheidt-Krautheim im Jahr 1800 spielte der Großglockner eine wichtige Rolle in der Entwicklung des Alpinismus. Bis heute ist er von großer Bedeutung für den Fremdenverkehr in der Region und mit mehr als 5000 Gipfelbesteigungen pro Jahr ein beliebtes Ziel der Bergsteiger. Der Blick auf den Berg, eines der bekanntesten Wahrzeichen Österreichs, ist die landschaftliche Hauptattraktion der Großglockner-Hochalpenstraße. Geographie Lage und Umgebung Der Großglockner ist Teil des Glocknerkamms, eines Gebirgskamms der Glocknergruppe (Österreichische Zentralalpen), der am Eiskögele in südöstlicher Richtung vom Alpenhauptkamm abzweigt und dort die Grenze zwischen den Bundesländern Tirol im Südwesten und Kärnten im Nordosten bildet. Diese Grenze ist auch die Wasserscheide zwischen dem Kalser Tal mit seinen Seitentälern auf der Osttiroler und dem Mölltal mit der Pasterze auf der Kärntner Seite. Die Gegend um den Berg ist außerdem seit 1986 Bestandteil des Sonderschutzgebietes Großglockner-Pasterze innerhalb des Nationalparks Hohe Tauern. Der Großglockner ist der höchste Berg der Alpen östlich der 175 km entfernten Ortlergruppe und weist damit nach dem Mont Blanc die zweitgrößte geografische Dominanz aller Berge der Alpen auf. Auch seine Schartenhöhe ist mit 2.424 Metern nach dem Montblanc die zweitgrößte aller Alpengipfel. Somit ist der Berg eine der eigenständigsten Erhebungen der Alpen. Die Aussicht vom Großglockner gilt als die weiteste aller Berge der Ostalpen, sie reicht 220 Kilometer weit, unter Berücksichtigung der terrestrischen Refraktion fast 240 Kilometer. Der Blick über mehr als 150.000 Quadratkilometer Erdoberfläche reicht bis zur Schwäbisch-Bayerischen Ebene im Nordwesten, bis Regensburg und zum Böhmerwald im Norden, zum Ortler im Westen, zum Auslauf zur Poebene und zum Triglav im Süden und zum Toten Gebirge und Gesäuse im Osten. Die bedeutendsten Orte in der Umgebung des Berges sind Kals am Großglockner () im Kalser Tal in Osttirol, vom Gipfel aus ungefähr acht Kilometer in südwestlicher Richtung gelegen, und Heiligenblut am Großglockner () im Mölltal in Kärnten, vom Gipfel aus ca. zwölf Kilometer in südöstlicher Richtung. Topographie Der Großglockner ist ein pyramidenförmiger Felsgipfel, der aufgrund seines hochalpinen, stark vergletscherten Erscheinungsbildes häufig mit den Bergen der Westalpen verglichen wird. Mit dem hohen, südöstlich vorgelagerten Kleinglockner bildet er einen markanten Doppelgipfel. Ob der Kleinglockner als Nebengipfel oder eigenständiger Hauptgipfel anzusehen ist, wird in der Literatur unterschiedlich gehandhabt. Aufgrund seiner geringen Schartenhöhe und Dominanz sowie der engen Verknüpfung seiner Besteigungsgeschichte mit der des Großglockners wird er in historischen Veröffentlichungen zum Großglockner gezählt, aufgrund eigenständiger Routen wertet ihn die Bergsteigerliteratur jedoch als selbstständigen Gipfel. Zwischen beiden Gipfeln liegt die Obere Glocknerscharte, die mit höchste Scharte Österreichs, von der ein bis 55° geneigtes Couloir 600 Höhenmeter zum Glocknerkees hinabzieht, die nach dem Bergsteiger Alfred von Pallavicini benannte Pallavicinirinne. An diese in nordöstlicher Richtung verlaufende Rinne schließen sich Nordost- und Nordwand des Großglockners an. Begrenzt werden diese vom Nordwestgrat, einem Teil des Hauptgrates des Glocknerkamms, der über die Grögerschneid () und die Graterhebungen Glocknerhorn () und Teufelshorn () zur Unteren Glocknerscharte () verläuft, an die sich die hohe Glocknerwand anschließt. Nach Südwesten hin entsendet der Großglockner einen ausgeprägten Grat, den Stüdlgrat (benannt nach Johann Stüdl), der mit seiner Verlängerung, dem Luisengrat, die Westwand und den darunter liegenden Gletscher Teischnitzkees von der Südwand mit dem anschließenden Ködnitzkees trennt. Die Südwand wird unterhalb der Oberen Glocknerscharte von der Pillwaxrinne durchzogen, der Großteil der Südwand liegt östlich dieser Rinne unterhalb des Kleinglockners. Die Ostseite des Kleinglockners, das Glocknerleitl, ist bis knapp unterhalb des Gipfels vergletschert und findet zur Pasterze hinab im Kleinglockner- und Hofmannskees ihre Fortsetzung. Geologie Der Großglockner befindet sich im Mittelteil des Tauernfensters, einer west-östlich ausgedehnten Zone die durch tektonische Hebung (Exhumierung) im Zusammenspiel mit Erosion entstanden ist. Dort treten heute Gesteine zutage, die aus einer Tiefe von mehr als 10 km in den obersten Bereich der Erdkruste gelangt sind und nachfolgend, aufgrund anhaltender Abtragung des Gebirges, schließlich den ostalpinen Deckenstapel durchbrochen haben. Der Großglockner besteht aus magmatischem Gestein und Sedimenten, die unter dem hohen Druck der Tiefe zu den heutigen besonders harten kristallinen Schiefern umgewandelt wurden. Seine Höhe ist hauptsächlich auf die Verwitterungsbeständigkeit des grünlich gefärbten Gesteins Prasinit (früher Grünstein genannt) zurückzuführen, das, eingebettet in Chloritschiefer, den Gipfel aufbaut. Bei diesem Prasinit handelt es sich um Basalte, die als ehemalige Ozeanböden des Penninischen Ozeans später metamorph überprägt worden sind. Neben Prasinit sind auch Serpentinite, Breccien, Quarzite und Phyllite am Aufbau der Großglockner-Basis beteiligt. Das Großglocknergebiet ist umgeben von mächtigen Schichten des Bündnerschiefers, die an der Nordflanke des Glockners, an der Glocknerwand, am Glocknerkamp und Hohenwartkopf zu Tage treten und aus Kalkglimmerschiefer bestehen. Im Lauf der alpidischen Gebirgsbildung entstand die Obere Glocknerscharte, die den Groß- vom Kleinglockner trennt, durch eine nordöstlich-südwestlich streichende geologische Störung. Diese Gefügestörung zieht sich von der Pallavicinirinne hinauf zur Scharte und verläuft durch die Pillwaxrinne parallel zum Stüdlgrat hinunter ins Ködnitzkees. Flora und Fauna Die Flora des Großglocknergebiets besteht aus alpinen und subalpinen Pflanzenarten. Die Waldgrenze der hochstämmigen Bäume markiert den Übergang der beiden Bereiche und erreicht eine Höhe von 2000 bis 2200 Metern. Die Schneegrenze liegt bei etwa 2600 bis 2700 Metern, wo jeder zusammenhängende Pflanzenbewuchs aufhört. Einzelne hochalpine Arten, wie der Gletscherhahnenfuß und verschiedene Flechten, finden sich jedoch noch unmittelbar unterhalb des Gipfels. Neben der Gämse und dem Murmeltier sind im Nationalpark Hohe Tauern und damit auch im Glocknergebiet Gänsegeier, Bartgeier und Steinadler vertreten. Darüber hinaus sind bis in höchste Gipfellagen verschiedene Schmetterlingsarten anzutreffen. Erste Projekte zur Wiederansiedlung des Alpensteinbocks gab es bereits 1914. In den 1960er Jahren wurden solche Pläne erstmals umgesetzt, heute (2006) lebt im Gebiet Großglockner-Pasterze eine der größten Steinbockpopulationen der Hohen Tauern. Touristische Bedeutung und Erschließung 1919, als Südtirol nach dem Vertrag von Saint-Germain Italien zugesprochen wurde, löste der Glockner den Ortler als höchster Berg Österreichs ab. Nach dem Ersten Weltkrieg gewann er wachsende touristische Bedeutung, die bis heute anhält und viele Besucher anzieht, an schönen Sommertagen mehr als 150. Die Glocknerrunde, eine vom Österreichischen Alpenverein und dem Nationalpark Hohe Tauern als Pauschalangebot ausgearbeitete einwöchige Wanderung rund um den Großglockner, bietet einen weiteren Anziehungspunkt für den wachsenden Trekkingtourismus in der Region. Kommerziell bedeutsamer ist heute jedoch weniger der Alpinismus als vielmehr der automobile Massentourismus auf der Großglockner-Hochalpenstraße. Der Blick zum höchsten Berg Österreichs von der Franz-Josefs-Höhe (historische Schreibung: Kaiser-Franz-Josephs-Höhe) aus ist eine der größten Attraktionen dieser Erlebnisstraße und zieht jährlich etwa 900.000 Besucher an. Die Gesamtzahl seit der Eröffnung im August 1935 wird auf über 50 Millionen Besucher geschätzt, damit gilt der Großglockner nach dem Schloss Schönbrunn als die zweitbeliebteste Sehenswürdigkeit Österreichs. Er wird auf Briefmarken und den Wappen der Gemeinden Kals am Großglockner sowie Heiligenblut dargestellt. Seit 2007 dient der Name „Großglockner“ als gemeinsame Marke der Nationalparkregion Hohe Tauern und der Großglockner-Hochalpenstraße. Der Großglockner weist mit mehr als 30 in der Literatur beschriebenen Routen eine hohe Anzahl von Anstiegsmöglichkeiten auf. Dies ist neben der aus seiner Höhe resultierenden alpinistischen Attraktivität auch auf seine verhältnismäßig komplizierte Struktur aus Graten, Rinnen, Gletschern und Felswänden zurückzuführen. Als Stützpunkte für eine Begehung des Großglockners dienen auf der Osttiroler Seite im Südwesten das Lucknerhaus (), die Lucknerhütte (), das Kalser Tauernhaus () und die Stüdlhütte (). Auf der Kärntner Seite im Osten ist für den Normalweg, den leichtesten Anstieg, besonders die Erzherzog-Johann-Hütte auf der Adlersruhe () von Bedeutung, die höchstgelegene Schutzhütte Österreichs. Weitere Stützpunkte sind das Glocknerhaus (), die Salmhütte () und das über die Großglockner-Hochalpenstraße erreichbare Franz-Josefs-Haus () auf der Kaiser-Franz-Josefs-Höhe. Die auf gelegene Hofmannshütte, die in kurzem Anstieg von der Franz-Josefs-Höhe erreicht werden konnte, war wegen Baufälligkeit seit 2005 geschlossen und wurde im September 2016 abgerissen, das Gelände wurde renaturiert. Auf , nördlich des Großglocknergipfels am Nordrand des Glocknerkees', liegt das Glockner-Biwak, eine Biwakschachtel, die als Stützpunkt für Begehungen der nordseitigen Anstiege auf den Glocknerkamm dient. Leichtester Anstieg Von den vielen Anstiegen zum Gipfel gilt nur der heutige Normalweg, der Weg, den bereits die Erstersteiger im Jahr 1800 nutzten, mit dem Schwierigkeitsgrad II nach UIAA als verhältnismäßig einfach. Ausgangspunkt dieses Weges ist die Erhebung Adlersruhe (auf der heute die Erzherzog-Johann-Hütte steht) am Südostrücken des Kleinglockners. Er kann von der Stüdlhütte im Süden über das Ködnitzkees, von der östlich gelegenen Kaiser-Franz-Josefs-Höhe über das Hofmannskees oder von der Salmhütte im Südosten über das Hohenwartkees und die Hohenwartscharte erreicht werden. Von der Adlersruhe führt der Weg vorbei am sogenannten Bahnhof über das Glocknerleitl (wegen Ausaperung inzwischen im oberen Teil am Übergang zu den Felsen mit Fixseilen versehen), den großteils vergletscherten Ostrücken des Kleinglockners, fast ohne Felsberührung bis knapp unter den Kleinglocknergipfel. Der letzte Aufschwung zum häufig stark überwechteten Kleinglockner ist mit Stahlstangen versehen. Der folgende, mit Drahtseilen versicherte Abstieg zur Oberen Glocknerscharte und die Überquerung dieses acht Meter langen, nur einen halben Meter breiten und nach beiden Seiten hin ausgesetzten Übergangs gilt als eine Engstelle des Normalweges, wo es sowohl im Auf- als auch im Abstieg des Öfteren zu anhaltenden Stauungen mit langen Wartezeiten kommen kann. Die 30 Meter von der Scharte zum Gipfel gelten mit dem Schwierigkeitsgrad II (UIAA) als der klettertechnisch schwierigste Abschnitt und als die Schlüsselstelle des Normalwegs. Wegen der zunehmenden Ausaperung (→ Folgen der globalen Erwärmung in Österreich) vor allem im Spätsommer im Bereich des Glocknerleitls und der damit einhergehenden erheblichen Zunahme von Steinschlaggefahr und Erhöhung der Schwierigkeiten der Normalroute (statt wie bisher Eis/Firn nun im Übergang zu den Felsen immer größer werdende eis- und schneefreie Bereiche, die teils loses Gestein freisetzen) wurde im Sommer 2020 mit der Einrichtung einer teilweise versicherten neuen Alternativroute zur Normalroute via Südostgrat begonnen. Diese neue Alternative zum klassischen Normalanstieg wird nach Fertigstellung zwischen dem sogenannten Bahnhof und dem Sattele im Schwierigkeitsgrad III (UIAA) im Sommer einen eisfreien Aufstieg von der Adlersruhe auf den Kleinglockner bei guten Absicherungsmöglichkeiten durch Eisenstangen ermöglichen. Weitere Anstiege Das harte Kristallingestein, das für die Höhe des Großglockners verantwortlich ist, eignet sich dank seiner Festigkeit gut zum Klettern. Der populärste Felsanstieg auf den Glockner ist der Stüdlgrat (Südwestgrat) mit einer Schwierigkeit von III+ auf der UIAA-Skala. Dabei sind einige schwierige Stellen durch Stahlstifte oder Ähnliches entschärft. Weitere wichtige Routen sind der Nordwestgrat (III) und der Südgrat (IV+). Eine bekannte reine Eistour ist die aktuell (2016) wegen des auftauenden Permafrosts zunehmend steinschlaggefährdete Pallavicinirinne mit einer Steilheit von 55°, außerdem sind die Mayerlrampe (70°), die Berglerrinne (50°) und die Nordostwand-Eisnase (90°) von Bedeutung. Wichtige kombinierte Routen sind der Nordostgrat (IV, 45° Eis), die Nordwand (IV+, 55°), die Südwand (IV, 45°), die Westwand (IV+, 45°) und die Schneiderrinne (III, 60°). Name Im Jahre 1561 ist in einer Landkarte des Wiener Kartographen Wolfgang Lazius erstmals der Name Glocknerer verzeichnet. Aus dem Jahr 1583 ist aus einer Grenzbeschreibung des Gerichtes in Kals die Bezeichnung Glogger überliefert, die erste urkundliche Erwähnung des Bergnamens. Bis ins 18. Jahrhundert wurde mit diesem Namen allerdings der gesamte Glocknerkamm bis zum Eiskögele bezeichnet. In späteren Karten tauchen Namen wie Glöckner Mons und Glöckelberg auf. Im Atlas Tyrolensis von Peter Anich und Blasius Hueber ist er als Glockner Berg verzeichnet, ein Name, der sich in der Folge durchsetzte. Der Zusatz „Groß-“ ist erst in den Berichten von der ersten Glocknerexpedition 1799 zu finden („Gross-Glokner“). Zur Herkunft des Namens Glockner existiert eine Reihe überwiegend volksetymologischer Hypothesen. Der Name wird oft von seiner glockenähnlichen Form hergeleitet, eine Annahme, die bereits 1784 von Belsazar Hacquet geäußert wurde. Eine andere Hypothese leitet den Namen von im 15. Jahrhundert verwendeten und als „Glocken“ bezeichneten geschlossenen Umhängen ab, deren Form ebenfalls der des Großglockners ähnlich war. Außerdem wurde vermutet, als höchster Berg und mithin „Anführer“ seiner Umgebung habe der Glockner seinen Namen von den mit Glocken ausgestatteten und Glogga genannten Leithammeln der Schafherden erhalten. Auch eine Ableitung von dem Dialektwort „klocken“ (donnern, poltern), das sich auf die Geräusche des Eis- und Steinschlags an den Flanken des Berges beziehen soll, wurde diskutiert. Aufgrund der mehrhundertjährigen Präsenz der Alpenslawen in Osttirol und Oberkärnten wird auch eine Herkunft von dem altslowenischen Wort Klek, einer häufigen Bezeichnung für spitze Gipfel, für möglich gehalten. Die große Zahl slawischer Orts-, Fluss- und Bergnamen in Kärnten lassen diese Theorie plausibel erscheinen. Der heutige slowenische Name des Berges ist „Veliki Klek“. Sagen Die reale Bedrohung durch Gletschervorstöße hat sich in vielen Regionen des Alpenraumes in mythischen Erklärungen für diese Gefahr niedergeschlagen. So wird auch die Vergletscherung des Großglocknergebietes in alten Sagen als Strafe für die Verschwendungssucht der Bauern im früher angeblich fruchtbaren Pasterzental gesehen, das mit seinem gesamten Umfeld zu Eis erstarrte. Einer Variante dieser Sage nach verwandelte ein Zauberer vom Hundstein erst das Wiesbachhorn in einen Gletscher, bevor er wegen seiner Unnachgiebigkeit den von ihm Bestraften gegenüber selbst im Eis, der heutigen Pasterze, eingekerkert wurde. Der Großglockner steht seit dieser Zeit über dem Gletscher, um den Gefangenen zu bewachen. Geschichte Frühe Erkundungen Die ersten konkreten Überlegungen zu einer möglichen Besteigung stellte der französische Naturforscher Belsazar Hacquet in seinem 1783 erschienenen Werk Mineralogisch-botanische Lustreise von dem Berg Terglou in Krain, zu dem Berg Glokner in Tyrol, im Jahr 1779 und 81 an. Er vermutete bereits den späteren Weg der Erstersteiger als günstigsten Anstieg. Hacquet bereiste die Gegend um den Glockner mehrmals und vermaß den Berg, wobei seine Schätzung der Höhe mit 20.000 Klaftern (ca. 3793 m) bereits erstaunlich nahe bei der heute offiziellen Höhe lag. Von Hacquet stammt in Form eines Kupferstichs, der den Großglockner und die Pasterze zeigt, auch die erste bekannte Abbildung des Großglockners. Die Glocknerexpedition 1799 Im Jahre 1783 wurde Franz II. Xaver von Salm-Reifferscheidt-Krautheim als Fürstbischof nach Kärnten berufen, wo er unter anderem in Kontakt mit den naturwissenschaftlich interessierten Geistlichen Sigismund Ernst Hohenwart und Franz Xaver Freiherr von Wulfen kam. Beeinflusst durch die Erstbesteigung des Mont Blanc 1786 beschloss Salm, eine Expedition zum Glockner zu organisieren, nachdem Wulfen und Hohenwart bereits 1795 erste Vermessungen rund um den Berg vorgenommen hatten und Salm selbst 1798 das Gebiet inspiziert hatte. Die Expedition hatte nicht nur die genauere Vermessung des Berges, sondern auch dessen Erstbesteigung zum Ziel. Als Bergführer wurden zwei Bauern aus Heiligenblut ausgewählt, die in den Berichten als „Die Glokner“ bezeichnet werden. Deren Auftrag umfasste die Planung der Route, die Wahl der Ausrüstung, Erkundungen und die Organisation der Expedition. Weitere Bauern und Zimmerer aus Heiligenblut errichteten unter ihrer Anleitung Wege und die nach dem Fürstbischof benannte Salmhütte, die erste Schutzhütte der Ostalpen. Diese Unterkunft lag unterhalb vom Leiterkees, höher als die heutige Salmhütte und bot Platz für die insgesamt 30 Expeditionsteilnehmer, darunter auch Hohenwart, Wulfen und den Konsistorialrat Johann Zopoth. Die beiden „Glokner“ erkundeten den Weg über das damals noch viel größere Leiterkees, die Hohenwartscharte und das Glocknerleitl bis knapp unter den Gipfel des Kleinglockners. Es wurde auch die Vermutung geäußert, bei ihrer Erkundung am 23. Juli 1799 hätten sie bereits den Gipfel des Kleinglockners erreicht, dies jedoch verschwiegen, da niemand der „Herren“ dabei gewesen sei. Nach zwei wegen Schlechtwetters abgebrochenen Versuchen erreichten Hohenwart und vier Führer, darunter die „Glokner“, am 24. August den Gipfel des Kleinglockners und errichteten dort ein Gipfelkreuz. Ungenaue Berichte führten zu der lange Zeit verbreiteten Meinung, damals wäre bereits der Großglockner erklettert worden. Hohenwart schrieb etwa „[…] gelang es mir und meinen vier Wegweisern, den Glockner ganz zu erklettern“ und es ist von der „Besteigung der zweiten Spitze“ die Rede. Das vermutlich von Expeditionsteilnehmer Johann Zopoth verfasste und von Bischof Salm überarbeitete, aber anonym publizierte Tagebuch einer Reise auf den bis dahin unerstiegenen Berg Gross-Glokner vermerkt: „Er ist nun erstiegen, der […] Glokner, diese Zierde des norischen Gebirges“. Es wird davon ausgegangen, dass die ungenauen Berichte unter anderem das Ziel hatten, die Expedition als Erfolg darstellen zu können, obwohl bereits im September 1799 ein erneuter Versuch für das nächste Jahr geplant und sogar schon Vorbereitungen wie der Ausbau der Salmhütte getroffen wurden. Verstärkt wurde die Legende durch die spätere Herausgabe einer Gedenkmedaille durch Bischof Salm, die den Großglockner mit einem Gipfelkreuz zeigt und als Datum der Erstbesteigung den 25. August 1799 angibt. Erstbesteigung 1800 Die zweite Expedition im Jahr 1800 war mit 62 Teilnehmern mehr als doppelt so groß wie die erste. Unter den neuen Teilnehmern waren unter anderem der Pädagoge Franz Michael Vierthaler, der Botaniker David Heinrich Hoppe, der Landvermesser Ulrich Schiegg mit seinem Schüler Valentin Stanič sowie die Pfarrer von Dellach im Drautal und Rangersdorf, Franz Joseph Orrasch (auch Horasch genannt) und Mathias Hautzendorfer. Als Führer für die Gipfeletappe wurden dieselben vier Bauern und Zimmerleute wie im Vorjahr verpflichtet. Neben dem personellen wurde auch der organisatorische Aufwand gesteigert, so wurde etwa auf der Hohenwartscharte eine zweite Hütte, die Hohenwarte, errichtet. Am 28. Juli drang der Gipfeltrupp bis zum Kleinglockner vor, wo Hohenwart, Hoppe und Orrasch zurückblieben. Die vier Führer erstiegen als erste den Gipfel des Großglockners, versicherten den Anstieg mit Seilen und kehrten zum Kleinglockner zurück. Zusammen mit dem Pfarrer Mathias Hautzendorfer erstiegen sie dann den Großglockner ein weiteres Mal. Hautzendorfer musste dazu überredet werden: „Sie liessen ihn nicht von der Stelle, da er fortgehen wollte. […] Er bereitete sich wie zum Tode.“ Doch die Expedition galt erst als gelungen, wenn „Einer von den Herren“ den Gipfel erreicht hatte. Dass dies Hautzendorfer war, gilt erst seit der Entdeckung eines Expeditionsberichts von Joseph Orrasch im Jahre 1993 als gesichert. Aufgrund fehlerhafter Beschreibungen des mit Bischof Salm auf der Adlersruhe zurückgebliebenen Franz Michael Vierthaler galt lange Zeit Joseph Orrasch, der nach heutigem Wissensstand nur als erster Teilnehmer den Kleinglockner erreicht hatte, als Erstbesteiger. Die vier an der Gipfelbesteigung beteiligten Bauern und Zimmerleute werden in den veröffentlichten Berichten der Expeditionsteilnehmer nicht namentlich genannt. Hier werden die zwei mit der Führung der Expedition betrauten Hauptführer einfach als „Die Glokner“ bezeichnet, ihre Identität stand für die Expeditionsteilnehmer im Vergleich zu ihrer bedeutenden Funktion im Hintergrund: „Man hatte … zwei beherzte Bauern aus der h. Bluter Pfarrei gewählt. Beide heißen von nun an als erste Besteiger des Berges die Glokner“. Meist werden als Namen der „Glokner“ die Brüder Sepp und Martin Klotz aus Heiligenblut genannt. Dies wird heute jedoch angezweifelt: „Kloz“ war lediglich der Spitzname eines der „Glokner“, den dieser von Bischof Salm für das Lösen einer Wechte („Schneeklotz“) erhielt. Der Name „Klotz“ kam zur fraglichen Zeit in Heiligenblut nicht vor. Auch der Hoysen-Sepp, ein Heiligenbluter Bauer, der später etwa die Graf Apponyi-Expedition von 1802 führte, gilt als möglicher Teilnehmer, wobei hinter diesem Namen auch ein Alias des bereits erwähnten Sepp Klotz vermutet wird. In einem nicht publizierten Schreiben von Ulrich Schiegg wird ein Martin Reicher als einer der „Glokner“ genannt. Somit stehen aus heutiger Sicht von den fünf Erstbesteigern nur Martin Reicher und Mathias Hautzendorfer namentlich fest. Bereits am nächsten Tag wurde der Großglockner zum zweiten Mal erstiegen, diesmal erreichten auch Schiegg und Stanič den Gipfel. Sie führten Luftdruckmessungen durch und vermaßen den Gipfel. Die Bauern befestigten das mitgebrachte Gipfelkreuz, an dem auch ein Barometer für künftige Messungen zurückgelassen wurde. Bischof Salm finanzierte in den Jahren 1802 und 1806 noch zwei weitere Glocknerexpeditionen. 1802 erreichte auch Sigismund Hohenwart den Gipfel, Salm selbst gelangte niemals weiter als zur Adlersruhe, wie bereits im Jahr 1800. Weitere Expeditionen des frühen 19. Jahrhunderts 1802 unternahm der Naturwissenschaftler Joseph August Schultes mit dem Grafen Apponyi eine Expedition, die er 1804 in seiner vierbändigen „Reise auf den Glockner“ beschrieb, die auch die Berichte der Erstbesteigung enthält. Im Zuge der Wirren der Napoleonischen Kriege wurde der Glockner in den folgenden Jahren nur selten bestiegen, die Hütten verfielen unter den damals vorrückenden Gletschern und wurden von der einheimischen Bevölkerung geplündert. Nach dem Ende der Kriege 1814 avancierte der Großglockner jedoch zu einem beliebten Ziel für Alpinisten und Forscher, unter den erfolgreichen Besteigern waren unter anderem Karl Thurwieser (1824), Hermann und Adolph von Schlagintweit (1848), Anton von Ruthner (1852) und Dionýs Štúr (1853). Hierbei handelte es sich noch ausschließlich um Alpinisten, die zumindest teilweise auch kartierten, vermaßen und forschten. Der Geoplastiker Franz Keil entwarf nach seiner Besteigung 1854 ein topografisches Relief, das lange Zeit als die genaueste Darstellung des Massivs galt. Unternehmungen, die ein sportlich-alpinistisches über das wissenschaftliche Interesse stellten, bekamen etwa mit dem ersten Alleingang (bis dahin war niemand ohne Führer auf den Gipfel gelangt) durch Stephan Steinberger 1854 und der ersten Winterbegehung (Francisci und Liendl 1853) einen höheren Stellenwert und bedeuteten das Ende der aufwendigen Expeditionen. Neue Routen wurden in dieser Zeit nicht erschlossen, alle Besteigungen erfolgten über den Weg der Erstersteiger. Erschließung weiterer Routen In Heiligenblut war der Glocknertourismus zur Mitte des 19. Jahrhunderts bereits ein bedeutender Wirtschaftsfaktor, und die Monopolstellung des Kärntner Ortes als einziger Ausgangspunkt einer Glocknerbesteigung schlug sich in hohen Preisen nieder. Ab 1852 begann der Lienzer Joseph Mayr mit der Unterstützung der Dorfbewohner nach einem Anstieg von Kals aus zu suchen, um den Tirolern einen Anteil am wachsenden Tourismus zu sichern. Erst im Jahr 1854 wird von ersten Besteigungen von Kals aus berichtet, wobei damals ausschließlich der etwas umständliche Mürztaler Steig über die Burgwartscharte () und das Leiterkees gewählt wurde. In den folgenden Jahren kam es zu einem harten Konkurrenzkampf zwischen den beiden Dörfern. Die geringeren Kosten für Nächtigung, Verpflegung und Bergführer in Kals und die Entdeckung der kürzeren, direkten Verbindung zwischen Glocknerleitl und Ködnitzkees durch Julius Payer 1863 führten dazu, dass bereits 1869 35 Gipfelbesteigungen von Kals nur dreien von Heiligenblut aus gegenüberstanden. Um die Attraktivität von Kals als Ausgangspunkt zu erhöhen, hatte man bereits ab 1853 versucht, einen neuen gletscherfreien Anstieg über den Südgrat zu erschließen. 1864 wurde dieser Grat erstmals durchklettert, stellte sich jedoch als schwieriger als erwartet heraus. Um den Neuen Kalser Weg dennoch zu einem konkurrenzfähigen Anstieg auszubauen, finanzierte der Prager Kaufmann Johann Stüdl die Errichtung der Stüdlhütte, die Neuorganisation des Kalser Bergführerwesens und die Errichtung eines Klettersteigs über den später nach ihm benannten Südwestgrat. Der Klettersteig konnte sich jedoch nicht als neuer Normalweg durchsetzen und verfiel, da er einerseits trotz der Versicherungen schwieriger als der Ostanstieg war und andererseits am 5. August 1869, dem Tag seiner Eröffnung, ein neuer Weg zur Adlersruhe von der Kärntner Seite gefunden wurde. Dieser von Karl Hofmann erstbegangene Weg über das später nach ihm benannte Hofmannskees wurde für lange Zeit zum beliebtesten Weg bis zur Adlersruhe und führte zu einer wieder steigenden Beliebtheit von Heiligenblut als Ausgangspunkt. 1876 erkletterten die Bergführer Hans Tribusser, G. Bäuerle und J. Kramser aus Heiligenblut mit Alfred von Pallavicini die 600 Meter hohe und bis 55° geneigte Nordostrinne. Die Durchsteigung, für die Tribusser 2500 Stufen in das Eis der Pallavicini-Rinne schlug, gilt als eine der größten alpinistischen Leistungen ihrer Zeit. Die Pallavicinirinne wurde erst 23 Jahre später ein zweites Mal durchstiegen. In den folgenden Jahrzehnten folgten die Erstbegehungen immer schwierigerer Routen durch Fels-, Eis- und kombiniertes Gelände, wie 1879 der Nordwestgrat, 1911 der Nordostgrat, 1926 die Nordwand (Willo Welzenbach) und 1929 die Berglerrinne. 1967 wurde mit der Mayerlrampe der heute beliebteste und 1984 mit dem Theo-Riml-Gedenkanstieg durch die Nordostwand einer der schwierigsten Eisanstiege auf den Glockner eröffnet. Seit der Erstbegehung des sogenannten Smaragdpfeilers unterhalb des Kleinglocknerkees im selben Jahr gelten alle Grate, Wände und Rinnen des Großglockners als bezwungen, weitere neue Routen stellen nur mehr Varianten der bestehenden Hauptanstiege dar. Auswirkungen des Gletscherschwundes Im Zuge der globalen Erwärmung im 20. Jahrhundert kam es in den letzten Jahrzehnten am Großglockner zu einer massiven Gletscherschmelze und dem Auftauen der alpinen Permafrostböden. Dies wirkt sich deutlich auf den Alpinismus aus. Die Eisanstiege des Großglockners wie die Pallavicinirinne weisen meist nur noch im Frühling und Frühsommer eine ausreichende Firnbedeckung auf, später im Jahr erschwert Blankeis die Begehung. Darüber hinaus hat die rasche Ausaperung eine erhöhte Steinschlaggefahr zur Folge. In manchen Jahren können diese früher den ganzen Sommer über möglichen Routen bereits im Juni nicht mehr begangen werden. Aber auch der jahrzehntelang als einer der beliebtesten Wege geltende Anstieg über die stark zurückweichende Pasterze und das Hoffmannskees ist betroffen und teilweise wegen erhöhter Spaltenbildung, Blankeis und Steinschlag kaum mehr begehbar. Das Glocknerleitl oberhalb der Erzherzog-Johann-Hütte weist im Hochsommer zunehmend Blankeis auf. Als Alternative wurde der lange Zeit eher unpopuläre Weg der Erstersteiger von der Salmhütte über die inzwischen nahezu apere Hohenwartscharte Ende des 20. Jahrhunderts wieder hergerichtet und stellt heute den wichtigsten Anstieg von der Kärntner Seite dar, kann jedoch nicht mit dem Weg von Kals aus konkurrieren. Auch die Erzherzog-Johann-Hütte war durch das Auseinanderbrechen ihres aus auftauendem Permafrostboden bestehenden Untergrundes gefährdet. Im Juni 2016 wurde nach 15-jähriger Arbeit die Fundamentkonsolidierung, Sanierung und Modernisierung der Hütte abgeschlossen. Allgemein gilt der Glockner als häufig unterschätzter Berg, es kommt regelmäßig zu schweren Unfällen. Die größten Gefahren sind – neben Steinschlag – Gewitter und Wetterstürze, Lawinen zu jeder Jahreszeit und Gletscherspalten. Insgesamt sind bislang 248 Menschen am Großglockner zu Tode gekommen (Stand 2004), deren Namen an Gedenkstätten in Kals und Heiligenblut verzeichnet sind. Entwicklung des Skisports Der Großglockner wurde schon 1909 von Max Winkler und Fritz Strobl erstmals mit Skiern bestiegen, die später erfolgte Umrundung des Glocknermassivs, die Glocknerumfahrung, wurde zu einer bis heute beliebten Skitour. Ab 1935 wurde sogar, sofern es die Verhältnisse zuließen, das jährliche hochalpine Glockner-Skirennen durchgeführt. Als Abfahrtslauf oder Riesenslalom und mit von Jahr zu Jahr stark voneinander abweichenden Streckenführungen ausgetragen, brauchten die Sieger für die Strecke von der Adlersruhe über das Hofmannskees bis zur Pasterze jeweils zwei bis drei Minuten. 1959 fand das letzte Glocknerrennen statt, ein Grund für das Ende dieser Veranstaltung waren die schlechter werdenden Bedingungen aufgrund des Gletscherschwundes. Die Eisanstiege der Nordseite wurden in der zweiten Hälfte des 20. Jahrhunderts zu einem interessanten Ziel für Extremskifahrer. Die Pallavicinirinne wurde 1961 erstmals mit Firngleitern (Gerhard Winter, Herbert Zakarias) und 1971 auch mit Skiern (Michael Zojer) befahren. 1981 durchfuhr Stefan Eder die Berglerrinne, 1986 gelang Andreas Orgler die Befahrung der bis zu 70° steilen Mayerlrampe. Trotz seiner Steilheit gilt der Berg heute für Skitouristen als beliebtes Ziel. Die Stüdlhütte ist daher auch während der Tourensaison von März bis Mai geöffnet und der Großglockner wird als Skitourenziel intensiv beworben. Der Aufstieg mit Skiern ist über das Ködnitzkees oder das Hofmannskees möglich. Üblicherweise wird jedoch nicht mit Skiern bis ganz zum Gipfel aufgestiegen. Gipfelkreuz Das erste Gipfelkreuz stellten die vier oben genannten Zimmerleute bereits am 29. Juli 1800 auf, also einen Tag nach der Erstbesteigung. Aufgrund der Exponiertheit verfiel das Holzkreuz jedoch bereits nach wenigen Jahren. Die Kreuze am Klein- und Großglockner von 1799 und 1800 gehörten zu den ersten Gipfelkreuzen im heutigen Sinne, die eigens für die Aufstellung auf einem Gipfel kunstvoll angefertigt wurden. Der Österreichische Alpenklub sicherte sich 1879 den Grund zur Errichtung eines neuen Kreuzes. Dieses wurde anlässlich ihres 25-jährigen Ehejubiläums Kaiser Franz Joseph I. und Kaiserin Elisabeth gewidmet, die bereits 1865 den Berg von der Franz-Josephs-Höhe aus besichtigt hatten. Es wurde von Friedrich von Schmidt entworfen und durch die „Hüttenberger Eisengewerks-Gesellschaft“ in Klagenfurt kostenfrei ausgeführt. Am 2. Oktober 1880 wurde das drei Meter hohe und 300 kg schwere eiserne Kaiserkreuz von Kalser Bergführern am Gipfel aufgestellt. Zum 200-jährigen Jubiläum der Erstbesteigung wurde das Kreuz mit einem Hubschrauber ins Tal geflogen und restauriert. Während dieser Zeit war ein Ersatzkreuz angebracht. Das Kreuz trägt heute kein Gipfelbuch mehr, nachdem mehrere Gipfelbücher gestohlen worden waren. Stattdessen wurde im Juni 2007 ein „Online-Gipfelbuch“ eingerichtet. Ein laufend wechselnder Zugangscode war am Gipfelkreuz zu finden, um nur tatsächlichen Besteigern eine Eintragung zu ermöglichen. Dieses Projekt wurde allerdings im Juni 2008 beendet. Im Mai 2010 wurde unter dem Kreuz eine Gedenktafel für den verstorbenen Politiker Jörg Haider errichtet, aufgrund von Protesten und Beschädigungen jedoch nach kurzer Zeit wieder entfernt. Im August desselben Jahres wurde das Kreuz vermutlich durch Blitzschlag aus seiner Verankerung gerissen und drohte abzustürzen, sodass es in einer aufwändigen Aktion neu fixiert werden musste. Erschließungspläne und Naturschutz Die touristische Attraktivität des Großglockners hatte mehrere Projekte zur Erschließung des Gebietes für den Massentourismus zur Folge. Schon 1889 wurde erstmals an eine Stollenbahn auf die Adlersruhe gedacht. 1895 wurden von Heiligenblut am Großglockner Richtung Pasterze Trassierungsarbeiten für eine (einen einzigen, 25 m langen Tunnel aufweisende) Bergbahn zum Grossglockner vorgenommen. Erste konkrete Pläne für eine Seilbahn zum Gipfel entstanden 1914. 1933 erhielten Planungen für eine Seilbahn zur Adlersruhe bereits eine „Vorkonzession“. Keines dieser frühen Seilbahnprojekte wurde in die Tat umgesetzt. Die ausschließlich touristischen Zwecken dienende Zufahrt zur Franz-Josefs-Höhe, die Gletscherstraße, wurde dagegen 1932 eröffnet. Mit der Fertigstellung der Großglockner-Hochalpenstraße 1935 war dieser Aussichtspunkt auch von Fusch im Bundesland Salzburg aus erreichbar. Weitere Projekte zum Straßenbau, zur Einrichtung eines Skigebiets und zum Bau eines Staudamms (ausgenommen der 1953 vollendete Bau des Speichers Margaritze) wurden allerdings nicht realisiert. Zuletzt planten Investoren im Jahr 2000 eine Umlaufseilbahn von der Franz-Josefs-Höhe zur Pasterze, da diese durch den rapiden Gletscherschwund von dort aus für Touristen nur mehr erschwert zugänglich ist. Die dafür notwendige Herausnahme der benötigten Flächen aus dem Nationalpark konnte jedoch nicht durchgesetzt werden. Um weitere Erschließungspläne wie die von 1914 zu verhindern, kaufte der Villacher Holzindustrielle Albert Wirth 1918 41 km² auf der Kärntner Seite des Großglockners und schenkte das Gebiet dem Österreichischen Alpenverein mit der Auflage, es vor weiterer Erschließung zu schützen. 1938 erwarb der Alpenverein auch 30 km² auf der Tiroler Seite vom Österreichischen Bundesschatz. Der Österreichische Alpenklub ist Eigentümer von 114 m² Glockner-Gipfelfläche auf Tiroler Seite und dem Bereich des Gipfelkreuzes, das auf Tiroler und Kärntner Boden verankert und verspannt wurde. Dieses Gebiet wurde 1971 in den „Nationalpark Hohe Tauern“ eingegliedert, in dessen Kernzone jeglicher Grundstücksverkehr ausgeschlossen ist. 1981 wurde der Kärntner Teil des Großglockners Bestandteil des neugegründeten Nationalparks Hohe Tauern. 1986 schuf die Kärntner Landesregierung innerhalb des Nationalparks das Sonderschutzgebiet Großglockner-Pasterze mit besonders strengen Schutzbestimmungen. 1992 wurde auch der Tiroler Anteil des Berges zum Nationalpark erklärt. Dokumentarfilm Hessischer Rundfunk 2018: Winter am Großglockner - Wo Österreich am höchsten ist (45 min) Literatur Allgemein Karten und Führer 11. Auflage 2010, ISBN 978-3-7633-1266-5, Weblinks Webcam Großglockner – Livebild vom Großglockner Großglockner auf summitpost.org () 360°-Panoramabild vom Großglockner Archivaufnahmen über den Großglockner im Onlinearchiv der Österreichischen Mediathek (volkskundliche Filme, Radiobeiträge, Interviews) Einzelnachweise Berg in Europa Berg in den Alpen Berg in Kärnten Berg in Tirol Glocknergruppe Nationales Symbol (Österreich) Geographie (Kals am Großglockner) Geographie (Heiligenblut am Großglockner)
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Robert Edward Lee
Robert Edward Lee (* 19. Januar 1807 auf der Stratford-Hall-Plantage, Virginia; † 12. Oktober 1870 in Lexington, Virginia) war bis 1861 Oberst des US-Heeres und der erfolgreichste General des konföderierten Heeres. Sein bedeutendstes Kommando während des Amerikanischen Bürgerkrieges (1861–1865) war der Oberbefehl über die Nord-Virginia-Armee. Schließlich wurde er im Januar 1865 zum Oberbefehlshaber des konföderierten Heeres ernannt. Seinen Ruhm begründete er mit zahlreichen Siegen, die er mit unterlegenen Kräften meist durch Verlagerung von Schwerpunkten erfocht. Nach dem Bürgerkrieg setzte er sich für die Aussöhnung zwischen den Kriegsparteien ein und war Präsident der heutigen Washington and Lee University in Lexington, Virginia. Lee wird teilweise heute noch als Held verehrt – vor allem, aber nicht nur, in den Südstaaten. Familienleben Elternhaus, Kindheit und Jugend Lee entstammte einer alteingesessenen und hoch angesehenen Familie in Virginia. Sein Vater Henry Lee, genannt Light-Horse Harry, hatte sich im Unabhängigkeitskrieg ausgezeichnet und die Anerkennung George Washingtons gewonnen. Er war außerdem zeitweise Mitglied des US-Kongresses und Gouverneur von Virginia. Roberts Mutter war Anne Hill Carter Lee. Die finanziellen Verhältnisse der Familie hatten sich zu Beginn des 19. Jahrhunderts deutlich verschlechtert, Henry Lee war zeitweise bankrott und musste Zeit in einem Schuldgefängnis verbringen. Robert Edward Lee konnte deswegen nicht wie sein Bruder Charles Carter Lee in Harvard studieren, sondern wurde an Privatschulen in Alexandria, Virginia unterrichtet und gezielt auf die Berufung an die Militärakademie in West Point, New York vorbereitet, die 1825 erfolgte. Vor ihm hatte bereits sein Bruder Sydney Smith Lee eine militärische Laufbahn ergriffen und war in die United States Navy eingetreten. Auch er entschied sich 1861 für den Süden und wurde ein ranghoher Offizier der Confederate States Navy. Ehe und Kinder 1830 lernte Lee während eines Heimaturlaubs Mary Anna Randolph Custis, eine Urenkelin Martha Washingtons, kennen. Ihr Vater, George Washington Parke Custis, stand der Beziehung skeptisch gegenüber, weil er die Finanzmisere der Lees kannte und befürchtete, dass Lee seiner Tochter vom Gehalt eines Leutnants nicht den gewohnten Lebensstandard bieten könnte. Die Heirat fand trotzdem am 30. Juni 1831 statt. Lee lebte mit Mary und ihrem Vater gemeinsam im Custis Mansion (Arlington House) an den Ufern des Potomac in Arlington, Virginia, gegenüber von Washington, D.C. Aus der Ehe gingen vier Töchter und drei Söhne hervor. Mary erkrankte 1850 schwer an rheumatischer Arthrose und konnte ihren Mann nicht zu seinen verschiedenen Einsatzorten begleiten. Die Ehe galt als glücklich und die beiden Ehepartner als einander treu ergeben. Während des Bürgerkrieges zog Mary mit den Töchtern nach Richmond und folgte ihrem Mann nach dem Krieg nach Lexington. Dort starb sie 1873 und wurde neben ihrem Mann beigesetzt. Lees älteste Söhne dienten sowohl im US-Heer als auch in den Streitkräften der Konföderation: George Washington Custis Lee und William Henry Fitzhugh Lee als Generalmajore und Robert Edward Lee Junior als Hauptmann der Artillerie. G. W. Custis folgte 1871 seinem Vater als Präsident des Washington College. Da von den sieben Kindern fünf kinderlos blieben, gab es 2002 nur 20 direkte Nachkommen Robert E. Lees. Karriere im US-Heer West Point und die Zeit bei den Pionieren Während seines Studiums an der Militärakademie lernte Lee den späteren konföderierten General Albert S. Johnston und den späteren Präsidenten der Konföderierten Staaten von Amerika, Jefferson Davis, kennen. Zu seinen Klassenkameraden zählte unter anderem auch der spätere konföderierte General Joseph E. Johnston, dem er während der Schlacht von Seven Pines als Oberbefehlshaber der Nord-Virginia-Armee nachfolgte. Lees Leistungen an der Akademie waren herausragend. Er schloss sie 1829 als Zweitbester seines Jahrgangs ab und hatte sich in den Jahren seiner Ausbildung keinen Tadel für ungebührliches Verhalten eingehandelt. Nach dem Abschluss wurde Lee zum Leutnant befördert und, auch dank seiner guten Leistungen an der Akademie, dem Pionierkorps des US-Heeres zugeteilt. Nach 17 Monaten in Fort Pulaski auf Cockspur Island im Hafen von Savannah, Georgia wurde Lee nach Fort Monroe, Virginia versetzt. 1834 bis 1837 diente Lee im Stab des Inspekteurs der Pioniere – assistant in the chief engineer’s office – in Washington, D.C. Im Sommer 1835 half er dabei, die Staatsgrenze zwischen Ohio und Michigan festzulegen. 1837 erhielt er schließlich sein erstes eigenständiges Kommando. Als Oberleutnant der Pioniere überwachte Lee die Arbeiten am Hafen von St. Louis und an den oberen Flussläufen des Mississippis und Missouris. Als Anerkennung seiner dortigen Arbeit wurde er zum Hauptmann befördert. 1841 wurde Lee nach Fort Hamilton, im Hafen der Stadt New York, New York gelegen, versetzt und übernahm die Verantwortung für den Bau der Befestigungsanlagen. Mexikanisch-Amerikanischer Krieg Während des Mexikanisch-Amerikanischen Krieges von 1846 bis 1848 zeichnete sich Lee im Stab von General Winfield Scott aus. Mehrere Siege waren Ergebnis seiner Aufklärungsarbeit; z. B. setzte er Artillerie an Orten ein, die vom mexikanischen General Santa Anna als dafür unmöglich bezeichnet worden waren. Im Verlauf des Krieges zeichnete sich Lee durch außerordentliche Geschicklichkeit und Tapferkeit aus. Er erwarb sich das lang währende Vertrauen Scotts, der den jungen Offizier hoch schätzte und bewunderte. Lee kämpfte in den Schlachten von Chapultepec, Contreras, Cerro Gordo und Churubusco, wurde dabei einmal verwundet und erhielt als Anerkennung seiner Leistungen drei Brevet-Beförderungen. Die Brevet-Beförderungen schlugen sich jedoch nicht in höherem Sold nieder. Die Armee wurde nach Kriegsende wieder verkleinert, und auch der Etat des Pionierkorps wurde reduziert. Die amerikanischen Streitkräfte dieser Zeit boten zwar finanzielle Stabilität und Planbarkeit, aber nur wenig Beförderungschancen und gerade für die auf dem privaten Arbeitsmarkt gefragten Pionieroffiziere relativ niedrige Bezahlung. Lee beklagte sich oft über das Armeeleben und spielte mehrfach mit dem Gedanken, die Armee zu verlassen, setzte dies allerdings nie in die Tat um- vielleicht auch, weil er aufgrund der Erfahrungen seines Vaters die finanzielle Sicherheit besonders schätzte. Unter anderem lehnte er das Angebot des Filibusters Narciso López ab, diesen bei der geplanten Eroberung Kubas zu unterstützen. Direktor von West Point und Dienst in Texas Nach dem Mexikanisch-Amerikanischen Krieg verbrachte Lee drei Jahre beim Bau von Fort Carroll im Hafen von Baltimore, Maryland. 1852 wurde er zum Direktor der US-Militärakademie in West Point ernannt und widmete sich der Verbesserung der Gebäude und Lehrgänge sowie dem persönlichen Umgang mit den Kadetten, zu denen auch sein ältester Sohn George Washington Custis gehörte, der die Schule 1854 als Bester seines Jahrgangs abschloss. Ein Jahr später, 1855, wurde Lee Oberstleutnant und stellvertretender Kommandeur des neu aufgestellten 2. US-Kavallerie-Regiments, mit dem er an der texanischen Grenze Siedler vor Angriffen der Comanche und Apachen verteidigte. Regimentskommandeur war Oberst Albert S. Johnston, viele spätere Generale der Konföderation waren Angehörige des Regiments, z. B. William J. Hardee, Earl Van Dorn, Edmund Kirby Smith, John Bell Hood oder Lees Neffe Fitzhugh. Dies waren nicht die glücklichsten Jahre Lees, da er nur ungern lange Zeit von seiner Familie getrennt verbrachte. Als seine Frau 1859 ernsthaft erkrankt war und Lee sich im Urlaub in Arlington befand, überfiel der radikale Sklavereigegner John Brown die Waffenfabrik des US-Heeres in Harpers Ferry (heute West Virginia). Lee erhielt den Auftrag, Brown zu verhaften und wieder für Ordnung zu sorgen. Nachdem dies erreicht war, kehrte er zu seinem Regiment nach Texas zurück und wurde nach der Lossagung Texas' von der Union Anfang 1861 nach Washington, D.C. zurückbeordert. Dort wurde Lee zum Oberst befördert und zum Kommandeur des 1. US-Kavallerie-Regiments ernannt. Lees Haltung zur Sezession und zur Sklavenfrage Lee entstammte einer föderalistischen Familie, stand politisch den ehemaligen Whigs nahe und gehörte somit nicht zu den Anhängern der Souveränität der Einzelstaaten. In der Präsidentschaftswahl 1860 stimmte er allerdings nicht für die Constitutional Union Party und ihren Kandidaten John Bell, sondern für die Süd-Demokraten und John C. Breckinridge. Etwas widersprüchlich sind auch die ihm zugeschriebenen Aussagen zur Sezession: Einem Bericht von 1884 nach hatte er Anfang 1861 einem Freund gesagt, dass er nicht an ein von der Verfassung verbrieftes Sezessionsrecht glaube. Sein Neffe Fitzhugh Lee dagegen schrieb in seiner 1894 erschienenen Biographie des Generals, dass Lee vom Sezessionsrecht überzeugt gewesen sei. Robert Edward Lee selbst schrieb am 23. Januar 1861 in einem Brief an seinen Sohn, dass er für die Bewahrung der Einheit der Nation alles außer seiner Ehre opfern würde. Lee stimmte aber mit den Südstaatlern darin überein, dass sie durch die vom Norden getroffenen abolitionistischen Maßnahmen außerordentlich betroffen seien. In einem Brief an seinen Sohn am 14. Dezember 1860 lehnte er jedoch den Kurs der „Baumwollstaaten“ besonders gegen die „Grenzstaaten“ ab, diese mit Drohungen zum Abfall von der Union zu bewegen. In dem zuerst zitierten Brief nannte er die Sezession eine Revolution, sei aber bereit, alle richtigen Schritte zur Wiedergutmachung mitzugehen. Nur folgerichtig stellte er weiter fest, dass eine Union, die nur durch Schwerter und Bajonette zusammengehalten werden könnte, für ihn nicht attraktiv sei. Er schrieb seinem Sohn weiter, dass, wenn die Union aufgelöst und die Regierung gespalten werde, er in seinen Heimatstaat zurückkehren, die Nöte der Bevölkerung teilen und nie mehr gegen irgendjemanden kämpfen werde, außer er müsse sich verteidigen. Diese Entscheidung, im Konfliktfall neutral zu bleiben, stand also bereits im Januar 1861 fest. Trotzdem fiel ihm der endgültige Entschluss, den Dienst zu quittieren, nicht leicht. Das betonte er in seiner ablehnenden Antwort auf das Angebot, den Oberbefehl über das US-Heer zu übernehmen, am 20. April 1861. Vom virginischen Konvent am 23. April 1861 gebeten, die Führung der virginischen Miliz zu übernehmen und neue Streitkräfte aufzubauen, nahm er diese Aufgabe entgegen seinem ursprünglichen Willen pflichtbewusst an. In einem Brief vom 25. April formulierte er den Wunsch, der ihn auch durch den Bürgerkrieg leitete, eine auf Verteidigung ausgerichtete Politik durchzuführen, um den Angriffen standhalten zu können, damit der Zorn mit der Zeit abklingen und die Vernunft die Oberhand gewinnen könnte. Aufgrund der finanziellen Misere seines Vaters gehörte Lees Familie nicht zu den virginischen Großgrundbesitzern, die Dutzende von Sklaven zur Bewirtschaftung von Plantagen ausnutzten. Lee war aber trotzdem als Angehöriger der virginischen Oberschicht aufgewachsen und somit mit der Sklaverei vertraut. Seine Mutter hatte nach dem Tod seines Vaters noch rund sechs Sklaven besessen, und Lee scheint einige davon geerbt zu haben. Nach Sean Kane vom American Civil War Museum besaß sie „drei bis vier“ Familien von Sklaven. Mary Custis brachte eine Anzahl Sklaven für die Hausarbeit in den gemeinsamen Haushalt ein. 1857 starb Lees Schwiegervater George Washington Parke Custis. Custis, zu dessen Vermögen unter anderem drei Anwesen, Arlington, White House und Romancoke samt 189 Sklaven gehörten, hatte Lee zu seinem Testamentsvollstrecker gemacht. Custis vererbte je eines der Anwesen an einen seiner drei Enkelsöhne, also an Lees Söhne. Seine Sklaven sollten nach höchstens fünf Jahren ihre Freiheit erhalten. Custis hatte jedoch auch verfügt, dass jede seiner vier Enkeltöchter mit zehntausend Dollar bedacht werden sollte. Dies stellte Lee als Testamentsvollstrecker vor Schwierigkeiten, denn ein Großteil dieses Geldes musste durch die drei Anwesen, also durch die Arbeit der Sklaven, erwirtschaftet werden. Die landwirtschaftlichen Betriebe waren jedoch in keinem guten Zustand, und außerdem mussten noch 10.000 Dollar Schulden von Custis beglichen werden. Lee hatte in Arlington mehr Sklaven, als er für die Bewirtschaftung benötigte, und vermiete einige davon, wobei er nicht darauf achtete, die Familien der Sklaven zusammen zu halten. Als 1859 drei Sklaven flohen und wieder ergriffen wurden, ließ Lee sie auspeitschen. Diese Bestrafung wurde durch die New York Tribune schon kurz darauf publik gemacht. Gemäß dem Testament entließ Lee die Sklaven Anfang 1863 in die Freiheit, etwas später als verlangt. Mit ihnen entließ er auch die einzige Sklavenfamilie, die er selbst besaß, in die Freiheit. In einem Brief, den Lee am 7. Dezember 1856 an seine Frau schrieb, wird seine Haltung zur Sklaverei deutlich. Er räumte darin zwar ein, dass die Sklaverei ein „moralisches und politisches Übel“ sei, stellt aber insgesamt fest: Sein am 18. Februar 1865 vorgeschlagener Plan, Sklaven aus der Sklaverei zu entlassen und anschließend für den Süden kämpfen zu lassen, hatte vermutlich nichts mit seiner Haltung zur Sklaverei an sich zu tun, sondern war wohl ein letzter „Strohhalm“, um die rapide schwindende Mannschaftsstärke seiner Armeen wiederherzustellen. Amerikanischer Bürgerkrieg Entscheidung für den Süden Am 18. April 1861, vier Tage nach den Schüssen auf Fort Sumter, bot der einflussreiche Politiker Francis Preston Blair Lee im Auftrag des Präsidenten Abraham Lincoln das Kommando über das Unionsheer an. Lee lehnte das Angebot wegen seiner Verbundenheit mit seinem Heimatstaat Virginia ab, der inzwischen auch aus der Union ausgetreten war. Sein Offizierspatent gab er am 23. April zurück, verabschiedete sich von seinen Freunden in Washington, D.C. und kehrte nach Virginia zurück. Dort wurde er kurz darauf zum Oberbefehlshaber des virginischen Heeres ernannt. Als dieses Teil der konföderierten Streitkräfte wurde, beförderte Präsident Davis Lee und vier andere zu Brigadegeneralen. Die anderen vier erhielten Truppenkommandos, Lee musste die Verteidigung der Hauptstadt organisieren. Nach dem ersten konföderierten Sieg bei Manassas wurde der Rang des Full Generals (Vier-Sterne-Generals) geschaffen und Lee wurde nach Samuel Cooper und Albert Sidney Johnston als dritter Soldat der Konföderation zu diesem befördert. Die Abzeichen eines konföderierten Generals (drei Sterne im Eichenkranz) wollte er aber nie tragen – er trug die Abzeichen eines Obersten der Provisional Army of the Confederate States (PACS) – drei Sterne, äquivalent zu seinem erdienten Rang im US-Heer. Erste Kommandos im konföderierten Heer Sein erstes Truppenkommando erhielt Lee im Herbst 1861 im westlichen Virginia. Seine Offensive am Cheat Mountain scheiterte allerdings zum einen wegen der ungewöhnlichen Art seiner Befehlsgebung, zum anderen auf Grund der Fehler seiner Untergebenen. Immerhin gelang es ihm, das weitere Vordringen der Unionstruppen nach Osten zu verhindern; das westliche Virginia blieb unter Kontrolle des Nordens und spaltete sich 1863 als West Virginia ab. Nach einer kurzen Verwendung als Befehlshaber des Wehrbereichs South Carolina, Georgia und Florida wurde Lee 1862 von Präsident Davis als Militärischer Berater – Kriegsminister ohne Kompetenzen – nach Richmond, Virginia berufen. Nach der schweren Verwundung von Joseph E. Johnston in der Schlacht von Seven Pines am 1. Juni 1862 übernahm er das Kommando über die Nord-Virginia-Armee. Da Generalmajor McClellan vor den Toren Richmonds stand (siehe auch Halbinsel-Feldzug), setzte Lee die Soldaten der Nord-Virginia-Armee zur Verbesserung der Befestigungen der Hauptstadt ein. Die Soldaten, die das Eingraben als unwürdig und unehrenhaft empfanden, verspotteten ihn als „King of Spades“. (Spatenkönig/engl. Wortspiel mit „Pik-König“) Später wandelte sich dieser Spott jedoch in einen Ehrennamen, als die Soldaten erkannten, dass das Eingraben besonders während Grants Überland-Feldzug Leben rettete und zu Siegen verhalf. Vom Chickahominy an den Antietam Lee gelang mit seinem neuen Kommando, woran Johnston bislang gescheitert war. In der Sieben-Tage-Schlacht vertrieb er McClellan unter hohen Verlusten für beide Seiten von der Virginia-Halbinsel. Dieser Sieg verkleinerte die Gefahr für die Stadt Richmond erheblich, von den Nordstaaten erobert zu werden. Lees Sieg war jedoch nicht so vollständig, wie er erhofft hatte, da die Durchführung der Gefechte an der schwerfälligen Umsetzung seiner Aufträge durch seine Untergebenen gelitten hatte. Um die Koordination seiner Armee zu verbessern, teilte Lee sie deswegen in zwei große „Flügel“ (“wings”) (später Korps) ein, deren Kommandeure James Longstreet und Thomas Jonathan “Stonewall” Jackson wurden. In der Zwischenzeit drohte von Norden durch Generalmajor John Pope und dessen Virginia-Armee eine neue Gefahr. Lee marschierte mit seiner Armee Pope entgegen und fügte ihm in der Zweiten Schlacht am Bull Run eine verheerende Niederlage zu. Diese beiden großen Erfolge schienen das Blatt innerhalb von zwei Monaten gewendet zu haben. Lee ergriff seinerseits die Offensive und marschierte im Norden in Maryland ein. Damit wollte er die Einwohner des Sklavenhalterstaates Maryland zum Austritt aus der Union bewegen, den Farmern im nördlichen Virginia ermöglichen, ihre Ernte ohne Störungen einzubringen, und durch einen Sieg England und Frankreich dazu bringen, die Konföderation anzuerkennen. Letzteres hätte die Union zum Friedensschluss gezwungen. Vor der Schlacht am Antietam zeigte er in den Schlachten am South Mountain und bei Harpers Ferry sein taktisches Können. Zahlenmäßig stark unterlegen wurde er anschließend von General McClellan und dessen Potomac-Armee am Antietam angegriffen und konnte sich nur mit Mühe behaupten. Die hohen Verluste zwangen ihn zum Rückzug nach Virginia. Fredericksburg und Chancellorsville Lee bekam nach der Schlacht am Antietam einen neuen Gegenspieler – Generalmajor Ambrose Everett Burnside wurde neuer Oberbefehlshaber der Potomac-Armee. Burnside befahl einen Angriff über den Rappahannock bei Fredericksburg. Wegen Verzögerungen bei der Zuführung von Ponton-Brücken und der Unfähigkeit Burnsides, einen anderen Operationsplan zu entwickeln, gewann Lee die Zeit, die Verteidigung vorzubereiten. Der am 13. Dezember 1862 durchgeführte Angriff der Potomac-Armee endete unter hohen Verlusten in einer Niederlage der Nordstaatler. Lee kommentierte die hohen Verluste des Gegners mit einem seiner berühmtesten Aussprüche: Nach dieser Niederlage ernannte Lincoln Generalmajor Joseph Hooker zum Oberbefehlshaber der Potomac-Armee, der im Mai 1863 beabsichtigte, Lee rechts zu umgehen und dessen linke Flanke bei Chancellorsville anzugreifen. Lee vereitelte diese Absicht durch den Entschluss, die Nord-Virginia-Armee zu teilen und seinerseits Hookers rechte Flanke anzugreifen. Es wurde ein überwältigender Sieg des Südens über die stärkeren Streitkräfte des Nordens, für den Lee allerdings einen hohen Preis bezahlen musste – neben den prozentual höheren Verlusten hatte er auch den Verlust von Stonewall Jackson zu verschmerzen, der in den Monaten zuvor sein fähigster Untergebener gewesen war und von dem er sagte, er habe mit ihm seinen „rechten Arm“ verloren. Der Gettysburg-Feldzug und der Kampf gegen General Grant Nach dem Sieg bei Chancellorsville hielt Lee seine Soldaten für unbesiegbar. Er wollte deshalb die Potomac-Armee auf dem Territorium der Union schlagen, seine Nord-Virginia-Armee aus den reichen Vorräten Pennsylvanias versorgen, den Farmern im nördlichen Virginia eine ungestörte Ernte ermöglichen und mit einem Sieg die kriegsmüden Abgeordneten im Kongress zur Einstellung der Kampfhandlungen bewegen. Noch erbost von der Plünderung Fredericksburgs durch die Nordstaatler erließ Lee die General Orders No. 73 und ordnete an, jedwede Art von Plünderungen und Misshandlungen der Zivilbevölkerung zu unterlassen. Lee marschierte von der Potomac-Armee unbemerkt ein zweites Mal auf Unionsgebiet. Bei Gettysburg, Pennsylvania, wurde er wegen mangelhafter Aufklärung zunächst gegen seinen Willen zur dreitägigen Schlacht gezwungen, die er am Morgen des zweiten Tages jedoch annahm. Die Potomac-Armee, jetzt unter Generalmajor George Gordon Meade, wehrte alle Angriffe ab. Bezeichnend war auch hier, dass sich Lee am Abend des zweiten Tages bitterlich über die Unfähigkeit seiner Untergebenen beklagte, seine Aufträge so auszuführen, wie er sich das vorstellte. Lee erlitt hohe Verluste und war gezwungen, nach Virginia auszuweichen. Wie schon nach Antietam wurde die Nord-Virginia-Armee auch dieses Mal nicht energisch genug verfolgt. Am 8. August 1863 schickte Lee wegen der verlorenen Schlacht ein Rücktrittsgesuch an Präsident Jefferson Davis. Dieser lehnte Lees Ersuchen ab. Anfang 1864 wurde Ulysses S. Grant, der Sieger von Vicksburg und Chattanooga, zum neuen Oberbefehlshaber des US-Heeres ernannt. Er schlug sein Hauptquartier im Feld bei Meades Potomac-Armee auf, mit der er Lees Armee vernichten wollte. Lee gelang es zwar, jeden Vorstoß Grants zu stoppen, aber der blieb standhaft bei seinem Kriegsziel und besaß dazu genügend Soldaten, um die Angriffe immer wieder an anderen Stellen zu erneuern. In der Wilderness, bei Spotsylvania Court House und bei Cold Harbor fanden blutige Schlachten statt, die jedes Mal das gleiche Ergebnis hatten: Grant wurde unter großen Verlusten auf beiden Seiten abgewehrt, wich aber nicht aus, sondern griff wenig später die Nord-Virginia-Armee an anderer Stelle erneut an. Belagerung von Petersburg und Kriegsende Nach der Niederlage bei Cold Harbor entschloss sich Grant, die Nord-Virginia-Armee am wichtigen Eisenbahnknotenpunkt Petersburg, Virginia, anzugreifen. Die Einnahme von Petersburg durch die Unionsarmeen scheiterte aber, und es kam zur Belagerung von Petersburg, die vom Juni 1864 bis April 1865 dauerte. In dieser Zeit machte sich Grant seine numerische Überlegenheit zunutze und dehnte seine Linien immer weiter aus. Lee, seit 31. Januar 1865 Oberbefehlshaber des gesamten konföderierten Heeres, wurde dadurch gezwungen, seine Linien auszudünnen. Lee sah das Ende seiner Armee und der Konföderation kommen. Anfang 1865 drängte er zur Annahme eines schon öfter vorgebrachten, aber bis dato immer verworfenen Planes, der es Sklaven erlauben sollte, im konföderierten Heer zu dienen. Als Anreiz sollten sie im Gegenzug ihre Freiheit erhalten können. Dieser Plan trat zwar in der kurzen Zeit, die der Konföderation noch blieb, mit dem am 13. März 1865 vom Präsidenten unterzeichneten Bundesgesetz in Kraft, blieb aber bedeutungslos. Nur Virginia hatte bereits vorher ein ähnliches Gesetz verabschiedet und zwei Kompanien aufgestellt. Die Freiheit sollten diese Soldaten nicht erhalten. Nachdem Lees Nord-Virginia-Armee in monatelangen Kämpfen abgenutzt worden war, nahmen die Unionstruppen am 2. April 1865 Petersburg ein. Lee gab die Verteidigung Richmonds auf und versuchte sich General Joseph E. Johnstons Tennessee-Armee in North Carolina anzuschließen. Seine Truppen wurden aber von den vereinigten Unions-Armeen umstellt (siehe Appomattox-Feldzug) und er kapitulierte gegenüber General Grant am 9. April 1865 in der Ortschaft Appomattox Court House, Virginia. Während der Kapitulation erklärte Lee für sich und seine Soldaten ehrenwörtlich, nie wieder die Hand gegen die Vereinigten Staaten zu erheben. Im Gegenzug garantierte ihnen Grant, von den Behörden der USA nicht belangt zu werden, so lange sie sich an das Ehrenwort und die geltenden Gesetze hielten. Lee ging daraufhin nach Hause; als nach dem Krieg der Ruf laut wurde, ihn und andere hochrangige Konföderierte vor Gericht zu stellen, wurde dies unter anderem durch das von Grant gegebene Versprechen vereitelt. Nachkriegszeit Bis zum Tode Alle Angehörigen der Nord-Virginia-Armee hatten zunächst den Status von auf Ehrenwort entlassenen Kriegsgefangenen. Am 29. April 1865 ermöglichte Präsident Johnson es ihnen, durch das Leisten eines Treueeides auf die Union ihre Bürgerrechte zurückzuerhalten. Wie viele andere beantragte Lee diese Amnestie auch. Sie wurde ihm allerdings nie gewährt, da der damalige Außenminister William H. Seward den Antrag direkt zu den Akten legte; vermutlich nahm er an, dass der Fall bereits bearbeitet würde. Lee interpretierte das Ausbleiben einer Antwort so, dass die Regierung sich das Recht vorbehalten wolle, ihn zu einem späteren Zeitpunkt vor Gericht zu stellen. Der Irrtum klärte sich erst auf, als das Dokument Jahrzehnte später gefunden wurde. Lees Beispiel, die Amnestie zu beantragen, war eine Ermutigung für viele andere Konföderierte, den Kriegsausgang zu akzeptieren und erneut Bürger der Vereinigten Staaten zu sein. Lee hatte vor dem Krieg gemeinsam mit seiner Frau im Haus ihrer Familie, dem Custis-Lee Mansion, gelebt. Das Grundstück wurde während des Krieges von Truppen der Union beschlagnahmt und 1864 zum Friedhof umfunktioniert, heute ist es Teil des Nationalfriedhofs Arlington. 1882, also nach Lees Tod, entschied der Oberste Gerichtshof, dass die Enteignung illegal gewesen sei. Lees Sohn, G. W. Custis, verkaufte daraufhin das Grundstück für 150.000 Dollar an die US-Regierung. Am 2. Oktober 1865 wurde Lee Präsident des Washington College (heute Washington and Lee University) in Lexington, Virginia. Unter seiner Führung wurde das Washington College eines der ersten in den USA, das Kurse in Wirtschaft, Journalismus und Spanisch anbot. Robert Edward Lee starb am 12. Oktober 1870 in Lexington an einer Herzerkrankung. Aufgrund der damals beobachteten Symptome wird heute angenommen, dass er schon seit längerer Zeit an Angina pectoris und Herzinsuffizienz litt. Dass er in den letzten zwei Wochen vor seinem Tod nicht mehr richtig sprechen konnte, wird auf einen Schlaganfall zurückgeführt. 1970 fand ein Angestellter des Nationalarchivs die Niederschrift des von Lee geleisteten Treueeids. Deswegen begnadigte Präsident Gerald Ford 1975 Robert E. Lee posthum und verlieh ihm erneut seine vollständigen Bürgerrechte. Lee als Feldherr Aufgrund seiner militärischen Entscheidungen und Handlungen wird Lee als einer der großen Feldherren der Geschichte angesehen. Obwohl durch den Mangel an Material und politische Zwänge behindert, war sein Handeln stets wagemutig und er zögerte nie, schwerwiegende Risiken einzugehen. Meist ging dieses Konzept auch auf, scheiterte jedoch bei Gettysburg. Auf dem Schlachtfeld war er bei Angriffen energisch und in der Verteidigung hartnäckig. Bei seinen Soldaten war er beliebt. Lee dominierte das Geschehen auf dem Schlachtfeld und seine überragenden Fähigkeiten kamen gerade in den letzten hoffnungslosen Schlachten des Krieges zum Ausdruck. Eine Besonderheit Lees war das Führen mit Aufträgen. Das war damals wie heute in den amerikanischen Streitkräften nicht üblich, deshalb benötigten seine Untergebenen einige Zeit, sich auf die damit verbundenen Freiheiten einzustellen. Das führte bei einigen Feldzügen zur Niederlage: Während des zweiten Tages der Schlacht von Gettysburg befahl er dem Kommandierenden General des II. Korps, Generalleutnant Richard S. Ewell, anzugreifen, wenn sich eine “favorable opportunity” (günstige Gelegenheit) ergeben sollte. Ewell sollte eine solche Situation herbeiführen. Er wartete jedoch ab, ob eine solche eintrat. Weitere Beispiele dazu gibt es in der Sieben-Tage-Schlacht. War das gegenseitige Verständnis jedoch eingespielt, z. B. beim Maryland-Feldzug oder während der Schlachten von Fredericksburg und Chancellorsville, ergaben sich gegenüber den Nordstaatlern eindrucksvolle Siege. Lees Strategie und Taktiken werden heute noch an Militärakademien als Musterbeispiel dafür gelehrt, dass eine personell und materiell unterlegene, schlechter ausgerüstete Armee einem übermächtigen Gegner standhalten kann. Ehrungen Bereits während des Sezessionskrieges, 1862, wurde ein Blockadebrecher nach Lee benannt (CSS Robert E. Lee, vormals der britische Raddampfer Giraffe). Später benannte das amerikanische Heer den Panzer M3 Lee/Grant nach ihm und seinem Gegner der Jahre 1864/65, während die amerikanische Marine das Atom-U-Boot SSN 601 auf den Namen USS Robert E. Lee taufte. Die Geburtstage Lees und Stonewall Jacksons wurden in Virginia bis 2020 jedes Jahr mit dem Lee-Jackson-Tag gefeiert. Auch in Alabama, Arkansas, Georgia und Mississippi gibt es Feiertage zu seinem Gedenken und in Texas wird der Confederate Heroes Day am 19. Januar, Lees Geburtstag, gefeiert. Monumente und Denkmäler zu Lees Ehren gibt es über den ganzen Süden verstreut, 1970 wurde außerdem das größte Flachrelief der Welt am Stone Mountain fertig gestellt. Es zeigt drei Persönlichkeiten der Konföderierten Staaten von Amerika: Robert E. Lee, Thomas J. Jackson und Jefferson Davis. Der Asteroid des inneren Hauptgürtels (3155) Lee ist nach ihm benannt. Entfernung von Denkmälern In den USA werden seit der Jahrtausendwende zunehmend Denkmäler von Südstaatengeneralen demontiert sowie nach ihnen benannte Gebäude, Straßen und Plätze umbenannt. Am 16. Dezember 2020 entschied eine virginische Kommission, die vom Bundesstaat für die National Statuary Hall zur Verfügung gestellte Statue Lees durch ein Denkmal der amerikanischen Bürgerrechtlerin Barbara Rose Johns zu ersetzen. Die Statue wurde am 20. Dezember 2020 auf Anordnung des virginischen Gouverneurs Ralph Northam entfernt und soll im Virginia Museum of History and Culture in Richmond aufgestellt werden. Der Stadtrat von Charlottesville beschloss am 6. Februar 2017, das Reiterstandbild Lees zu entfernen. Die Statue wurde am 10. Juli 2021 von ihrem Sockel im bereits umbenannten Market Street Park unter dem Beifall vieler Bürger entfernt und wird in einer städtischen Liegenschaft bis zu einer Entscheidung des Stadtrats über ihre weitere Verwertung zwischengelagert. Im Sockel einer anderen in Virginias Hauptstadt Richmond entfernten Statue wurde am 22. Dezember 2021 eine Zeitkapsel aus dem Jahr 1887 gefunden und geöffnet. Sie enthielt drei Bücher, eine Silbermünze und einen in Leinen eingeschlagenen Umschlag. Bis zur Umbenennung in Fort Gregg-Adams am 27. April 2023, war diese militärische Einrichtung nach ihm, Fort Lee, benannt. Literatur United States. War Dept.: The War of the Rebellion, a Compilation of the Official Records of the Union and Confederate Armies. Govt. Print. Off., Washington 1880–1901. Elizabeth Brown Pryor: Reading the Man: A Portrait of Robert E. Lee Through His Private Letters, Penguin 2008, ISBN 978-0-14-311390-4 (erhielt den Lincoln-Preis) Thomas L. Connelly: The Marble Man. Robert E. Lee and His Image in American Society. Alfred A. Knopf, New York 1977, ISBN 0-394-47179-2 Fitzhugh Lee: General Lee. A biography of Robert Edward Lee. Da Capo Press, New York 1994, ISBN 0-306-80589-8 (Fitzhugh Lee war Lees Neffe und selbst Generalmajor der Konföderation) Douglas Southall Freeman: R. E. Lee – A Biography. Charles Scribner's Sons, New York/London 1934. Walter H. Taylor: General Lee, His Campaigns in Virginia 1861–1865. With Personal Reminiscences. University of Nebraska Press, Lincoln 1994, ISBN 0-8032-9425-5 (Walter Herron Taylor war einer von Lees Stabsoffizieren) Ezra J. Warner: Generals in gray. Lives of the Confederate commanders. Louisiana State University Press, Baton Rouge 1978, ISBN 0-8071-0823-5 Scott Bowden, Bill Ward: Last Chance for Victory. Robert E. Lee and the Gettysburg Campaign. Da Capo Press, New York 2003, ISBN 0-306-81261-4 Brian Holden Reid, Robert E. Lee. Icon for a Nation. Weidenfeld & Nicolson, London 2005, ISBN 0-297-84699-X (britischer Militärhistoriker) Emory M. Thomas: Robert E. Lee. A Biography. W. W. Norton, New York und London 1995, ISBN 0-393-03730-4 Falko Heinz, Robert E. Lee und Ulysses S. Grant. Eine Gegenüberstellung der bedeutendsten Generale des amerikanischen Bürgerkrieges. Verlag für Amerikanistik, Wyk auf Föhr 2003, ISBN 3-89510-091-9. Jonathan Horn: The Man Who Would Not Be Washington: Robert E. Lee’s Civil War and His Decision That Changed American History. Scribner, New York 2015, ISBN 978-1-4767-4856-6. David J. Eicher: Robert E. Lee. A Life Portrait. Guilford: Rowman & Littlefield 2020, ISBN 978-1-4930-4808-3. Allen C. Guelzo: Robert E. Lee: Life. Alfred A. Knopf, New York 2021, ISBN 978-1-101-94622-0. Weblinks Complete text of Recollections and Letters of General Robert E. Lee The War of the Rebellion: Offizielle Berichte des Bürgerkrieges (englisch) The Civil War: Son of the South Einzelnachweise Militärperson (Konföderierte Staaten) General Oberst (United States Army) Person im Mexikanisch-Amerikanischen Krieg Superintendent der United States Military Academy Absolvent der United States Military Academy Universitätspräsident Namensgeber für ein Schiff Person (Virginia) US-Amerikaner Geboren 1807 Gestorben 1870 Mann Person als Namensgeber für einen Asteroiden Sklavenhalter (Neuzeit)
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https://de.wikipedia.org/wiki/Angriff%20auf%20Pearl%20Harbor
Angriff auf Pearl Harbor
Der Angriff auf Pearl Harbor, auch bekannt als Überfall auf Pearl Harbor beziehungsweise als Operation Ai, war ein Überraschungsangriff der Kaiserlich Japanischen Marineluftstreitkräfte in Friedenszeiten auf die in Pearl Harbor im Hawaii-Territorium vor Anker liegende Pazifikflotte der USA am 7. Dezember 1941. Am darauffolgenden Tag erklärten die USA dem Kaiserreich Japan den Krieg. Mit dem Angriff weitete das Kaiserreich Japan den seit 1937 geführten Pazifikkrieg aus. Durch die Operation sollte die Pazifik-Flotte der USA vorübergehend ausgeschaltet werden, um ungehinderten Zugriff auf Rohstoffe in Südost-Asien zu erhalten. Nach der Kriegserklärung der USA am 8. Dezember erklärten daraufhin das mit Japan verbündete nationalsozialistische Deutsche Reich sowie Italien am 11. Dezember 1941 den Krieg gegen die USA (Kriegserklärung Deutschlands und Italiens an die Vereinigten Staaten). Damit wurde der Angriff auf Pearl Harbor mit seinen Folgen zu einem entscheidenden Wendepunkt im Zweiten Weltkrieg, denn die Kriegserklärung der USA an Japan und die Kriegserklärung der Achsenmächte gegen die USA bedeuteten den Eintritt der Vereinigten Staaten in den Zweiten Weltkrieg. Zwar hatten die USA auch vor dem 11. Dezember beträchtliche materielle Unterstützung (Lend-Lease) an Großbritannien und die Sowjetunion geleistet und sich auch militärisch am Schutz der Geleitzüge nach Europa beteiligt, wobei amerikanische Kriegsschiffe wiederholt aktiv an Angriffen auf deutsche U-Boote beteiligt waren, aber sie waren formal noch neutral geblieben. Ein Großteil der amerikanischen Pazifikflotte wurde durch den Angriff ausgeschaltet. Das lag besonders daran, dass die Befehlshaber in Pearl Harbor Überraschungsangriffen unzureichend vorgebeugt hatten. Zum Zeitpunkt des Angriffs waren die Flugzeugträger der Pazifikflotte nicht in Pearl Harbor und wurden daher nicht getroffen. Die Japaner hatten die Treibstoffdepots, Werften und Docks nicht angegriffen, so konnte der intakte Teil der Pazifikflotte uneingeschränkt eingesetzt werden. Nur wenige Stunden vor dem Angriff hatte die japanische Offensive gegen die britischen und niederländischen Kolonien in Südostasien begonnen (Japanische Invasion der Malaiischen Halbinsel). Der Angriff auf Pearl Harbor wird als die Schlacht angesehen, in deren Folge das Schlachtschiff als dominierendes Element des Seekrieges durch Flugzeugträger und vor allem Flugzeuge abgelöst wurde. Obwohl der Angriff die USA militärisch schwächte, waren die langfristigen Folgen für Japan fatal. Durch den in den USA als „heimtückisch“ aufgefassten Angriff gelang es der amerikanischen Regierung, die bis dahin größtenteils pazifistisch oder isolationistisch eingestellte US-Bevölkerung für den Kriegseintritt zu mobilisieren, was auf Grund des enormen amerikanischen Industriepotenzials die Entscheidung zu Gunsten der Alliierten herbeiführte. Der Name Pearl Harbor gilt bis heute in den USA als Synonym für einen ohne jede Vorwarnung erfolgten vernichtenden Angriff. Die amerikanisch-japanischen Beziehungen vor dem Angriff auf Pearl Harbor Seit 1937 führte Japan in China den Zweiten Japanisch-Chinesischen Krieg. Die Vereinigten Staaten waren anfangs neutral, jedoch änderte sich ihre Haltung in den folgenden Jahren wegen des Panay-Vorfalls sowie sich häufender Berichte über japanische Gräueltaten, wie zum Beispiel das Massaker von Nanking, zugunsten Chinas. So stellten sich die USA zunehmend auf die Seite Chinas. Es ging den USA darum, den eigenen Einfluss und ihre ökonomischen Interessen in Asien zu schützen. Sie lieferten große Mengen Kriegsmaterials an China. Ferner warnten die USA Anfang 1940 Japan davor, in Französisch-Indochina einzumarschieren, und verlegten demonstrativ ihre Pazifikflotte aus ihrer Heimatbasis San Diego an der Westküste nach Pearl Harbor auf den Hawaii-Inseln. Als Japan im Juli 1940 trotz amerikanischer Warnung Truppen in Indochina stationierte, schränkte die amerikanische Regierung unter Präsident Franklin D. Roosevelt im September 1940 den amerikanischen Export von Erdöl und Stahl nach Japan ein (damals bezog Japan 80 % seines Erdöls aus den USA). Als dies nicht die gewünschte Wirkung hatte und Japan am 24. Juli 1941 nach einigem Druck auf das Vichy-Regime Französisch-Indochina mit 40.000 Soldaten besetzte, hatte sich die Situation verschärft. Jetzt konnte Japan den Nachschub für China abschneiden und hatte den Weg zu den Erdölquellen in Niederländisch-Indien frei. Daraufhin verhängten die USA am 25. Juli 1941 ein vollständiges Öl-Embargo gegen Japan und froren alle japanischen Guthaben ein. Da sich Großbritannien und Niederländisch-Indien diesem Schritt anschlossen, verlor Japan 75 % seines Außenhandels und 90 % seiner Öl-Importe. Ohne die Öl-Importe reichten Japans Reserven für Industrie und Militär nur für wenige Monate, daher musste die japanische Führung unter Premierminister Hideki Tōjō innerhalb dieser Zeit die Ölzufuhr wiederherstellen, wenn sie den Zusammenbruch des Reiches verhindern wollte. Dazu sah sie nur zwei Möglichkeiten: entweder erreichte Japan eine Aufhebung des Embargos durch Verhandlungen mit Washington als Gegenleistung für japanische Konzessionen, oder Japan stellte seine Versorgung mit Öl und anderen knappen Ressourcen durch Inbesitznahme der rohstoffreichen südostasiatischen Kolonien Großbritanniens und der Niederlande gewaltsam sicher. Die Mehrheit der japanischen Führung hielt eine Einigung mit den USA, zu akzeptablen Bedingungen für Japan, für unwahrscheinlich. Außerdem würde Japan auch bei einer Einigung weiterhin von ausländischen Rohstoffen abhängig sein. Die Konsequenzen dieser Abhängigkeit waren akut. Japan nahm dennoch Verhandlungen mit der amerikanischen Regierung auf, die schließlich am 26. November 1941 zur Hull-Note führten. Diese wurde von Premierminister Tōjō und dem japanischen Kabinett als Ultimatum aufgefasst. Währenddessen bereitete das Militär den Angriff auf die britischen und holländischen Kolonien im Süden vor. Aus Sicht Japans war die Gelegenheit günstig, da die Niederlande über keine nennenswerten Streitkräfte verfügten und Großbritanniens Kräfte wegen des Krieges in Europa gebunden waren. Zudem war Japan durch den Automedon-Vorfall in den Besitz der streng geheimen strategischen Direktiven des britischen Generalstabs für Fernost gekommen. Diese enthielten nicht nur eine detaillierte Analyse der vorhandenen britischen Streitkräfte in Asien und der geplanten Strategien im Kriegsfall, sondern auch die besonders wertvollen Informationen, inwiefern Großbritannien gewillt war, Kräfte von anderen Fronten nach Asien zu verlegen. Dadurch war das japanische Oberkommando besser über die britische Verwundbarkeit informiert als die meisten britischen Befehlshaber. Allerdings lagen zwischen Japan und den zu erobernden Rohstoffen immer noch die Philippinen, die zu diesem Zeitpunkt eine halbautonome Kolonie der USA waren. Von dort aus wären die USA in der Lage gewesen, im Falle eines Krieges mit Japan die Transportwege zwischen den Rohstoffen in Südostasien und der japanischen Industrie zu unterbrechen. Ein Kriegseintritt der USA als Folge des japanischen Angriffs in Südostasien war durch den in der amerikanischen Bevölkerung vorherrschenden Isolationismus und Pazifismus zwar äußerst unwahrscheinlich, jedoch hielten viele japanische Militärs aufgrund der amerikanischen Politik der vorangegangenen Jahre einen Konflikt letztendlich für unvermeidlich und forderten daher die Besetzung der Philippinen als Teil der Offensive. Sie verwiesen darauf, dass sowohl die Philippinen als auch andere im Westpazifik gelegene amerikanische Besitzungen wie Guam und Wake nur schwach verteidigt waren (so verfügte die Asienflotte der US Navy lediglich über drei Kreuzer und 13 veraltete Zerstörer), sich dieses jedoch schnell ändern könne. Ferner hatten die USA nach dem Ausbruch des Krieges in Europa mit einem massiven Ausbau ihrer Flotte begonnen, zu dem auch zehn Schlachtschiffe der South-Dakota- und Iowa-Klassen sowie neun große Flugzeugträger der Essex-Klasse gehörten. Allein diese im Bau befindlichen Einheiten bildeten eine Flotte, die stärker war als die gesamte in 30 Jahren aufgebaute japanische Flotte. Ferner konnte Japan 1941 darauf hoffen, dass der Krieg in Europa einen Teil der amerikanischen Ressourcen binden würde. Zu einem späteren Zeitpunkt würde es allein kämpfen müssen. Demgegenüber stand eine kleinere Gruppe von Offizieren und Politikern, die vor einem Krieg mit den USA warnten. Sie verwiesen auf das enorme industrielle Leistungsvermögen der USA, die nicht nur diese riesige Flotte bauten, sondern gleichzeitig riesige Mengen an Rüstungsgütern für Großbritannien und die Sowjetunion produzierten (vgl. Leih- und Pachtgesetz), ohne dass dies zu Einschränkungen in der Produktion von zivilen Konsumgütern führte. So waren in den Vereinigten Staaten 1940 etwa 4,5 Mio. Lastwagen gebaut worden, in Japan lediglich 48.000. Einer der prominentesten Gegner eines Krieges mit den USA war ursprünglich Admiral Yamamoto Isoroku, Oberbefehlshaber der Kombinierten Flotte und ehemaliger japanischer Marineattaché in Washington. Über die Aussicht, einen solchen Krieg zu gewinnen, sagte er: „Bekomme ich den Befehl, ohne Rücksicht auf die Konsequenzen Krieg zu führen, so werde ich 6 Monate oder 1 Jahr lang wild um mich schlagen. Sollte der Krieg aber ein zweites oder drittes Jahr dauern, sehe ich äußerst schwarz!“. Dass der Krieg innerhalb eines Jahres gewonnen werden könne, glaubte niemand. Dennoch entschied sich die japanische Führung Ende November 1941 endgültig für den Krieg gegen die Vereinigten Staaten. Yamamoto war dennoch derjenige, der es gegen Widerstände durchsetzte, einen Vernichtungsschlag gegen die Pazifikflotte zu führen, um Zeit für die Eroberung von Territorien in Südostasien zu gewinnen. In Washington wurden die diplomatischen Verhandlungen zum Schein noch bis zum Morgen des 7. Dezember weitergeführt. Am 6. Dezember begann Tokio, der japanischen Botschaft in Washington eine Note in 14 Teilen zu übermitteln, die dem US-amerikanischen Außenminister Punkt 13:00 Uhr Washingtoner Zeit (30 Minuten vor dem geplanten Angriffsbeginn) übergeben werden sollte. Mit dieser Note teilte Japan den USA offiziell mit, dass man aufgrund der Haltung der US-Regierung keinen Sinn in weiteren Verhandlungen sehe und diese daher abbreche. Die Note enthielt aber entgegen heute weitverbreiteter Meinung keine Kriegserklärung Japans. Der entscheidende 14. Teil, der den Abbruch der Verhandlungen enthielt, wurde erst in der Nacht zum 7. Dezember geschickt. Obwohl die Note schon von Tokio ins Englische übersetzt worden war und nur noch entschlüsselt werden musste, dauerte das Vorbereiten der Note zu lange. Dies lag zu einem guten Teil daran, dass der übernächtigte Botschaftsmitarbeiter, der den Text nach der Entschlüsselung noch einmal mit der Schreibmaschine abtippen musste, am Anfang so viele Tippfehler machte, dass er sich schließlich entschloss, die ersten Seiten wegzuwerfen und sie noch einmal neu zu schreiben. Aber auch das Entschlüsseln dauerte länger als von Tokio erwartet. Dadurch wurde die Note erst mehrere Stunden nach dem Angriff überreicht. Die US-Pazifikflotte In der Vorkriegszeit war die Pazifikflotte immer erheblich stärker gewesen als die Atlantikflotte. Nach dem Washingtoner Flottenvertrag von 1922 durften die USA 15 Schlachtschiffe und sechs Flugzeugträger besitzen, von diesen waren der Pazifikflotte zwölf Schlachtschiffe und vier Träger zugeordnet. Dabei handelte es sich auch um die schlagkräftigsten Schiffe, die drei Schlachtschiffe der Atlantikflotte (Arkansas, New York, Texas) waren die ältesten der Flotte. Der Grund für diese einseitige Verteilung war, dass im Pazifik mit Japan ein potenzieller Feind über die drittgrößte Flotte der Welt verfügte, während die größten Flotten im Atlantik Großbritannien und Frankreich gehörten, mit denen keine Konflikte zu erwarten waren. Dies änderte sich, als mit der Niederlage Frankreichs 1940 die französische Flotte neutralisiert wurde und die Royal Navy alleine im Atlantik und im Mittelmeer gegen die deutsche und italienische Flotte kämpfen musste. Um Großbritannien dabei so weit wie möglich zu entlasten, dehnten die USA ihre Neutralitätspatrouille immer weiter in den Atlantik aus. So überwachten amerikanische Kreuzer die Dänemarkstraße und amerikanische Zerstörer eskortierten Konvois im Westatlantik, bis sie von britischen Zerstörern für den gefährlichsten Teil des Weges übernommen wurden. Dazu wurde ein Viertel der Pazifikflotte in den Atlantik verlegt, darunter die Schlachtschiffe New Mexico, Mississippi, Idaho und der Flugzeugträger Yorktown. Ferner wurden fast alle neu gebauten Flugzeuge entweder im Atlantik eingesetzt oder direkt per Leih- und Pachtgesetz an Großbritannien geliefert; die amerikanischen Streitkräfte im Pazifik mussten mit dem auskommen, was sie hatten. Dennoch war die Pazifikflotte nach den bis dahin gültigen Maßstäben, die noch von einer Schlachtentscheidung durch Schlachtschiffe ausgingen, recht stark. Sie hatte neun Schlachtschiffe mit insgesamt 24 Geschützen vom Kaliber 406 mm (16 Zoll) und 68 Geschützen vom Kaliber 356 mm (14 Zoll) gegen zehn japanische Schlachtschiffe mit insgesamt 16 Geschützen vom Kaliber 406 mm (16 Zoll) und 80 Geschützen vom Kaliber 356 mm (14 Zoll). Den Kern der Schlachtflotte bildeten die big five, die fünf Schlachtschiffe der Tennessee- und Colorado-Klassen. Diese erst nach dem Ersten Weltkrieg gebauten Schlachtschiffe waren die kampfstärksten der Flotte zwischen den Weltkriegen. Hinsichtlich ihrer Artillerie und Panzerung waren sie auch noch 1941 den damals modernsten Schlachtschiffen der Welt, wie der britischen King-George-V-Klasse oder der deutschen Tirpitz, ebenbürtig. Nur bei der Geschwindigkeit waren sie inzwischen mit ihren relativ langsamen 22 Knoten den modernen Schlachtschiffen unterlegen. Da die japanische Flotte selbst jedoch ebenfalls aus Schlachtschiffen bestand, die während oder direkt nach dem Ersten Weltkrieg gebaut worden waren, kam dieser Nachteil im Pazifik nicht zum Tragen. Bei den Flugzeugträgern bestand ein Verhältnis von drei amerikanischen zu zehn japanischen (davon vier kleinere Träger), allerdings sah man die Rolle der Träger eher in der Unterstützung der Schlachtschiffe durch Luftaufklärung. Vorbereitungen Die Planungen der USA für einen Krieg gegen Japan basierten lange Zeit auf dem War Plan Orange, nach dem die US-Pazifikflotte im Kriegsfall von ihrer Heimatbasis San Diego aus zu den Philippinen laufen würde, um diese gegen einen japanischen Angriff zu verteidigen und dann als Basis für einen Vorstoß gegen Japan selbst zu nutzen. Im Verlauf dieser Operationen sollte es dann zu einer großen Entscheidungsschlacht zwischen den Schlachtschiffen kommen. Die Möglichkeit der Eröffnung des Krieges durch einen japanischen Überraschungsangriff ähnlich dem Angriff auf Port Arthur zu Beginn des Russisch-Japanischen Krieges 1904 wurde dabei durchaus für möglich gehalten. Man dachte dabei jedoch an einen Angriff auf Manila, die Basis der schwachen amerikanischen Asienflotte, oder die Insel Wake. Die US-Pazifikflotte befand sich in ihrem Heimatstützpunkt San Diego jedoch weit außerhalb der Operationsreichweite der japanischen Flotte. Mit der Verlegung der Pazifikflotte nach Pearl Harbor im Jahre 1940 änderte sich dies – Pearl Harbor lag knapp innerhalb des Bereiches, in dem japanische Flottenverbände mit vertretbarem Aufwand operieren konnten. Hin- und Rückweg waren mit einmaligem Betanken auf See zu schaffen. Als Japan mit den Planungen für einen Angriff begann, stieß man jedoch schnell auf Schwierigkeiten. Die topographische Form des Hafens, praktisch ein Binnengewässer, das nur durch einen natürlichen Kanal mit dem Meer verbunden ist, machte einen Torpedoangriff mit Zerstörern, wie er 1904 in Port Arthur erfolgt war, unmöglich. Die Zerstörer hätten erst durch den Kanal in den Hafen laufen müssen, um freies Schussfeld für ihre Torpedos zu bekommen. Dabei mussten sie zwangsläufig entdeckt und zusammengeschossen werden. Als Alternative wurde ein Luftangriff untersucht. Auch dies war keine vollkommen neue Idee: Während einer gemeinsamen Übung von amerikanischer Armee und Marine zur Verteidigung Hawaiis im Jahr 1932 hatte Admiral Harry E. Yarnell, Kommandeur der angreifenden Streitkräfte, die Staffeln der Flugzeugträger Saratoga und Lexington einen Angriff auf Hawaii fliegen lassen. Durch diesen am 7. Februar 1932 (wie der 7. Dezember 1941 ein Sonntag) aus nordwestlicher Richtung durchgeführten Angriff wurde den überraschten Verteidigern nach Ansicht der Schiedsrichter beträchtlicher Schaden zugefügt. Es ist durchaus möglich, dass dieses Manöver auch die japanischen Planungen beeinflusst hat, obgleich die amerikanische Marine die Ergebnisse damals als unrealistisch verwarf. Die Vorlage für den Angriff lieferten jedoch die Briten im Mittelmeer, als sie in der Nacht vom 11. auf den 12. November 1940 beim Angriff auf Tarent den italienischen Marinehafen Tarent mit Torpedobombern des Flugzeugträgers Illustrious angriffen und dabei drei italienische Schlachtschiffe versenkten. Dieser Angriff wurde sowohl vom japanischen als auch vom amerikanischen Admiralstab intensiv untersucht, da die Verhältnisse in Tarent jenen in Pearl Harbor sehr ähnlich waren, insbesondere was den Einsatz von Torpedos betraf. Die Verwendung von Torpedos war nach Ansicht der Planer unbedingt erforderlich, da dies die einzige Waffe war, mit der Flugzeuge Schlachtschiffe mit Aussicht auf Erfolg angreifen konnten. Die verfügbaren Bomben waren nach allgemeiner Ansicht hingegen nicht in der Lage, die massiven Deckpanzerungen der Schlachtschiffe zu durchdringen und größere Schäden anzurichten. Da von Flugzeugen abgeworfene Torpedos durch ihr Gewicht jedoch erst einmal auf eine größere Tiefe sanken, bevor die eingebaute Tiefensteuerung sie wieder nach oben lenkte, galten flache Häfen wie Tarent und Pearl Harbor als sicher. Um zu verhindern, dass die Torpedos im Hafen auf Grund stießen und dort festliefen, waren die Torpedos mit kleinen Flügeln modifiziert worden, damit sie nach dem Abwurf länger in horizontaler Lage blieben und nicht wie sonst in einem mit der Abwurfhöhe zunehmenden Winkel ins Wasser eintauchten. Zusätzlich waren die britischen Piloten extrem langsam und niedrig geflogen. Die Amerikaner erhielten diese Informationen von den Briten. Japanische Offiziere konnten sich in Tarent einen geborgenen britischen Torpedo ansehen. Die US-Marine revidierte auf Grund des Angriffs ihre Richtlinien bezüglich des Torpedoschutzes von Schiffen im Hafen. Bis dahin wurde eine Wassertiefe von 76 Fuß (23 Meter) als Minimum für einen erfolgreichen Torpedoangriff aus der Luft erachtet. Im Juni 1941 wurde dies mit Hinweis auf den Angriff auf Tarent dahin korrigiert, dass Torpedoangriffe auch bei geringeren Wassertiefen möglich seien. Angriffe bei einer Wassertiefe von unter 20 Metern wurden aber als unwahrscheinlich eingestuft, womit Pearl Harbor bei einer durchschnittlichen Wassertiefe von 15 Metern weiterhin als sicher galt. Die Amerikaner glaubten auch, dass ein vergleichbarer Angriff auf Pearl Harbor unwahrscheinlich wäre, da die Entfernung zwischen Tarent und der britischen Basis in Alexandria viel geringer war als die zwischen Pearl Harbor und den nächstgelegenen japanischen Basen. Die unbemerkte Annäherung eines Feindes war daher erheblich schwieriger. Zusätzlich konnten die japanischen Torpedobomber Nakajima B5N Kate nicht so langsam fliegen wie die in Tarent eingesetzten Doppeldecker-Torpedobomber vom Typ Fairey Swordfish der Briten, was eine Anwendung der britischen Methode ihrer Meinung nach ausschloss. Die Amerikaner gingen von der Reichweite der ihnen zur Verfügung stehenden Flugzeuge aus (Aktionsradius 350 km) und unterschätzten die Reichweite der japanischen Flugzeuge (1000 km Aktionsradius) erheblich. Die Japaner hingegen kamen zu dem Schluss, dass ein Torpedoangriff durchführbar wäre, wenn man die Torpedos entsprechend modifizierte. Dies führte zur Entwicklung des Torpedos Typ 95, der kleiner und leichter als die üblichen japanischen Torpedos war. Zusätzlich modifizierte man panzerbrechende Granaten der Kaliber 356 mm und 406 mm so, dass sie als Bomben abgeworfen werden konnten. Aus einer Höhe von mindestens 3000 Metern abgeworfen, sollten sie genügend Durchschlagskraft haben, um die Panzerung der Schlachtschiffe zu durchdringen. Es war eine dieser Panzersprengbomben, die die Munitionskammer der Arizona traf. Der Plan Der Plan laut Zitat Admiral Yamamotos: Dem japanischen Angriffsplan zufolge sollte sich der Flugzeugträgerverband auf einer etwa 6.000 Kilometer langen Route nördlich der üblichen Schifffahrtswege in einer Reise von elf Tagen unbemerkt Pearl Harbor nähern und aus einer Entfernung von 350 Kilometer nördlich des Stützpunktes überraschend angreifen. Da sonntags die meisten Dienststellen der US-Streitkräfte nur mit vermindertem Personal arbeiteten, wurde als Angriffstermin der erste Sonntag im Dezember, der 7. Dezember, gewählt. Der Angriff sollte vom Kidō Butai durchgeführt werden, bestehend aus den sechs Flugzeugträgern Akagi, Kaga, Hiryū, Sōryū, Zuikaku und Shōkaku. Der Geleitschutz der Träger bestand aus den schnellen Schlachtschiffen Hiei und Kirishima, den schweren Kreuzern Tone und Chikuma sowie 9 Zerstörern, die vom leichten Kreuzer Nagara angeführt wurden. Die strategischen Hauptziele des Angriffs waren: Neutralisierung der Pazifikflotte: Durch das Ausschalten der Schlachtschiffe und Flugzeugträger sollte die amerikanische Flotte nicht in der Lage sein, die japanische Offensive in Südostasien zu behindern. Die angreifenden Piloten erhielten ausdrückliche Anweisung, nur Schlachtschiffe und Träger anzugreifen und ihre Torpedos und Bomben nicht an andere Schiffe zu „verschwenden“ (nicht alle hielten sich während des Angriffs an den Befehl). Ausschaltung des Stützpunktes Pearl Harbor: Durch Zerstörung der Dockanlagen und Treibstofftanks sollte es den USA unmöglich gemacht werden, auf absehbare Zeit von Pearl Harbor aus zu operieren. Die Docks von Pearl Harbor waren die einzigen Anlagen westlich von Kalifornien, in denen Reparaturen und größere Wartungsarbeiten durchgeführt werden konnten. Wurden sie vernichtet, mussten amerikanische Schiffe selbst für kleinere Reparaturen über den halben Pazifik an die Westküste fahren. Im Idealfall würde durch die Versenkung eines großen Schiffs im Zufahrtskanal Pearl Harbor sogar als Ankerplatz ausfallen, womit die gesamte Flotte für jede Operation erst von der Westküste herankommen müsste. Aus taktischen Gründen kam ein weiteres Ziel hinzu: Vernichtung der Luftstreitkräfte: Die amerikanischen Flugplätze mussten angegriffen werden, damit die dort stationierten Jäger nicht die Angriffe auf den Hafen behinderten und die Bomber keine Gegenangriffe auf den Angriffsverband flogen (falls dieser lokalisiert werden konnte). Da nicht genügend Flugzeuge zur Verfügung standen, um alle drei Aufgaben gleichzeitig zu erfüllen, wurde beschlossen, zuerst nur die Schiffe und die Flugplätze anzugreifen. Sobald die Maschinen zurückkamen, sollten sie neu betankt und munitioniert werden, um die Docks und Treibstofftanks anzugreifen. Der erste Angriff sollte möglichst früh im Morgengrauen erfolgen. Da die Träger jener Zeit keine Katapulte verwendeten, wurde immer das halbe Deck als Startbahn benötigt. Damit konnte nur die Hälfte der Flugzeuge gleichzeitig zum Starten an Deck gebracht werden. Die zweite Hälfte konnte erst startklar gemacht werden, nachdem die erste Hälfte gestartet war. Da die Startvorbereitungen mindestens 30 Minuten dauerten, wurde entschieden, den ersten Angriff in zwei Wellen zu fliegen: die erste Hälfte flog voraus, die zweite folgte so schnell, wie man sie startklar machen konnte. Die erste Welle sollte aus 45 Jägern A6M Zero, 54 Sturzkampfbombern D3A Val und 90 Torpedobombern B5N Kate bestehen. 40 der Kate sollten Torpedos tragen, der Rest Bomben. Die zweite Welle sollte aus 36 Zero, 81 Val und 54 Kate (alle mit Bomben) bestehen. Da die Überraschung bei diesem Angriff elementar war, hatte der Befehlshaber des Angriffsverbands, Vizeadmiral Nagumo Chūichi, den Befehl, sofort umzukehren, falls er auf dem Anmarsch entdeckt würde. Würde er erst am Morgen des Angriffstages entdeckt, war es ihm überlassen, ob er den Angriff riskieren wollte. Auf keinen Fall sollte er seine Schiffe unnötigen Risiken aussetzen, da sie für Japan unersetzlich waren. Der Angriffsverband verließ Japan am 26. November 1941 von den Gewässern in den Kurilen aus. Während der Fahrt schickte Admiral Yamamoto am 2. Dezember eine kodierte Nachricht an Nagumo: Niitaka yama Nobore (Erklimmt den Berg Niitaka), womit der endgültige Befehl zur Durchführung des Angriffs erteilt wurde. Japanische Spionage Der japanische Spion Takeo Yoshikawa war im März 1941 nach Honolulu gekommen. Getarnt als Mitarbeiter des Generalkonsulats war er offiziell eingereist. Da mehr als ein Drittel der Bevölkerung in Hawaii japanischstämmig war, hatte Yoshikawa kein Problem, sich als Einheimischer auszugeben. Yoshikawa wusste genau, wann welche Großkampfschiffe im Hafen lagen und in welchem Rhythmus sie ausliefen. Er kannte Details der Dienstpläne der Militäreinrichtungen und wusste, dass der wichtigste Flughafen Hickham Air Field keine nennenswerte Luftverteidigung hatte. In den ersten Monaten seines Einsatzes schickte Yoshikawa einmal im Monat einen Bericht über den Status der US-Flotte in Hawaii, ab Mitte November zweimal wöchentlich und ab dem 2. Dezember 1941 täglich. Dabei erhielt Yoshikawa Hilfe vom japanischen Konsul in Honolulu, Nagao Kita. Seine Berichte wurden mit dem Chiffriersystem des japanischen diplomatischen Dienstes verschlüsselt. Dieses konnte zwar prinzipiell von den Kryptoanalytikern des US-Kriegsministeriums geknackt werden, trotzdem hätte für jeden Tag und für jeden Ursprungsort einer Nachricht eine passende Entschlüsselung gefunden werden müssen. Die meisten Telegramme, die Kita versendete, wurden erst viel zu spät von der Gegenseite entschlüsselt. Das deutsche Ehepaar Bernard und Friedel Kühn sammelte gemeinsam mit ihrer Tochter Ruth Informationen auf der Insel und schickten sie über das Konsulat nach Tokio. Sie wurden 1936 auf Vorschlag des NS-Staates japanische Agenten. Mit gefälschten Papieren kamen sie als Professorenfamilie getarnt nach Hawaii. Ruth pflegte dort den Umgang mit amerikanischen Offizieren und erlangte Geheiminformationen. Die Kühns bauten im Auftrag der Japaner ein Haus in Pearl Harbor mit Blick auf den US-Flottenstützpunkt. Die amerikanische Funkaufklärung Die amerikanische Fernmeldeaufklärung gliederte sich in drei Arbeitsbereiche: Der Bereich Funkpeilung war für das Lokalisieren der Absender von aufgefangenen Funksprüchen zuständig. Dazu hatten die USA ein Netz von Abhörstationen aufgebaut, das Mid-Pacific Strategic Direction-Finder Net. Es erstreckte sich in einem riesigen Halbkreis von den Philippinen über Guam, Samoa, Midway und Hawaii bis hinauf nach Alaska. Im Bereich Funkverkehranalyse wurden die Muster der aufgefangenen Funksprüche analysiert. Anhand der Rufzeichen wurde festgestellt, wer mit wem sprach. Aus der Häufigkeit der Kommunikation versuchte man, die Beziehung zwischen den Stationen herauszufinden. Wenn beispielsweise die Stationen NOTA 1 und OYO 5 häufig mit KUNA 2 sprachen, aber selten miteinander und gar nicht mit anderen, so war anzunehmen, dass KUNA 2 der Befehlshaber von NOTA 1 und OYO 5 war, etwa das Flaggschiff eines Geschwaders, dem die Schiffe NOTA 1 und OYO 5 zugeteilt waren. Mit Hilfe der Funkpeilung war die Zuordnung der Rufzeichen möglich, wenn man wusste, welche Einheiten/Schiffe zum Sendezeitpunkt an der Sendeposition waren. Der Bereich Kryptoanalyse war für das Entziffern der aufgefangenen Nachrichten verantwortlich. Dies war der schwierigste und geheimste Teil der Funkaufklärung. Da es äußerst wichtig war, die Tatsache geheim zu halten, dass es gelungen war, den japanischen Code zu knacken, wurden die daraus gewonnenen Informationen lediglich einer kleinen Gruppe ranghoher Offiziere und Politiker zugänglich gemacht, während die Ergebnisse der Funkpeilung und Funkverkehranalyse einem weit größeren Kreis zugänglich waren. So erhielten zum Beispiel die Befehlshaber auf Hawaiʻi, Admiral Husband E. Kimmel und General Walter C. Short, die Ergebnisse aus Funkpeilung und Funkverkehranalyse, aber nicht die aus der Kryptoanalyse, während der Befehlshaber auf den Philippinen, General Douglas MacArthur, Zugang zu allen Informationen hatte. Im Verlaufe des November 1941 stellte die Funkaufklärung anhand der japanischen Funkmuster die Vorbereitung einer großen Operation fest. Diese Muster entsprachen den drei Phasen, die man schon bei den Vorbereitungen zu den beiden Operationen zur Besetzung Indochinas beobachtet hatte. Erste Phase: Es kam zu einem sprunghaften Anstieg des Funkverkehrs. Das Oberkommando gab Befehle und Anweisungen für die Operation an die Armee und Flottenbefehlshaber. Diese Instruktionen wurden über die gesamte Hierarchie an die Einheiten weitergeleitet, die sich auf die Operation vorzubereiten hatten. Auf diese Art konnte man oft schon die beteiligten Einheiten identifizieren, indem man prüfte, welche Rufzeichen an dem verstärkten Funkverkehr beteiligt waren. Da die japanische Flotte jedoch am 1. November ihren halbjährlichen Rufzeichenwechsel für ihre 20.000 Rufzeichen durchgeführt hatte, waren viele Rufzeichen noch nicht wieder identifiziert. Allerdings wurde festgestellt, dass das japanische Oberkommando hauptsächlich mit den südlichen Befehlshabern kommunizierte, aber nicht mit den Kommandeuren in China. Zweite Phase: Der Funkverkehr sank wieder auf die normale Menge an Meldungen. Die beteiligten Einheiten hatten sich gemäß den Anweisungen vorbereitet und warteten auf den Befehl, die Operationen zu beginnen. In den Funkmustern konnten Änderungen festgestellt werden, die durch Umgruppierungen entstanden waren. Stationen kommunizierten plötzlich mit neuen Stationen, aber nicht mehr mit ihren vorherigen Kommunikationspartnern. Dritte Phase: Die Anzahl der Funkmeldungen nahm rapide ab und wurden einseitig. Die Operation hatte begonnen, die Flottenverbände waren ausgelaufen und hielten Funkstille, um ein Einpeilen auf ihre Position zu verhindern. Sie erhielten allerdings weiterhin an sie adressierte Funksprüche von anderen Einheiten (die Funkstille betraf also nur das Senden, nicht das Empfangen der operativen Einheiten). Am 1. Dezember wechselte die japanische Flotte erneut ihre Rufzeichen. Dieser außerplanmäßige Wechsel alarmierte die Nachrichtendienste zusätzlich. Auf diese Art war allein schon auf Grund von Funkpeilung und Funkverkehranalyse bekannt, dass Japan eine große Operation in Richtung Süden durchführen wollte. Das Ziel war jedoch nicht eindeutig, es konnte sich dabei sowohl um einen Angriff auf die britischen und niederländischen Kolonien handeln (was vermutet wurde), als auch um einen Angriff auf die Philippinen oder weitere Truppenverlegungen nach Indochina (was als unwahrscheinlich galt). Am 24. und 27. November schickte deshalb der Chief of Naval Operations, Admiral Harold R. Stark, Kriegswarnungen an alle Kommandeure im Pazifik, in denen ihnen mitgeteilt wurde, dass aggressive Handlungen Japans in den nächsten Tagen zu erwarten seien. Als mögliche Ziele eines japanischen Angriffs wurden Malaysia, Thailand, die Philippinen, Borneo und Guam genannt. Alle Kommandeure im Pazifik wurden angewiesen, entsprechende Maßnahmen zur Vorbereitung ihrer Truppen auf den Kriegsfall zu treffen, aber selbst keine offensiven Aktionen durchzuführen, solange Japan keine offene Kriegshandlung gegen die USA unternähme. Die Aufklärungsdienste Großbritanniens und der Niederlande, die mit den Amerikanern beim Abfangen und Analysieren der Nachrichten zusammenarbeiteten, hatten das gleiche Bild. Großbritannien begann daraufhin, seine Truppen im Bereich des Möglichen zu verstärken: Es verlegte das moderne Schlachtschiff Prince of Wales und den Schlachtkreuzer Repulse nach Singapur. Einen Sonderfall bildeten dabei die japanischen Trägerverbände. Von ihnen wusste man gar nichts, da bei ihnen totale Funkstille herrschte. Dass die Trägerverbände nicht nur keine Nachrichten sendeten, sondern auch keine Nachrichten an sie gesendet wurden, führte zu der Vermutung, dass sich die Träger weiterhin in den japanischen Heimatgewässern aufhielten. Dort konnten sie über schwächere Nahbereichsender kommunizieren, deren Sendeleistung zu schwach war, um von den weit entfernten Abhörstationen empfangen zu werden. Dieser Blackout war schon bei den vorherigen Operationen beobachtet worden. Auch damals hatte man die Träger in Japan vermutet und später auf verschiedene Weise festgestellt, dass sie tatsächlich dort gewesen waren. Das vermutete Verbleiben der Träger in Japan erweckte keinen Argwohn, denn es passte bestens in das Gesamtbild. Nach Ansicht der Analysten wurden die Träger für eine Offensive allein gegen die britischen und niederländischen Kolonien nicht gebraucht, stattdessen bildeten sie zusammen mit mehreren Schlachtschiffen eine strategische Reserve für den Fall, dass die USA Großbritannien zu Hilfe kommen würden. Tatsächlich jedoch befand sich der Verband unter Funkstille auf dem Weg nach Pearl Harbor. Nachrichten an ihn wurden in allgemeinen, an große Flottenbereiche adressierten Funksprüchen versteckt. Die für die Kryptoanalyse zuständige Abteilung bekam inzwischen große Probleme mit dem Umfang des abgefangenen Materials. Zusätzlich zur Entschlüsselung der Nachrichten musste dieses noch aus dem Japanischen ins Englische übersetzt werden. Die kleine Zahl der Übersetzer, die nicht nur für den militärischen, sondern auch für den diplomatischen Verkehr zuständig waren, konnte mit dem erheblich gesteigerten Volumen nicht mehr Schritt halten. Man versuchte, die Anzahl zu erhöhen, dies war jedoch schwierig. Die Übersetzer mussten nicht nur hervorragend Japanisch können, sondern auch absolut vertrauenswürdig sein. Solche Leute gab es nur wenige, und es waren größtenteils Amerikaner japanischer Abstammung, denen man ein generelles Misstrauen entgegenbrachte. So gelang der Marineabteilung für Kryptoanalyse 1941 trotz größter Bemühungen lediglich die Verdopplung der Übersetzer von drei auf sechs Personen. Dies hatte zur Folge, dass Übersetzungen nach Art der Verschlüsselung gereiht wurden. Zuerst kam der mit der Schlüsselmaschine „Purple“ verschlüsselte diplomatische Verkehr, dann der mit militärischen Hochsicherheitscodes verschlüsselte Verkehr, dann die mit einfacheren japanischen Codes verschlüsselten Texte. Auf diese Weise wurden mit Purple verschlüsselte Anweisungen an die japanischen Botschaften in Großbritannien und Niederländisch-Ostindien übermittelt, ihre „Purple“-Maschinen nach Japan zurückzuschicken und die Vernichtung ihrer restlichen Codes vorzubereiten. Dies bestätigte die Vermutung eines bevorstehenden Krieges mit diesen Ländern. Entsprechende Anweisungen an die Konsulate in den USA, die keine „Purple“-Maschinen hatten, wurden jedoch nicht übersetzt. Die einzigen „Purple“-Maschinen innerhalb der USA waren in der japanischen Botschaft in Washington, wo sie noch gebraucht wurden. Dass es zuerst keine Anweisung gab, diese Maschinen zurück nach Japan zu schicken, wurde dahingehend interpretiert, dass kein Angriff auf die USA geplant war. Erst am 3. Dezember erhielt die Botschaft in Washington den Befehl, eine ihrer beiden Schlüsselmaschinen und einen Großteil ihrer Codes zu vernichten, wodurch für die Analysten die Möglichkeit eines Krieges zwischen den USA und Japan erheblich wahrscheinlicher wurde. Die entschlüsselten militärischen Nachrichten enthielten nichts Hilfreiches, um die Ziele näher zu identifizieren. Dies war auch nicht zu erwarten gewesen. Am 6. Dezember wurden die ersten 13 Teile der 14-teiligen japanischen Note, die am 7. Dezember übergeben werden sollte, empfangen und entschlüsselt. Obwohl der 14. Teil mit den wichtigsten Informationen noch fehlte (die ersten 13 Teile enthielten größtenteils einen geschichtlichen Abriss über die Beziehungen der USA und Japans, in dem die USA einer feindseligen Haltung Japan gegenüber beschuldigt wurden, aber nichts über die beabsichtigte japanische Politik), wurden die bereits empfangenen 13 Teile noch am Abend zu sämtlichen Personen gebracht, die befugt waren, diese geheimen Informationen zu sehen. Nach der Durchsicht des Inhalts sagte Präsident Roosevelt zu seinem Berater Harry Hopkins: „Das bedeutet Krieg“. Nachdem sie kurz die ihnen bekannten japanischen Flotten- und Truppenbewegungen in Südostasien diskutiert hatten, meinte Hopkins, es wäre ihm lieber, die USA würden den ersten Schlag führen und so etwaigen Überraschungen vorbeugen. Roosevelt entgegnete darauf, so etwas könne man als friedliebende Demokratie nicht tun. Roosevelt wollte noch mit Admiral Stark telefonieren, dieser war jedoch im Theater. Ihn dort herauszurufen war zwar möglich, hätte jedoch Aufsehen erregt, was der Präsident vermeiden wollte. Alle anderen Personen, welche die ersten 13 Teile am Abend bekamen, wollten erst den 14. Teil abwarten, bevor sie Maßnahmen veranlassten. Marineminister Frank Knox arrangierte zu diesem Zweck eine Konferenz mit Kriegsminister Henry L. Stimson und Außenminister Cordell Hull für den nächsten Morgen. Auch Admiral Stark, der erst spät am Abend vom Chef des Marinenachrichtendienstes von der Existenz der japanischen Note erfuhr, ordnete lediglich an, ihm am nächsten Morgen die vollständige Note ins Büro zu bringen. Der Generalstabschef der Armee, General George C. Marshall, bekam die Note nicht zu sehen, da er bereits schlief und man ihn nicht wecken wollte. Am nächsten Morgen machte er nach dem Frühstück einen Ausritt und war deshalb längere Zeit nicht zu finden, als man ihm den 14. Teil bringen wollte. Die Anweisung an die japanische Botschaft in Washington, ihre verbliebenen Codes und die zweite Schlüsselmaschine zu vernichten, kam mit dem Begleittext zum 14. Teil der japanischen Note vom 7. Dezember, der auch die Anweisung enthielt, die Note um Punkt 13:00 Uhr Washingtoner Ortszeit (07:30 Uhr in Pearl Harbor) zu überreichen. Die Übersetzung des Begleittextes erreichte den verantwortlichen Nachrichtenoffizier Lieutenant Commander Alwin D. Kramer um 10:20 Uhr Washingtoner Zeit, knapp drei Stunden vor dem Beginn des Angriffs auf Pearl Harbor. Er leitete die Nachricht sofort weiter, und um ca. 11:30 Uhr befahl General Marshall, sämtliche Kommandeure in Übersee vor möglichen japanischen Aktionen zu warnen, wobei die Philippinen höchste Priorität hätten. Diese Nachricht erreichte Pearl Harbor jedoch nicht rechtzeitig. Sie hatte auch auf den Philippinen und anderen Stützpunkten im Pazifik wie Wake und Guam keine große Wirkung, da die verbleibende Zeit bis zum Beginn des japanischen Angriffs zu kurz war. Pearl Harbor am 7. Dezember Da in Hawaii nicht ernsthaft mit einem japanischen Angriff gerechnet wurde, waren die Liegeplätze der Schlachtschiffe um Ford Island nicht gesichert. Die Besatzungen hatten größtenteils Landgang. Die Feuer unter den Kesseln der Schiffe waren entweder ganz oder zur Hälfte gelöscht. Ohne Feuer unter den Kesseln konnten die Schiffe keinen Dampf für ihre Maschinen erzeugen und das Anfeuern eines Kessels dauerte mehrere Stunden, bis ausreichender Dampfdruck aufgebaut war. Für die Verteidigung der Insel selbst war das US-Heer verantwortlich. Auch hier waren die Truppen in keinerlei Weise auf einen Angriff vorbereitet. Die Flakgeschütze waren nicht um die militärischen Anlagen herum verteilt, sondern standen in Depots, da es sich bei den umliegenden Grundstücken um Privatbesitz handelte, deren Besitzer man nicht unnötig verärgern wollte. So hatte man beispielsweise die Heeres-Flak bei der neu gebauten Kāneʻohe Naval Air Station wenige Tage vorher wieder in die Kasernen verlegt. Die Flak-Munition wurde in separaten Munitionsdepots gelagert, diese waren wie alle anderen Munitionsdepots abgeschlossen. Teilweise sollen sich während des Angriffs die Schlüsselinhaber geweigert haben, die Munitionskammern ohne schriftlichen Befehl zu öffnen. Auf Anweisung von General Short waren auf den Flugplätzen sämtliche Flugzeuge von den üblichen Positionen am Rande des Feldes und den Unterständen in die Mitte des Feldes gestellt worden, da man sie so besser gegen Sabotage schützen konnte. Die sechs neuen mobilen Radarstationen, die erst im Oktober 1941 im Hawaii-Territorium eingetroffen waren, arbeiteten nur zwischen 4:00 Uhr und 7:00 Uhr morgens. Die Entscheidung, das Radar nicht rund um die Uhr, sondern nur zu dem wahrscheinlichsten Angriffszeitpunkt einzusetzen, war unter anderem in der Skepsis begründet, die dieser neuen Technologie trotz ihres erfolgreichen Einsatzes in der Luftschlacht um England noch immer entgegengebracht wurde. Dass der Zeitraum zwischen 4:00 Uhr und 7:00 Uhr morgens als wahrscheinlichster Zeitpunkt eines Angriffs galt, zeigte aber auch, dass man sich der Möglichkeit eines Angriffs bewusst war und (durchaus zutreffend) davon ausging, dass ein solcher Angriff zum frühestmöglichen Zeitpunkt nach Sonnenaufgang stattfinden würde. Ein japanischer Angriff galt also nicht als unmöglich, aber auf Grund der aktuellen Lagebeurteilung als äußerst unwahrscheinlich. Marineeinheiten in Pearl Harbor: Schlachtschiffe Nevada, Oklahoma, Pennsylvania, Arizona, Tennessee, California, Maryland, West Virginia Die Schlachtschiffe lagen bis auf die Pennsylvania, die sich im Trockendock befand, in einer Reihe vor Ford Island in der Hafenmitte vor Anker (Battleship Row). Das neunte Schlachtschiff der Pazifikflotte, die Colorado, befand sich in Bremerton, wo sie im Puget Sound Naval Shipyard aufgerüstet wurde. Flugzeugträger Keine. Der Flugzeugträger Enterprise sollte am 6. Dezember einlaufen, er hatte mit drei Kreuzern und neun Zerstörern eine Staffel Jagdflugzeuge nach Wake Island transportiert (eine damals nicht ungewöhnliche Aufgabe für einen Flugzeugträger). Der Verband musste jedoch auf dem Weg durch einen Sturm laufen, was zu einer Verspätung von 24 Stunden und einem Einlaufen erst am Nachmittag des 7. führte. Die Lexington transportierte mit drei Kreuzern und fünf Zerstörern eine weitere Jagdstaffel nach Midway. Da die Verlegung der beiden Staffeln jedoch nach Möglichkeit geheim gehalten werden sollte, befanden sich die Träger offiziell auf Übungsmissionen. Teilweise hat sich diese Tarngeschichte bis zum heutigen Tag gehalten; in nicht wenigen Artikeln und Büchern steht noch immer, dass die Träger kurz vor dem Angriff (die Lexington lief am 5. Dezember aus) den Hafen zum Üben verließen. Allerdings war vorher zumindest für die Enterprise tatsächlich die Teilnahme an einer Übung mit der ersten Schlachtschiffdivision (Arizona, Nevada und Oklahoma) in diesem Zeitraum geplant worden. Die Übung fand dann ohne sie statt, und die Schlachtschiffe liefen am 5. Dezember wieder in Pearl Harbor ein. Der letzte der drei Träger der Pazifikflotte, die Saratoga, war nach einem Werftaufenthalt in Bremerton auf dem Weg nach San Diego. Kreuzer Raleigh, Detroit, Phoenix, Honolulu, St. Louis, Helena, New Orleans, San Francisco Zerstörer Ward (außerhalb des Hafens), Helm, Phelps, MacDonough, Worden, Dewey, Hull, Monaghan, Farragut, Dale, Aylwin, Henley, Patterson, Ralph Talbot, Selfridge, Case, Tucker, Reid, Conyngham, Blue, Allen, Chew, Shaw, Downes, Cassin, Mugford, Jarvis, Schley, Cummings, Bagley U-Boote Narwhal, Dolphin, Cachalot, Tautog Minenleger Oglala, Gamble, Ramsay, Montgomery, Breese, Tracy, Preble, Sicard, Pruitt Minensucher Zane, Wasmuth, Trever, Perry, Turkey, Bobolink, Rail, Tern, Grebe, Vireo, Cockatoo, Crossbill, Condor, Reedbird Kanonenboote Sacramento Schnellboote PT-20, PT-21, PT-22, PT-23, PT-24, PT-25; auf dem Kai befanden sich PT-26 und PT-28; an Deck des Tankers Ramapo PT-27, PT-29, PT-30 und PT-42 Zerstörer-Tender Dobbin, Whitney Seeflugzeug-Tender Curtiss, Tangier, Avocet, Swan (im Dock), Hulbert, Thornton Munitionsschiffe Pyro Tanker Ramapo, Neosho Werkstattschiffe Medusa, Vestal, Rigel U-Boot-Tender Pelias U-Boot-Rettungsschiff Widgeon Hospitalschiffe Solace Frachtschiffe Vega (in Honolulu), Castor, Antares (beim Einlaufen nach Pearl Harbor) Schlepper Ontario, Sunnadin, Keosanqua (vor Pearl Harbor), Navajo (18 km außerhalb Pearl Harbors) Hilfsschiffe Utah, Argonne, Sumner Das japanische Oberkommando war über die Schiffe im Hafen informiert, da das japanische Konsulat in Hawaiʻi seine Beobachtungen des Hafens kontinuierlich nach Tokio meldete (derartige Beobachtungen gehörten zu den Standardaufgaben der Konsulate aller Länder). Von Tokio aus wurden die Meldungen an die Flotte (und damit Nagumo) weitergeleitet. Damit wurde (im Bereich des Möglichen) sichergestellt, dass die Pazifikflotte in Pearl Harbor war und Nagumo nicht einen leeren Hafen angriff. Allerdings wussten sowohl Nagumo als auch das japanische Oberkommando bereits 24 Stunden vor dem Angriff, dass keine Flugzeugträger vor Ort waren. Der Angriff Vorbereitungen Am Abend des 6. Dezember verringerte die anlaufende Kidō Butai ihre Geschwindigkeit auf etwa 25 Knoten. Vizeadmiral Nagumo richtete einen letzten Rundspruch von der Akagi an alle seine Einheiten. Mit den Worten: „Das Schicksal des Reiches hängt von dieser Operation ab. Jeder Mann muss sich seiner speziellen Aufgabe total hingeben.“ schwor er die Schiffsbesatzungen und speziell die Besatzungen der Flugzeugstaffeln, die den Angriff fliegen sollten, noch einmal ein. Gegen 21 Uhr hatte die Flotte den 158. Meridian erreicht und war noch etwa 910 Kilometer nördlich von Hawaii. Heftige Winde hatten während der zwölftägigen Fahrt die gehissten Flaggen zerrissen und mehr als zehn Seeleute waren über Bord gespült worden. Doch alles verlief nach Plan, da die Flotte bisher nicht von anderen Schiffen oder Aufklärungsflugzeugen gesichtet worden war. Anflug Die erste japanische Angriffswelle mit 183 Maschinen startete um 06:10 Uhr Ortszeit am Morgen des 7. Dezember 1941 etwa 230 Seemeilen (400 Kilometer) nördlich von Oʻahu. Sie brauchte allerdings 20 Minuten länger als geplant, um sich über den Trägern zu formieren. Sechs nicht rechtzeitig gestartete Maschinen blieben zurück und starteten eine Stunde später mit der zweiten Welle. Die Besatzungen der Träger verabschiedeten die startenden Maschinen mit Banzai-Rufen. Zur gleichen Zeit starteten vom amerikanischen Flugzeugträger Enterprise, der sich rund 370 Meilen westlich von Pearl Harbor befand, 18 SBD Dauntless, die nach Ford Island vorausfliegen sollten. Zum ersten Zusammenstoß zwischen den Streitkräften Japans und der Vereinigten Staaten kam es um 06:37 Uhr Ortszeit vor dem Hafeneingang. In der Nacht wollte man bereits von Bord des Minensuchers Condor ein Periskop in der Nähe der Hafeneinfahrt gesehen haben und hatte den vor der Hafeneinfahrt patrouillierenden Zerstörer Ward alarmiert. Dieser konnte jedoch kein U-Boot finden. Gegen 06:30 Uhr meldete dann auch das Versorgungsschiff Antares die Sichtung eines U-Boots, worauf die Marine ein PBY-Catalina-Flugboot startete, das die Ward unterstützen sollte. Gegen 06:45 Uhr fand und versenkte die Ward das U-Boot mit Geschützfeuer und Wasserbomben. Es handelte sich dabei um eines von fünf japanischen Kleinst-U-Booten des U-Boot-Spezialverbandes, die versuchen sollten, in den Hafen einzudringen. Wenige Minuten später meldete die Catalina die Versenkung eines weiteren U-Boots vor der Hafeneinfahrt. Der Kommandant der Ward, Lieutenant Outerbridge, der erst zwei Tage zuvor die Ward als sein erstes Kommando übernommen hatte, sendete eine verschlüsselte Nachricht an den Kommandeur des 14. Marinedistrikts, um diesen zu informieren, dass er in der Hafenverteidigungszone ein U-Boot bekämpfe. Verzögert durch den routinemäßigen Entschlüsselungsprozess (inklusive Textumformulierung, damit ein in falsche Hände gelangender Klartext nicht zum Einbruch in den verwendeten Code benutzt werden konnte) erreichte die Nachricht gegen 07:15 Uhr die diensthabenden Offiziere und wurde von dort bis zu Admiral Kimmel weitergeleitet. Angesichts zahlreicher falscher U-Boot-Meldungen in den vorherigen Wochen wollte Kimmel jedoch eine Bestätigung der Meldung abwarten, bevor er Maßnahmen traf. Um 07:02 Uhr entdeckten die beiden Radarbeobachter der Opanah Radar-Station eine Gruppe von 50 oder mehr Flugzeugen in 130 Meilen Entfernung, die sich aus Norden näherten. Die Opanah-Radar-Station war eine von sechs der neuen mobilen Radaranlagen der Armee, die seit weniger als einem Monat auf Oʻahu eingesetzt wurden. Es waren Geräte vom Typ SCR-270, eine Variante mit größerer Reichweite der Baureihe SCR-268. Nach einer kurzen Diskussion riefen sie die Informationszentrale in Fort Shafter an und meldeten die Ortung sich nähernder Flugzeuge, ohne allerdings die Anzahl der georteten Maschinen zu erwähnen. Der Bericht wurde von einem Leutnant entgegengenommen, der erst zum zweiten Mal Dienst in der Informationszentrale tat und nicht weiter nachfragte. Er wusste, dass eine Gruppe von Bombern des Typs B-17 Flying Fortress erwartet wurde, und glaubte, dass diese Maschinen geortet worden waren. Da er diese als vertraulich eingestufte Information aber nicht den Radarbeobachtern mitteilen durfte, sagte er ihnen lediglich, dass sie ihren Dienst beenden (das Radar war immer nur zwischen 4 und 7 Uhr in Betrieb) und sich um die Flugzeuge keine Sorge machen sollten („Don’t worry about it.“). Erster Angriff Die erste japanische Angriffswelle erreichte Pearl Harbor, ohne auf Widerstand zu stoßen. Auf dem Weg hatte sie mehrere amerikanische Flugzeuge abgeschossen. Wenigstens einer dieser Maschinen gelang es noch, einen Funkspruch zu senden, dessen Inhalt aber schwer verständlich war. Um 07:49 Uhr befahl der Kommandant der Angriffswelle, Kapitän zur See Fuchida Mitsuo, den Angriff in der Variante für vollständige Überraschung durchzuführen, mit den Torpedobombern zuerst. Sein Funker sendete darauf dreimal das entsprechende Signal, bestehend aus to für totsugeki (Angreifen) und ra für raigeki (Blitz)(Blitz-/Überraschungsangriff). Das Signal to ra, to ra, to ra wurde auch auf dem Trägerverband empfangen, der dadurch wusste, dass die Überraschung geglückt war. Amerikanische Funker hörten es ebenfalls, sie verstanden jedoch tora, das japanische Wort für Tiger. Dies führte dazu, dass der Funkspruch als Tora, tora, tora bekannt wurde. Der Angriff auf den Hafen begann um 07:55 Uhr mit der Bombardierung von Ford Island. Drei Minuten später schickte die dortige Funkstation an alle Stationen die Warnung „Luftangriff auf Pearl Harbor. Dies ist keine Übung“. Die Nachricht wurde auch in Washington empfangen und bereits wenige Minuten nach dem Beginn des Angriffs dem Marineminister Frank Knox mitgeteilt. Fixiert auf die Philippinen wie der Rest der Führungsetage, wollte dieser es zuerst nicht glauben: „Das kann nicht stimmen, die müssen die Philippinen meinen“ (My God! This can’t be true, this must mean the Philippines.). Die japanischen Streitkräfte hatten zunächst Schwierigkeiten, sich zu formieren. Eine Signalrakete sollte den Piloten signalisieren, dass sie immer noch unentdeckt waren. Viele sahen sie jedoch nicht und in dem Chaos griffen alle Bomber gleichzeitig an. 24 der insgesamt 40 japanischen Torpedobomber griffen die an der Ostseite von Ford Island liegenden amerikanischen Schlachtschiffe an. Der Nevada gelang es, zwei angreifende Maschinen abzuschießen, bevor sie von einem Torpedo und zwei Bomben getroffen wurde. Die California erhielt zwei Torpedo- und zwei Bombentreffer, einer der Bombentreffer brachte ein Magazin mit Flakmunition zur Explosion. Da nicht alle wasserdichten Schotten gesichert waren, kam es zu schweren Wassereinbrüchen, die man nicht unter Kontrolle bekam, weshalb das Schiff schließlich aufgegeben werden musste. Auf der Oklahoma erzielten die ersten angreifenden Maschinen drei Torpedotreffer, nach denen das Schiff zu kentern begann. Während des Kenterns schlugen noch mindestens zwei weitere Torpedos in Bordwand und Aufbauten des Schlachtschiffs ein. Über 400 Matrosen wurden unter Deck eingeschlossen, 32 von ihnen konnten in den folgenden Tagen aus dem Wrack befreit werden. Die West Virginia wurde von mindestens sechs Torpedos getroffen, doch durch schnelles Gegenfluten wurde ein Kentern des Schiffes verhindert, die West Virginia sank auf ebenem Kiel. Zusätzlich wurde sie von zwei Bomben getroffen, die einen Brand auf dem Achterdeck auslösten. Splitter eines Bombentreffers auf der benachbarten Tennessee verletzten den Kommandanten, Captain Mervyn Sharp Bennion, tödlich. Die Arizona wurde vermutlich von einem Torpedo getroffen, der unter dem neben ihr liegenden Werkstattschiff Vestal durchgelaufen war, bevor um 08:10 Uhr eine Panzersprengbombe zwischen den beiden vorderen Haupttürmen einschlug. Die Bombe löste eine Kettenreaktion aus, die zur Explosion der vorderen Hauptmagazine mit über 450 Tonnen Pulver führte. Durch die gewaltige Explosion wurde das Schlachtschiff fünf bis sechs Meter angehoben, wodurch es in zwei Teile zerbrach. Der vordere Teil des Schiffes wurde praktisch vollständig zerstört, zusätzlich entzündete die Explosion ausgelaufenes Öl auf der Wasseroberfläche. Dabei starben 1177 der 1400 Mann starken Besatzung, die Hälfte aller amerikanischen Toten des Angriffs, darunter auch der Kommandant Franklin Van Valkenburgh und Konteradmiral Isaac C. Kidd. Die Arizona brannte noch zwei Tage nach dem Angriff. Die auf der Innenseite der Battleship Row liegenden Schlachtschiffe Maryland und Tennessee wurden vergleichsweise leicht beschädigt; von Torpedos konnten sie nicht getroffen werden, da auf der einen Seite Ford Island und auf der anderen Seite die außen liegenden Schlachtschiffe Oklahoma und West Virginia im Weg waren. Beide Schiffe wurden von je zwei Bomben getroffen, auf der Tennessee fielen dadurch zwei der zwölf 356-mm-Geschütze aus. Die nach der Explosion der Arizona aufsteigenden dichten Rauchwolken erschwerten den japanischen Bombenschützen das Zielen auf die beiden Schiffe. Das Achterschiff der von den gesunkenen Schiffen eingeklemmten Tennessee erlitt starke Schäden durch Hitzeeinwirkung, da es zwei Tage lang im brennenden Öl der Arizona lag. Gleichzeitig griffen die restlichen 16 Torpedobomber die Nordwestseite von Ford Island an, wo sich auch die Liegeplätze der Flugzeugträger befanden. Dort lagen aber nur die Kreuzer Detroit und Raleigh, der Seeflugzeug-Tender Tangier (AV-8) sowie das zum Schulschiff für Flugabwehrkanoniere umgebaute alte Schlachtschiff USS Utah. Gemäß dem Befehl, nur Schlachtschiffe und Träger anzugreifen, drehten die meisten der Bomber ab, einige führten den Angriff trotzdem durch. Möglicherweise identifizierten sie die Schiffe falsch und hielten die Utah für eines der neueren Schlachtschiffe, die es auszuschalten galt. Die Utah wurde von zwei Torpedos getroffen und kenterte nach zehn Minuten. Die Raleigh erhielt einen Torpedotreffer, konnte aber mit einiger Mühe über Wasser gehalten werden. Die restlichen Torpedobomber überflogen Ford Island und setzten danach zu einem Angriff auf die Schlachtschiffe an, bis auf eine Maschine, die ihren Torpedo auf den Kreuzer Helena abwarf. Der Torpedo lief unter dem neben der Helena liegenden Minenleger Oglala hindurch und traf den Kreuzer mittschiffs, wodurch ein Maschinenraum überflutet wurde. Die Detonation fügte der Oglala so schwere Schäden zu, dass sie zwei Stunden später kenterte. Gleichzeitig mit dem Angriff der Torpedobomber griffen Sturzkampfbomber und Jäger die Flugplätze Ewa, Hickam Field, Wheeler Field, Ford Island und Kāneʻohe an. Besonders auf den Armee-Flugplätzen Hickam und Wheeler waren die nebeneinander aufgereihten amerikanischen Maschinen leichte Ziele, aber auch den anderen Flugplätzen erging es nicht viel besser. Neben Bellows Field, das nur von einem einzigen Jäger beschossen wurde, blieb nur der kleine Flugplatz Haleʻiwa verschont. Der Großteil der Flugzeuge wurde am Boden zerstört oder beschädigt. Es gelang nur, eine Handvoll amerikanischer Jäger der Typen P-36 Hawk und P-40 Warhawk zu starten. Am erfolgreichsten waren die Piloten Kenneth M. Taylor und George Welch, die während des Angriffs zweimal landeten, um neue Munition zu fassen, und insgesamt sechs japanische Maschinen abschossen. Während des Angriffs trafen auch die erwarteten B-17-Bomber ein, die aber keine Bordwaffen und nach dem langen Flug auch keine Treibstoffreserven mehr hatten. Es blieb ihnen nichts anderes übrig, als mitten im Angriff irgendwo die Landung zu versuchen, was allen elf Maschinen trotz der Angriffe japanischer Jäger gelang (einer der Bomber landete auf einem Golfplatz). Weniger Glück hatten die ebenfalls eintreffenden Maschinen vom Flugzeugträger Enterprise. Sie wurden nicht nur von japanischen Jägern, sondern auch von der amerikanischen Flak beschossen und verloren dabei sechs der 18 Bomber. Nachdem die letzten Maschinen der ersten Welle abgeflogen waren, kam es zu einer kurzen Ruhepause. Mehrere amerikanische Schiffe liefen aus dem Hafen aus, um den relativen Schutz der offenen See zu erreichen, die meisten von ihnen ohne vollständige Besatzung. So lief beispielsweise der Zerstörer Blue unter dem Kommando von vier Ensigns aus, kein Stammoffizier war an Bord. Auf dem Weg zur Hafenausfahrt sahen Besatzungsmitglieder des Kreuzers St. Louis plötzlich zwei Torpedos auf das Schiff zulaufen, die jedoch an einem Unterwasserhindernis explodierten. Wahrscheinlich wurden sie von einem der japanischen Kleinst-U-Boote abgeschossen. Der Zerstörer Helm sichtete ein weiteres Kleinst-U-Boot an der Hafenausfahrt, sein Angriff auf das Boot blieb erfolglos, aber das U-Boot strandete auf einem Riff. Eines der beiden Besatzungsmitglieder ertrank, das andere, Leutnant Sakamaki Kazuo, wurde der erste japanische Kriegsgefangene der Amerikaner. Auch der Zerstörer Monaghan (DD-354) sichtete beim Auslaufen ein U-Boot im Hafenbecken, das er mit Wasserbomben versenkte. Von den Schlachtschiffen war die USS Nevada das einzige, das es schaffte abzulegen, da die Maryland und Tennessee durch die gesunkenen Oklahoma und West Virginia blockiert waren. Zweiter Angriff Die Nevada hatte das Hafenbecken noch nicht verlassen, als um 8:50 Uhr die aus Sturz- und Horizontalbombern bestehende zweite japanische Angriffswelle eintraf. 23 Bomber griffen die Nevada in der Hoffnung an, das Schlachtschiff im engen Zufahrtskanal zu versenken und damit den Hafen zu blockieren. Sie erzielten mindestens fünf direkte Treffer, von denen zwei Löcher in den Rumpf schlugen. Als klar wurde, dass die Nevada nicht durch den Kanal gelangen würde, entschlossen sich die kommandierenden Offiziere abzudrehen und setzten das Schlachtschiff am Hospital Point auf Grund. Das Schlachtschiff Pennsylvania befand sich während des Angriffs im Trockendock, zusammen mit den Zerstörern Cassin und Downes, die nebeneinander vor dem Schlachtschiff lagen. Die erste japanische Angriffswelle übersah die Pennsylvania vollständig, erst die Maschinen der zweiten Welle entdeckten und bombardierten sie. Dabei erzielten sie jedoch nur einen einzigen Treffer, der einige Geschütze mittschiffs ausschaltete, aber ansonsten nur geringe Schäden verursachte. Die beiden Zerstörer wurden jedoch von mehreren für die Pennsylvania bestimmten Bomben getroffen, deren Fragmente ihre Rümpfe durchlöcherten und das aus ihren Treibstofftanks auslaufende Öl entzündeten. Die zahlreichen Brände sowie explodierende Munition richteten schwere Schäden an den Rümpfen der Zerstörer an, die Rümpfe wurden durch die entstehenden strukturellen Schäden praktisch zerstört. Auch am Bug der Pennsylvania entstand durch das Feuer ein allerdings eher oberflächlicher Schaden. Während des Angriffs wurde das Dock zur Hälfte geflutet, dadurch sollten im Falle der Zerstörung des Außentors des Docks Schäden durch hereinbrechendes Wasser verhindert werden. Die Cassin schwamm dabei teilweise auf und kippte gegen die Seite der Downes. Der in der Nähe in einem Schwimmdock liegende Zerstörer Shaw wurde dreimal im Vorschiff getroffen. Die resultierenden Brände bekam man nicht unter Kontrolle, sodass eine halbe Stunde später die vorderen Magazine des Zerstörers detonierten. Durch die Explosion wurde das Schwimmdock versenkt, außerdem verlor die Shaw ihren gesamten Bug, dessen Trümmer bis zu 800 Meter weit flogen. Andere Bomber der zweiten Welle griffen vereinzelt verschiedene Schiffe im Hafen an, so wurden die Raleigh und die Curtiss von je einer Bombe getroffen. Auch die Flugplätze wurden erneut bombardiert. Gegen 9:45 Uhr drehten die letzten japanischen Maschinen ab und kehrten zu ihren Flugzeugträgern zurück. Als eine der letzten Maschinen landete um 13:00 Uhr Fregattenkapitän Fuchida, der während des gesamten Angriffs über Pearl Harbor geblieben war, um die entstandenen Schäden zu beobachten. Nachdem Admiral Nagumo seine erste Beurteilung gehört hatte, befahl er um 13:30 Uhr den Rückzug ohne einen weiteren Angriff. Amerikanische Aufklärer, die nach dem Angriff starteten, suchten im Norden nach dem japanischen Verband, konnten ihn aber nicht finden, da er viel weiter nördlich als angenommen stand. Daraufhin wurde vermutet, dass der beobachtete An- und Abflug der Japaner aus Richtung Norden nur eine Finte war und die japanischen Träger westlich oder südlich von Hawaii standen. Verantwortlich für diese Fehleinschätzung waren die zu diesem Zeitpunkt noch unbekannten Reichweiten der japanischen Trägerflugzeuge, welche die ihrer amerikanischen Gegenstücke weit übertrafen. Während die japanischen Kate, Val und Zero Reichweiten von über 1500 km hatten, hatte der amerikanische Sturzkampfbomber SBD Dauntless eine Reichweite von 1200 km, der Torpedobomber TBD Devastator schaffte mit einem Torpedo ausgerüstet sogar nur 700 km (1150 km mit einer 453-kg-Bombe). Die reine Flugstrecke für Hin- und Rückflug nach Pearl Harbor vom 400 km entfernten Startpunkt betrug schon 800 km. Zusätzlich flogen die meisten Maschinen nach dem Start zuerst im Kreis, während sie sich über den Trägern formierten und auf die restlichen Maschinen warteten. Auch während der Landung wurde zusätzlicher Treibstoff verflogen, da immer nur ein Flugzeug zur gleichen Zeit landen konnte und die anderen entsprechend lange warten mussten. Bei der Schlacht um Midway starteten die amerikanischen Träger ihre Maschinen erst, nachdem sie sich auf 200 km an ihr Ziel angenähert hatten. Dass die Japaner aus der doppelten Entfernung starten konnten, konnte man sich nicht vorstellen, weshalb die amerikanischen Aufklärer zu früh abdrehten. Diese Fehleinschätzung der Reichweiten führte in den folgenden Monaten auf Seiten der Alliierten immer wieder zu der falschen Annahme, japanische Flugzeugträger müssten in der Nähe sein, wenn japanische Flugzeuge dieser Typen an Orten gesichtet wurden, die nach fester Überzeugung der alliierten Kommandeure außerhalb der Reichweite japanischer Flugplätze lagen. Nagumos Entscheidung zum Rückzug Nach der ursprünglichen Planung hätte auf die ersten beiden Angriffswellen mindestens eine weitere folgen sollen, um die Werftanlagen und Treibstofftanks zu zerstören. Der Verlust dieser Anlagen und Vorräte hätte Operationen der US-Streitkräfte im Pazifik in den folgenden Monaten massiv eingeschränkt. Angesichts des Kriegsverlaufs sind viele Historiker der Auffassung, dass das Ausschalten von Pearl Harbor als Flottenstützpunkt für die USA ein weit schwererer Verlust gewesen wäre als die ausgeschalteten Schlachtschiffe. Dennoch entschloss sich Admiral Nagumo, die dritte Welle nicht zu starten, sondern sich zurückzuziehen, sobald die Angriffsverbände zurückgekehrt waren. Folgende Gründe führte er für seine Entscheidung an: Die von der ersten und zweiten Angriffswelle eintreffenden Berichte ließen keinen Zweifel daran, dass die in Pearl Harbor liegenden Schlachtschiffe vernichtend getroffen worden waren. Ohne diese Schiffe war die US-Flotte selbst bei massiver Verstärkung durch Schiffe aus dem Atlantik nicht in der Lage, die gleichzeitig angelaufene japanische Großoffensive in Südostasien ernsthaft zu behindern. Das strategische Hauptziel des Angriffs war damit erreicht. Das Vorbereiten einer dritten Welle hätte beträchtliche Zeit gedauert. Die Maschinen der ersten Welle wurden nach der Landung sofort unter Deck gebracht, da die Flugdecks für die Landung der zweiten Welle frei sein mussten. Die Neuausrüstung mit Bomben und Treibstoff hätte zusätzlich Zeit benötigt, dann mussten die Maschinen zum Starten wieder auf das Flugdeck gebracht werden, wobei man gleichzeitig die auf dem Flugdeck stehenden gelandeten Maschinen in das Hangardeck bringen musste. Dieser komplexe und zeitraubende Prozess hätte bedeutet, dass die dritte Welle nicht vor Einbruch der Dunkelheit zurückgekehrt wäre. Nachtlandungen auf Trägern waren 1941 nicht üblich, es gab noch keine sicheren Verfahren für das Landen bei Dunkelheit, und die Trägermaschinen waren zumeist nicht nachtflugtauglich. Eine Nachtlandung hätte höchstwahrscheinlich den Verlust vieler erfahrener Piloten bedeutet, die Japan nicht entbehren konnte. Darüber hinaus wären die Schiffe während der Neuausrüstung der Flugzeuge äußerst verwundbar gewesen. Sechs Monate später wurden die Flugzeugträger Akagi, Sōryū, Hiryū und Kaga in der Schlacht um Midway durch einen verhältnismäßig schwachen Angriff, der zufälligerweise während ihrer Startvorbereitungen erfolgte, vernichtet. Die Verluste der zweiten Welle waren doppelt so hoch gewesen wie die der ersten, da sie ohne Überraschungsmoment angriff. Ein weiterer Angriff würde aufgrund der mehrstündigen Pause gegen einen voll abwehrbereiten Feind fliegen und noch höhere Verluste erleiden. Solange die Maschinen unterwegs waren, musste Nagumo auf seiner Position bleiben, damit sie ihn zum Landen finden konnten. Dies würde jedoch amerikanischen Streitkräften die Möglichkeit zum Gegenschlag mit eventuell verbliebenen Bombern sowie ihren U-Booten geben. Obwohl die japanischen Geschwader zur Täuschung die Insel aus allen Richtungen angeflogen hatten, musste er damit rechnen, dass die Amerikaner bemerkt hatten, aus welcher Richtung die Maschinen an- und abflogen. Die Flugzeugträger wurden für die Offensive in Südostasien benötigt. Viele der Ziele in Indonesien und Neuguinea lagen außerhalb der Reichweite landgestützter Flugzeuge. Er durfte seine Verbände (Träger und ihre Flugzeuge) keinem großen Risiko aussetzen, wenn es dafür keinen zwingenden Grund gab. Die Vernichtung des Stützpunktes Pearl Harbor war seiner Meinung nach nicht ausreichend dafür. Die US-Flugzeugträger lagen nicht in Pearl Harbor, und daher bestand die Gefahr, dass sie plötzlich auf die japanische Flotte treffen würden. Befänden sich die japanischen Flugzeuge zu diesem Zeitpunkt über Pearl Harbor, wären die japanischen Träger den Angriffen der US-Trägerflugzeuge nahezu schutzlos ausgeliefert. Mehrere Stabsoffiziere sowie Geschwaderkommandanten der zurückgekehrten ersten Angriffswelle bedrängten ihn, den dritten Angriff dennoch durchzuführen, konnten ihn jedoch nicht umstimmen. Bilanz Verluste Die unmittelbaren Ergebnisse des Angriffs sind widersprüchlich beurteilt worden. Dies liegt daran, dass kleinere Schiffe oft nicht mitgezählt wurden oder es Unstimmigkeiten bei der Zählung von beschädigten oder zerstörten Schiffen gab. Die Toten und Verwundeten wurden teilweise getrennt nach Zivilisten, Marine- und Armee-Zugehörigkeit erfasst, in manchen Bilanzen wurden die zivilen Opfer gar nicht erfasst. Die folgende Bilanz gibt also nur ungefähr wieder, welche Zerstörung und wie viele Opfer in Pearl Harbor zu verzeichnen waren. Verluste auf US-amerikanischer Seite 2403 Gefallene 1178 Verwundete 18 Schiffe waren versenkt oder – zum Teil schwer – beschädigt worden. 9 beschädigte Schiffe 188 zerstörte Flugzeuge 159 beschädigte Flugzeuge Letztendlich wurden bis auf drei Schiffe (die Arizona, die Oklahoma und die Utah) alle versenkten oder schwer beschädigten amerikanischen Einheiten wieder gehoben und noch im Zweiten Weltkrieg wieder eingesetzt. Zusammen mit der Mississippi schlugen fünf der in Pearl Harbor versenkten oder beschädigten Schlachtschiffe (Maryland, West Virginia, Tennessee, California und Pennsylvania) 1944 die Schlacht in der Surigao-Straße. In diesem letzten Gefecht zwischen Schlachtschiffflotten, ausgetragen von Schlachtschiffen aus dem Ersten Weltkrieg und nicht den moderneren Iowas und Yamatos, versenkten sie die japanischen Schlachtschiffe Yamashiro und Fusō. Die Nevada fuhr 1944 als Teil der alliierten Invasionsflotte in Richtung Normandie. Der schlimmste Verlust für die USA war der Tod der vielen Menschen. Von den 2403 Toten waren 2008 Marineangehörige, 109 des Marine Corps, 218 Angehörige der Armee. 78 Zivilisten waren unter den Toten. Hinzu kamen 1178 Verwundete. Die durch die Magazinexplosion fast völlig zerstörte Arizona ist heute eine Gedenkstätte; das Wrack des zum Flak-Ausbildungsschiff umgebauten alten Schlachtschiffs Utah wurde lediglich in eine Position gezogen, wo es nicht im Weg liegt. Als letztes Schiff wurde 1943 die gekenterte Oklahoma gehoben, die langwierige Reparatur ihrer massiven strukturellen Schäden lohnte sich zu diesem Zeitpunkt nicht mehr. Verleihungen der Medal of Honor 15 Soldaten wurden für ihr Verhalten während des Angriffes mit der Medal of Honor, der höchsten Tapferkeitsauszeichnung der US-Streitkräfte geehrt, davon 10 postum. Captain Mervyn Sharp Bennion, Kommandant des Schlachtschiffes USS West Virginia (BB-48), postum Lieutenant John William Finn, Teil der Instandsetzungstruppe des Marinefliegerstützpunktes Kāneʻohe Bay Ensign Francis Charles Flaherty, Besatzungsmitglied des Schlachtschiffes USS Oklahoma (BB-37), postum Rear Admiral Samuel Glenn Fuqua, Besatzungsmitglied des Schlachtschiffes USS Arizona (BB-39) Chief Boatswain Edwin Joseph Hill, Besatzungsmitglied des Schlachtschiffes USS Nevada (BB-36), postum Ensign Herbert Charpiot Jones, Besatzungsmitglied des Schlachtschiffes USS California (BB-44), postum Rear Admiral Isaac Campbell Kidd, Befehlshaber der 1. Schlachtschiff-Division, postum Lieutenant Commander Jackson Charles Pharris, Besatzungsmitglied des Schlachtschiffes USS California (BB-44) Chief Radioman Thomas James Reeves, Besatzungsmitglied des Schlachtschiffes USS California (BB-44), postum Captain Donald Kirby Ross, Besatzungsmitglied des Schlachtschiffes USS Nevada (BB-36) Machinist's Mate First Class Robert Raymond Scott, Besatzungsmitglied des Schlachtschiffes USS California (BB-44), postum Chief Watertender Petar Herceg Tomich, Besatzungsmitglied des Schlachtschiffes USS Utah (BB-31), postum Captain Franklin Van Valkenburgh, Kommandant des Schlachtschiffes USS Arizona (BB-39), postum Seaman First Class James Richard Ward, Besatzungsmitglied des Schlachtschiffes USS Oklahoma (BB-37), postum Captain Cassin Young, Kommandant des Werkstattschiffes USS Vestal (AR-4) Verluste auf japanischer Seite etwa 65 Piloten und U-Boot-Besatzungsmitglieder gefallen, etwa 29 zerstörte Flugzeuge, 5 versenkte Zwei-Mann-U-Boote, 1 Gefangener (U-Boot-Kommandant Leutnant Sakamaki Kazuo). Die geringen japanischen Verluste von lediglich 29 Flugzeugen übertrafen selbst die optimistischsten Prognosen der Planer des Angriffs. Man hatte mit weit höheren Verlusten gerechnet. Dass diese nicht eintraten, lag sowohl an der erreichten vollständigen Überraschung sowie an der mangelnden Kampfbereitschaft, in der sich die amerikanischen Streitkräfte vor dem Angriff befanden. Strategische Auswirkungen Gleichzeitig mit dem Angriff auf Pearl Harbor begann die japanische Offensive im Pazifik, japanische Truppen marschierten in Thailand ein und landeten auf den Philippinen. Am Morgen des 10. Dezembers malaiischer Ortszeit (knapp 48 Stunden nach dem Angriff) versenkten japanische Bomber mit der Prince of Wales und der Repulse zum ersten Mal in der Geschichte Schlachtschiffe auf hoher See und in voller Gefechtsbereitschaft. Die Versenkung dieser schnellen und modernen Schiffe allein durch Luftstreitkräfte beendete die bis dahin dominierende Rolle des Schlachtschiffes in der Seekriegsführung. Mit nur noch einem verfügbaren Schlachtschiff, der nicht in Pearl Harbor liegenden Colorado, stellte die amerikanische Pazifikflotte keine Bedrohung mehr dar, was Japan erlaubte, seine gesamte Flotte in Südostasien einzusetzen. Durch seine jetzt gewaltige Überlegenheit zur See und in der Luft hatte es die uneingeschränkte Initiative im Kampfraum, wodurch es den Japanern gelang, die nominell gleich starken alliierten ABDA-Streitkräfte (beide Seiten verfügten im Kampfgebiet über etwa elf Divisionen an Landstreitkräften) innerhalb von drei Monaten ohne größere Schwierigkeiten zu überrennen. Der amerikanischen Pazifikflotte blieb nach dem Angriff nur die Defensive übrig. An offensive Operationen war für lange Zeit nicht zu denken, da die japanische Flotte jetzt in jeder Hinsicht überlegen war. Zwar gelang es, die leichter beschädigten Schlachtschiffe Maryland, Tennessee und Pennsylvania binnen dreier Monate in Tag- und Nachtarbeit zu reparieren, womit zusammen mit der Colorado und den aus dem Atlantik zurückverlegten Idaho, Mississippi und New Mexico wieder sieben Schlachtschiffe zur Verfügung standen. Damit war man jedoch den inzwischen um die Yamato verstärkten elf japanischen Schlachtschiffen deutlich unterlegen. Bei den Flugzeugträgern war das Kräfteverhältnis noch ungünstiger. Obwohl man keinen Träger verloren hatte und Verstärkung durch die Yorktown und Hornet erhielt, standen den fünf amerikanischen Trägern elf japanische gegenüber. Erheblich schwerer als die numerische Unterlegenheit wog der qualitative Unterschied in dieser nun äußerst wichtigen Waffengattung. Die Japaner verfügten über große Erfahrung in Trägeroperationen, ihre Mannschaften waren perfekt eingespielt und ihre Piloten hatten in den letzten vier Jahren über China Kampferfahrung sammeln können. Auf amerikanischer Seite waren größere Trägeroperationen zwar nichts Neues, denn man hatte in Manövern der Vorkriegszeit Angriffe von Flugzeugträgern auf den Panamakanal geübt und ausgewertet. Da aber die US-Träger in der Zwischenzeit mit neuen Flugzeugmustern ausgerüstet worden waren, hatte man anfangs Probleme mit der Koordination der Aktivitäten auf dem Flugdeck. Als sechs Monate später in der Schlacht um Midway die Träger Enterprise und Hornet alle Maschinen zu einem gemeinsamen Angriff starten sollten, dauerte es nach dem Start der ersten Hälfte der Maschinen zu lange, die zweite Hälfte startklar zu machen. Man war gezwungen, den gemeinsamen Angriff aufzugeben und die bereits gestarteten Flugzeuge alleine loszuschicken, bevor sie beim Warten zu viel Treibstoff verflogen. Als Folge davon erlitten die jetzt ohne Jagdschutz angreifenden Verbände schwere Verluste. Schwerer jedoch wog die mangelnde technische Ausrüstung, speziell bei Jagdflugzeugen und der Torpedowaffe. Die Grumman F4F war der Mitsubishi A6M in Manövrierfähigkeit, Steigleistung und Geschwindigkeit stark unterlegen und es dauerte bis Mitte 1943, bis geeignete Flugzeugmuster (Grumman F6F und Vought F4U) zur Verfügung standen. Allerdings ermöglichte die inzwischen von John S. „Jimmy“ Thach entwickelte neue Luftkampftaktik den US-Piloten auch mit den älteren Maschinen echte Chancen auf Luftsiege gegen die japanischen Typen. Bei den Torpedoflugzeugen war die Douglas TBD hoffnungslos veraltet. Zwar wurde sie nach der Schlacht um Midway durch die Grumman TBF ersetzt, aber die Torpedos selbst waren langsam und funktionierten nur selten. Aus Ersparnisgründen hatte man nur wenige Tests vor dem Krieg durchgeführt, sodass bis 1943 keine wirkungsvollen Torpedos zur Verfügung standen. Die Leistung des japanischen Long-Lance-Torpedos wurde nie erreicht. Da der Überwasserflotte auf absehbare Zeit nichts weiter übrig blieb, als zu versuchen, die Stellung so gut es ging zu halten, bis von den Werften Verstärkung durch neue Schiffe kam, wurden die U-Boote zur einzigen Waffe, mit der offensiv gegen Japan agiert werden konnte. Als neuer Befehlshaber der Pazifikflotte wurde deshalb Chester W. Nimitz ernannt, einer der wenigen aus der U-Boot-Waffe hervorgegangenen Admiräle. In der Folgezeit führten die amerikanischen U-Boote gegen das auf seine Seeverbindungen angewiesene Japan einen Tonnagekrieg, der so erfolgreich war, dass er heute von allen Seiten als eine der Hauptursachen für den amerikanischen Sieg im Pazifik angesehen wird. Das japanische Oberkommando betrachtete die Schlacht seinerzeit als einen strategischen Erfolg, der seine kühnsten Erwartungen übertraf. Die japanische Flotte hatte an der Grenze ihrer Reichweite operiert, den Feind in einem kaum für möglich gehaltenen Ausmaß überrascht und seine gesamte Schlachtflotte auf einen Schlag ausgeschaltet. Angesichts der unerwartet niedrigen eigenen Verluste von nur 29 Maschinen erschienen das Fehlen der Flugzeugträger sowie die Verschonung der Docks und Öllager als kleine Schönheitsfehler in einem ansonsten unglaublich perfekten japanischen Sieg. Heute wird der Angriff hingegen in allen Punkten als vollständiger strategischer Fehlschlag angesehen. Dass man keinen Flugzeugträger versenkte, war noch entschuldbar, da das japanische Oberkommando ihre Abwesenheit weder voraussehen noch darauf reagieren konnte, als man über das Konsulat vom Auslaufen auch der Lexington am 5. Dezember erfuhr. Der Angriff konnte nur am 7. Dezember durchgeführt werden, der japanische Kampfverband hatte keine Treibstoffreserven, die ein Verschieben des Angriffs erlaubt hätten, geschweige denn, dass man die gesamte Offensive in Südostasien kurzfristig aufhalten konnte. Dass Nagumo es unterließ, den Stützpunkt mit dessen Einrichtungen anzugreifen und zu zerstören, war jedoch sehr nachteilig für die Japaner. Der Verlust der einzigen Docks im Zentralpazifik hätte die USA zweifellos am härtesten getroffen. Dass dies unterblieb, zeugt von einer falschen Setzung der Prioritäten sowohl bei Nagumo selbst als auch beim Oberkommando, das die Entscheidung, den Angriff abzubrechen, später als richtig ansah. Inwiefern der Abbruch des Angriffs ohne eine 3. Angriffswelle als Fehleinschätzung der Lage zu werten ist, wird teilweise kontrovers diskutiert. Richtig ist zwar die Annahme, dass eine Zerstörung der Docks und Treibstofftanks die USA erheblich in den strategischen Planungen behindert und wahrscheinlich zum Rückzug an die US-Westküste gezwungen hätte. Allerdings steht dieser Tatsache gegenüber, dass den japanischen Streitkräften der Angriffsflotte die taktischen Mittel für erfolgreiche Angriffe auf eine große Marinebasis gefehlt hatten. Aufgrund der Zusammensetzung der zur Verfügung stehenden trägergestützten Luftstreitkräfte wäre mit hoher Wahrscheinlichkeit nur ein Angriff mit Sturzkampfbombern in Frage gekommen, die bereits in den ersten beiden Angriffswellen mit die größten Verluste erlitten hatten (allein in der 2. Angriffswelle gingen 14 Sturzkampfbomber verloren, 41 wurden beschädigt). Der Erfolg einer 3. Angriffswelle muss daher, da sich die Luftabwehr in Pearl Harbor schnell erholt hatte, bezweifelt werden. Zudem wäre nur eine Bewaffnung der Angriffsflugzeuge mit 250-Kilogramm-Bomben möglich gewesen, was wirkungsvolle Schläge zusätzlich erschwerte. Welche Auswirkungen der Angriff von Trägerflugzeugen auf einen gesicherten und vorbereiteten Stützpunkt hat, zeigte sich wenige Monate später beim Angriff auf Midway. Auch der Angriff auf die Schlachtschiffe wird oft kritisiert: da sie im flachen Hafenwasser sanken, konnten sie doch relativ einfach wieder gehoben und repariert werden. Hätte Japan gemäß dem ursprünglichen Kriegsplan (gültig vor der Verlegung der Flotte von San Diego nach Pearl Harbor) das Auslaufen der Flotte zur Verstärkung der angegriffenen Philippinen abgewartet und die Schlachtschiffe dann auf hoher See versenkt, wären diese permanent verloren gewesen. Hinzu kommt noch, dass sich die versenkten Schlachtschiffe auf Grund ihrer geringen Geschwindigkeit für die neue Rolle des Schlachtschiffs als Flugzeugträger-Eskorte ungeeignet erwiesen und während des Krieges hauptsächlich amphibische Landungen mit ihrer Artillerie unterstützten. Zu dem Verlust des Materials wäre auf hoher See zudem eine weitaus höhere Zahl an menschlichen Verlusten gekommen, die man hätte ersetzen müssen. Anders dagegen die Situation nach Pearl Harbor: Viele Matrosen und Spezialisten standen auch nach dem Angriff noch zur Verfügung und waren praktisch gefechtsbereit. Zu diesen Überlegungen kommt letztendlich eine weitere Tatsache hinzu: Durch die Versenkung der älteren Schlachtschiffe blieb den USA letzten Endes nur die Konzentration auf den Bau von Flugzeugträgern, um der japanischen Marine die Stirn zu bieten. Auf diese Weise hat Pearl Harbor den marinestrategischen Paradigmenwechsel beschleunigt. Während des Krieges stellten die USA allein 18 große Flottenträger und 77 Geleitträger in Dienst. Abschließend muss in diesem Zusammenhang festgehalten werden, dass der Angriff auf Pearl Harbor – so schwerwiegend wie er auch gewesen sein mag – für das Kaiserreich Japan nicht nur ein strategischer Misserfolg war, sondern eigentlich bereits den Weg des Kriegsverlaufs vorzeichnete. Einer der größten Fehler war in den Augen einiger Autoren die Tatsache, dass sich Japan auf den Krieg mit den USA und deren Potenzial eingelassen hat, ohne eine genaue Strategie zu entwickeln, wie dieser Konflikt zum gewünschten Ergebnis führen sollte, und diese Nachlässigkeit auch in den folgenden Kriegsjahren nicht revidieren konnte. Politische Auswirkungen Die schwerwiegendste Folge war die Wirkung des Angriffs auf die öffentliche Meinung in den USA: Isolationismus und Pazifismus verloren auf einen Schlag ihren Einfluss. Am 8. Dezember erklärten die USA Japan offiziell den Krieg, die Kriegserklärung wurde im vorher zwischen Isolationisten und Interventionisten gespaltenen Kongress mit nur einer Gegenstimme verabschiedet. Vier Tage später erklärten Deutschland und Italien, die von dem Angriff ebenfalls überrascht worden waren, den USA den Krieg, womit die USA auch offiziell in den europäischen Teil des Krieges eintraten. Der Überraschungsangriff galt in den USA als hinterhältig und perfide, da er ohne vorherige Kriegserklärung (auch die am 7. Dezember verspätet überreichte Note enthielt lediglich den Abbruch der Verhandlungen) und für die Bevölkerung der USA vollkommen überraschend erfolgt war. In den USA gilt der Begriff Pearl Harbor seither als Metapher für einen verheerenden, unprovozierten und unvorhergesehenen Angriff. Der 7. Dezember 1941 wird oft als Day of Infamy (Tag der Ehrlosigkeit) bezeichnet, nach der Eröffnung der , mit der er am nächsten Tag vom Kongress die Zustimmung zur Kriegserklärung einholte. Der Wunsch nach Rache und Sieg über Japan führte dazu, dass die Rekrutierungsstellen der Streitkräfte starken Andrang Freiwilliger hatten. Den Hass bekamen japanischstämmige Amerikaner als erste zu spüren, sie wurden Opfer zahlreicher Übergriffe und schließlich in Internierungslagern inhaftiert. 1988 entschuldigte sich Präsident Ronald Reagan im Namen der US-Regierung für dieses auf „Rassismus, Vorurteilen und Kriegshysterie“ basierende Verhalten. Zur Untersuchung des Angriffs setzte Präsident Roosevelt eine Untersuchungskommission unter dem Vorsitz des Verfassungsrichters Owen Roberts ein. Am 28. Januar 1942 erklärte die Kommission in ihrem Bericht Admiral Kimmel und General Short zu den Hauptverantwortlichen für die Niederlage. Man warf ihnen auf Grund der mangelnden Gefechtsbereitschaft ihrer Streitkräfte Pflichtvernachlässigung vor. Sie hätten Warnungen nicht ernst genug genommen und besonders Short habe durch seine Entscheidung, sämtliche Flugzeuge in der Mitte der Flugplätze zu parken, diese zu leichten Zielen gemacht. Beide Kommandeure waren bereits Mitte Dezember 1941 von ihren Posten abgelöst worden, wodurch sie automatisch von ihren bisherigen (aber nur temporär für ihr Kommando vergebenen) 4-Sterne-Rängen in 2-Sterne-Ränge zurückfielen. Ihre Karrieren waren damit praktisch beendet. Die von der Roberts-Kommission vertretene Auffassung war von Anfang an kontrovers; viele sahen in Kimmel und Short Sündenböcke, die bei einer Anklage von einem Militärgericht jederzeit freigesprochen worden wären. 1944 führten zwei Kommissionen, eine der Armee (Army Pearl Harbor Board) und eine der Marine (Navy Court of Inquiry), eine weitere Untersuchung des Angriffs durch (insgesamt wurden nach der Roberts-Kommission bis 1946 sieben Untersuchungen des Angriffs durchgeführt). Tatsächlich befand der Navy Court of Inquiry, dass Admiral Kimmel nichts vorzuwerfen sei, der Bereitschaftsgrad der Flotte sei der Admiral Kimmel bekannten Lage angemessen gewesen. Besonderes Gewicht wurde darauf gelegt, dass die Flakgeschütze der Schiffe einsatzbereit waren und bei Beginn des Angriffs sofort das Feuer eröffneten, während die Flakgeschütze der Armee teilweise stundenlang auf Munition warteten. General Short hingegen wurde massiv kritisiert, weil er die Möglichkeit eines Angriffs nicht vorhergesehen hatte und Pearl Harbor in seiner Kriegswarnung nicht als mögliches Angriffsziel erwähnt wurde. Das Army Pearl Harbor Board befand, dass sich General Short tatsächlich der Pflichtvernachlässigung schuldig gemacht habe, kritisierte aber ebenfalls die Armeeführung in Washington, insbesondere General Marshall. Auch die Armeeführung hatte die Möglichkeit eines Angriffs nicht erkannt und den ihr bekannten geringen Bereitschaftsgrad der Armee in Hawaii nicht korrigiert, obwohl sie mit einem bevorstehenden Krieg mit Japan rechnete. Beide Berichte wurden jedoch während des Krieges geheim gehalten, zum einen, weil mehrere der kritisierten Offiziere inzwischen hohe Positionen innehatten und dort als hervorragend bewertete Arbeit leisteten; ihre Ablösung wurde für die Kriegführung als nachteilig angesehen. Ein anderer Grund war die Rolle, die die entschlüsselten japanischen Funksprüche für die Beurteilung durch die Kommissionen hatten. Dass der japanische Code gelesen werden konnte, musste aber während des noch laufenden Krieges geheim bleiben. Am 25. Mai 1999 schließlich verabschiedete der Senat mit 52 zu 47 Stimmen eine Resolution, die Kimmel und Short von allen Vorwürfen freisprach und sie posthum in den 4-Sterne-Rang erhob, den alle anderen ranghöheren US-amerikanischen Offiziere des Zweiten Weltkrieges spätestens bei ihrem Ausscheiden aus den Streitkräften erhalten hatten. In Japan löste der Angriff gemischte Gefühle aus. Admiral Yamamoto war entsetzt darüber, dass die japanische diplomatische Note erst nach dem Angriff überreicht worden war. Dies verschlimmerte die seiner Meinung nach von Anfang an nicht aussichtsreiche Lage Japans, den Krieg zu gewinnen. Den Tag nach Pearl Harbor soll er in Depressionen versunken verbracht haben, während sein Stab feierte. Es gibt zwar keinen Beleg, dass er den berühmten Satz „Ich fürchte, alles, was wir erreicht haben, ist, einen schlafenden Riesen zu wecken und mit einem furchtbaren Vorsatz zu erfüllen.“ je gesagt hat, der ihm im Film Tora! Tora! Tora! zugeschrieben wird. Nach Aussage von Zeitzeugen gibt der Satz aber die Stimmung Yamamotos nach dem Angriff durchaus zutreffend wieder. Für die japanische Bevölkerung kam der Angriff genauso überraschend wie für die amerikanische, und obwohl die japanische Regierung seit einiger Zeit durch Propaganda anti-amerikanische Stimmung zu erzeugen versuchte, scheinen viele Japaner entsetzt darüber gewesen zu sein, dass sie sich jetzt im Krieg mit den Vereinigten Staaten befanden, einem Land, das von nicht wenigen Japanern bewundert wurde. Die Japaner scheinen jedoch die Rechtfertigung der Regierung, dass der Krieg unvermeidbar war, akzeptiert zu haben und unterstützten im Folgenden bis zur japanischen Kapitulation die Kriegspolitik. Gedenken und Symbolwirkung 75 Jahre nach dem Angriff auf Pearl Harbor empfing 2016 der amerikanische Präsident Barack Obama in Pearl Harbor den japanischen Ministerpräsidenten Shinzō Abe. Ihr Treffen gilt nach dem Besuch Präsident Obamas 2015 in Hiroshima als weiterer Schritt der Versöhnung beider Staaten. Verschwörungstheorien Neben der Untersuchung und Diskussion darüber, wer die Verantwortung für die Verluste der USA in Pearl Harbor hatte, kam es kurze Zeit danach auch zur Mythenbildung und „regelrechten Verschwörungstheorien“. Zum Teil steckten dahinter Kreise, die die Schuldigen für die Versäumnisse der geheimdienstlichen Aufklärung über die Aktionen der Japaner, die Versäumnisse bei der Kommunikation der bestehenden Warnungen vor dem Überfall und für die Fehler bei der Verteidigung von Pearl Harbor entlasten wollten. Auch der US-Präsident rückte in die Mitte der Anschuldigungen, als Verdächtigungen die Runde machten, die US-Regierung habe den Angriff gezielt provoziert oder von dem kommenden Angriff gewusst und die Flotte in Pearl Harbor nicht gewarnt, um den USA mit dem japanischen Angriff einen Grund für den Eintritt in den „Krieg gegen die Achsenmächte“ zu liefern. Amerikanische und britische Geheimdienste hätten nach Darstellung des in der Literaturliste erwähnten Robert Stinnet schon Wochen zuvor nicht nur den streng geheimen diplomatischen Funkverkehr aus Tokio decodiert und mitgehört, die Funkaufklärung der Marine soll auch den entscheidenden japanischen Militärcode (5-Num-Code) vorzeitig entschlüsselt haben. Auch soll der japanische Flottenverband die befohlene Funkstille nicht eingehalten haben, so dass die amerikanische Funküberwachung dessen Bewegungen hätten mitverfolgen können. Diese Thesen einer Verschwörung werden von der Mehrzahl der akademischen Historiker zurückgewiesen. Es fehlen durchweg seriöse Belege, manchmal mangelt es an Logik. So stellt Krebs klar, dass die Amerikaner am 7. Dezember 1941 zwar den diplomatischen Code geknackt hatten, nicht aber den Code der Marine. Die Vorbereitung eines Angriffes auf Pearl Harbor war den japanischen Diplomaten nicht bekannt und wurde nur im Marine-Funkverkehr behandelt, den die Amerikaner noch nicht entschlüsselt hatten. Erst ab 1942 konnte davon die Rede sein, wobei die Amerikaner einige Codes erst nach dem Ende des Zweiten Weltkrieges knacken konnten. Diese falschen Behauptungen Stinnets wurden nach Krebs schon 1999 bei der amerikanischen Erstausgabe des Stinnet-Buches von amerikanischen Fachwissenschaftlern moniert. In der deutschen Ausgabe wurden die Bedenken gegen dieses Buch nicht berücksichtigt. Als Beweis für das Nichteinhalten der Funkstille des Flottenverbandes führt Stinnet größtenteils Funksendungen von Landstationen an die japanische Flotte an. Nach Krebs konnte man mit solchen Funksendungen den Standort der Angriffsflotte nicht feststellen. Schon wenige Wochen nachdem das japanische Marineministerium die Entscheidung getroffen hatte, einen Angriff auf Hawaii in die Kriegsplanungen aufzunehmen, erhielten die USA eine Warnung. Am 27. Januar 1941 berichtete der amerikanische Botschafter in Japan, Joseph C. Grew, dass ein gut informierter peruanischer Gesandter ihm erzählt habe, dass das japanische Militär einen Überraschungsangriff auf Pearl Harbor plane, falls es zu »Streitigkeiten zwischen den USA und Japan käme«. Dabei würden die Japaner alle militärischen Mittel einsetzen, die sie besäßen. Diese Meldung wurde in Washington als unglaubwürdig eingestuft, zumal zu diesem Zeitpunkt das Verhältnis zu Japan noch gut war. Zur gleichen Zeit erreichten die USA aber auch gegenteilige Meldungen, so dass es schwer war, die Wichtigkeit dieser einen Meldung zu erkennen. Anhänger von Verschwörungstheorien argumentieren dagegen, die US-Führung sei somit über den Angriff auf Pearl Harbor im Kriegsfall von Beginn der Vorbereitungen an informiert gewesen. Filme Die Schlacht von Hawaii und in der Malaien-See (Hawai mare oki kaisen) (1942) Verdammt in alle Ewigkeit (1953) Banzai-Banzai, die Piloten des Teufels (Hawai Middowei daikaikûsen: Taiheiyô no arashi, englischer Synchrontitel I Bombed Pearl Harbor) (1960) Tora! Tora! Tora! (1970) MacArthur – Held des Pazifik (1977) Der letzte Countdown (1980) Der Feuersturm (1983) Pearl Harbor (2001) Angriff auf Pearl Harbor. Dokumentation, Deutschland (2006) JAG – Im Auftrag der Ehre – Episode 107 (Staffel 5, Folge 22) Das Geheimnis von Pearl Harbor (Overdue And Presumed Lost) (2000) Midway – Für die Freiheit (2019) Siehe auch Chronologischer Kriegsverlauf des Pazifikkrieges Liste japanischer Operationen während des Zweiten Weltkriegs Literatur Steven M. Gillon: Pearl Harbor: FDR Leads the Nation into War. Basic, New York 2011, ISBN 978-0-465-02139-0. Marcel Hartwig: Die traumatisierte Nation?: »Pearl Harbor« und »9/11« als kulturelle Erinnerungen. transcript, Bielefeld. 2011, ISBN 978-3-8376-1742-9. Peter Herde: Pearl Harbor, 7. Dezember 1941. Der Ausbruch des Krieges zwischen Japan und den Vereinigten Staaten und die Ausweitung des europäischen Kriegs zum Zweiten Weltkrieg. Wissenschaftliche Buchgesellschaft, Darmstadt 1980, ISBN 3-534-07555-2. (Weitere Auflagen) David Kahn: The Codebreakers. The Story of Secret Writing. Scribner, New York 1996, ISBN 0-684-83130-9. Takuma Melber: Pearl Harbor. Japans Angriff und der Kriegseintritt der USA. C.H. Beck, München 2016, ISBN 978-3-406-69818-7. Craig Nelson: Pearl Harbor: From Infamy to Greatness. Weidenfeld & Nicolson, London 2016, ISBN 978-1-4746-0564-9. Gordon W. Prange u. a.: December 7, 1941. The Day the Japanese Attacked Pearl Harbor. McGraw Hill Books, New York 1991, ISBN 0-517-06658-0. Gordon W. Prange: At Dawn We Slept. The untold story of Pearl Harbor. Penguin Books, London 2001, ISBN 0-14-100508-4. Mark E. Stille: TORA! TORA! TORA! Pearl Harbor 1941 Osprey Publishing, Oxford 2011, ISBN 978-1-84908-509-0. Weblinks Roosevelts Pearl-Harbor-Rede vom 8. Dezember 1941. (englisch) Pearl Harbor: Anhörungen. (englisch) Pearl Harbor: Mythen, die sich um Pearl Harbor ranken. (englisch) Pearl Harbor: Dokumente. (englisch) (englisch) Fotos der US-Marine mit detaillierter Beschreibung. (englisch) Heiner Wember: 07.12.1941 - Angriff auf Pearl Harbor WDR ZeitZeichen vom 1. Dezember 2016, mit Takuma Melber. (Podcast) Einzelnachweise Pearl Harbor Pearl Harbor Geschichte von Hawaii Pearl Harbor Militärgeschichte (Amerika) Oʻahu Beziehungen zwischen Japan und den Vereinigten Staaten Militärgeschichte der Vereinigten Staaten (Zweiter Weltkrieg) Marinegeschichte der Vereinigten Staaten Kaiserlich Japanische Marine Konflikt 1941
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https://de.wikipedia.org/wiki/Amorphis
Amorphis
Amorphis ist eine im Jahr 1990 gegründete finnische Metal-Band aus Helsinki. Der Stil der Band unterlag seit der Gründung einem steten Wechsel. Zu Beginn spielte die Band Death Metal, den sie jedoch bald mit Progressive-Metal-Elementen und Einflüssen aus der traditionellen finnischen Musik weiterentwickelte. Mit dem Verzicht auf Growlgesang wandte sich die Band vorübergehend vollständig vom Death Metal ab. Erst auf dem Album Eclipse verband Amorphis wieder teilweise Growlgesang mit den progressiven Elementen der Vorgänger. Neben der Musik sind auch die Texte von der finnischen Kultur inspiriert, einige davon entstammen der finnischen Gedichtsammlung Kanteletar oder dem Nationalepos Kalevala. Amorphis gilt als eine der erfolgreichsten finnischen Metal-Bands. In ihrem Heimatland erreicht sie seit zehn Jahren mit nahezu jeder Veröffentlichung eine Platzierung in den Top 10 der Charts. Geschichte Bandgründung (1990–1996) Amorphis wurde im Herbst 1990 von Jan „Snoopy“ Rechberger, Esa Holopainen, Tomi Koivusaari und Olli-Pekka Laine gegründet. Die drei Erstgenannten hatten Ende der 1980er zusammen in der Speed-Metal-Band Violent Solution gespielt, die sich jedoch im Laufe des Jahres 1990 aufgelöst hatte. Koivusaari war seit 1989 außerdem Mitglied in der Death-Metal-Band Abhorrence gewesen. Nach der Auflösung von Violent Solution wollten Rechberger und Holopainen auch eine Death-Metal-Band gründen. Da Abhorrence sich Ende 1990 bereits weitgehend aufgelöst hatte, fragten sie Koivusaari, ob er sich ihnen als Gitarrist anschließen wolle, Bass sollte Olli-Pekka Laine spielen. Jukka Kolehmainen, der Sänger von Abhorrence, sollte Sänger der neuen Band werden, lehnte aber ab. Schlussendlich übernahm Tomi deshalb auch den Gesang in der neu gegründeten Band Amorphis, während sich Abhorrence auflöste. Im Januar 1991 nahm Amorphis das Demo Disment of Soul im TTT Studio von Timo Tolkki auf. Die Arbeit an den drei Stücken dauerte zwei Tage, die Band war jedoch recht unzufrieden mit dem Sound der Aufnahmen. Im Sommer 1991 war Disment of Soul jedoch schon ausverkauft. Kurz nach den Aufnahmen wurde Tomi Koivusaari für Abhorrence ein Plattenvertrag vom US-amerikanischen Plattenlabel Relapse Records angeboten. Als Ersatz für die aufgelöste Band schickte Koivusaari ein Demo von Amorphis zurück, das das Label davon überzeugte, einen Vertrag über fünf Alben mit der Band abzuschließen. Im Mai 1991 spielte Amorphis weitere sechs Stücke für eine Split-CD mit der US-amerikanischen Death-Metal-Band Incantation ein, die jedoch nie erschien, da beide Bands lieber gleich komplette Alben veröffentlichen wollten. Eines der sechs Stücke war Vulgar Necrolatry, ein Lied von Abhorrence. Hier trat Jukka Kolehmainen, der ehemalige Sänger von Abhorrence, als Gastsänger auf. Zwei Stücke der Session wurden im Juli 1992 auf der 7"-Single Amorphis veröffentlicht. Die gesamten Aufnahmen erschienen im Jahr 1993 auf der CD Privilege of Evil. Nach einigen Konzerten wurde im Mai 1992 das Debütalbum The Karelian Isthmus im Sunlight Studio in Stockholm produziert. Den Vertrieb in Europa für dieses, wie auch für die vier nachfolgenden Alben, übernahm Nuclear Blast. Im Juli 1994 erschien das zweite Album Tales from the Thousand Lakes. Der Gastmusiker Ville Tuomi (Kyyria) übernahm den erstmals eingesetzten, klaren Gesang. Mit Kasper Mårtenson hatte Amorphis den ersten Keyboarder der Bandgeschichte, für das Debütalbum hatte Jan Rechberger noch die wenigen Keyboardspuren eingespielt. Die Single Black Winter Day sollte eigentlich vor dem Album erscheinen, die Veröffentlichung verzögerte sich jedoch, sodass sie schließlich erst einige Zeit nach dem Album erschien. Dafür nahm die Band zu dem Song ihr erstes Video auf. 1995 verließen Jan Rechberger und Kasper Mårtenson die Band. Ersetzt wurden sie durch Kim Rantala und Pekka Kasari. Der Sänger Ville Tuomi spielte nach den Aufnahmen zu Tales from the Thousand Lakes noch einige Konzerte mit Amorphis in Europa, bevor auch er die Band verließ. Als Ersatz für ihn sollte ein namentlich nicht genannter Sänger dienen, der die Band jedoch nach einem Konzert wieder verließ und nach Angaben von Tomi Koivusaari im Power-Metal-Stil der deutschen Band Helloween gesungen hatte. Ende 1994 spielte Amorphis als Vorband von Entombed zum ersten Mal in den Vereinigten Staaten. Kurz darauf führte eine Tournee mit Tiamat durch Europa. Kommerzieller Erfolg (1996–2004) Die Aufnahmen zum dritten Album Elegy verzögerten sich, da sich Esa Holopainen bei einem Sturz den Arm verletzte und zudem noch jenes Studio umzog, in dem die Stücke eingespielt werden sollten. Mit Pasi Koskinen wurde während der Aufnahmen auch ein fester zweiter Sänger gefunden, der den melodischen Gesang übernehmen sollte, während Tomi Koivusaari weiterhin die Growls sang. Im Juni 1996 erschien Elegy, mit dem Amorphis erstmals der Einstieg in die Top 10 der finnischen Charts gelang. Wie schon nach Tales from the Thousand Lakes spielte die Band die nächsten knapp anderthalb Jahre viele Konzerte, unter anderem eine Europatournee mit Therion und Hardware im Herbst 1996 und mit EverEve im Frühjahr 1997. Außerdem erschien die EP My Kantele. Im August 1997 trat Amorphis zum ersten Mal auf dem Wacken Open Air auf. Nach der Tournee legte Amorphis eine Schaffenspause ein, um über die weitere musikalische Entwicklung nachzudenken. Außerdem verließ Kim Rantala die Band wieder. 1999 wurde Tuonela veröffentlicht, auf dem die Gastmusiker Santeri Kallio Keyboard und Sakari Kukko Saxophon und Flöte spielten und so die Instrumentierung der Band erweiterten. Nachdem Tomi Koivusaari bereits auf Elegy weniger Anteil am Gesang hatte, verabschiedete er sich auf Tuonela endgültig davon. Bei Konzerten übernahm Pasi Koskinen neben seinen eigenen Gesangsspuren auch das Growling von Koivusaari. Sowohl das Album, als auch die zugehörige Single Divinity erreichten die Top-10 in Finnland. Zum zehnjährigen Jubiläum erschien im Jahr 2000 die Best-Of-Compilation Story. Zur gleichen Zeit verließ Olli-Pekka Laine die Band und wurde von Niclas Etelävuori ersetzt. Mit Santeri Kallio, der bereits auf dem letzten Album mitgewirkt hatte, kam ein neuer Keyboarder hinzu. Kurz darauf spielte Amorphis zum ersten Mal seit 1994 wieder in den Vereinigten Staaten, diesmal gemeinsam mit Moonspell und The Kovenant. Mit dem Album Am Universum, zu dem Ende 2000 die Aufnahmen beendet wurden und das von Simon Efemey produziert wurde, konnte Amorphis im Jahr 2001 in den finnischen Charts bis auf Platz 4 aufsteigen. Die Single Alone erreichte Platz 1. 2001 tourte Amorphis mit Opeth als Vorband ein weiteres Mal durch die Vereinigten Staaten. Pekka Kasari verließ die Band nach der Tournee aus familiären Gründen und wurde vom Schlagzeuger Jan Rechberger ersetzt, der damit in die Band zurückkehrte. Ende 2002 veröffentlichte Amorphis Kuusamo, ihr einziges Stück auf Finnisch. Die Coverversion eines Popsongs von Ilkka Lipsanen aus dem Jahr 1976 erschien auf dem Soundtrack des finnischen Roadmovies Menolippu Mombasaan von Hannu Tuomainen. Neben Amorphis waren weitere bekannte finnische Bands wie Nightwish, HIM und Apocalyptica auf dem Soundtrack vertreten. Der Film war 2003 unter anderem für den Jussi Award „Beste Musik“ nominiert. Mit dem Jahr 2002 endete auch die Zusammenarbeit mit Relapse Records, das mit Chapters eine weitere Best-Of-Compilation veröffentlichte. Das nächste Album hieß Far from the Sun und wurde von Amorphis selbst aufgenommen und produziert. Die Veröffentlichung im März 2003 übernahm das Major-Label Virgin Records. Im Oktober 2003 gab Amorphis einige Konzerte mit Paradise Lost in Finnland, bei denen Atte Sarkima von Ajattara den verhinderten Jan Rechberger vertrat. Im Frühjahr 2004 spielte Amorphis einige Demos für neue Stücke in den CPCC Studios ein. Erst im September 2004, also über ein Jahr nach dem Release in Europa, wurde Far from the Sun auch in den Vereinigten Staaten veröffentlicht. Für den Oktober 2004 war eine USA-Tour mit Type O Negative geplant, die jedoch wegen einer Erkrankung von Peter Steele abgesagt wurde. Gegenwart (ab 2005) Bereits vor der Absage der USA-Tournee kündigte Pasi Koskinen seinen Austritt aus der Band an, nachdem er für neun Jahre als Sänger an Amorphis beteiligt war. Am 21. August 2004 spielte er sein letztes Konzert mit Amorphis auf dem Kontu Rock Festival. In einem Interview sagt Niclas Etelavuori: Für die USA-Tour sollte übergangsweise Juha-Pekka Leppäluoto von Charon den Gesang übernehmen. Nachdem die Tour aber abgesagt wurde, machten sich die Mitglieder von Amorphis auf die Suche nach einem dauerhaften Sänger. Die Band hörte sich rund 150 Demos von Sängern an, die jedoch alle nicht überzeugen konnten. Über Markku Mäkinen, den Gitarristen der Rockband Sinisthra, gelangte Tomi Koivusaari zu dem aus Lohja stammenden Sinisthra-Sänger Tomi Joutsen, der auch in Death-Metal-Bands gesungen hatte und ein Fan von Amorphis war. Markku Mäkinen empfahl Tomi Joutsen als neuen Sänger. Über die erste Probe mit Tomi Joutsen sagte Esa Holopainen später: Bereits im März spielte Amorphis mit ihm eine siebenwöchige Tournee durch die Vereinigten Staaten mit den Vorbands Into Eternity, Beyond the Embrace und Bullet Theory. Im Juli 2005 wurde das Album Eclipse aufgenommen, das am 24. Februar 2006 veröffentlicht wurde. Da Amorphis nicht zufrieden mit Virgin Records war, wechselte die Band zurück zu Nuclear Blast, das bereits früher den Vertrieb in Europa übernommen hatte. Eclipse erreichte in Finnland Platz 1 der Charts, ebenso wie die erste Single House of Sleep. Im Anschluss an die Veröffentlichung von Eclipse spielte die Band einige Konzerte, unter anderem im August 2006 auf dem Summer Breeze. Der Nachfolger Silent Waters wurde im Januar 2007 in den Sonic Pump Studios aufgenommen, die Produktion übernahm Mikko Karmila in den Finnvox Studios. Am 27. Juni 2007 erschien die gleichnamige Single und stieg auf Platz 2 in den finnischen Charts ein. Im Mai spielte Amorphis auf dem Wave-Gotik-Treffen, im August auf dem Wacken Open Air. Auf die Album-Veröffentlichung Ende des Monats folgte eine Tournee durch Finnland im September, ein Auftritt auf dem Loud-Park-Festival in Japan und eine Tournee mit Swallow the Sun und Insomnium durch den Rest Europas im November. Im Februar 2008 erhielt die Band die ersten goldenen Schallplatten für 15.000 verkaufte Einheiten in Finnland für die Alben Silent Waters und Eclipse. Im Jahr 2009 erschien der Nachfolger Skyforger sowie im Jahr 2011 das Album The Beginning of Times. Am 22. August 2012 bestätigten Amorphis über ihre Facebookseite, dass die Aufnahmen für das elfte Studioalbum im September in den Petrax Studios in Helsinki beginnen würden. Die Texte würden erneut von Pekka Kainulainen stammen, der bereits an den drei letzten Alben der Band mitwirkte. Das neue Album mit dem Titel Circle wurde von Peter Tägtgren (Abyss Studio, Hypocrisy, Pain et al.) produziert und am 19. April 2013 weltweit von Nuclear Blast veröffentlicht. Das zwölfte Studio-Album der Band Under the Red Cloud wurde am 4. September 2015 via Nuclear Blast veröffentlicht und erhielt ein einhellig positives Echo der Fachpresse. So war es das sechste Album in Folge, das „Album des Monats“ beim Deutschen Metal Hammer wurde. Das Rock Hard Magazin hebt heraus, dass die Band einerseits vermehrt ihre Death-Metal-Wurzel durchscheinen lässt, andererseits aber zahlreiche Einflüsse aus Progressive-, Death-, Black-, Symphonic- und Folk Metal zu schlüssigen Songs verarbeitet. Auch das Online-Magazin laut.de lobt die Band dafür, wie sie ihre unterschiedlichen Facetten miteinander verwebt. Stil Musik Viele, vor allem frühe Bandtitel sind durch die im Genre üblichen Gitarrenriffs, Powerchords und Schlagzeugrhythmen, sowie andere gängige stilistische Floskeln geprägt. Häufig wechseln sich - wie in den Songs Black Embrace, Grails Mysteries () oder Warrior's Trail schleppende, oft durch Halbtonschritte an Black Sabbath erinnernde Riffs mit extrem schnellen, durch Doublebass begleitete 16-tel-Läufe in Einzeltönen ab. Langsamere balladenmäßigere Titel wie Grieve Stricken Heart oder Veil of Sin () - von dem auf Am Universum eine akustische Version mit Saxophon existiert - verweisen auf die mollgeprägten Midtempo-Songs der späteren Alben von Metallica. Andere Titel werden dagegen eher durch einprägsame, meist melodiöse Gitarrenfiguren strukturiert. Beispiele dafür sind Under A Soil And Black Stone, oder Tuonela. Letzteres erinnert (wenn man von den Metalelementen wie Powerchords und Schlagzeug absieht) in seinem instrumentalen Part () sogar entfernt an spanische Folklore. Vollkommen metalfremde Parts sind dann beispielsweise der Anfang des in der Gitarren- und Schlagzeugbearbeitung an U2 erinnernden Titels Alone, oder die differenzierte - im Metalbereich sonst meist relativ unübliche (an Rush erinnernde) - Schlagzeugarbeit im Titel Same Flesh. Bereits kurz nach der Gründung begannen die Bandmitglieder, sich mit traditioneller finnischer Musik zu beschäftigen. Dieser Einfluss wird beispielsweise im Instrumental-Intro Karelia von The Karelian Isthmus deutlich und ist bis heute ein prägendes Element. Auch orientalische Musik ist eine wichtige Inspiration für die Band. In einem Interview aus dem Jahr 1999 sagt die Band dazu: So besteht zum Beispiel die Einleitung des Titels Withered vom Album Tunoela aus einer rhythmisch relativ freien E-Gitarren-Improvisation () über die orientalisch wirkende phrygisch-dominante Tonleiter (hier C - Des - E - F - G - As - Bb - C). Für die Instrumentierung der Band sind zusätzlich zur üblichen Rockbesetzung aus E-Gitarre, Bass und Schlagzeug der mehrstimmige Gitarren- und Keyboardsatz und der häufige Einsatz von Klavier und Hammond-Orgel typisch. Die Originalität ihrer Melodien wird häufig hervorgehoben. Die Gitarrenspuren werden oft mit Tremolo- und Flanger-Effekten verfremdet oder mit Echo unterlegt. Obwohl die Band mit Folkeinflüssen arbeitet, fanden auf den Alben kaum entsprechende Instrumente Verwendung. Lediglich auf dem Lied Rusty Moon vom Album Tuonela tritt eine Querflöte auf, was der Band Verweise auf Jethro Tull einbrachte. Der Titel Brother Moon integriert - wie schon von Thin Lizzy oder Gary Moore praktiziert - Elemente irischer Folkmusik in die Metalmusik. Deutlich hörbar wird das anhand dieser von der E-Gitarre vorgetragenen typischen Figur () aus dem Folk. Weiterhin verwendete die Band an zusätzlichen Instrumenten eine Sitar (auf dem Album Elegy) sowie ein Saxophon (auf den Alben Tuonela und Am Universum). Amorphis kombiniert häufig gutturalen und klaren männlichen Gesang und war 1994 auf Tales from the Thousand Lakes eine der ersten Death-Metal-Bands, die sich an dieser Mischung versuchten. Auf dem Album Elegy aus dem Jahr 1996 nahm der klare Gesang bereits eine dominante Stellung gegenüber dem gutturalen ein, auf dem nächsten Album Tuonela tritt gutturaler Gesang nur noch bei einem Stück auf. Nach zwei Alben ohne Growlgesang mischt der neue Sänger Tomi Joutsen wieder klaren und gutturalen Gesang. Ein weiteres Kennzeichen von Amorphis seit dem Album Tales from the Thousand Lakes ist die Verwendung von Themen, die meist am Anfang eines Liedes vorgestellt und im Laufe des Liedes von verschiedenen Instrumenten wieder aufgegriffen, und teilweise variiert werden. Ein Beispiel ist das Lied Black Winter Day von o. g. Album, bei dem zunächst ein Minimoog mit Klavier-Begleitung eine achttaktige Melodie vorstellt, die aus Vor- und Nachsatz besteht. Beim Nachsatz nimmt die Gitarre das Thema auf und wiederholt es zweimal variiert. Im Anschluss folgt ein achttaktiges Nebenthema der Gitarre, das ebenfalls variiert und schließlich vom Keyboard aufgegriffen wird. Im weiteren Verlauf des Stückes wird das thematische Material weiter verwendet und variiert, unter anderem folgt ein Keyboardsolo. Eine solche Kompositionstechnik verwendeten Amorphis vor allem auf dem Album Elegy, auf den folgenden Werken bis einschließlich Am Universum ging die Benutzung derartiger Strukturen jedoch wieder zurück. Auf aktuelleren Werken der Band, wie Far from the Sun und Eclipse wurde wieder verstärkt auf diese Technik zurückgegriffen. Der Musikstil von Amorphis war im Laufe der Bandgeschichte häufigen Änderungen unterworfen. In einem Interview von 1991 betonte Esa Holopainen, dass Amorphis ihren Stil nur wechseln würden, wenn sie es schaffen würden, etwas selbst zu entwickeln. Gleichzeitig greift er die damalige Death-Metal-Szene an und kritisiert, dass jeder einfach nur brutaler als die anderen spielen wolle. Der Wille zur stilistischen Veränderung wird auch an der Namenswahl deutlich, Esa Holopainen entlehnte ihn vom englischen Wort „amorphous“, was auf deutsch „formlos“ heißt. Bereits auf dem Debütalbum The Karelian Isthmus ergänzte Amorphis den langsamen Death Metal mit akustischen Abschnitten und atmosphärischen Keyboard-Stimmen. Die Stücke werden häufig als langsam, melodisch und deutlich nicht vom amerikanischen brutalen und schnellen Death Metal beeinflusst beschrieben. Auf den nächsten Alben verwendet die Band verstärkt Synthesizer und Klavier, der Progressive Rock der 1970er Jahre wird ein immer größerer Einfluss. Auf dem Album Am Universum setzt Amorphis die Entwicklung der vorherigen Alben fort, diese musikalische Veränderung wird vom Webmagazin Vampster in einer Rezension mit den Worten zusammengefasst. Far from the Sun ist wiederum etwas gradliniger und Metal-lastiger. So verzichtet die Band hier auf den Einsatz von früher vereinzelt eingesetzten Instrumenten (Saxophon oder Sitar). Auch das Album Eclipse von 2005 ist deutlich härter als die vorherigen Alben. Laut Esa Holopainen liegt dieser Stilwechsel am neuen Sänger. Texte und Symbolik Wie auch der Musikstil veränderten sich die Texte von Amorphis deutlich im Laufe der Zeit. Auf dem Demo Disment of Soul handelten die Texte noch hauptsächlich vom Tod, wie es im Death Metal recht häufig war, doch bereits das Debütalbum The Karelian Isthmus beschäftigte sich mit keltischer Geschichte. Die Texte auf dem zweiten Album Tales from the Thousand Lakes stammen aus dem finnischen Nationalepos Kalevala. In einem Interview mit dem Fanzine InfernoZine aus dem Jahr 1994 heißt es dazu: Bereits 1996 wandte sich die Band vorerst vom Kalevala ab. Da die Ausschnitte - ohne das Kalevala zu kennen – nicht verständlich genug waren, entnahm die Band die Texte für Elegy aus der finnischen Gedichtsammlung Kanteletar. Das Albumcover zeigt Symbole, die von der finnischen Volkskunst inspiriert sind. Noch vor Elegy verwarf die Band ihr altes, Death-Metal-typisch verschnörkeltes Logo und ersetzte es durch einen schlichteren Schriftzug, die Band wollte damit die musikalische Veränderung optisch unterstützen. Die Texte vom 1999er-Album Tuonela, benannt nach dem Totenreich der finnischen Mythologie, entstammen nicht mehr direkt der finnischen Dichtung, sondern sind nur noch von alten Sagen inspiriert. Die Texte zu Am Universum, die alle von Pasi Koskinen geschrieben wurden, beziehen sich nicht mehr auf die finnische Mythologie, da die Band weder in der öffentlichen Wahrnehmung, noch im eigenen Ausdruck auf die alten Textgrundlagen beschränkt werden wollte. Das CD-Cover von Far from the Sun zeigt mit dem dem Thorshammer ähnelnden Hammer des Ukko zwar einen Verweis auf die frühe Vergangenheit der Band, die Texte haben jedoch wie auf dem Vorgänger keinen Bezug zur finnischen Mythologie. Erst mit dem neuen Sänger und der neuen musikalischen Ausrichtung wandte sich Amorphis wieder dem Kalevala zu. Die Texte von Eclipse stammen aus Paavo Haavikkos Kullervon-Tarina (1982), einer Theateradaption des Kullervo-Zyklus im Kalevala, das Albumcover soll den Geisteszustand des Protagonisten widerspiegeln. Auch die Texte von Silent Waters, die von Pekka Kainulainen, einem Freund von Tomi Joutsen geschrieben wurden, sind vom Kalevala inspiriert. Rezeption Obwohl Amorphis sich zwischenzeitlich stark von den Metal-Wurzeln entfernte, wurde die Band weiterhin hauptsächlich in der Metal-Szene wahrgenommen. Alle Alben von Amorphis wurden in großen Metalmagazinen besprochen, auch die Vorbands von Amorphis waren ausnahmslos Metalbands. Auch in der Schwarzen Szene konnte Amorphis einige Bekanntheit erreichen, so spielte die Band 2007 als Hauptband der Metal-Bühne auf dem Wave-Gotik-Treffen und wird regelmäßig in Magazinen wie Sonic Seducer, Orkus und Zillo besprochen. Da Amorphis im Laufe der Bandgeschichte eine Vielfalt musikalischer Stile abgedeckt hat, wird die Band sehr unterschiedlich bewertet. Manche Death-Metal-Fans gehen sogar soweit, von zwei verschiedenen Bands zu sprechen. Insbesondere Tuonela, Am Universum und Far from the Sun werden häufig von Death-Metal-Fans angegriffen. Demgegenüber gilt das ältere Tales from the Thousand Lakes als Meisterwerk des Death Metal. So schreibt eine Fanseite, die sich „the old Amorphis“ verschrieben hat: Die finnische Melodic-Death-Metal-Band Noumena wird von Metalnews.de mit Amorphis auf Tales from the Thousand Lakes verglichen. Nachdem Amorphis vom Nuomena-Gitarristen Ville Lamminaho als Negativbeispiel einer Death-Metal-Band, die ihren Stil radikal ändert, genannt wird, nennt er Tales from the Thousand Lakes und bezeichnet es als Später nennt er den Nachfolger Elegy als weiteres Lieblingsalbum. Tales from the Thousand Lakes wird auch heute noch als wichtigstes Amorphis-Album bezeichnet. Noch im Jahr 2001, nach mehreren Alben, die bis in die finnischen Top-10-Charts kamen, sagte Tomi Koivusaari in einem Interview: Die Liste Best of Rock & Metal der Rock-Hard-Redaktion führt das Album auf Platz 248 und schwärmt . Auch das Debütalbum The Karelian Isthmus wird häufig als herausragend beschrieben. Der All Music Guide nennt The Karelian Isthmus , Matthias Herr schreibt in seinem Heavy Metal Lexikon: Auch Markus Toivonen, das letzte verbliebene Gründungsmitglied der finnischen Viking-Metal-Band Ensiferum, sieht sich stark von Amorphis beeinflusst. Nachdem Ensiferum im Jahr 2006 auf der EP Dragonheads den Amorphis-Song Into Hiding vom Album Tales from the Thousand Lakes coverten, sagte er in einem Interview: Weiter bezeichnet er Amorphis als „Roots des melodischen Death Metal und Melodic Metal“. Insomnium ist eine weitere finnische Melodic-Death-Metal-Band, die häufig mit Amorphis aus den Anfangstagen verglichen wird. In einem Review zum Album Since the Day It All Came Down schreibt Erik Thomas: Andere Rezensenten gehen weiter und bezeichnen Amorphis als und das Album Far from the Sun als . Elegy war das erste Amorphis-Album, das in die finnischen Albumcharts einstieg. Auch Tuonela erreichte die finnischen Top-10, enttäuschte aber viele Fans durch den weitgehenden Verzicht auf gutturalen Gesang. Der Band wurde häufig ein musikalischer Ausverkauf vorgeworfen, nur selten wurde Amorphis zugestanden, Metal.de prophezeit: Mit Am Universum und Far from the Sun wurde deutlich, dass sich Amorphis vom Death Metal abgewendet haben, gleichzeitig konnten sie mit ihrem neuen Stil neue Fans gewinnen. Eclipse stellt mit dem Sängerwechsel und einigen Veränderungen bei Musik und Texten einen weiteren deutlichen Einschnitt in der Bandgeschichte dar, wird aber überwiegend positiv bewertet. Der Nachfolger Silent Waters wurde vom Metal Hammer zum Album des Monats für September 2007 gekürt. Mit diesen beiden Alben schlägt Amorphis abermals einen anderen Weg ein, der aber wieder mehr an den Stil der drei ersten Alben erinnert. Zwar sind auf beiden Alben immer noch ruhigere Stücke zu finden, aber Amorphis setzt vor allem wieder mehr „Growls“ ein und auf beiden Alben sind mit Songs wie „A Servant“ oder „Perkele (the God of Fire)“ auch wieder härtere, mehr vom Melodic Death Metal beeinflusste Stücke. Die neueren Alben Skyforger und The Beginning Of Times folgen ebenfalls weitgehend dieser stilistischen Linie. Seit Tomi Joutsen 2005 als Sänger zu Amorphis stieß, produziert und arrangiert Marco Hietala für Amorphis die Vocals. Auf den Alben Eclipse, Silent Waters und Skyforger unterstützt er Amorphis überdies bei den Backing Vocals. Diskografie Weblinks Offizielle Website Einzelnachweise Finnische Band Band (Helsinki) Death-Doom-Band Progressive-Metal-Band Melodic-Death-Metal-Band
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https://de.wikipedia.org/wiki/John%20Colter
John Colter
John Colter (* um 1774 bei Staunton, Virginia; † November 1813 in Missouri), auch John Coulter, war ein amerikanischer Trapper, Mountain Man und Teilnehmer mehrerer Expeditionen, die den amerikanischen Westen erkundeten. Seine Streifzüge als Trapper führten ihn wiederholt in bis dahin von Einwanderern unerforschte Gebiete. Unter anderem entdeckte Colter vermutlich als erster Weißer die heißen Quellen des heutigen Yellowstone-Nationalparks. Einige seiner Erlebnisse sind in die amerikanische Mythenbildung eingegangen. Das bekannteste Erlebnis ist sein Rennen gegen Blackfoot-Indianer, das unter anderem von Autoren wie Washington Irving literarisch verarbeitet worden ist. Leben Familie Um 1700 wanderte Johns Urgroßvater Micajah Coalter von Schottland nach Amerika aus. Michael, der älteste Sohn von Micajah und zugleich Johns Großvater, änderte den Namen in Colter. Einige Familienmitglieder schrieben sich auch Coulter. Die Colters erwarben größere Ländereien bei Staunton in Virginia, wo John zur Welt kam. Fünf Jahre später zogen sie nach Maysville, Kentucky. Erscheinungsbild John Colter hatte blaue Augen und war 178 cm groß. Er galt als scheuer, mutiger Mensch mit rascher Auffassungsgabe. Lewis-und-Clark-Expedition John Colter meldete sich am 15. Oktober 1803 in Maysville als Gefreiter für die Expedition von Meriwether Lewis und William Clark quer durch die heutigen USA. Die Expeditionsteilnehmer wurden nach harten Kriterien ausgewählt: Sie mussten gute Jäger sein, stämmige, gesunde und unverheiratete Männer, die an die Wälder gewöhnt waren und die körperliche Strapazen erdulden konnten. Bis zum Start am 14. Mai 1804 wurden die Teilnehmer in der Nähe von St. Louis, das sie im Dezember 1803 erreichten, auf die Reise vorbereitet. Colter kehrte nie mehr nach Virginia zurück. Für seinen Dienst erhielt er fünf US-Dollar pro Monat. Den Expeditionsteilnehmern war es jedoch gestattet, nebenbei Pelztiere zu fangen und so ihren Lohn aufzubessern. Die Reise fand zu einem guten Teil auf dem Flussweg statt. Colter stand unter dem Kommando von Sergeant John Ordway, der das größte Schiff führte. Nachdem Colter zu Beginn hatte diszipliniert werden müssen, tat er sich in der Folge als hervorragender und zuverlässiger Jäger hervor. Während seiner Streiftouren durch die Wälder begegnete er Indianern verschiedenster Stämme: Lakota, Mandan, Gros Ventre, Menominee, Nez Percé. Einmal überraschte er drei Flathead-Indianer, die zwei Shoshonen verfolgten, weil diese ihnen 23 Pferde geraubt hatten. Colter konnte einen der Flathead überreden, der Expedition als Führer zu dienen. Der bisherige indianische Führer, ein Shoshone, kehrte gerne nach Hause zurück, da sie sich nun in fremdem Territorium bewegten. Colter zeichnete sich während der anstrengenden Expedition durch seinen unermüdlichen Einsatz aus. Er verfügte über eine ausgezeichnete Kondition, die es ihm und George Drouillard als einzigen möglich machte, Tag für Tag auf Jagd zu gehen. Seine Leistung für die Expedition wurde geehrt, indem ein Bach, der bisher als Potlatch Creek bekannt war, in Colter's Creek umbenannt wurde. Am 7. November 1805 erreichte die Gruppe den Pazifik. Nach dem Winter trat sie die Rückreise an. Fallensteller Am 15. August 1806 bat Colter Captain Clark um die Entlassung. Bei einem Dorf der Mandan hatten sie Joseph Dixon und Forrest Hancock, zwei Fallensteller aus Illinois, kennengelernt, denen er sich als Partner anschließen wollte. Clark entsprach dem Wunsch und drückte seine große Zufriedenheit mit Colters Leistung aus. Colter hatte von der Möglichkeit, durch Pelzjagd den Lohn aufzubessern, regen Gebrauch gemacht und tauschte nun seine erbeuteten Felle gegen die nötige Ausrüstung für zwei Jahre aus. Die drei verabschiedeten sich nach Süden in Richtung Yellowstone River. Den Winter verbrachten sie in einem Unterstand. Colter nutzte diese Zeit, um die Umgebung zu erkunden. Da der Biberfang in dieser Region nicht sehr ergiebig war und Colter Meinungsverschiedenheiten mit seinen Partnern hatte, trennte er sich im Frühling von ihnen. Colter fuhr den Yellowstone River hinunter bis zum Missouri River. Dort kam ihm die Lisa-und-Drouillard-Expedition der Missouri Fur Company entgegen, bei der unter anderem drei ehemalige Kollegen aus der Lewis-und-Clark-Expedition teilnahmen: George Drouillard, John Potts und Peter Weiser. Manuel Lisa, der Leiter der Pelzhandels-Expedition, konnte John Colter für die Teilnahme an der 42-köpfigen Expedition gewinnen, die zum größten Teil aus französischen Kanadiern bestand. Später schloss sich auch Hancock an. Ob Dixon ebenfalls mit von der Partie war, ist ungewiss. Während die Expedition unbehelligt durch die Gebiete der Lakota-, Arikaree-, Mandan- und Hidatsa-Indianer reiste, kam es im Gebiet der Assiniboine zu Konfrontationen mit Indianern, die allerdings friedlich gelöst werden konnten. Am Yellowstone River angelangt, schwenkte die Expedition auf diesen ein. Im Oktober 1807 erreichte sie die Einmündung des Bighorn Rivers. Im November errichteten die Teilnehmer dort, auf dem Territorium der Absarokee-Indianer, ein Blockhaus, das sie nach Lisas Sohn Fort Raymond tauften. Fort Raymond, zuweilen auch Manuel's Fort genannt, war das erste Gebäude im Gebiet des späteren Bundesstaates Montana und sollte als Handelsstation dienen. Lisa schickte seine Trapper – darunter auch Colter – aus, um die Handelsstation bei den benachbarten Stämmen bekannt zu machen. Colters über 500 Meilen lange Tour führte ihn ins Gebiet der heutigen Yellowstone und Grand-Teton-Nationalparks. Erkundungen im Yellowstone-Gebiet Colters Route ist nicht schlüssig rekonstruierbar. Vermutlich drang er erst zum Stinkingwater River (heute: Shoshone River) vor, in eine von vulkanischen Aktivitäten geprägte Gegend, die als Colter's Hell bekannt wurde. Dann durchquerte er den heutigen Grand-Teton-Nationalpark, umging den Jackson Lake und zog weiter nach Norden, wo er auf den Yellowstone Lake traf. Diesen umging er im Nordwesten und folgte dem Yellowstone River bis zum Tower Fall, möglicherweise sogar bis zu den Mammoth Hot Springs. Anschließend kehrte er mit einem Abstecher zu Colter's Hell wieder nach Fort Raymond zurück, wo er im späten Frühling 1808 eintraf. Einen Großteil seines Marsches hatte er im Winter unternommen. Dabei hatte er auf der Suche nach Indianerstämmen immer wieder Abstecher in verschiedene Richtungen gemacht. Mit Sicherheit hatte er ein Dorf der Absarokee besucht. Zuweilen hatte er die Dienste von Indianern angenommen, die ihn durch schwieriges Gelände führten. Nach einer Erholungspause schickte ihn Lisa in das Gebiet der Blackfoot-Indianer. Colter schloss sich unterwegs einer aus mehreren Hundert bestehenden Gruppe von Absarokee- und Flathead-Indianern an. Am Gallatin River wurden sie von einer vermutlich noch zahlreicheren Blackfoot-Gruppe angegriffen, die traditionell mit den Absarokee verfeindet war. Colter half seinen Gefährten, den Angriff abzuwehren, und wurde dabei am Bein verwundet. Für den Rest des Kampfes konnte er sich nur noch kriechend wehren. Die unterlegenen Blackfoot griffen in den nächsten fünfzig Jahren immer wieder Weiße an, weil sie – angesichts von Colters unfreiwilligem Mitwirken gegen sie – überzeugt waren, dass sich die Weißen mit den Absarokee verbündet hatten. Colter brach seine Reise ab und kehrte zum Fort Raymond zurück. Das Rennen gegen die Blackfoot-Indianer Nachdem seine Wunde geheilt war, begab Colter sich erneut auf Biber-Fang. Vermutlich bei der zweiten Fang-Tour im Gebiet der Blackfoot-Indianer begleitete ihn John Potts. Dabei erlebten sie ein Abenteuer, das im Westen wieder und wieder in den verschiedensten Varianten erzählt wurde. Der tatsächliche Verlauf des Geschehens ist noch immer umstritten, dürfte sich aber etwa wie folgt zugetragen haben: Als Colter und Potts eines Morgens, je in einem Kanu, im Jefferson River ihre Fallen absuchten, wurden sie von einigen hundert Blackfoot-Indianern überrascht und zum Anlegen aufgefordert. Colter warf seine Fallen ins Wasser und paddelte ans Ufer, wo ihn die Blackfoot sofort packten und ihm die Kleider vom Leibe rissen. Als Potts dies sah, weigerte er sich, sein Kanu ans Ufer zu steuern. Ein Indianer schoss einen Pfeil auf ihn ab und verletzte Potts schwer. Dieser schoss zurück und traf einen Indianer tödlich, worauf er von mehreren Pfeilen getötet wurde. Die Blackfoot zogen seine Leiche ans Ufer und zerstückelten sie. Die Angehörigen des getöteten Indianers konnten nur mit Mühe abgehalten werden, auf Colter loszugehen. Die Blackfoot wiesen ihn an, um sein Leben zu laufen. Obwohl Colter nackt und barfuß rennen musste, konnte er sich einen Vorsprung erkämpfen. Zum Madison River waren es rund fünf Meilen. Ein einzelner Indianer hatte sich aus der Masse der rennenden Blackfoot herausgelöst und war Colter auf den Fersen. Dieser blieb plötzlich stehen, entriss dem Blackfoot den Speer und erstach ihn damit. Rasch riss er dessen Decke an sich und sprang in den Fluss. Bevor die Indianer heran waren, konnte er sich in einem Biberbau verstecken, in dem er bis in die Nacht blieb. Dann machte er sich auf den Rückweg, umging den nahe gelegenen Pass, indem er einen hohen Berg erklomm, ernährte sich tagelang nur von Wurzeln und Baumrinde und kam nach einem Marsch von etwa 500 km nach Nordosten völlig erschöpft im Fort an. Gesichert ist, dass Colter und Potts mit den Blackfoot kämpften, dass Colter eine indianische Decke mit sich ins Fort Manuel brachte und dass die Blackfoot die erbeuteten Felle in eine Handelsstation brachten. Rückkehr in die Zivilisation Im folgenden Winter besuchte Colter erneut die Stelle des Kampfes, um die wertvollen, ins Wasser geworfenen Fallen zu holen. Kaum dort angelangt, wurde er von Indianern heftig beschossen und floh erneut erfolgreich. In den nächsten Monaten betätigte sich Colter als Fallensteller. Mindestens einmal führte er eine Gruppe nach Colter's Hell. Zwischendurch besuchte er Indianerdörfer, vor allem der Mandan und Hidatsa. Vermutlich im März 1810 führte Colter eine Gruppe von 32 Männern in die Gegend von Three Forks, dem Quellgebiet des Gallatin-, Madison- und Jefferson-Rivers, um eine neue Handelsstation aufzubauen. Unterwegs wurden sie von einem Schneesturm überrascht. Die Lage wurde kritisch. Aufgrund von Schneeblindheit konnten sie tagelang kein Wild jagen und mussten drei Hunde und zwei Pferde essen. Plötzlich tauchten 30 Blackfoot-Männer auf, die Colters hilflose Gruppe allerdings nicht angriffen. Nachdem die Expedition jene Stelle durchquert hatte, wo Colter um sein Leben gelaufen war, erreichten sie am 3. April 1810 das Quellgebiet der drei Flüsse. Dort, mitten im Territorium der Blackfoot, errichteten sie ein palisadengeschütztes Camp. Während Colter anschließend einen Teil der Gruppe zu ersten Fangzügen führte, wurde das Camp von Gros-Ventre-Indianern überfallen. Beide Seiten hatten Tote zu beklagen. Durch dieses Ereignis wurde Colter klar, dass es für ihn nur zwei Alternativen gab: im Westen in ständiger Angst vor den Indianern, besonders vor den Blackfoot, zu leben oder nach Osten zurückzukehren. Er entschied sich, die Gegend für immer zu verlassen. Der spätere Tod seines langjährigen Kameraden George Drouillard gab ihm recht. Zusammen mit dem jungen William Bryant (the young Bryant of Philadelphia) verließ er das Camp. Kurz darauf wurden sie von Blackfoot-Indianern angegriffen, konnten sich aber ins Dickicht retten. Im Mai traf Colter in St. Louis ein. Er erntete für seine Geschichten nur Unglauben. Lebensabend John Colter blieb nicht lange in St. Louis, sondern ließ sich nördlich von Charette, in der Nähe der heutigen Ortschaft Dundee im Franklin County in Missouri, nieder. Er ging dort ebenso auf Biberjagd wie Daniel Boone, der auch in Charette wohnte. Irgendwann zwischen Mai 1810 und März 1811 heiratete Colter eine Frau namens Sally. Vermutlich hatten sie einen Sohn, der Hiram hieß. Im November 1813 starb John Colter auf seiner Farm in Missouri an Gelbsucht. Zwei Jahre später heiratete Sally einen Mann namens James Brown. Im September 1889 fanden drei Jäger am Coulter Creek eine große Kiefer, in die ein X und darunter „J C“ eingeritzt war. Sie vermuteten, dass Colter 80 Jahre früher die Markierung angebracht hatte, und meldeten den Fund den Behörden. Diese ließen den Baum fällen, um den Abschnitt mit den Initialen in einem Museum auszustellen. Beim Transport ging er jedoch verloren. Im Jahr 1931 fanden der Farmer William Beard und sein Sohn in der Nähe von Tetonia (Idaho) einen Magma-Stein, der von Hand zur Form eines menschlichen Kopfes geschnitzt worden war und den Schriftzug „John Colter 1808“ trug. Der Colter-Stein kann heute im Moose Visitor Center im Grand-Teton-Nationalpark betrachtet werden. Nachwirkung Um Colter rankten sich bereits zu seiner Lebenszeit eine Reihe aufsehenerregender Geschichten. Entgegen vielen Erzählungen tötete er aber vermutlich nur einen einzigen Indianer, einen Blackfoot. Noch heute ist bei vielen Geschichten unklar, inwieweit sie den tatsächlichen Gegebenheiten entsprechen. Besonders die Flucht vor den Blackfoot war eine beliebte Geschichte, die von verschiedenen Autoren wiedergegeben wurde. Als erster schrieb Henry Brackenridge sie auf, der sie im Fort Manuel direkt von Colter gehört hatte. Später übernahmen andere Autoren sie, so zum Beispiel 1836 Washington Irving in „Astoria“. Colters Verdienste liegen vor allem in seinen Leistungen bei der Lewis-und-Clark-Expedition, in seiner Fähigkeit, Beziehungen zu den verschiedensten Indianervölkern zu knüpfen und in den folgenden Erkundungen in bislang für die Weißen unbekannten Gebieten. 1814 ließ William Clark Colters Angaben in seine Skizze einer ersten Landkarte des amerikanischen Westens einfließen, da Colter während seiner Streifzüge eine Reihe von Gebirgszügen erkundet hatte, die Clark nicht bekannt waren. In Erinnerung an seine Flucht vor den Blackfoot-Indianern findet im Quellgebiet des Missouri Rivers jährlich der John Colter Run statt. Am 6. September 2003 eröffnete die Stadt New Haven in Missouri ein Museum über John Colter. In der Nähe seines Geburtsortes in Virginia, an der U.S. Route 340 etwas nördlich der Kreuzung mit der U.S. Route 608, befindet sich eine Gedenktafel. Verschiedene geografische Objekte sind nach Colter benannt, so die Ortschaft Colter Bay im Grand-Teton-Nationalpark und der Berg Colter Peak im Absaroka Range, beides im nordwestlichen Wyoming. In dem Roman Hart auf Hart des Autors T. C. Boyle (Original: The Harder They Come) aus dem Jahre 2015 spielt Colter eine wichtige Rolle als Identifikationsfigur des Protagonisten Adam. In Kapitel 19 wird die Blackfeet-Begegnung Colters nacherzählt. Literatur Burton Harris: John Colter – His Years in the Rockies. Charles Scribner's Sons, New York 1952. ISBN 0-8032-7264-2 Aubrey L. Haines: The Yellowstone Story. A History of our first National Park. 2 Bde. University Press of Colorado, Niwot Col 1996. ISBN 0-87081-390-0, ISBN 0-87081-391-9 Mark H. Brown: The Plainsmen of the Yellowstone. A History of the Yellowstone Basin. G. P. Putnam's Sons, New York 1961. ISBN 0-8032-5026-6 Weblinks National Park Service: John Colter (engl.) John Colter Run (engl.) Einzelnachweise Entdecker (19. Jahrhundert) Mountain Man Teilnehmer der Lewis-und-Clark-Expedition Yellowstone-Nationalpark US-Amerikaner Geboren im 18. Jahrhundert Gestorben 1813 Mann
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https://de.wikipedia.org/wiki/Otto%20IV.%20%28HRR%29
Otto IV. (HRR)
Otto IV. von Braunschweig (* 1175 oder 1176 möglicherweise in Braunschweig; † 19. Mai 1218 auf der Harzburg) aus dem Haus der Welfen war von 1198 bis 1218 (unangefochten jedoch nur von 1208 bis 1211) römisch-deutscher König und von 1209 bis 1218 Kaiser des römisch-deutschen Reiches. Der Tod Kaiser Heinrichs VI. im Jahr 1197 ließ die bis Sizilien reichende staufische Herrschaft über Reichsitalien zusammenbrechen und schuf im Reichsteil nördlich der Alpen ein Machtvakuum. Vorbehalte gegen den minderjährigen Friedrich II. als König führten in einem Reich ohne geschriebene Verfassung zu zwei Königswahlen. Im 1198 ausgebrochenen „deutschen“ Thronstreit rangen die beiden jeweils gewählten Könige Philipp von Schwaben und Otto um die Anerkennung ihrer Herrschaft. Beide Kontrahenten versuchten in den Folgejahren durch Unterstützung seitens des Papstes oder verschiedener Teile Europas, durch Geld und Geschenke, durch demonstrative öffentliche Auftritte und Rituale (Symbolische Kommunikation) oder durch kriegerische und diplomatische Unternehmungen, den Konflikt für sich zu entscheiden. Otto geriet dabei im Reich nördlich der Alpen zunehmend in Isolation. Anerkannt wurde er erst 1208, als mit der Ermordung Philipps die Thronstreitigkeiten ein Ende fanden. 1209 ließ er sich von Papst Innozenz III. zum Kaiser krönen. Otto versuchte kurz danach, durch die Eroberung Siziliens eine Wiedervereinigung der beiden Reiche (unio regni ad imperium) wie unter Heinrich VI. zu erreichen. Dadurch kam es zum Bruch mit dem Papst und zur Exkommunikation. Das Ziel Innozenz’ III. war es, Sizilien auf Dauer vom deutschen Reichsteil loszulösen, um den Süden der Halbinsel als Gegengewicht gegen Ottos Ambitionen ausspielen zu können. Im nordalpinen Reichsteil verlor Otto dadurch zunehmend an Zustimmung. Die Schlacht bei Bouvines 1214 beendete seine Herrschaft und brachte die endgültige Anerkennung Friedrichs II., dem der Papst zusammen mit einem antiwelfisch gesinnten Kreis süd- und mitteldeutscher Fürsten zur Königswahl verholfen hatte. Neuere Forschungsbeiträge betonen Ottos von anglonormannischen Einflüssen geprägte Hofhaltung und begründen das Scheitern des einzigen welfischen Kaisers damit, zu wenig mit konsensualer Herrschaftspraxis vertraut gewesen zu sein. Leben Herkunft und Jugend Otto entstammte dem adligen Geschlecht der Welfen. Schon seit den zwanziger Jahren des 12. Jahrhunderts wurde in mehreren Schriften die Geschichte dieser Familie schriftlich fixiert; als erste Adelsfamilie im Reich ließen die Welfen damit ihre Geschichte aufzeichnen. Die Vorfahren der Welfen traten bereits im 8. Jahrhundert im Umfeld der Karolinger auf. Der Aufstieg der Familie vollzog sich durch vorteilhafte Heiraten. Mit der Hochzeit 1168 zwischen Heinrich dem Löwen und der englischen Königstochter Mathilde gingen mit den Welfen und den Plantagenêt zwei der einflussreichsten Dynastien in Europa ein Bündnis ein. Aus dieser Ehe ging 1175 oder 1176 der möglicherweise in Braunschweig geborene Otto als dritter Sohn hervor. Mit Heinrich und Wilhelm hatte er noch zwei Brüder. Ihr Vater Heinrich der Löwe war als Herzog von Sachsen über zwei Jahrzehnte eine wesentliche Stütze der Herrschaft seines Vetters Friedrich Barbarossa. Die Kooperation war durch Leistung und Gegenleistung geprägt. 1156 wurde Heinrich auch das Herzogtum Bayern übertragen. In Norddeutschland konnte Heinrich sich durch das Investiturrecht für die nordelbischen Bistümer eine königsgleiche Position aufbauen. Für diese Förderung erbrachte der Löwe hohe Gegenleistungen für Barbarossa im Kampf gegen die italienischen Kommunen und den Papst. Er übernahm wichtige politische Aufgaben als Gesandter und Vermittler. Die übermächtige Stellung Heinrichs missachtete aber das bisherige Gleichgewicht innerhalb der adligen Führungsschicht. Dadurch entstand zunehmend Konfliktpotential mit anderen Großen im Reich. 1180 wurde Ottos übermächtiger Vater auf Betreiben der Fürsten gestürzt und verlor seine Herzogtümer Bayern und Sachsen. Ihm verblieb nur noch das von sächsischen Vorfahren ererbte adlige Eigengut um Braunschweig und Lüneburg. 1182 musste Heinrich der Löwe mit seiner Familie ins Exil nach England gehen. Seine Jugend verbrachte Otto deshalb am Hof König Heinrichs II. in England und Frankreich. Dort wurde er mit den etablierten Gewohnheiten über herrscherliche Amts- und Lebensführung seiner Zeit vertraut gemacht. Für das Jahr 1183/84 ist durch die Buchführung des angevinischen Königshauses ein eigener Haushalt mit Dienstleuten und Lehrern für den Jungen nachweisbar. In der neueren Forschung ging man sogar so weit zu behaupten, dass Otto der Herkunft nach zwar ein Welfe war, der Erziehung zufolge aber ein Plantagenêt. Nach dem Tod Heinrichs II. 1189 wurde dessen Sohn Richard Löwenherz König von England und nahm sich seines Neffen Otto an. Die Beziehung zwischen Onkel und Neffe wurde in den nächsten Jahren noch enger. Als Richard 1192 vom Dritten Kreuzzug zurückkehrte, wurde er im Herrschaftsgebiet des österreichischen Herzogs Leopold V. gefangen genommen und an Kaiser Heinrich VI. ausgeliefert, der ihn bis 1194 festhielt. Dies bewog Otto, ins römisch-deutsche Reich zu reisen und als Geisel an den Hof des Kaisers zu gehen. Erst in der zweiten Jahreshälfte 1194 konnte Otto nach England zurückkehren. Im Februar 1196 wurde Otto von Richard zum Ritter geschlagen und im September 1196 mit der Grafschaft Poitou belehnt, die Otto zugleich die Herzogswürde von Aquitanien einbrachte. Richard versuchte vergeblich durch ein Heiratsprojekt, Otto die Nachfolge des söhnelosen Schottenkönigs Wilhelm I. zu sichern. Vielleicht sollte Otto gar Richards Nachfolge im englischen Königreich antreten. Im Testament Heinrichs des Löwen von 1195 war für Otto hingegen nur ein unbedeutender Erbteil mit Haldensleben und Umgebung vorgesehen. Sein Bruder Heinrich trat 1195/96 als Pfalzgraf bei Rhein in eine reichsfürstliche Stellung ein. Thronstreit Am 28. September 1197 starb Kaiser Heinrich VI. überraschend in Messina. Sein einziger Sohn Friedrich war zu diesem Zeitpunkt ein zweijähriges Kind. Friedrich war bereits zum Mitkönig erhoben, befand sich allerdings 1197/98 in Italien. Philipp, Bruder Kaiser Heinrichs VI. und Herzog von Tuszien und Schwaben, versuchte vergeblich, Friedrich von Italien ins Reich nördlich der Alpen zu bringen. Im Dezember 1197 befand sich Philipp als einziger Repräsentant der staufischen Dynastie wieder im nördlichen Reichsteil. Noch im Januar 1198 stellte Philipp den Bürgern von Speyer Urkunden im Namen König Friedrichs aus. Doch konnte sich ein Königtum Friedrichs im Reich nicht behaupten. Wegen Vorbehalten gegen einen König im Kindesalter wählten rivalisierende Fürstengruppen 1198 zwei Könige. An der Spitze derjenigen, die Otto wählen wollten, stand der Kölner Erzbischof Adolf. Er war finanziell von führenden Kölner Patriziern abhängig, die wiederum in regen Handelsbeziehungen mit England standen. Der englische König Richard Löwenherz wollte nun seinen Neffen Otto als Königsnachfolger installieren, um sich einen zuverlässigen Partner im Kampf gegen Philipp II. August von Frankreich zu schaffen. Die Kandidatur Ottos beunruhigte aber die Großen, die vom Sturz seines Vaters Heinrich profitiert hatten. Der Askanier Bernhard und der Wittelsbacher Ludwig, in der Nachfolge seines 1183 verstorbenen Vaters Otto, hatten durch den Sturz Heinrichs des Löwen das Herzogtum Sachsen und das Herzogtum Bayern erhalten. Heinrichs Sohn Otto, so fürchteten sie, könnte ihnen diese territorialen Zugewinne wieder streitig machen. Von ihnen sowie von den Erzbischöfen Ludolf von Magdeburg und Adalbert von Salzburg wurde Philipp von Schwaben am 8. März 1198 in Mühlhausen zum König gewählt. Der Ort für eine Königswahl war ungewöhnlich. Möglicherweise wollte Philipp mit dieser Ortswahl die Demütigung in der historischen Erinnerung tilgen, die sein Großonkel Konrad III. 1135 bei seiner Unterwerfung in Mühlhausen vor Lothar III. erlitten hatte. Ungewöhnlich war auch, dass alle drei rheinischen Erzbischöfe fehlten. In einem Reich ohne schriftlich fixierte Gesetze oder Erlasse wurde mit dieser ungewöhnlichen Königswahl zwar gegen kein Recht, aber doch gegen Gewohnheiten (consuetudines) verstoßen. Diese fanden die politischen Führungsgruppen in mündlich-persönlichen Beratungen auf Hoftagen, Synoden oder in Zusammenkünften. Durch die permanente Wiederholung der Gewohnheit wurde sie von den Betrachtern erkannt und angemessen verstanden. Solche Konsensfindung war das wichtigste Verfahren zur Etablierung von Ordnung in der mittelalterlichen Gesellschaft. Philipp erhielt für sein Königtum die Unterstützung von Herzog Leopold VI. von Österreich und Steiermark, Herzog Otakar I. von Böhmen, Herzog Berthold von Zähringen und Landgraf Hermann I. von Thüringen. Am 9. Juni 1198 wurde Otto in Köln vom Kölner Erzbischof, den Bischöfen Bernhard II. von Paderborn und Thietmar von Minden sowie von drei Reichsäbten zum König gewählt. Der Kölner Erzbischof sprach allerdings auch für den Erzbischof Konrad I. von Mainz, der sich auf einem Kreuzzug befand, und den Erzbischof Johann I. von Trier, dem die Stimme abgekauft worden war. Am traditionellen Krönungsort Aachen, wo 936 erstmals ein ostfränkisch-deutscher Herrscher gekrönt wurde, sollte die Krönung vollzogen werden. Nach drei Wochen konnte die von staufischen Rittern besetzte Stadt eingenommen werden. Am 10. Juli konnte Otto feierlich in die Stadt einziehen. Zwei Tage später krönte ihn der Kölner Erzbischof Adolf in Aachen zum König. Es fehlten jedoch die Insignien (Reichskrone, Reichsschwert und Reichsapfel), denn sie befanden sich in Philipps Besitz. Otto ließ deshalb von französischen und niederrheinischen Goldschmieden neue anfertigen. Reichsschwert und Reichsapfel sind bis heute erhalten. Mit der Krönung verzichteten Otto und seine Brüder gegenüber Köln auf das Herzogtum Westfalen. Zugleich verlobte sich Otto in Aachen mit der sieben- oder neunjährigen Maria von Brabant, einer Tochter Herzog Heinrichs I. von Niederlothringen-Brabant. Aus Anlass der Krönungs- und Verlobungsfeier wurde eine Wappenrolle angefertigt. Sie zeigt 34 Wappenschilde und ist das älteste erhaltene Zeugnis der Heraldik. Auf der Wappenrolle werden die Wappen aller in Aachen anwesend gewesenen Fürsten gezeigt. Mit seinen Brüdern konnte sich Otto über die welfischen Güter und Rechte einigen. Wilhelm erhielt Lüneburg, Pfalzgraf Heinrich Hannover, Celle und Göttingen. Otto selbst übernahm Braunschweig mit dem größten Teil des Harzes, dessen reiche Silbervorkommen vom Rammelsberg zu einem bedeutenden Streitpunkt mit den Staufern wurden. Ab 1199 übte er in Braunschweig Herrschaftsrechte aus. Anfang Mai 1202 wurde in Paderborn die Erbteilung unter den Söhnen Heinrichs des Löwen förmlich besiegelt. Philipp ließ seine Königswahl am 8. September 1198 in Mainz wiederholen, vom burgundischen Erzbischof Aimo von Tarentaise wurde er zum König gekrönt. Eine Königskrönung ohne die vier rheinischen Würdenträger – die Erzbischöfe von Köln, Mainz und Trier sowie den Pfalzgrafen bei Rhein – war ein einzigartiger Vorgang gewesen. Trotz dieser Verstöße gegen die consuetudines (Gewohnheiten) konnte Philipp im Gegensatz zu Otto die Mehrheit der Fürsten hinter sich vereinen. Für die Fürsten waren Besitz, Abstammung und Herkunft für ihre Unterstützung Philipps maßgeblich. Beide Könige bemühten sich in der Folgezeit, Unentschlossene oder Gegner auf ihre Seite zu ziehen. Dabei spielte die Begünstigung von Getreuen, Freunden und Verwandten durch Geschenke oder Übertragung von Ämtern und Besitz eine wichtige Rolle. Der wachsende Geldverkehr im Hochmittelalter beeinflusste die Fürsten in ihren Überlegungen für militärischen Beistand oder in der Frage ihrer Parteianhängerschaft. Otto wurde materiell vom englischen König Richard Löwenherz und seinem Nachfolger Johann Ohneland unterstützt. Nach Richards Tod hatte die Kölner Hochfinanz wesentlichen Anteil an der Aufrechterhaltung der Beziehungen. Philipp hingegen bekräftigte am 29. Juni sein Bündnis mit Philipp II. Augustus von Frankreich gegen den englischen König und dessen Neffen. Durch eine geschickte Heiratspolitik konnten Bindungen gefestigt oder Parteiwechsel belohnt werden. Außerdem mussten beide Herrscher in ihrer Interaktion mit den Großen Rücksicht auf den honor (Ehre) nehmen, also auf die jeweils durch Vornehmheit, Ämter, persönliche Fähigkeiten und Verbindungen beanspruchte Rangordnung in einer hocharistokratischen Gesellschaft. Selbst eine militärische Entscheidung im Thronstreit konnte nur dann zu einem dauerhaften Erfolg führen, wenn dem unterlegenen Gegner und seiner Anhängerschaft unter Wahrung der Ehre spürbare Kompensationen geboten wurden. Viele Chronisten sahen durch den Konflikt zwischen den beiden Königen die vom Herrscher repräsentierte gottgewollte Ordnung erheblich gestört. In den Jahren des Thronstreits kam den Akten der Herrschaftsrepräsentation immense Bedeutung zu, denn in ihnen stellte sich nicht nur das Königtum zur Schau, sondern es manifestierten sich darin auch die eingetretenen Veränderungen im politischen Kräfteverhältnis. 1199 feierte Philipp in demonstrativer Absicht das Weihnachtsfest in Magdeburg und damit in der Nähe von Ottos braunschweigischen Stammlanden. Es gilt als erster Höhepunkt des Kampfes um die Königswürde. Durch die reiche Kleidung und das herrschaftliche Auftreten der Teilnehmer am Fest sollte Philipps Befähigung für die Königsherrschaft demonstriert werden. Der sächsische Herzog Bernhard fungierte dabei als Schwertträger und zeigte damit seine Unterstützung des Staufers. Der Schwertträgerdienst war nicht nur ehrende Auszeichnung, sondern nach Gerd Althoff auch Zeichen demonstrativer Unterordnung. In solchen rituellen Handlungen wurden Verpflichtungen für die Zukunft versinnbildlicht, denn Bernhard hatte 1197 noch selbst beabsichtigt, um die Königswürde zu kämpfen. Beide Seiten erwarteten in absehbarer Zeit von Papst Innozenz III. die Kaiserkrönung und damit die Anerkennung ihrer Herrschaft. Die staufische Mehrheit im Reich beanspruchte selbstbewusst in ihrer Speyerer Fürstenerklärung vom 28. Mai 1199 das Recht, den deutschen König zu wählen, für sich. Nicht erwähnt wurde die Bestätigung der Wahl durch den Papst und dessen Recht, die Kaiserkrönung vorzunehmen. Die Wahl des Königs begründete nach Sicht der Anhänger des Staufers zugleich dessen Anspruch auf die Kaiserherrschaft. Demnach kam dem Papst für das Kaisertum nur die Rolle eines bloßen Koronators (Krönungsvollziehers) zu. Die welfische Seite hingegen bat um Bestätigung ihrer Wahl und um die päpstliche Zustimmung zur Kaiserkrönung. Dem päpstlichen Urteil kam damit erhebliche Bedeutung zu. Papst Innozenz unterzog an der Jahreswende 1200/1201 alle drei Kandidaten für die künftige Kaiserkrönung einer sorgfältigen Prüfung. Der Staufer Friedrich II. schied wegen seiner Jugend aus. Der Staufer Philipp entstamme mit Blick auf seine salischen Vorfahren Heinrich IV. und Heinrich V. einem Geschlecht der Verfolger der Kirche (genus persecutorum) und wolle die Politik seines Vaters Friedrich Barbarossa gegen das Papsttum fortführen. Heinrich der Löwe und Lothar von Süpplingenburg als Vorfahren Ottos IV. seien hingegen immer treue Anhänger der Kirche gewesen. So entschied sich der Papst für Otto und holte von ihm verbindliche Zusagen für eine Politik ein, die mit den Zielen des Papsttums vereinbar war. Mit Heinrichs VI. Tod war die staufische Herrschaft in Italien zusammengebrochen. Innozenz wollte die von Heinrich VI. durch dessen Heirat mit Konstanze von Sizilien geschaffene Personalunion von imperium Romanum (Römischem Reich) und regnum Siciliae (Sizilien) auflösen. Die Lehnsoberhoheit über Sizilien wollte der Papst behalten. In Mittelitalien sollte außerdem das Patrimonium Petri erweitert werden. Am 8. Juni 1201 schwor Otto in Neuss den Eid, dass er die päpstlichen Rechte in Mittel- und Unteritalien wahren werde. Dies bedeutete für Otto einen Verzicht auf eine eigenständige Italienpolitik und auf umfangreiche Gebiete in Reichsitalien. In seinen Briefen an Innozenz nannte er sich fortan Otto, Dei gratia et sua Romanorum rex (Von Gottes und des Papstes Gnaden König der Römer). Der päpstliche Legat Guido von Palestrina gab daraufhin am 3. Juli 1201 in Köln die Anerkennung Ottos bekannt; seine Widersacher verfielen dem Kirchenbann. Das päpstliche Votum für Otto fand im Reich jedoch kaum Widerhall. Weitgehende Isolation Ottos und Ermordung Philipps von Schwaben Bis 1208 führten Otto und Philipp Feldzüge gegeneinander. Die Kriegsschauplätze waren seit 1198 zunächst der Moselraum und das Gebiet des mittleren und des Niederrheins, Niedersachsen und Thüringen. Eine offene Feldschlacht mit unkalkulierbarem Ausgang wurde – wie oft in mittelalterlichen Kriegen – möglichst vermieden. Vielmehr versuchte man den Gegner durch Plünderung und Verwüstung zu schädigen oder durch einen Feldzug eine Burg oder Stadt einzunehmen. Otto geriet im Reich zunehmend in die Isolation. Sein Einfluss blieb bis 1208 auf Norddeutschland und die Region am Niederrhein begrenzt. Bayern, Österreich, Kärnten und die Steiermark waren traditionell staufernahe Regionen. Bis 1208 unternahm er kaum ernsthafte Versuche daran etwas zu ändern. Bis zur Ermordung Philipps suchte er Bayern kein einziges Mal auf. Noch bemühte er sich durch Privilegien oder andere Gunsterweise die bayerisch-österreichischen Großen an sich zu binden. Ottos Bruder Heinrich wurde von König Philipp die Pfalzgrafenwürde im Frühjahr 1204 streitig gemacht, weshalb Heinrich für die weitere Treue zu Otto von diesem die Stadt Braunschweig und die Burg Lichtenberg forderte. Dies lehnte Otto ab. Heinrich wechselte daraufhin in Philipps Lager. Otto missachtete damit die Ehrung und Belohnung von Helfern und Getreuen, die zu den wichtigsten Herrscherpflichten gehörte. Ganz anders verhielt sich Philipp gegenüber seinen Getreuen. Er belohnte den Grafen Wilhelm von Jülich mit reichen Geschenken für dessen bekundeten Willen, alle bedeutenden Anhänger Ottos für den Staufer zu gewinnen. Heinrich wurde für seinen Wechsel auf die staufische Seite von Philipp die Pfalzgrafschaft restituiert, er wurde mit der Vogtei über Goslar belehnt und mit Geldzahlungen belohnt. Auch der Vater von Ottos Verlobter Maria von Brabant wechselte 1204 in das Lager der Staufer. Im selben Jahr gelang es dem französischen König Philipp II., mit der Normandie das Herkunftsland der anglonormannischen Könige zu erobern. Dadurch war mit dem englischen König Johann Ohneland einer der wichtigsten Verbündeten Ottos erheblich geschwächt. Auch der Kölner Erzbischof Adolf und zahlreiche welfische Anhänger am Niederrhein und aus Westfalen gingen in das Lager des Staufers über, sodass er mittlerweile eine große Zahl an Unterstützern im Reich hinter sich vereinen konnte. Die Unterstützungszusagen Adolfs I. von Altena und Heinrichs I. von Brabant wurden erstmals seit der staufisch-zähringischen Übereinkunft aus dem Jahr 1152 urkundlich verbrieft. Der Thronstreit bildete den Auftakt für eine zunehmende Verschriftlichung der Bündnisverträge zwischen Herrscher und Fürsten im nördlichen Reichsteil. Der Treueschwur reichte allein nicht mehr aus. Rechte und Pflichten ließen die Vertragsparteien schriftlich festhalten. Trotz Eid und Verschriftlichung des Vertragswerkes häuften sich während des Thronstreits die Vertragsbrüche aus politischem Kalkül, aber auch die Zahl der Vertragsabschlüsse nahm zu. Grundlage für Philipps Erfolg gegen Ottos Anhänger war „ein Gemisch aus Drohungen, Versprechungen und Geschenken“. Durch seinen Parteiwechsel durfte der Kölner Erzbischof seinen Anspruch auf Teilnahme an der Königswahl behalten. Von ihm als dem richtigen Koronator („Königskröner“) ließ sich Philipp am 6. Januar 1205 am traditionellen Krönungsort Aachen erneut krönen. Wegen seines Seitenwechsels wurde der Kölner Erzbischof vom Papst abgesetzt und durch Bruno von Sayn ersetzt. Dagegen stand die Stadt Köln weiterhin loyal zu Otto. Philipp von Schwaben versuchte Köln 1205 vergeblich zu erobern, dabei wurde Otto zweimal verwundet. Am 27. Juli 1206 besiegte Philipp bei Wassenberg ein vor allem aus Kölnern bestehendes Heer. Der Kölner Erzbischof Bruno von Sayn wurde dabei gefangen genommen, Otto selbst konnte nur knapp entkommen und floh nach Braunschweig. Im April 1207 gelang es Philipp, Köln einzunehmen. Selbst Papst Innozenz wurde ab 1204 schwankend in seiner Parteinahme für Otto und näherte sich 1207/1208 Philipp an. Als Verbündete verblieben Otto weiterhin der Dänenkönig Waldemar II. und der englische König Johann. Ottos Isolation wird auch in seiner Urkundentätigkeit deutlich. Im Zeitraum seiner Niederlage bei Wassenberg bis zu Philipps Ermordung stellte Otto nur drei Urkunden aus. Im sächsischen Kerngebiet war Philipp allerdings militärisch nicht erfolgreich. Vergeblich belagerte er Braunschweig. Stattdessen nahm Gunzelin von Wolfenbüttel am 8. oder 9. Juni 1206 für Otto Goslar ein. Vermutlich aus Anlass der Eroberung Goslars wurde die Klosterkirche von Riddagshausen neu errichtet. 1207 bot Philipp Otto im Gegenzug für den Thronverzicht an, ihm seine älteste Tochter Beatrix als Ehefrau zu geben sowie ihn mit dem Herzogtum Schwaben zu belehnen. Trotz seiner verzweifelten Lage lehnte Otto dieses Angebot ab und erklärte, dass er sein Königtum nur durch seinen Tod verlieren wolle. Mit einem Verzicht auf die Königswürde hätte ihm die entehrende Unterordnung unter den lange bekämpften Rivalen gedroht. Bis zu seiner Ermordung 1208 hatte sich Philipps Stellung im Reich und zum Papst erheblich verbessert. Der Papst hatte mit ihm schon Verhandlungen über die Kaiserkrönung aufgenommen. Nach erfolgreichen Kämpfen gegen den Welfen Otto begab sich Philipp von Schwaben nach Bamberg. Dort wurde er durch einen therapeutischen Aderlass geschwächt und vom bayerischen Pfalzgrafen Otto von Wittelsbach am 21. Juni 1208 getötet. König Otto IV. scheint am Mord nicht beteiligt gewesen zu sein. Selbst die staufertreue Historiographie stellt keine Verbindung zum Mordanschlag her. Die Annalen des sächsischen Klosters Pegau machen immerhin Parteigänger Ottos IV. für den Mord verantwortlich. Die Hintergründe der Tat sind bis heute ungeklärt. Nach Knut Görich könnte verletzte Ehre das Motiv gewesen sein, denn Philipp hatte die schon 1203 abgeschlossene Verlobung seiner Tochter Kunigunde mit dem Pfalzgrafen wieder gelöst. Das königliche Handeln habe der Wittelsbacher als ehrverletzende Handlung gedeutet, die seinen sozialen Rang minderte; um sein Ansehen und damit seine soziale Akzeptanz zurückzugewinnen, habe er handeln müssen. Bereits Zeitgenossen verdächtigten auch die Andechser Brüder Bischof Ekbert von Bamberg und Markgraf Heinrich IV. von Istrien. Bernd Ulrich Hucker versteht daher den Bamberger Königsmord nicht als Privatrache, sondern als Werk einer weitgespannten Verschwörung. Der Wittelsbacher habe im Auftrag einer Fürstengruppe, zu der er zählte, gehandelt. Diese Gruppe um den Pfalzgrafen von Wittelsbach, die Andechser Brüder und ihre Verwandten und den Landgrafen Hermann von Thüringen habe in einem regelrechten „Staatsstreich“ versucht, den Herzog Heinrich von Brabant als neuen König durchzusetzen. Als wichtigsten Beleg nennt Hucker eine süddeutsche Proskriptionsliste König Ottos IV. Seine Hypothese hat sich aber nicht durchgesetzt. Für die Anhänger des Welfen galt der Mordanschlag als göttlicher Eingriff zur Beendigung der Auseinandersetzungen. Kurzfristige Festigung der Herrschaft Otto begann seine Gegner in Sachsen militärisch unter Druck zu setzen. Bisherige Gegner des Welfen wie der Halberstädter Bischof Konrad oder der Magdeburger Erzbischof Albrecht II. traten zu Otto über. Im Juli 1208 schlossen Otto und der Magdeburger Erzbischof einen Vertrag. Mit Haldensleben, Sommerschenburg und Lauenburg machte Otto große territoriale Zugeständnisse. Er verzichtete auch auf das königliche Münz- und Zollrecht auf dem Territorium des Erzbistums Magdeburg. Außerdem räumte er dem Magdeburger Erzbischof die Rolle seines ersten Ratgebers unter den Fürsten ein. Für den Magdeburger Kathedralbau sicherte der Welfe dem Erzbischof 3000 Silbermark zu. Mit diesen Gunsterweisen gelang es Otto, auch andere Anhänger der Gegenseite für sich zu gewinnen. Neben dem Magdeburger Erzbischof hatte der Herzog Bernhard von Sachsen erheblichen Anteil an der Aussöhnung. Am 22. September 1208, der auf den Tag des heiligen Mauritius fiel, wählten die Fürsten Sachsens und Thüringens Otto in Halberstadt einhellig zum König. Am 11. November 1208 wurde Otto in Frankfurt erneut zum König gewählt. Der staufertreue Chronist Burchard von Ursberg ließ erst mit dieser Wahl Ottos Königsherrschaft beginnen. Als wichtigste Aufgabe galt es, die Ordnung wiederherzustellen. Zu diesem Zweck wurde ein Landfrieden verkündet. Otto trat als Rächer König Philipps auf, um sich nicht dem Vorwurf der Vorteilsnahme auszusetzen und zugleich seine Unschuld zu dokumentieren. Über Philipps Mörder verhängte er die Reichsacht. Die Andechser Brüder Bischof Ekbert von Bamberg und Markgraf Heinrich IV. von Istrien verloren ihre Ämter, Lehen und Einkünfte. Als Symbol der Aussöhnung wurde Philipps zehnjährige Tochter Beatrix von Schwaben mit Otto verlobt. Die Eheschließung musste aufgrund des Alters der Braut verschoben werden. Die staufischen Güter fielen Otto zu. Auch Philipps Kanzlei und die Reichsministerialen traten auf seine Seite. Vom Speyrer Bischof erhielt Otto die auf dem Trifels verwahrten Herrschaftszeichen. Auch in Bayern, Österreich, Kärnten und der Steiermark fand Otto von 1208 bis 1212 allgemeine Anerkennung. Besonders trat Ludwig I. von Bayern hervor. Bereits bei der Frankfurter Königswahl 1208 verlieh Otto als erster König überhaupt seinem „geliebten Getreuen“ Ludwig (fidelis … dilectus noster) und dessen Nachkommen das Herzogtum Bayern mit allem Grund und Leuten dauerhaft. Damit verzichtete Otto zugleich auf mögliche Ansprüche auf das Herzogtum Bayern, das seinem Vater Heinrich 1180 durch Fürstenspruch aberkannt worden war. Ludwig profitierte am meisten von der Ächtung und vom Lehnsentzug der Andechs-Meraner. Ihm verlieh Otto mehrere Grafschaften (Istrien, Krain, Schärding, Neuburg/Inn im Unterinntal), Innsbruck, zahlreiche Burgen (Oberwittelsbach, Andechs), Landgüter und Ministeriale. Kein anderer weltlicher Großer hielt sich so häufig bei Otto IV. auf wie Herzog Ludwig I. von Bayern. Es sind von November 1208 bis Mai 1212 mehr als zwanzig Aufenthalte überliefert. Mittelalterliche Königsherrschaft wurde im Reich ohne feste Residenz durch ambulante Herrschaftspraxis ausgeübt. Otto musste also in bestimmten zeitlichen Abständen durch das Reich ziehen und dadurch seiner Herrschaft Geltung und Autorität verschaffen. 1209 besuchte er Augsburg und Ulm in Schwaben, Bayern und den Südosten jedoch nicht. Hoftage oder andere wichtige Versammlungen wurden nicht abgehalten. Der südöstliche Teil des Reiches hatte in Ottos Itinerar allenfalls den Charakter eines Durchzugsgebietes. Die Akzeptanz seiner Herrschaft in diesem Raum ist weniger durch seine persönliche Anwesenheit dokumentiert als durch das Urteil dortiger Chronisten, Hofbesuche geistlicher und weltlicher Großer sowie durch erbetene und erteilte Privilegien. Neben Ludwig von Bayern ragen unter den Großen des Südostens Graf Meinhard II. von Görz und Bischof Manegold von Passau durch Häufigkeit und Dauer ihrer Aufenthalte am Hof hervor. Nach Ottos Regierungsjahren datierten von 1208 bis 1212 zahlreiche Kloster- und Stiftskirchen im südöstlichen Reichsteil ihre Urkunden, was seine dortige Anerkennung in diesem Zeitraum deutlich macht. 1209 anerkannten Polen und Ungarn in Altenburg Otto als ihren Lehnsherrn. Hof Seit dem 12. Jahrhundert entwickelte sich der Hof zu einer zentralen Institution königlicher und fürstlicher Macht. Der Begriff „Hof“ kann als „Präsenz beim Herrscher“ aufgefasst werden. Der wichtigste Bestandteil des Hofes war die Kanzlei. Nach dem Tod Philipps von Schwaben übernahm Otto dessen Kanzler und band damit bei der Urkundenausfertigung als wichtigen Bestandteil der Herrschaftsrepräsentation demonstrativ sein Königtum an den Staufer an. Literatur am Hof Der Hof Ottos übte große Anziehungskraft auf gebildete Autoren und volkssprachliche Sänger aus und wurde so zur Schnittstelle zwischen der noch nicht von der Schriftlichkeit erfassten adligen Laienkultur und der Kultur gebildeter Kleriker. Zu Ottos Hof gehörten die Literaten Eilhart von Oberge, Heinrich von Avranches und Gervasius von Tilbury. Otto verlieh Gervasius 1209 die Marschallswürde des Arelats. Gervasius widmete Otto um 1214/15 den Liber de mirabilibus mundi (Buch von den Wundern der Welt), auch bekannt als Otia imperialia (Kaiserliche Mußestunden). Für die Entstehung der berühmten Ebstorfer Weltkarte wurde eine Urheberschaft des für Otto tätigen Gervasius angenommen. Doch wird die Karte auch auf die Zeit „um 1300“ datiert. Walther von der Vogelweide verfasste vielleicht im Auftrag Ottos politische Sprüche, den sogenannten Ottenton, und war für ihn, zuletzt wohl im Januar 1213, als Gesandter tätig. 1214/15 wechselte er in das Lager Friedrichs II. Der Ottenton war allerdings möglicherweise keine Auftragsarbeit für Otto oder seine Berater, er kann auch aus dem Kreis der Reichsfürsten hervorgegangen sein. Kunstpatron und Stifter Durch Münzprägung, Reliquienstiftungen und das Schneiden von Siegelstempeln blühte das Kunsthandwerk ab 1208/09 auf. Bedeutende Werke der Goldschmiedekunst verdanken Otto ihre Entstehung. Zu seiner Regierungszeit erhielt der Dreikönigenschrein seine endgültige Gestalt; er gilt „als das bedeutendste Werk der rhein-maasländischen Schatzkunst des 12. und 13. Jahrhunderts“. An der Frontseite ist Otto mit etwas Abstand neben den Heiligen Drei Königen und der Gottesmutter mit ihrem Kind abgebildet. Die Figur des Welfen wurde mit der Beischrift „Otto rex“ während seiner Königszeit – zwischen 1198 und 1209 – am Schrein angebracht. Die Forschung ist sich einig, dass es sich dabei um ein Stifterbild handelt. Die Stiftung für den Schrein geschah vielleicht beim Hoftag Ottos in Köln Ende Juni/ Anfang Juli 1201. Seit 1208 wurden die Zisterzienserbauten von Walkenried und Riddagshausen durch Ottos Bau- und Stiftungstätigkeit gezielt gefördert. Mit der klösterlichen Stiftungspolitik sollte der Zisterzienserorden, der sich damals auf einem Höhepunkt seiner Macht befand, gezielt in Ottos Herrschaft eingebunden werden. Braunschweig Ottos Vater hatte Braunschweig durch wirtschaftliche, politische und kulturelle Förderung zum Mittelpunkt seiner sächsischen Herrschaft und zu einem Zentrum fürstlicher Repräsentationskultur im Reich ausgebaut. Als Otto 1198 zum König gewählt wurde, war Braunschweig bereits ein bedeutender Herrschaftssitz. Dort hielt er sich fortan bis zu seinem Tod 1218 so häufig wie an keinem anderen Ort auf. Die Braunschweiger hatten während aller Konflikte mit Philipp von Schwaben und Pfalzgraf Heinrich loyal an der Seite Ottos gestanden und wurden dafür mit weitgehenden Zugeständnissen belohnt. Schon wenige Monate nach seiner Königswahl stellte Otto den Bürgern von Braunschweig 1199 das Zollprivileg aus, wodurch er ihnen die Steuer- und Zollbefreiung im ganzen Reich gewährte. Es handelt sich um die älteste von der Stadt empfangene Urkunde. Auch die Kölner Bürger wurden für ihre Treue 1207 mit einem ähnlichen Handelsprivileg bedacht. Den Braunschweiger Bürgern übertrug der Welfe zum Dank für ihre erwiesene Treue außerdem am 22. Oktober 1204 die Marktkirche St. Martini, wobei er ihnen das Recht der Pfarrerwahl gewährte. 22 Bürger werden in der Zeugenliste der Urkunde erstmals namentlich aufgeführt. Nachdem Philipp Braunschweig 1200 beinahe eingenommen hatte, wurde die Stadt mit einer geschlossenen Stadtmauer umgeben. Mit den von Hucker im Mauerring ermittelten zwölf Toren knüpfte Otto an die Vorstellungen des himmlischen Jerusalem an. Auch das fünfte Weichbild Braunschweigs, der sogenannte Sack, ist von Otto gegründet worden. Außerdem wird die Gründung der Braunschweiger Neustadt Otto zugerechnet. Braunschweig wurde für Otto mehrmals zum Rückzugsort, so etwa 1206, als er Köln verlassen musste, oder 1213 und 1217 gegen Friedrich II. Möglicherweise im Zusammenhang mit der Eroberung der staufisch orientierten Stadt Goslar 1206 durch Ottos Truppen setzte in Braunschweig eine rege Bautätigkeit an den Pfarrkirchen St. Martini und St. Katharinen ein. Zu Pfingsten 1209 wurde mit großem Prachtaufwand der Hoftag in Braunschweig ausgerichtet, was für die Konsolidierung seiner Macht spricht. Zu den Gästen gehörten der Erzbischof von Magdeburg, die Bischöfe von Halberstadt, Hildesheim, Merseburg und Havelberg sowie der Landgraf von Thüringen und der Markgraf von Meißen. Anlässlich des Braunschweiger Pfingstfestes wurde wohl das Quedlinburger Wappenkästchen mit 33 abgebildeten Wappen vom König und den Fürsten über Grafen bis zu Ministerialen angefertigt. Ottos Förderung war entscheidend für die positive Entwicklung der Stadt im Spätmittelalter und in der Frühen Neuzeit. Kaiserkrönung, Zug nach Sizilien und Bruch mit dem Papsttum In Speyer erneuerte Otto am 22. März 1209 die Neußer Eide und erkannte damit die päpstlichen Gebietsansprüche in Mittel- und Unteritalien an. Außerdem verzichtete er auf eine Einflussnahme bei Bischofswahlen. Der Kaiserkrönung durch den Papst stand demnach nichts mehr im Wege. Im Juni 1209 brach Otto von Augsburg mit großem Heer nach Italien auf. Von der Reichsministerialität soll er mit 6000 Panzerreitern unterstützt worden sein. Am 4. Oktober 1209 krönte ihn Papst Innozenz III. zum Kaiser. Am selben Tag versprach Otto einen Kreuzzug zu unternehmen. Zu diesem Zweck ließ er die topografischen Gegebenheiten des Heiligen Landes und seiner Befestigungsanlagen auskundschaften. Mit der Kaiserkrönung enden die Chroniken Arnolds von Lübeck und Ottos von St. Blasien. Bei Goldbullen und Siegeln wurde nach der Kaiserkrönung eine bedeutsame Neuerung vorgenommen: Das Kaiserhaupt erscheint zwischen den Weltherrschaftssymbolen Sonne und Mond. Dies war die Antwort auf den Anspruch des Papstes, er sei die Sonne und der Kaiser nur der Mond. Noch im Oktober kam es zum Zerwürfnis mit dem Erzbischof von Magdeburg. Die Gründe sind möglicherweise in Ottos Verweigerung weitgehender Zusagen an den Erzbischof oder in Meinungsverschiedenheiten über seine Münzpolitik zu sehen. Entgegen den päpstlichen Erwartungen verblieb Otto in Italien und brachte seinen Herrschaftsanspruch in den Gebieten zum Ausdruck, die er dem Papst als Restitution versprochen hatte. So erhob der Welfe im Februar 1210 Dietpold von Schweinspoint zum Herzog von Spoleto. Apulische Barone baten Otto um Hilfe gegen Friedrich II. Durch die Beanspruchung der Kaiserrechte an Sizilien (ius imperii ad regnum) geriet Otto mit dem Papst in Konflikt. Seine Beweggründe für den Konfrontationskurs gegenüber seinem langjährigen Förderer Innozenz III. sind unklar. Vielleicht wollte er an die Tradition kaiserlicher Herrschaft in Unteritalien anknüpfen und mit Friedrich seinen letzten Konkurrenten ausschalten. Nach anderer Forschungsmeinung wollte Otto mit der Eroberung Siziliens den Kreuzzug absichern. Den Entschluss zum Angriff auf Sizilien fasste er einsam, also ohne den Konsens mit seinen Getreuen einzuholen. Damit verletzte er die im Reich nördlich der Alpen gängigen Verhaltensregeln in der Interaktion zwischen dem Herrscher und seinen Großen. Innozenz war über Ottos Kurswechsel tief erschüttert. Seine Bestürzung äußerte er in einem Brief an den Bischof Konrad von Regensburg: „Das Schwert, das wir uns selbst geschmiedet haben, schlägt uns tiefe Wunden“. Am 18. November 1210 schloss der Papst den Kaiser durch Exkommunikation aus der Kirchengemeinschaft aus. Trotzdem rückte der Welfe in Italien weiter vor und überwinterte 1210/11 in Capua. Sein Weg führte ihn über Neapel, Salerno, Bari und Tarent nach Kalabrien. Im September 1211 erreichte Otto die Meerenge von Messina. Im Verlauf seines Italienzuges dürfte er auch die Vorteile von Belagerungsmaschinen erkannt haben; möglicherweise nahm er den Tribok als Belagerungsgerät in sein Arsenal auf. Otto war kurz davor, nach Sizilien überzusetzen, als er die Nachricht von der Wahl Friedrichs im römisch-deutschen Reich erhielt. Daraufhin kehrte er im November 1211 überstürzt über Mailand in den nördlichen Reichsteil zurück, um seine dortige Herrschaft zu konsolidieren. Die Exkommunikation beraubte einen Herrscher nicht zwangsläufig seiner Autorität, vielmehr kam es auf seine Integrationsfähigkeit an: Entscheidend war, ob er den notwendigen Konsens mit den Großen herstellen konnte. Kampf gegen Friedrich II. Spätestens seit November 1210 war die Exkommunikation des Kaisers öffentlich bekannt und förderte den Widerstand gegen Otto. Im Zuge der Exkommunikation hatte der Papst ausdrücklich den Fürsten erlaubt, einen anderen Kaiser zu wählen. Im Reich fielen zuerst der Mainzer Erzbischof und der Landgraf von Thüringen vom Kaiser ab. Es folgten wenig später der böhmische König und die Herzöge von Bayern und Österreich. Auch Bischof Konrad von Speyer, der Kanzler Ottos, fiel von ihm ab. Er berichtete unter Eid von Ottos Steuerplänen, die für die Kirche zu erheblichen Belastungen geführt hätten. Dies bestärkte die geistlichen Reichsfürsten im Widerstand gegen Otto. Im September 1211 wurde Friedrich in Nürnberg von den Erzbischöfen von Magdeburg und Mainz, dem Landgrafen von Thüringen und dem böhmischen König Otakar „zum anderen Kaiser“ (alium imperatorem) gewählt. Zwei süddeutsche Adlige wurden nach Sizilien geschickt, um Friedrich II. ins römisch-deutsche Reich zu holen. Friedrich nahm die Wahl an und begab sich 1212 auf die Reise über die Alpen. Nur wenige Stunden vor Ottos Eintreffen konnte er Konstanz einnehmen. Der Welfe verzichtete auf eine Belagerung der Stadt und zog sich eilig an den Niederrhein zurück. In den kommenden Monaten setzte sich Friedrich ohne größere Gegenwehr im süddeutschen Raum durch. Im März 1212 hielt Otto in Frankfurt einen Hoftag ab. Am 22. Juli schloss er demonstrativ die Ehe mit Beatrix in Nordhausen. Beatrix starb jedoch bereits drei Wochen nach der Eheschließung, was Gerüchte aufkommen ließ, die 13- oder 14-jährige Braut sei an den Folgen der Entjungferung gestorben. Im Sommer 1212 unternahm Otto einen Feldzug gegen den Landgrafen Hermann von Thüringen. Bei der Belagerung der thüringischen Burg von Weißensee, der Festung des Landgrafen, kam erstmals die Gegengewichts-Blide zum Einsatz. Sie fand große Aufmerksamkeit in den Quellen. Dies zeigt, dass Otto als Feldherr für technische Innovationen aufgeschlossen war. Zwischen den französischen Königen aus dem Hause der Kapetinger und den Staufern bestand eine lange Freundschaft. 1187 hatte der Kapetinger Philipp II. Augustus mit Friedrich Barbarossa ein Bündnis geschlossen. Im November 1212 schloss Philipp mit Friedrich II. ein neuerliches Bündnis. Die Übereinkunft mit Frankreich brachte Friedrich 20.000 Silbermark ein. Dieses Geld verteilte er unverzüglich unter den Großen des Reichs, um sie für ihre Anstrengungen im Reichsdienst zu belohnen und sich zukünftig ihrer Unterstützung zu versichern. Am 5. Dezember 1212 wurde Friedrich II. in Frankfurt von zahlreichen Fürsten erneut zum König gewählt. Im Mainzer Dom folgte am 9. Dezember 1212 die Krönung durch den Erzbischof Siegfried. Großzügig belohnte Friedrich seine Getreuen mit Privilegien. Walther von der Vogelweide besang die Freigebigkeit Friedrichs, die er mit dem Geiz des Welfen Otto kontrastierte. Zur Jahreswende 1212/1213 war der Kampf um die Herrschaft noch nicht entschieden. Otto verbrachte den Winter am Niederrhein. Friedrich ließ zu Weihnachten 1213 den Leichnam seines Onkels Philipp von Bamberg nach Speyer überführen. Damit stellte er sich in die Kontinuität der salisch-staufischen Herrschaft und untermauerte seinen Anspruch auf die Krone. Das Vertrauen seiner Parteigänger sollte gestärkt werden und Zweifler auf der gegnerischen Seite sollten beeindruckt werden. 1213 blieb Ottos Aktionsradius weitgehend auf Sachsen begrenzt. Am 19. Mai 1214 heiratete er in Aachen seine frühere Verlobte Maria von Brabant. Schlacht von Bouvines Nachdem Otto von dem staufisch-kapetingischen Bündnis erfahren hatte, fiel er in die französischen Kronländer ein. Er wollte sich mit Frankreich eines Verbündeten Friedrichs II. entledigen, durch einen Sieg seine Autorität im Reich wiederherstellen und zugleich seinem Onkel und Unterstützer, dem englischen König Johann, im anhaltenden Konflikt mit dem französischen König zur Hand gehen. Nach der Darstellung des Chronisten Guillelmus Brito, die als glaubwürdig gilt, hatte Otto aber noch viel weitreichendere Pläne: Er wollte die Herrschaft der Kapetinger in Frankreich beseitigen, die französische Krondomäne unter seinen Verbündeten aufteilen und deutsche Krieger in Frankreich ansiedeln. Seine Entschlossenheit, König Philipp II. zu töten, bekräftigte er mit einem Schwur. Beide Herrscher hatten die Absicht, sich in der Schlacht im Zweikampf zu messen und so eine Entscheidung herbeizuführen. Am 27. Juli 1214 kam es östlich von Lille zur entscheidenden Schlacht von Bouvines zwischen den Heeren Ottos und Philipps. Zu Ottos Aufgebot zählten mehrere bedeutende linksrheinische Territorialherren, unter anderem die Herzöge von Brabant, Limburg und Lothringen; neben mehreren rheinischen Edelleuten begleiteten den Kaiser auch größere sächsische Aufgebote. Otto erlitt bei Bouvines eine vernichtende Niederlage. Ihm wird von der modernen Forschung zwar eine durchdachte Strategie bescheinigt, doch sollen ihn mehrere Berater zu einem vorschnellen Angriff gedrängt haben, was sich als verhängnisvoll erwies. Die Franzosen leisteten überraschend starken Widerstand. Die Quellenaussagen zu Ottos Handlungen während der Schlacht sind teils sehr widersprüchlich. Nach wechselhaftem Kampf entschloss sich Otto jedenfalls, das Schlachtfeld zu verlassen. Die deutschen Ritter kämpften nach der Flucht des Kaisers zunächst weiter, gaben sich aber nach einiger Zeit gefangen. Nach Ansicht einiger Forscher war Ottos Flucht ein Grund für die Niederlage: Nachdem Otto im Kampf vom Pferd gefallen war, hatte er ein zweites Pferd bestiegen und sich zur Flucht entschlossen, womit er die Schlacht für alle sichtbar verloren gab und sein Heer, das dennoch den Kampf fortsetzte, in eine aussichtslose Lage brachte. Allerdings war der entscheidende Durchbruch der Franzosen nach anderen Aussagen bereits zuvor erfolgt, als nordfranzösische Kontingente die Kaiserlichen zum Zurückweichen zwangen. Otto, der in militärischen Angelegenheiten erfahren war und während der Gefechte in Lebensgefahr geriet, drohte nun die Gefangennahme. Daraufhin habe der Kaiser die Flucht ergriffen. Entscheidend für den weiteren Schlachtverlauf war dies aber demnach nicht mehr. Der französische König übersandte den erbeuteten Reichsadler, das Feldzeichen des Kaisers, an Friedrich. Die Schlacht hatte für die gesamteuropäischen Machtverhältnisse erhebliche Konsequenzen. Ihr Ausgang führte dazu, dass sich das französische Krongut mehr als verdoppelte; die französischen Lehnsfürstentümer verloren gegenüber der erstarkenden Zentrale an Bedeutung. Die Niederlage Ottos schwächte den englischen König Johann, der 1215 mit der „Magna Charta“ den Großen seines Landes herrschaftsbeschränkende Freiheiten einräumen musste. Die englischen Könige regierten fortan dauerhaft von England und nicht mehr hauptsächlich von französischem Boden aus. England begann sich als Inselreich zu entwickeln. Otto war nach der Schlacht isoliert. Johann stellte seine finanzielle Unterstützung im Mai 1215 ein. Die niederrheinischen Großen wechselten in Friedrichs Lager. Am 25. Juli 1215 wurde Friedrich vom Mainzer Erzbischof in der Aachener Marienkirche gekrönt. Zum Vierten Laterankonzil im November 1215 schickte Otto Gesandte. Es gelang ihnen jedoch nicht, die Aufhebung des Kirchenbanns zu erwirken, vielmehr wurde Friedrich dort vom Papst als künftiger Kaiser anerkannt. Durch den Tod seines Neffen Heinrichs des Jüngeren scheiterte auch Ottos geplante Nachfolgeregelung. Friedrich vermied eine Entscheidungsschlacht und demonstrierte 1217 seine Überlegenheit mit einem kurzen Verwüstungszug durch Ostsachsen. Otto war nunmehr auf seinen sächsischen Besitz um Braunschweig beschränkt. Letzte Jahre, Testament und Tod Otto verbrachte seine letzten Lebensjahre zwischen Harz und Heide. Mehrfach sind Aufenthalte in Braunschweig belegt. Die letzten Lebenstage Ottos sind in dem vom Zisterzienserabt Friedrich von Walkenried verfassten Augenzeugenbericht Narratio de morte Ottonis IV. imperatoris beschrieben. Otto hielt sich Anfang Mai 1218 auf der Harliburg auf, wo er an einer heftigen Diarrhöe erkrankte. Der Schwerkranke wurde am 13. Mai auf die Harzburg gebracht. Am 15. Mai 1218 gab er ein Schuldbekenntnis für seine Verfehlungen gegenüber der römischen Kirche ab. Damit erreichte er die Zusage der Sündenvergebung. Kurz vor seinem Tod ließ Otto eine Urkunde ausstellen. Das Diplom gilt als „das erste urkundlich erhaltene politische Testament eines mittelalterlichen Kaisers“. Sein Bruder Heinrich wurde zum Haupterben und Testamentsvollstrecker ernannt. Ihm übergab Otto die Reichsinsignien mit dem Auftrag, sie nach einer Wartezeit dem einstimmig gewählten König zu übergeben. Seinen Kaisermantel dagegen stiftete Otto dem Benediktinerkloster St. Aegidien in Braunschweig. Bei der Bestattung Ottos in der Braunschweiger Stiftskirche St. Blasii waren nur wenige Anhänger aus der unmittelbaren Umgebung Braunschweigs anwesend. Möglicherweise hat sich Otto erst kurz vor seinem Tod für eine Beisetzung in Braunschweig entschieden. Otto starb kinderlos. Seine Witwe Maria von Brabant stiftete für sein Andenken bei Binderen in Brabant das Zisterzienserinnenkloster Binderen („Locus imperatricis“). Die Herrschaft über Braunschweig ging an Heinrich über. Heute weist dort nur ein kleiner Gedenkstein vor der Grabtumba Heinrichs des Löwen und seiner Gemahlin Mathilde auf Otto IV. hin. Wirkung Vormoderne Urteile Ottos Herrschaft war im gesamten Mittelalter in keinem einzigen Werk zentraler Gegenstand. Sein Leben wurde vielmehr in den größeren Kontext eingearbeitet. Die Geschichtsschreibung des 13. Jahrhunderts konzentrierte sich zunehmend auf regionale Bezüge. Detailliert wurde auf Ottos Tätigkeit in den Regionen eingegangen, die von den Geschehnissen besonders betroffen waren. Dazu zählten Sachsen, Köln und Thüringen. Die übrigen Geschichtswerke berichten über Otto in ihrem jeweiligen regionalen Kontext oder betten seine Herrschaft in die Universalgeschichte ein. Ausführliche Erwähnung finden die Doppelwahl von 1198 sowie die Ermordung des Staufers Philipp und die damit verbundene Anerkennung von Ottos Königtum 1208. Mit der Wahl Friedrichs II. 1212 sahen viele Historiographen Ottos Herrschaft als beendet an. Mit seiner Niederlage in der Schlacht von Bouvines verschwindet Otto aus den Geschichtswerken; zwischen 1214 und 1218 wird er in der Geschichtsschreibung kaum noch erwähnt. Lediglich sein Tod 1218 wird von vielen Geschichtsschreibern festgehalten. Die ausführlichste Darstellung von Ottos Herrschertätigkeit findet sich in der im Jahr 1210 verfassten „Chronica Slavorum“ (Slawenchronik) Arnolds von Lübeck. Nach Hucker war Otto selbst der Auftraggeber des Chronisten. Es ist jedoch weder ein Widmungsexemplar an Otto belegt noch sind Handschriften aus ehemals welfischem Besitzzusammenhang bekannt. Eine Auftraggeberschaft ist angesichts der unsicheren Überlieferungslage nicht nachweisbar. Die kurz vor Abfassung der Chronik erfolgte Kaiserkrönung Ottos wurde als „Höhe- und Zielpunkt der Geschichtsentwicklung“ einer „Historia regum“ (Geschichte der Könige) gedeutet. Nach Hucker war es Arnolds Absicht, „die imperiale Aufgabenstellung des unter Otto IV. neu erstarkten Königtums“ hervorzuheben. Mit seinem Werk habe der Chronist „den Boden für einen künftigen, dritten [sic] Kreuzzug unter der Führung des neuen Kaisers bereiten wollen“. Arnold zufolge hinderte der Thronstreit Otto daran, den geplanten Kreuzzug – eine wichtige Aufgabe eines römisch-deutschen Königs – durchzuführen. Die welfentreue Geschichtsschreibung, insbesondere Arnolds Chronik, präsentierte Ottos Herrschaft als gottgewollt, wobei sie auf die Einmütigkeit der Wahl, die Ermordung des Kontrahenten Philipp und die Anerkennung des Papstes hinwies. Arnold berichtet über die Ereignisse von 1171 bis 1209, dem Jahr der Kaiserkrönung Ottos. Er verfasste seine Chronik wohl zwischen März und August 1210, somit vor Ottos Niedergang. Im Mittelalter wurde sein Werk wenig benutzt; es wurde erst von Albert Krantz im frühen 16. Jahrhundert intensiv herangezogen. Die Gegner Ottos warfen ihm Defizite bei zentralen Herrschaftstugenden vor. Der staufertreue Burchard, Propst des schwäbischen Reichsstifts Ursberg, charakterisierte Otto zur Doppelwahl 1198 in seiner 1229/30 verfassten Weltchronik als „hochmütig und dumm“ (superbus et stultus). In seiner Sicht war Otto für das Königsamt ungeeignet, weil ihm wesentliche Herrschertugenden fehlten. Statt sapientia oder prudentia (Weisheit) und humilitas (Demut) habe er mit Unvernunft und Hochmut das genaue Gegenteil dieser Qualitäten aufgewiesen. Der Hochmut (superbia) sei eine Todsünde, die beim Jüngsten Gericht zur Verdammnis führe. Ottos superbia durchzieht Burchards gesamten Text. Nach den „Marbacher Annalen“ haben viele Otto beim Kampf gegen Friedrich „wegen seines Geizes“ verlassen. Damit wird Otto unterstellt, er habe nicht über die wichtige Herrschertugend der Freigebigkeit (largitas) verfügt. In Braunschweig pflegte man während des gesamten Mittelalters die Erinnerung an Otto. Davon zeugen die ausführlichen Passagen im historiographischen Werk Hermen Botes und die um die Mitte des 15. Jahrhunderts geschaffenen Sandsteinskulpturen an den Laubengängen des Altstadtrathauses. In Frankreich galt Otto, der Gegenspieler des französischen Königs, als „zweiter Nero“. In Italien hingegen wurde er vor allem seit dem 14. Jahrhundert im Gegensatz zu den Staufern als „guter“ Kaiser angesehen. In England geriet Otto nicht in Vergessenheit. Der englische Chronist Matthaeus Parisiensis stellte im 13. Jahrhundert umfassende Informationen zu Ottos Leben zusammen. Nach den Konflikten Anfang des 13. Jahrhunderts setzte im Reich ein erheblicher Entwicklungsschub ein, Gewohnheiten schriftlich festzuhalten. Als ein bedeutendes Zeugnis dafür gilt der Sachsenspiegel des Eike von Repgow. In der Zeit vom 16. bis zum 18. Jahrhundert interessierten sich die Historiker besonders für die Wahl und das Kaisertum und die mit der Doppelwahl verbundenen Konflikte. 1624 verfasste der Helmstedter Professor Heinrich Meibom der Ältere mit der „Apologia pro divo Imperatore Caesare Ottone IV. contra falsas incrimationes et convitia“ eine Verteidigungsschrift gegen die aus seiner Sicht verleumderischen Darstellungen aus dem Mittelalter. Sein Helmstedter Kollege, der Universitätshistoriker Reiner Reineccius, machte die Chronik Arnolds von Lübeck durch eine Erstedition der Wissenschaft zugänglich. Die dynastisch orientierte Geschichtsschreibung widmete Otto weniger Aufmerksamkeit als seinem Bruder Wilhelm. Wilhelm habe durch seine Nachkommenschaft den Fortbestand der Dynastie gesichert. Otto hingegen habe weder den Besitz vermehrt noch für Nachkommen gesorgt. Für die Memoria (Erinnerungspflege) des Welfenhauses war die Geistlichkeit des Stiftes St. Blasii in Braunschweig zuständig. Auf einer hölzernen Tafel des 14. Jahrhunderts in der Stiftskirche wird Otto völlig anders als seine Vorfahren bewertet: Gott möge Heinrich den Löwen und dessen Gattin Mathilde mit „Engelspeisen“ nähren, der von ihnen abstammende Otto hingegen solle den „Würmern zur Speise“ gegeben werden. Das Nekrolog III, das an der Wende vom 14. zum 15. Jahrhundert aufgezeichnet wurde, überliefert lediglich den Todestag. Hingegen ist der Gedenkeintrag über Pfalzgraf Heinrich sehr viel ausführlicher. Nach Gottfried Wilhelm Leibniz schadete Ottos Kaisertum der Familie mehr als es Nutzen brachte. Negativ fiel das Urteil über Otto auch in Goslar aus. Die Goslarer Lokaltradition zeichnete besonders im 16. Jahrhundert wegen der Plünderung der Stadt ein düsteres Bild von ihm. Künstlerische Rezeption im 19. Jahrhundert Bei der Neugestaltung des Rittersaals im Leineschloss in Hannover in den Jahren 1833 bis 1836 erhielt der Braunschweiger Hofmaler Christian Tunica 1835 den Auftrag, Heinrich den Löwen und seine beiden Söhne, Pfalzgraf Heinrich und Kaiser Otto IV., zu malen. 1866 wurden die Porträts durch die Bilder der brandenburgischen Herrscher ersetzt. Forschungsgeschichte Die Geschichtswissenschaft des 19. Jahrhunderts war an einer starken Zentralgewalt interessiert und suchte deshalb nach den Ursachen für die späte Entstehung des deutschen Nationalstaats. Die „Kraftquellen der deutschen Nation“ suchte man im Mittelalter. Die Könige und Kaiser wurden dabei als frühe Repräsentanten einer auch für die Gegenwart ersehnten starken monarchischen Gewalt angesehen. Bestimmend für das Urteil der Historiker war, ob die mittelalterlichen Herrscher ihre Macht gesteigert oder zumindest einen Machtverfall erfolgreich verhindert hatten oder ob sie für Machtverlust verantwortlich waren. Das von diesem Aspekt geprägte Geschichtsbild entstand nach der Auflösung des Alten Reiches und den Befreiungskriegen gegen Napoleon. Bei solcher Betrachtung erschien das deutsche König- und Kaisertum unter Ottonen, Saliern und Staufern als überaus mächtig, da es eine Vorrangstellung in Europa innegehabt habe. Im Verlauf des Mittelalters hätten die Kaiser jedoch diese Machtstellung verloren. Dafür wurden das Papsttum und der Eigennutz der Fürsten verantwortlich gemacht. Als entscheidend für den Machtverlust der Zentralgewalt galten zwei „Wenden“. Bei der ersten Wende habe Heinrich IV. durch seinen Gang nach Canossa 1077 den königlichen Einfluss auf die Kirche verloren. Als zweite Wende wurde die Doppelwahl von 1198 ausgemacht. Der Adel habe sein Königswahlrecht genutzt, um von den Königen Privilegien zu erlangen und so seine eigene Herrschaft auszubauen. Die Fürsten galten durch ihre eigensüchtigen Partikularinteressen und das Papsttum durch seinen Überordnungsanspruch als „Totengräber“ der Kaisermacht. Die Staufer standen für den Machterhalt der deutschen Kaiser, die Welfen dagegen wurden als Protagonisten des fürstlichen Partikularismus angesehen. Ottos Kaisertum erschien in der dynastischen Kontinuität von Ottonen, Saliern und Staufern als unliebsame Unterbrechung. Zum Standardwerk wurden Eduard Winkelmanns Jahrbücher der Deutschen Geschichte unter Philipp von Schwaben und Otto IV. (1878). Er kam zu einem ausgesprochen negativen Urteil. Durch Ottos Zugeständnisse an Papst und Fürsten habe er die Krone mehr als seine Vorgänger und Nachfolger geschwächt. Winkelmann sah mit Ottos Herrschaft keine besondere Leistung verknüpft, „an welcher die Nation Freude haben könnte“. Lieber hätte Winkelmann „ein[en] ehrliche[n] Reitertod im letzten Ringen um die zäh vertheidigte Krone“ gesehen als die Flucht Ottos vom Schlachtfeld in Bouvines, welche die Niederlage der Deutschen erst eingeleitet habe. Dagegen galt in Winkelmanns Vorrede Ottos Gegenspieler Philipp durch „seine treue Vertheidigung der Reichsrechte gegen das aufsässige Fürstenthum und gegen den Papst, gegen Dänemark und gegen Frankreich […] als wahrer deutscher König“. Die Sichtweise von einem Machtverlust des deutschen Königtums durch die Doppelwahl von 1198 ist lange vorherrschend geblieben. Im Werk Die Reichsministerialität von Karl Bosl aus dem Jahr 1950 bedeutete Philipps und Ottos Regierung „einen gewaltigen, wenn nicht vielleicht sogar den entscheidenden Rückschlag, den das deutsche Königtum bei seinem letzten Versuch, einen Staat aufzubauen, erlitt“. Seit den 1980er Jahren ist die Mediävistik zu neuen Einsichten über das hochmittelalterliche Königtum gelangt. Königsherrschaft wird nicht mehr als dualistischer Gegensatz zwischen König und Fürsten verstanden, sondern die Teilhabe der Fürsten an der Königsherrschaft als „zum selbstverständlich praktizierten konsensualen Entscheidungsgefüge“ gehörend betrachtet. Otto IV. blieb in der Mediävistik lange Zeit eine vernachlässigte Herrscherpersönlichkeit. Erst 1990 legte Bernd Ulrich Hucker eine umfassende Studie zum welfischen Kaiser vor. Hucker betonte das Mäzenatentum Ottos und die günstigen Bedingungen, die sein Hof für Kunst und Literatur boten. Außerdem veröffentlichte Hucker 2003 eine ausführliche Biographie des Kaisers, die sich an ein breiteres Publikum richtet; das Kunst- und Literaturschaffen jener Epoche ist ein zentrales Thema dieser Darstellung. Neuere Beiträge betonen Ottos Förderung von Kunst und Literatur und kommen zu einer ausgewogeneren Einschätzung seiner Herrschaftsleistung und seines Scheiterns. Nach Bernd Schneidmüller (2000) gelang es Otto nicht, den Konsens der Fürsten dauerhaft herzustellen. Nach Gerd Althoff scheiterte Otto an seiner geringen Vertrautheit mit den herrschenden Gepflogenheiten konsensualer Herrschaftspraxis im Reich. Aus einem Zeugnis Innozenz’ III. von Ende 1210 gehe hervor, dass die Erziehung des Welfen in England mit der dadurch vermittelten Orientierung auf ein dortiges Konzept des Königtums dafür verantwortlich gewesen sei. Das 800-jährige Jubiläum von Ottos Kaiserkrönung wurde 2009 zum Anlass genommen, dem einzigen Kaiser aus welfischem Haus eine Landesausstellung im Braunschweigischen Landesmuseum und im Herzog Anton Ulrich-Museum zu widmen. Quellen Arnold von Lübeck: Chronica Slavorum, ed. Georg Heinrich Pertz, MGH SSrG 14, Hannover 1995 (Unveränd. Nachdr. der Ausg. von 1868), ISBN 3-7752-5307-6. Burchardi praepositi Urspergensis chronicon, 2. Auflage, herausgegeben von Oswald Holder-Egger, Bernhard Samson (MGH SS rer. Germ. 16), Hannover/Leipzig 1916. Literatur Lexikonartikel Überblicksdarstellungen Werner Hechberger, Florian Schuller (Hrsg.): Staufer & Welfen. Zwei rivalisierende Dynastien im Hochmittelalter. Pustet, Regensburg 2009, ISBN 978-3-7917-2168-2 (Rezension). Bernd Schneidmüller: Die Welfen. Herrschaft und Erinnerung (819–1252). 2. Auflage. Kohlhammer, Stuttgart 2014, ISBN 3-17-026104-5. Wolfgang Stürner: Dreizehntes Jahrhundert. 1198–1273 (= Gebhardt. Handbuch der deutschen Geschichte Bd. 6). 10., völlig neu bearbeitete Auflage. Klett-Cotta, Stuttgart 2007, ISBN 3-608-60006-X, S. 156–190. Biografische Darstellungen Bernd Ulrich Hucker: Kaiser Otto IV. (= Monumenta Germaniae historica. Bd. 34). Hahn, Hannover 1990, ISBN 3-7752-5162-6 (Zugleich: Bamberg, Universität, Habilitations-Schrift, 1983) Bernd Ulrich Hucker: Otto IV. Der wiederentdeckte Kaiser. Eine Biographie. Insel-Verlag, Frankfurt am Main 2003, ISBN 3-458-34257-5 (Rezension). Eduard Winkelmann: Philipp von Schwaben und Otto IV. von Braunschweig. 2 Bde. Duncker & Humblot, Leipzig 1878, Neudruck Darmstadt 1963. Spezialstudien Gerd Althoff: Otto IV. Woran scheiterte der welfische Traum vom Kaisertum? In: Frühmittelalterliche Studien, Bd. 43 (2009), S. 199–214. Steffen Krieb: Vermitteln und Versöhnen. Konfliktregelung im deutschen Thronstreit 1198–1208 (= Norm und Struktur. Studien zum sozialen Wandel in Mittelalter und früher Neuzeit. Bd. 13). Böhlau, Köln 2000, ISBN 3-412-11199-6 (Zugleich: Gießen, Universität, Dissertation, 1997/98). Hans Martin Schaller: Das geistige Leben am Hofe Kaiser Ottos IV. von Braunschweig. In: Deutsches Archiv für Erforschung des Mittelalters, Bd. 45 (1989), S. 54–82 (online) Hubertus Seibert: Fidelis et dilectus noster. Kaiser Otto IV. und der Südosten des Reiches (1198–1212). In: Mitteilungen des Instituts für Österreichische Geschichtsforschung, Bd. 118 (2010), S. 82–102. Ausstellungskataloge Bernd Ulrich Hucker, Stefanie Hahn, Hans-Jürgen Derda – Braunschweigisches Landesmuseum (Hrsg.): Otto IV. Traum vom welfischen Kaisertum. Michael Imhof Verlag, Petersberg 2009, ISBN 978-3-86568-500-1 (Niedersächsische Landesausstellung unter der Schirmherrschaft des Ministerpräsidenten des Landes Niedersachsen Christian Wulff im Braunschweigischen Landesmuseum, Dom St. Blasii und in der Burg Dankwarderode vom 8. August bis 8. November 2009). Weblinks Literatur über Otto IV. in der Niedersächsischen Bibliographie Literatur zu Otto IV. im Opac der Regesta Imperii Kaiserstadt Braunschweig – Otto IV. Urkunde Ottos IV. für Kloster Salem, 14. Juli 1209, Testament Kaiser Ottos IV. von 1218 auf kulturerbe.niedersachsen.de Heiner Wember: 19.05.1218 - Todestag von Kaiser Otto IV. WDR ZeitZeichen vom 19. Mai 2018. (Podcast, verfügbar bis 16. Mai 2028.) Anmerkungen Kaiser (HRR) König (HRR) Herzog (Aquitanien) Graf (Poitou) Familienmitglied des Hauses Welf-Este Person (Braunschweig) Kunstmäzen Kunstsammler Geboren im 12. Jahrhundert Gestorben 1218 Mann Herrscher (12. Jahrhundert) Herrscher (13. Jahrhundert)
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https://de.wikipedia.org/wiki/Tadeusz%20Ko%C5%9Bciuszko
Tadeusz Kościuszko
Andrzej Tadeusz Bonawentura Kościuszko () (* 4. Februar 1746 in Mereczowszczyzna, Polen-Litauen, heute Belarus; † 15. Oktober 1817 in Solothurn, Schweiz) war ein polnischer Militäringenieur, der im Russisch-Polnischen Krieg von 1792 und besonders als Anführer des nach ihm benannten Aufstandes von 1794 gegen die Aufteilung Polens unter Russland, Preußen und Österreich zum polnischen Nationalhelden wurde. Zuvor hatte er in den Jahren 1776 bis 1783 im Amerikanischen Unabhängigkeitskrieg auf Seiten der jungen USA gekämpft. Er vertrat die Ideale der Aufklärung und unterstützte die weltweite Bewegung zur Abschaffung der Sklaverei. Der Status eines Nationalhelden wird ihm außer in Polen auch in Belarus, in den Vereinigten Staaten und teilweise in Litauen zugeschrieben. Leben Jugend und Ausbildung Kościuszko kam als jüngstes Kind des dem polnischen Landadel (Szlachta) zugehörigen Brester Beamten Ludwik Kościuszko im damaligen Vorwerk Mereczowszczyzna auf dem Gebiet der heutigen Stadt Kosawa (Ко́сава, Kosów; Rajon Iwazewitschy, Belarus) im Nordwesten Polesiens zur Welt. Die Kościuszkos gehörten seit 1509 zur Szlachta, als König Sigismund I. seinem Sekretär Konstanty zur Belohnung für treue Dienste das Landgut Siechnowicze geschenkt und der Familie das Wappen der polnischen Wappengemeinschaft Roch III verliehen hatte. Gemeinsam mit seinem älteren Bruder Józef besuchte Tadeusz ab 1755 ein Piaristenkolleg in Lubieszów in der damaligen Woiwodschaft Wolhynien, heute Ljubeschiw, Ukraine. Anschließend studierte er ab 1765 an der königlichen Militärhochschule Szkoła Rycerska in Warschau. Neben militärischen Themen (darunter das Zeichnen von Festungswerken) wurden dort Mathematik, polnische und europäische Geschichte, Geographie, Physik, Chemie, Deutsch und Französisch gelehrt. Kościuszko erwies sich als brillanter Student, wurde nach einem Jahr zum Fähnrich ernannt und besuchte vertiefende Kurse im Ingenieurswesen. Danach wurde er Ausbilder und zum Hauptmann befördert. Er wechselte mit einem königlichen Stipendium 1769 nach Paris. Dort studierte er an der Académie royale de peinture et de sculpture, einer Vorgängerinstitution der Académie des Beaux-Arts. Als Ausländer war es ihm verwehrt, die Schule für Militäringenieure École royale du génie in Mézières zu besuchen, jedoch konnte er seine militärwissenschaftlichen Studien durch Privatstunden von Dozenten dieser Schule fortsetzen. Der Aufenthalt im vorrevolutionären Frankreich, wo er mit dem Denken der Aufklärung vertraut wurde, prägte seine politischen Ansichten nachhaltig. Amerikanischer Unabhängigkeitskrieg 1774 kehrte Kościuszko nach Polen zurück, fand aber keine Anstellung in der stark dezimierten Armee des von der Teilung von 1772 gezeichneten Landes. Nach einem Aufenthalt in Dresden fuhr er im Herbst 1775 auf der Suche nach einer Aufgabe wieder nach Paris. Dort warb der Schriftsteller Pierre de Beaumarchais um Unterstützung für die Amerikanische Revolution. Beaumarchais hatte mit einem Startkapital der französischen Regierung die Tarnfirma Roderigue Hortalez & Co. gegründet, die dem Schmuggel von Waffen und Munition nach Amerika dienen sollte. Kościuszko segelte Ende Juni 1776 mit einem Schiff von Beaumarchais’ Gesellschaft nach Amerika, gemeinsam mit einem französischen und einem sächsischen Offizier. Bei der Ankunft Kościuszkos in Paris waren Silas Deane und Benjamin Franklin, die wenig später als amerikanische Beauftragte in Frankreich wirken sollten, noch nicht dort eingetroffen, sodass Kościuszko, anders als spätere ausländische Kriegsfreiwillige, kein Empfehlungsschreiben an den Kongress einholen konnte. Er soll jedoch ein Vorstellungsschreiben von Adam Kazimierz Czartoryski an Generalmajor Charles Lee mit sich geführt haben. Kościuszko traf 1776 in Philadelphia ein und wurde Oberst im Pionierkorps der Kontinentalarmee. Er entwarf die Anlagen von Fort Billingsport und Fort Mercer am Delaware River bei Philadelphia. 1777 wurde er der „Nördlichen Armee“ unter Horatio Gates unterstellt. Kościuszko übernahm ab dieser Zeit das Kommando zur Errichtung verschiedener Forts und befestigter Militärcamps an der kanadischen Grenze. 1777 nahm er an der Schlacht von Ticonderoga und der Schlacht von Saratoga teil. Zum amerikanischen Sieg in der Schlacht von Saratoga, die als Wendepunkt im Unabhängigkeitskrieg gilt, sollen von Kościuszko auf der Anhöhe Bemis Heights errichtete Befestigungen wesentlich beigetragen haben. So hielt der Historiker Edward Channing fest: „Das Verdienst für Saratoga gebührt Horatio Gates, und mit ihm Daniel Morgan, Benjamin Lincoln und Tadeusz Kościuszko“. Vom 26. März 1778 bis in den Sommer 1780 befestigte Kościuszko West Point am Hudson River. Die Planung dieser Festung war zunächst dem Franzosen Louis de la Radière übertragen worden. Weil Kościuszko vom Kongress als Chefingenieur von West Point eingesetzt worden war, la Radière sich aber immer noch als zuständig und außerdem als den kompetenteren Ingenieur ansah, kam es dort zu Reibungen zwischen den beiden Ingenieuren. Nachdem George Washington das Problem zunächst zu lösen gedacht hatte, indem er Kościuszko ins Hauptquartier der Armee beordern wollte, bewog ihn ein Brief von Generalmajor Alexander McDougall, der sich für Kościuszko aussprach, dazu, stattdessen la Radière von seiner Funktion in West Point zu entbinden. Dave Richard Palmer, ein späterer Superintendent der US Military Academy in West Point, beschrieb West Point, wie es nach Kościuszkos Plänen gebaut wurde, als eine Festung, die ihrer Zeit weit voraus gewesen sei. La Radière hatte einen aufwendigen Bau im Stile von Vauban errichten wollen, der nicht zu Washingtons gedrängtem Zeitplan passte und zu kosten- und materialintensiv für die Möglichkeiten der Amerikaner gewesen wäre. Nach beendeter Arbeit in West Point wurde Kościuszko (mit einem Brief Washingtons vom 3. August 1780) auf die südlichen Kriegsschauplätze beordert und zum Generalingenieur der Südarmee ernannt. Kościuszkos Geniearbeiten, insbesondere der Bau von Flachbooten, spielten eine bedeutende Rolle in der „Südlichen Armee“ von General Nathanael Greene, indem sie es ihr ermöglichten, den Truppen des britischen Generals Charles Cornwallis bis zum Eintreffen von Verstärkungen auszuweichen und diese schließlich nach Norden zu drängen, wo die Briten in der Schlacht bei Yorktown besiegt wurden. Seit 1779 bis zum Ende des Unabhängigkeitskriegs war Kościuszko als Ordonnanz Agrippa Hull aus Northampton (Massachusetts) (1759–1848) beigestellt. Hulls Eltern gehörten zu den wenigen afroamerikanischen Einwohnern von Northampton und zur noch geringeren Zahl unter diesen, die ihre Freiheit von der Sklaverei erlangt hatten. Die freundschaftliche Verbundenheit mit Hull soll dazu beigetragen haben, dass Kościuszko „zunehmend bestürzt darüber war, dass weiße Amerikaner für universelle Prinzipien kämpften, die sie einer halben Million Schwarzer vorenthielten“, so die Historiker Nash und Hodges in ihrer Untersuchung zu den Lebensläufen von Thomas Jefferson, Kościuszko und Hull. Als Kościuszko die USA verließ, begleitete ihn der Afroamerikaner Jean Lapierre als Adjutant nach Polen. Der Historiker und Journalist Alois Feusi kam in einem Artikel zum 150. Todestag von Kościuszko in der NZZ zum Schluss, Kościuszko habe sehr genau gewusst, „dass die Idee der Überlegenheit der weissen Rasse ein Hirngespinst ist“. Der Kongress der Vereinigten Staaten verlieh Kościuszko 1783 den Rang eines Brigadegenerals und die US-amerikanische Staatsbürgerschaft. Im selben Jahr wurde er Gründungsmitglied der Society of the Cincinnati, einem von amerikanischen Offizieren gegründeten Orden, der nach Lucius Quinctius Cincinnatus als Musterbeispiel republikanischer Tugenden benannt ist. Nach Beendigung des Amerikanischen Unabhängigkeitskrieges erhielt Kościuszko, den die neue Regierung noch nicht direkt auszahlen konnte, für seine Dienste ein Guthaben von 12.280 Dollar mit einer jährlichen Auszahlung von 6 % Zins und Anspruch auf 500 Acres Land, sollte er sich in den Vereinigten Staaten niederlassen. Anführer polnischer Truppen, Kościuszko-Aufstand 1784 kehrte Kościuszko an den Familiensitz in Siechnowicze in der damaligen Woiwodschaft Brześć Litewski zurück. Nach dem Eintritt in die königliche Armee wurde er 1789 vom polnischen König Stanisław Antoni Poniatowski zum Generalmajor ernannt. Kościuszko begrüßte die republikanische Bewegung, die von 1788 bis 1792 durchgeführten Reformen und die am 3. Mai 1791 verabschiedete Verfassung sehr. Bereits früh beteiligte er sich an der Seite Józef Poniatowskis an Plänen für eine Intervention gegen die Teilungsmächte Russland und Preußen. 1792 war er schließlich einer der Anführer der polnischen Truppen gegen die russische Invasion in Polen, die sich gegen den liberalen Kurs des polnischen Parlaments richtete und zum Ausbruch des Russisch-Polnischen Krieges von 1792 führte. Polen unterlag den kaiserlichen Truppen und der Niederlage folgte die zweite Teilung Polens durch Russland und Preußen. Danach floh Kościuszko nach Kursachsen. Bei der Ankunft in Leipzig zum Jahreswechsel 1792/1793 überreichte ihm ein französischer Diplomat die Urkunde des Ehrenbürgerrechts Frankreichs, das ihm die französische Nationalversammlung im August 1792 zusammen mit George Washington, dem schweizerischen Pädagogen Johann Heinrich Pestalozzi und anderen Persönlichkeiten verliehen hatte. Kościuszko reiste noch im Januar 1793 nach Paris in der Hoffnung, französische Unterstützung für Polen zu erhalten, und traf gerade zur Zeit der Hinrichtung Ludwigs XVI. dort ein. Während seines Aufenthaltes traf er sich mit führenden Revolutionären Frankreichs, unter anderem auch mit Robespierre. Nach monatelangen Verhandlungen kam Kościuszko aber zum Schluss, dass die Revolutionäre nur an einer Schwächung Preußens im Ersten Koalitionskrieg durch eine Ablenkung in Polen interessiert waren, und reiste mit leeren Händen ab. 1794 kehrte Kościuszko zurück und führte den Freiheitskampf der Polen in dem nach ihm benannten Kościuszko-Aufstand gegen Russland und Preußen an. Hierfür ließ er sich in Krakau nach römischem Recht zum „Diktator“ vereidigen. In der Schlacht bei Racławice am 4. April 1794 besiegten Kościuszkos Streitkräfte militärisch überlegene russische Truppen. Nach dem erfolgreichen Einsatz von mit Kriegssensen bewaffneten Bauern in dieser Schlacht soll Kościuszko seine Generalsuniform abgelegt und zu Ehren der Bauern eine sukmana, ein einfaches Bauernkleid, angelegt haben. Die Erinnerung an den als Sensation wahrgenommenen Sieg der „Sensenmänner“ in der Schlacht bei Racławice erhielt in der Folge große symbolische Bedeutung für die polnische Nation nach den Teilungen Polens. Die Schlacht bei Szczekociny vom 6. Juni 1794 hingegen endete in einer Niederlage, wie auch die Schlacht bei Maciejowice vom 10. Oktober 1794. In dieser Schlacht wurde Kościuszko verwundet und geriet in russische Gefangenschaft. Mit der Schlacht bei Praga und dem Massaker der Truppen Suworows an der Warschauer Zivilbevölkerung war der Aufstand einen Monat später endgültig niedergeschlagen. Für den Aufstand von 1794 hatte Kościuszko auch um die Unterstützung der jüdischen Bevölkerung geworben. Bereits am Tag nachdem er am 24. März auf dem Marktplatz von Krakau den Aufstand verkündet hatte, hielt er eine Ansprache im jüdischen Viertel von Kazimierz. In dieser versicherte er der jüdischen Gemeinschaft, für das Wohl aller Einwohner seines Vaterlandes zu kämpfen, und dass die Juden ein wichtiger Teil dieser Einwohner seien. Er bat sie um Kriegsfreiwillige und um finanzielle Unterstützung. Beides wurde ihm gewährt; besonders bekannt wurde Berek Joselewicz, der zusammen mit Józef Aronowicz eine jüdische Kavallerieeinheit aufstellte. Kościuszko gewährte dieser den Status eines regulären Regiments und ernannte Joselewicz zum Oberst. Viele Soldaten dieses Regiments fielen in der Schlacht bei Praga. Den Status von Kościuszko als „Bauernbefreier“ festigte ein als Proklamation von Połaniec bekanntes Dekret (polnisch Uniwersał Połaniecki) vom Mai 1794, das als Schritt hin zu einer allgemeinen Befreiung der Bauern unter anderem vorsah, dass der Frondienst reduziert werden solle. Nach einer Veröffentlichung des Historikers Markus Krzoska über Kościuszkos Weg zum Nationalhelden war die praktische Wirkung der Proklamation zwar „wegen der weiteren Entwicklung des Aufstands gleich null“, die symbolische Bedeutung für die folgenden Jahrzehnte sei aber nicht zu unterschätzen. Kościuszko befand sich zwei Jahre in russischer Gefangenschaft. Nach dem Tod der Zarin Katharina II. begnadigte ihn ihr Nachfolger Paul I., der Kościuszko Wohlwollen entgegenbrachte, ohne vom russischen Machtanspruch im okkupierten Polen abzurücken. Da er damit die Befreiung 12.000 in Russland gefangener Polen erwirken konnte, erkannte Kościuszko Paul I. aus politischen Gründen vorerst als polnischen Landesherren an. Exil Vereinigte Staaten Nachdem er aus der Gefangenschaft freigekommen war, ging Kościuszko ins Exil, zunächst in die Vereinigten Staaten. Er hielt sich dort bis 1798 auf. In dieser Zeit stand er in engem Kontakt mit dem amerikanischen „Gründervater“ Thomas Jefferson. Gegen Ende seines Aufenthaltes setzte er mit Jeffersons Unterstützung ein Testament auf. Darin überschrieb er Jefferson sein amerikanisches Vermögen mit dem Auftrag, die Mittel zum Freikauf und für die Schulbildung von Sklaven, spezifisch Jeffersons eigener Sklaven, zu verwenden. Noch einen Monat vor seinem Tod 1817 erinnerte Kościuszko Jefferson brieflich an diesen Verwendungszweck. Kościuszko hatte jedoch später noch drei weitere Testamente verfasst. Obwohl Kościuszkos Brief von 1817 an Jefferson darauf schließen lässt, dass er sein amerikanisches Testament von 1798 immer noch als gültig ansah, hatte Kościuszko in einem Testament von 1816 bereits alle vorherigen Testamente widerrufen. Dass Jefferson die Ausführung von Kościuszkos Testament danach nicht übernahm, diese anderen übertrug und letztlich weder eigene noch fremde Sklaven freikaufte, obwohl er sich in der Vergangenheit selbst gegen die Sklaverei ausgesprochen hatte, wird von Historikern unterschiedlich bewertet. So gehen Nash und Hodges davon aus, dass Jefferson die Konflikte fürchtete, die er mit einer solchen Aktion auslösen konnte, während Annette Gordon-Reed die rechtlichen Schwierigkeiten aufgrund der widersprüchlichen Testamente als ausschlaggebend ansieht. Tatsächlich kam es zu einer Folge von Prozessen, die bis 1852 andauerte, als der Oberste Gerichtshof urteilte, dass das Testament von 1798 durch jenes von 1816 aufgehoben worden sei. Frankreich 1798 ging Kościuszko nach Frankreich. Er erhoffte sich, an der Seite der Franzosen und mit Jan Henryk Dąbrowskis und Karol Kniaziewiczs polnischen Legionen Polen zu befreien. Dies passte jedoch nicht zu Napoleon Bonapartes Plänen, und seit dem Staatsstreich des 18. Brumaire VIII hatte sich auch Kościuszko innerlich von Napoleon abgewandt. Kościuszko lebte damals, so Adele Tatarinoff, „von der Polizei streng bewacht“, in Paris und Umgebung. Von 1801 bis 1815 wohnte er bei der Familie von Peter Josef Zeltner aus Solothurn, der von 1798 bis 1800 erster helvetischer Gesandter in Paris gewesen war, und auf dessen Landsitz Berville bei Fontainebleau. Kościuszko führte in Berville ein häusliches Leben mit der Familie Zeltner und verbrachte täglich mehrere Stunden damit, ihre drei Kinder zu unterrichten. Da Peter Josef Zeltner oft abwesend war und Kościuszko seiner Frau Angélique (Angelica Charlotte Drouin de Vandeuil de Lhuis) nahestand, wurde ihm eine Affäre mit ihr nachgesagt und gar, dass er der Vater der nach ihm benannten jüngsten Tochter Thaddea sei. Jedenfalls zog Kościuszko, dem die Aufmerksamkeit der Pariser Gesellschaft zuwider war, das Landleben in Berville vor und versuchte, sich dort dem Rampenlicht zu entziehen. Im Oktober 1806, nachdem er nach der Schlacht bei Jena und Auerstedt in Berlin eingezogen war, forderte Napoleon Kościuszko über seinen Polizeiminister Joseph Fouché auf, zu ihm zu kommen, um ihn beim Weiterzug nach Polen zu unterstützen. Kościuszko wollte dieser Aufforderung jedoch nicht ohne bestimmte Garantien Napoleons für Polen nachkommen: Napoleon sollte sich zur Wiederherstellung Polens bereit erklären und eine Verfassung mit gleichen Rechten für alle Bürger gewähren. Fouché konnte Kościuszko auch mit Drohungen nicht dazu bewegen, ihm ohne solche Garantien zu folgen. In der Folge ließ Fouché einen gefälschten, angeblich von Kościuszko stammenden Brief an die Zeitungen senden, in dem in pathetischen Worten Kościuszkos Unterstützung für Napoleon erklärt wurde. Nicht nur Kościuszko, sondern auch Napoleon selbst verurteilte diese Fälschung. Nachdem Kościuszko in der Folge einen Brief an Fouché gesandt hatte, in dem er für Polen eine konstitutionelle Monarchie nach dem Vorbild Englands, Freiheit für die Bauern und die Wiederherstellung Polens in den Grenzen vor den drei Teilungen Polens forderte, nannte Napoleon ihn einen „Idioten“ und berücksichtigte ihn nicht weiter. Mit dem Herzogtum Warschau errichtete Napoleon schließlich einen polnischen Rumpfstaat als Protektorat des Ersten Französischen Kaiserreiches, der bis 1815 existierte. Nach dem Sturz Napoleons gewährte der russische Zar Alexander I. Kościuszko am 3. Mai 1814 eine Audienz im russischen Hauptquartier in Paris. Er soll Kościuszko umarmt und Polen eine glückliche Zukunft versprochen haben. Mit Kongresspolen als Resultat der Verhandlungen am Wiener Kongress 1815 wollte sich Kościuszko jedoch nicht zufriedengeben. Nach einer kurzen weiteren Audienz beim Zaren am 27. Mai 1815 traf Kościuszko am 31. Mai in Wien mit Alexanders Außenminister Adam Jerzy Czartoryski zusammen, der versuchte, Kościuszko von der getroffenen Lösung zu überzeugen. Dies gelang Czartoryski nicht; Kościuszko erklärte, „seine sorgende Liebe gehöre dem ganzen weiten polnischen Reich und nicht bloß dem Stück Land, das jetzt pompös Königreich Polen genannt werde“. Insbesondere war es ihm ein Anliegen, dass seine Heimat Litauen (Großfürstentum Litauen) wieder ins Königreich Polen einbezogen werden sollte. Nach dem Scheitern seiner diesbezüglichen Bemühungen blieb Kościuszko im Exil, da er die neuen Herrschaftsverhältnisse in seiner Heimat nicht durch seine Anwesenheit legitimieren wollte. Schweiz Eine Rückkehr nach Frankreich unter Ludwig XVIII., wo Revolutionäre wie er verfolgt wurden, kam für Kościuszko nicht in Frage. Alex Storozynski führt als weiteren Grund an, dass Angélique, die Frau von Kościuszkos langjährigem Gastgeber in Frankreich Peter Josef Zeltner, im Sterben lag. Kościuszko ließ sich in der Schweiz nieder. Er konnte bei Xaver Zeltner in Solothurn Wohnsitz nehmen, einem Bruder von Peter Josef Zeltner. Xaver Zeltner teilte Kościuszkos aufgeklärte Weltanschauung. Er gehörte von 1810 bis 1814 als Mitglied der liberalen Opposition dem Solothurner Grossen Rat an, wurde anschließend nach der Wiederherstellung der vorrevolutionären Verhältnisse monatelang ohne Prozess in Haft gehalten und war bei der Ankunft Kościuszkos erst seit wenigen Wochen wieder auf freiem Fuß. In Solothurn profilierte sich Kościuszko als „Wohltäter und Menschenfreund“, der in den Zeiten der Hungersnot nach dem „Jahr ohne Sommer“ 1816 allen Notleidenden, die das Haus der Zeltners umlagerten, Almosen gewährte – und dabei ein Bettelverbot ignorierte, das in Solothurn ab Anfang 1817 den Spendenden Geldstrafen auferlegte. Am 15. Oktober 1817 starb Kościuszko in Solothurn. Als Todesursache werden eine Grippe oder ein Schlaganfall angegeben. Er wurde getrennt bestattet: Seine Eingeweide wurden auf dem Friedhof von Zuchwil beigesetzt. Kościuszkos Herz, das er Xaver Zeltners Tochter Emilie vermacht hatte, wurde in einer eigens angefertigten Urne verwahrt; diese befand sich später in Vezia bei Lugano, wo Emilie als Ehefrau von Giovanni Battista Morosini lebte, danach im Polenmuseum Rapperswil und inzwischen in der Kapelle des Warschauer Königsschlosses. Sein einbalsamierter Leichnam wurde zunächst in der Jesuitenkirche in Solothurn bestattet und 1818 in die Königsgruft der Wawel-Kathedrale von Krakau überführt. Gesellschaftliche Positionen Kościuszko war ein „Mensch der Aufklärung“ und fest von republikanischen und demokratischen Grundsätzen überzeugt. Er las Jean-Jacques Rousseau und stand in Kontakt mit Johann Heinrich Pestalozzi, dessen Ansichten er in vielen Punkten teilte. Trotz einer deistischen Haltung und seines Bekenntnisses zu einer „universellen Religion aller guten Menschen“ blieb Kościuszko auch von seiner römisch-katholischen Erziehung geprägt. So soll er allmorgendlich gebetet haben, auch trat er der katholischen Kirche gegenüber in der Öffentlichkeit stets respektvoll auf. Kościuszko sprach sich stets deutlich für Toleranz aus und stand anderen Religionen und Völkern offen gegenüber. Xaver Zeltner, in dessen Haus in Solothurn Kościuszko seine letzten Lebensjahre verbrachte, sagte von ihm, dass sein Herz „für die ganze Welt“ geschlagen habe. In einem Brief an General Nathanael Greene schrieb Kościuszko 1786, dass die „Schranken unserer Zuneigung zum Rest der Menschheit durch Vorurteile und Aberglauben“ beengt seien. Zuneigung solle allen achtenswerten Menschen gezeigt werden – „let him be Turck or Polander, American or Japon“. Alex Storozynski kommt in seiner Biografie zum Schluss, Kościuszko, der sich „für Bauern, Juden, Indianer, Frauen und alle Diskriminierten“ einsetzte, sei ein „wahrer Fürst der Toleranz“ gewesen. Privatleben Tadeusz Kościuszko blieb zeitlebens unverheiratet. Nach seiner Rückkehr aus Frankreich hatte er sich 1775 in Ludwika (Louise) Sosnowska verliebt, eine Tochter des Magnaten Józef Sylwester Sosnowski. Dieser hatte jedoch bereits eine Heirat mit dem Fürsten Józef Lubomirski (1751–1817) arrangiert und verweigerte Kościuszko die Hand seiner Tochter, da Sosnowski als Angehöriger des polnischen Hochadels eine Verbindung mit dem Landadeligen Kościuszko als nicht standesgemäß betrachtete. Kościuszko und Ludwika sollen daraufhin einen Fluchtversuch unternommen haben, der nach den Berichten verschiedener zeitgenössischer Autoren von den Wächtern Sosnowskis unter Gewaltanwendung gegenüber Kościuszko vereitelt worden sei. Alex Storozynski betont in seiner Kościuszko-Biographie von 2009, dass Kościuszko und Ludwika nicht nur eine romantische, sondern auch eine intellektuelle Verbindung besessen hätten, da auch Ludwika an der Befreiung der Leibeigenen interessiert gewesen sei und ein Buch über Physiokratie aus dem Französischen übersetzt habe. Storozynski bezeichnet die Abweisung von Kościuszkos Brautwerbung durch den Fürsten Sosnowski als „entscheidenden Punkt in seinem Leben“. Auch Kajencki und Nash/Hodges gehen davon aus, dass dies neben den zu diesem Zeitpunkt fehlenden Möglichkeiten für eine militärische Karriere in Polen ein Grund für Kościuszko war, das Land 1775 wieder zu verlassen. Die zweite große Liebe Kościuszkos war Tekla Żurowska. Er lernte sie 1791 in Międzybóż (heute Medschybisch, Ukraine) kennen, wo er sich zur Inspektion und Ausbildung polnischer Truppen aufhielt. Teklas Familie besuchte Międzybóż, um einen angesehenen Arzt zu konsultieren, und wohnte in der unmittelbaren Nachbarschaft Kościuszkos. Die Liebe zwischen Kościuszko und Tekla Żurowska war gegenseitig; Kościuszko hielt bei ihrem Vater förmlich um die Hand der damals 18-jährigen Tekla an, wurde aber auch in diesem Fall aus ähnlichen Gründen wie schon 1775 von Vater Sosnowski zurückgewiesen. Żurowski hatte zudem Gerüchte über den früheren Fluchtversuch Kościuszkos mit Ludwika vernommen, ließ seine Tochter bewachen und reiste mit der Familie ab. Kościuszko tröstete sich darauf in der Potockischen Nebenresidenz Niemirów (heute Nemyriw, Ukraine) mit der angeblich „schönsten Frau Europas“, Zofia Wittowa (1760–1822). Die Griechin hatte ihre Karriere als minderjährige Kurtisane in Konstantinopel begonnen, war Mätresse des russischen Oberbefehlshabers Grigori Potjomkin geworden und heiratete später ihren damals in Sankt Petersburg weilenden Liebhaber, den schwerreichen Szczęsy Potocki. In seiner Freizeit betätigte sich Kościuszko als Zeichner und als Komponist. Seine Zeichnungen und Aquarelle warf er jedoch achtlos fort oder gab sie an seine Gastfamilien weiter. Etliche sind erhalten geblieben, darunter ein bekanntes Porträt seines Freundes Thomas Jefferson. Ende des 18. Jahrhunderts wurden in England zwei Polonaisen und ein Walzer von Kościuszko veröffentlicht, „composed for the Patriotic Army of Poland“. Daneben beschäftigte er sich auch mit Drechselarbeiten. Rezeption Literatur Bereits 1803 erschien der Roman Thaddeus of Warsaw der schottischen Schriftstellerin Jane Porter. Eine deutsche Übersetzung wurde einige Jahre später unter dem Titel Thaddäus Constantin veröffentlicht. Es handelt sich bei diesem Werk vermutlich um den ersten historischen Roman in englischer Sprache überhaupt. Porter schildert darin die Erlebnisse eines fiktiven Nachkommen des polnischen Königs Jan Sobieski, Thaddeus Sobieski, vor dem Hintergrund des Kościuszko-Aufstandes. Zahlreiche weitere Autoren haben sich literarisch mit Kościuszko beschäftigt, so in Romanform unter anderem Józef Ignacy Kraszewski, Władysław Reymont und Marianna Lugomirska, in Dramenform Autoren wie Apollo Korzeniowski oder Władysław Ludwik Anczyc. Ein Drama Kosciuszko von Christian Dietrich Grabbe ist nur als Fragment erhalten. Postume Ehrungen und Denkmäler Kościuszko gilt sowohl als Held Polens als auch Litauens, von Belarus (auf dessen Staatsgebiet sein Geburtsort Mereczowszczyzna heute liegt) und der Vereinigten Staaten. An Kościuszko erinnern Denkmäler und nach ihm benannte Stätten auch in anderen Ländern. Die UNESCO rief zusammen mit dem Sejm, dem polnischen Parlament, 2017 zum Tadeusz-Kościuszko-Jahr aus. Polen Kościuszko zu Ehren wurde in Krakau von 1820 bis 1823 der Kościuszko-Hügel aufgeschüttet. Nach dem Vorbild dieses Hügels entstanden auch in verschiedenen anderen Orten Polens Kościuszko-Hügel, unter anderem 1861 in Olkusz. Ebenfalls in Krakau steht am Eingang zum Wawel ein um 1900 von Leonard Marconi und seinem Schwiegersohn Antoni Popiel entworfenes Kościuszko-Denkmal (ein Reiterstandbild), das erst 1920 errichtet wurde. Das Standbild wurde während der deutschen Besetzung Polens im Zweiten Weltkrieg zerstört. Die heutige Replik ist ein Geschenk der Stadt Dresden an Krakau aus dem Jahre 1960. Ein 1931 eingeweihtes Denkmal des Bildhauers Mieczysław Lubelski auf dem Plac Wolności (Freiheitsplatz) in Łódź wurde ebenfalls während der deutschen Besetzung Polens zerstört und 1960 wiedererrichtet. Kościuszko-Denkmäler stehen auch in Warschau und weiteren polnischen Städten. In den meisten größeren Städten Polens gibt es eine nach Kościuszko benannte Straße oder einen Kościuszko-Platz. Das Panorama von Racławice in Breslau ist das einzige polnische Panoramabild seiner Art. Im Laufe der Geschichte der Luftstreitkräfte der Republik Polen waren verschiedene Fliegerstaffeln nach Kościuszko benannt, sowie auch die polnische Jagdstaffel Dywizjon 303 der Royal Air Force im Zweiten Weltkrieg. Litauen In Litauen wurde das Andenken an Tadeusz Kościuszko lange Zeit nicht intensiv gepflegt. So beklagt der litauische Autor Albert Cizauskas in einem Artikel von 1996, dass Kościuszko als einer von Litauens „größten Helden“ ironischerweise auch einer seiner unbekanntesten und am wenigsten geehrten sei. Im Litauischen Nationalmuseum in Vilnius sind einige Exponate im Zusammenhang mit den Teilungen Polens und dem Kościuszko-Aufstand zu sehen, darunter ein Porträt Kościuszkos und ein zeitgenössischer Scherenschnitt, der Kościuszkos Schwur auf dem Krakauer Marktplatz darstellt. Eine Straße in Vilnius ist nach Kościuszko benannt. Anlässlich des 200. Todestages von Kościuszko 2017 hat das litauische Parlament Seimas zu Gedenkveranstaltungen im Rahmen des „Kościuszko-Jahrs“ aufgerufen. Belarus Die wichtigste Stätte der Erinnerung an Kościuszko in Belarus ist sein rekonstruiertes Geburtshaus in Meratschouschtschyna (polnisch: Mereczowszczyzna, litauisch Meračiauščina), einem ehemaligen Gutshof knapp drei Kilometer nordwestlich von Kosawa im heutigen Rajon Iwazewitschy bei Brest. Von 2003 bis 2004 wurde es mit finanzieller Unterstützung der Botschaft der Vereinigten Staaten auf der Basis archäologischer Ausgrabungen und historischer Abbildungen auf den erhaltenen Fundamenten wiedererrichtet und 2004 als Museum eröffnet. Das Museum wurde in den folgenden Jahren um rekonstruierte Nebengebäude des Gutes und diverse Exponate erweitert, wobei es mit Ausnahme der Pflästerung im Keller über keine originalen Objekte aus der Zeit Kościuszkos verfügt (Stand 2013). 2005 wurde in Minsk ein Kościuszko-Denkmal eingeweiht. Vereinigte Staaten Die Anzahl der Kościuszko gewidmeten Stätten und Denkmäler in den USA ist hoch. Nach Kościuszko benannt sind unter anderem das Kosciusko County in Indiana, die Kleinstadt Kosciusko im Bundesstaat Mississippi und Kosciusko Island in Alaska. Das Haus in Philadelphia, in dem Kościuszko im Winter 1797/1798 wohnte, ist als Thaddeus Kosciuszko National Memorial eine nationale Gedenkstätte der USA. Zu den weiteren Kościuszko-Denkmälern und -Stätten in den USA gehören: Denkmal bei West Point am Hudson River. Kosciuszko-Park und Reiterdenkmal in Milwaukee. Weitere nach Kościuszko benannte Parks in mehreren Städten, u. a. Chicago und Dublin (Ohio), Reiterdenkmäler und Statuen ebenfalls in diversen Städten. Brücke Kosciuszko Bridge über den Newtown Creek in New York City. Brücke Thaddeus Kosciusko Bridge über den Mohawk River im Bundesstaat New York. Zahlreiche Straßenbenennungen, u. a. Kosciuszko Street in Brooklyn und in anderen Städten. Nach Kościuszko benannte Schulen u. a. in Hamtramck (Michigan) und Winona (Minnesota). Die Kleinstadt Poland bei Youngstown im Bundesstaat Ohio trägt ihren Namen zu Ehren von Kościuszko und Kazimierz Pułaski. Statuen von Kościuszko und Pułaski wurden im Peterson Park in Poland errichtet. Der Politiker Thaddeus Stevens (1792–1868), der sich später ebenfalls für die Befreiung der Sklaven einsetzte, wurde von seinen Eltern nach Kościuszko benannt. Die Kosciuszko Foundation widmet sich seit 1925 der Verständigung zwischen Polen und US-Amerikanern. Schweiz Die Urne mit Kościuszkos Herz befand sich seit 1895 im Polenmuseum Rapperswil. Nach der Wiederherstellung Polens als Zweite Polnische Republik wurde sie 1927 zusammen mit den Sammlungen des Museums nach Warschau überführt. Das Kosciuszko-Museum in seinem Sterbehaus in Solothurn wurde am 27. September 1936 eingeweiht. Von den Hausbesitzern und ihren Verwandten wurden dem Museum Erinnerungsstücke aus dem persönlichen Besitz Kościuszkos übergeben. Weitere Objekte und Dokumente konnte es vom Staatsarchiv, dem Museum Altes Zeughaus und dem Kunstmuseum Solothurn sowie den italienischen Erben von Emilia (Emilie) Morosini-Zeltner übernehmen. 1984 wurde das Museum neu gestaltet und 2006 konnte die Sammlung durch eine Pistole, die Kościuszko immer bei sich trug, ergänzt werden. In Solothurn bestehen zwei Denkmäler für Kościuszko: Am Amthausplatz, der von 1867 bis 1869 Kosciuszkoplatz hieß, befindet sich eine 1967 zum 150. Todestag von Kościuszko eingeweihte Skulptur von Schang Hutter. Die schlanke männliche Bronzefigur soll, so Paul L. Feser im Solothurner Brunnen-Buch, „symbolhaft die Sehnsucht des Menschen nach Freiheit zum Ausdruck bringen“. Das Denkmal war zum Zeitpunkt seiner Errichtung umstritten. 2014 sagte Hutter in einem Interview dazu: „Als ich den Kosciuszko-Brunnen in Solothurn mit dem sehr schmächtigen Kosciuszko gemacht habe, haben sich die Polen in der Schweiz furchtbar aufgeregt. Die wollten das gar nicht. Die wollten einen Adler. Aber ich hatte einfach das Gefühl: Das ist auch ein Mensch. Und ein Mensch ist verletzlich“. Die Skulptur war Bestandteil einer Brunnenanlage; seit der Brunnen 2005 durch einen Lastwagen zerstört wurde, steht sie auf einer Säule, was Hutters ursprünglichem Konzept entspricht. Ein weiteres Denkmal wurde im Oktober 2017 zum 200. Todestag von Kościuszko im Park zwischen der reformierten Kirche und dem Konzertsaal eingeweiht. Gestiftet wurde es von der Belarussischen Vereinigung in der Schweiz. Neben dem Solothurner Stadtpräsidenten und dem Präsidenten der Belarussischen Vereinigung waren bei der Einweihung auch diplomatische Vertretungen aus Belarus, Litauen und Polen anwesend. Auch dieses – im Gegensatz zu Schang Hutters Skulptur naturalistisch ausgeführte – Standbild hat zu Kontroversen geführt. Im Vorfeld seiner Aufstellung wurde eine international beachtete Diskussion über die geplante Beschriftung als „Sohn von Belarus“ geführt. Letztlich fand man zu einer Kompromisslösung. Anderes In Australien ist der höchste Berg des australischen Festlandes, der Mount Kosciuszko, nach Tadeusz Kościuszko benannt. Die Benennung geht auf den polnischen Entdecker und Erstbesteiger Paul Edmund de Strzelecki zurück, den die Form des Berges an den Kościuszko-Hügel in Krakau erinnert haben soll. Nach Tadeusz Kościuszko war die 1. Infanterie-Division der Polnischen Streitkräfte in der Sowjetunion im Zweiten Weltkrieg benannt, die an der Schlacht um Berlin beteiligt war. Polen im mexikanischen Exil, 1939–1945 auf der Flucht vor den Deutschen, gründeten in Mexiko die Union Democratica Polaco-Mexicana „Tadeusz Kosciuszko“, eine demokratische polnisch-mexikanische Gesellschaft. Am 2. Juni 2015 wurde ein 1984 von Edwar Bowell entdeckter Asteroid des inneren Hauptgürtels nach Tadeusz Kościuszko benannt: (90698) Kościuszko. Literatur in der Reihenfolge des Erscheinens Konstantin K. Falkenstein: Thaddäus Kosciuszko. Brockhaus, Leipzig 1827 (zweite Auflage 1834). Einflussreiche Biographie, auf der verschiedene literarische Darstellungen Kościuszkos basieren. Tadeusz Korzon: Kościuszko – Biografia z dokumentów wysnuta (dt. Biographie aus Dokumenten entwickelt). Krakau 1894. Nach wie vor eines der Standardwerke in polnischer Sprache. Heiko Haumann und Jerzy Skowronek (Hrsg.): „Der letzte Ritter und erste Bürger im Osten Europas“. Kościuszko, das aufständische Reformpolen und die Verbundenheit zwischen Polen und der Schweiz. Helbing & Lichtenhahn, Basel/Frankfurt am Main 1996, ISBN 3-7190-1505-X. Francis Casimir Kajencki: Thaddeus Kosciuszko. Military Engineer of the American Revolution. Southwest Polonia Press, El Paso, Texas 1998, ISBN 0-9627190-4-8. James S. Pula: Thaddeus Kosciuszko – The Purest Son of Liberty. Hippocrene Books, New York 1999, ISBN 978-0-7818-0576-6. Barbara Wachowicz: Nazwę Cię Kosciuszko – Szlakiem bitewnym Naczelnika w Ameryce (dt. Auf den Schlachtenpfaden Kościuszkos in Amerika). Oficyna Wydawnicza RYTM, Warschau 2008, ISBN 978-83-7399-265-8. Gary B. Nash, Graham Hodges: Friends of Liberty – Thomas Jefferson, Tadeusz Kosciuszko and Agrippa Hull. Basic Books, New York 2008, ISBN 978-0-465-03148-1. Alex Storozynski: The Peasant Prince – Thaddeus Kosciuszko and the Age of Revolution. Thomas Dunne Books, New York 2009, ISBN 978-0-312-38802-7. Moderne Biographie unter Einbeziehung von bis dahin unausgewerteten Quellen. Markus Krzoska: „Der Freiheit reinster Sohn“. Tadeusz Kościuszko als polnischer Nationalheld. In: Ost-West. Europäische Perspektiven. Jg. 21 (2020), Heft 3: Nationalhelden – Mythos und Missbrauch, S. 194–200. Weblinks Edda Dammmüller: 15.10.1817 - Todestag von Tadeusz Kosciuszko WDR ZeitZeichen vom 15. Oktober 2012. (Podcast) Anmerkungen Militärperson (Polen-Litauen) Brigadegeneral (Kontinentalarmee) Person der Amerikanischen Revolution Person im Kościuszko-Aufstand (Polen) Person im Russisch-Polnischen Krieg 1792 (Polen) Person (Solothurn) Abolitionist Mitglied der American Philosophical Society Träger des Weißen Adlerordens Träger des Ordens Virtuti Militari Ehrenbürger von Frankreich Person als Namensgeber für einen Asteroiden Pole US-Amerikaner Geboren 1746 Gestorben 1817 Mann
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https://de.wikipedia.org/wiki/Rinderpest
Rinderpest
Die Rinderpest war eine Tierseuche, die Rinder, andere Wiederkäuer und weitere Paarhufer wie Flusspferde und einige asiatische Hausschweinrassen befallen konnte. Die Virusinfektion führte bei erkrankten Tieren zunächst zu hochgradigen Entzündungen der Schleimhäute im Kopfbereich, gefolgt von einem schweren Durchfall, der – je nach betroffener Population – in bis zu 90 % der Fälle tödlich verlief. Die schweren Verluste durch die Rinderpest waren im 18. Jahrhundert Anlass für die Gründung der ersten tierärztlichen Ausbildungsstätten. Dank seuchenhygienischer Maßnahmen trat die Krankheit in der Schweiz zuletzt 1871, in Deutschland zuletzt 1870 auf. Der letzte Ausbruch in Europa war 1954 in Italien, die weltweit letzten Ausbrüche bei Haustieren 2001 in Afrika zu verzeichnen. Die Krankheit wurde seit 1994 innerhalb des (GREP) mit einer weltweit koordinierten Impf-, Keul- und Überwachungskampagne bekämpft. Am 15. Oktober 2010 teilte der Generaldirektor der Ernährungs- und Landwirtschaftsorganisation der Vereinten Nationen (FAO) mit, dass die Rinderpest dank der koordinierten Maßnahmen im Rahmen des GREP ausgerottet werden konnte. Die offizielle Feststellung der Ausrottung erfolgte am 25. Mai 2011. Damit ist es nach den Pocken zum zweiten Mal in der Geschichte gelungen, eine Infektionskrankheit zu tilgen. Geschichte Antike, Mittelalter und frühe Neuzeit Die Viruserkrankung stammt ursprünglich aus Asien. Ihre früheste erhaltene Beschreibung findet sich im Veterinär-Papyrus Kahun, der ca. 1800 v. Chr. verfasst wurde. Auch Aristoteles beschrieb in seiner Historia animalium im vierten Jahrhundert v. Chr. zwei Krankheiten des Rindes, die Podagra und die Struma, wobei die Symptome der Struma denjenigen der Rinderpest entsprechen. Die Rinderpest wurde unter anderem während der Völkerwanderungen 376 bis 386 von den Hunnen und später wieder von den Mongolen nach Europa eingeschleppt. Diese führten zu ihrer Versorgung asiatische graue Steppenrinder mit sich, die wenig anfällig für die Rinderpestviren waren und diese über Monate ausschieden. Severus Sanctus Endelechius verfasste im 4. Jahrhundert n. Chr. das Gedicht de mortibus bovum, in dem die Symptome der Rinderpest beschrieben werden. Die Krankheit kam in ganz Europa von der Spätantike bis zur frühen Neuzeit immer wieder vor (Enzootie), wobei es besonders zu Kriegszeiten zu größeren Ausbrüchen kam. 18. Jahrhundert 1712 verfasste Bernardino Ramazzini von der Universität Padua die älteste überlieferte präzise Beschreibung der Erkrankung. Auf dieser Grundlage entwickelte der päpstliche Leibmedikus Giovanni Maria Lancisi im Auftrag von Papst Clemens XI. Bekämpfungsmaßnahmen, die er in seinem Buch De bovilla peste von 1715 publizierte. Er führte die Keulung erkrankter Rinder ein und ließ die Tierkörper anschließend mit ungelöschtem Kalk vergraben. Zusätzlich verfügte er die Quarantäne befallener Bestände, ein Verbot von Tiertransporten und eine systematische Fleischbeschau. Zuwiderhandlungen gegen seine Anweisungen wurden vom Kirchenstaat drakonisch bestraft: Laien wurden zum Tod durch Hängen, Mitglieder des Klerus zur Galeerenstrafe verurteilt. Lancisis Bekämpfungsstrategie war beim Volk unbeliebt, führte aber dazu, dass die Rinderpest im Kirchenstaat unter Kontrolle gebracht werden konnte. Als die Krankheit um 1714 nach England eingeschleppt wurde, ließ Thomas Bates betroffene Tiere keulen und vergraben. Der Ausbruch konnte innerhalb von nur drei Monaten unter Kontrolle gebracht werden. Im Gegensatz zum Vorgehen im Kirchenstaat dienten zur Durchsetzung dieser Maßnahmen keine drakonischen Strafen, sondern Entschädigungszahlungen für betroffene Rinderhalter. Weitere schwere Ausbrüche traten zu Beginn des 18. Jahrhunderts in Frankreich (1714) und Preußen (1716) auf. In beiden Ländern wurden Lancisis Methoden ebenfalls erfolgreich angewandt. In anderen Teilen Europas, wo keine staatlichen Kontrollmaßnahmen eingeführt wurden, blieb die Rinderpest weiterhin enzootisch und führte zu schweren Verlusten. Der Krankheit fielen in Europa allein im 18. Jahrhundert etwa 200 Millionen Rinder zum Opfer. Zum Vergleich: 2007 lebten in der gesamten EU 88,75 Millionen Rinder. Die Bedrohung durch die Rinderpest war auch der Auslöser für die Gründung der ersten Ausbildungsstätte für Veterinärmediziner in Lyon durch Claude Bourgelat im Jahr 1761. Die strategische Bekämpfung der Krankheit war einer der wichtigsten Lehrinhalte. In den darauf folgenden Jahren eröffneten andere europäische Länder ebenfalls Tierarzneischulen und staatliche Einrichtungen zur koordinierten Bekämpfung der Seuche. In England wurden keine derartigen Einrichtungen eröffnet. 19. Jahrhundert Die Einführung von Dampfschiff und Eisenbahn im 19. Jahrhundert eröffnete einerseits neue Möglichkeiten des Tiertransports und erleichterte andererseits die Ausbreitung der Rinderpest. Zwischen 1857 und 1866 kam es erneut zu einem großen europäischen Seuchenzug, der besonders im Vereinigten Königreich zu einem nahezu vollständigen Verlust der Rinderbestände führte. Die Rinderpest wurde durch eine Ladung asiatischer Rinder eingeschleppt, die aus dem Hafen von Tallinn nach Hull verschifft worden waren. Von dort aus breitete sich die Seuche rasch über ganz Großbritannien aus. Lancisis und Bates’ Bekämpfungsmethoden waren in England bereits Mitte des 18. Jahrhunderts wieder in Vergessenheit geraten, so dass es mehrere Monate dauerte, bis die Krankheit durch großflächige Keulung wieder eingedämmt werden konnte. Dieser Ausbruch führte 1865 nun auch im Vereinigten Königreich zur Gründung einer staatlichen Veterinärbehörde. 1887 brachte die italienische Armee die Seuche mit indischen Rindern nach Äthiopien, von wo aus sich eine Panzootie über ganz Afrika ausbreitete. 80–90 % aller Rinder starben im subsaharischen Afrika an der Seuche, darüber hinaus gab es große Verluste bei Antilopen, Giraffen und Büffeln. Durch die Dezimierung der Rinder- und Wildwiederkäuerbestände kam vermehrt Buschwerk auf, in dem sich wiederum Tsetsefliegen vermehrten und in der Folge die Bevölkerung vermehrt mit der Schlafkrankheit infizierten. Ein Drittel aller Äthiopier und zwei Drittel der tansanischen Massai starben an den Folgen der Hungersnöte, in den Nachbarländern starben ebenfalls Millionen Menschen. Auch die Hungersnot in Zentralkenia 1899 war zum Teil auf die Folgen dieses Seuchenzugs zurückzuführen. Während die Rinderpest um 1900 im südlichen Afrika wieder zum Erliegen kam, gab es nördlich des Äquators bis in die jüngste Zeit immer wieder Ausbrüche. 20. Jahrhundert und Gegenwart Der Erreger der Rinderpest wurde erstmals 1902 von Maurice Nicolle und Adil Mustafa isoliert und als Virus identifiziert. Die letzten großen Ausbrüche in Europa traten 1913 während des Zweiten Balkankrieges in Bulgarien und 1920 in Belgien auf. Dem belgischen Ausbruch fielen aufgrund aufwändiger seuchenhygienischer Maßnahmen aber nur 2000 Rinder zum Opfer. Der Ausbruch war auf eine Herde infizierter Zebus zurückzuführen, die auf dem Weg von Indien nach Brasilien in der Hafenstadt Antwerpen erkrankt waren. Unter dem Eindruck dieses Seuchenausbruchs gründete der Völkerbund das Office International des Epizooties (OIE), das als Weltorganisation für Tiergesundheit bis heute besteht. Noch in den 1980er Jahren kam es in Nigeria zu Ausbrüchen. 1993 war der Erreger noch in Somalia, Äthiopien, Jemen und Pakistan weit verbreitet. Im Nahen Osten gab es bis in die 1990er Jahre immer wieder Ausbrüche durch aus Nordafrika und vom indischen Subkontinent importierte Rinder. In der Türkei kam es im September 1991 zu einem schweren Seuchenzug mit 2700 gestorbenen Rindern. Durch die Schlachtungen von 12.000 Rindern und die Impfung von 12,5 Millionen weiteren Rindern konnte die Epizootie nach vier Monaten wieder eingedämmt werden. 1994 lancierten OIE und FAO mit dem Global Rinderpest Eradication Program (GREP) eine globale Initiative zur Ausrottung der Rinderpest, bestehend aus flächendeckenden Impfkampagnen, Keulungen, Monitoring und Surveillance der Rinder- und Wildtierpopulationen in den Enzootiegebieten. Die EU beteiligte sich mit dem PARC-Programm (Pan African Rinderpest Campaign). In Indien trat der letzte Fall 1995 auf, in Pakistan 2000; danach galt Asien als frei von Rinderpest. Der letzte Ausbruch beim Hausrind trat 2001 in Kenia auf; bei Wildtieren verschwanden die letzten Naturherde im Grenzgebiet zwischen Somalia, Äthiopien und Kenia im Jahr 2007. Die Ausrottung wurde dadurch erleichtert, dass sich die Rinderpest in afrikanischen Wildtieren nur bei gleichzeitiger Anwesenheit domestizierter Rinder dauerhaft halten kann. Der Erreger existiert zurzeit noch in einer Reihe von Forschungslabors. OIE und FAO haben die Krankheit am 25. Mai 2011 in einer gemeinsamen Erklärung formell für ausgerottet erklärt. Eine zweite Erklärung der Ausrottung durch die FAO wurde am 28. Juni 2011 veröffentlicht. Erreger Das Rinderpestvirus ist ein Erreger aus der Gattung Morbillivirus und befällt bevorzugt Epithelzellen und Lymphozyten. Es ist eng verwandt mit dem Masern- und dem Hundestaupevirus und wird als Vorgängervirus des Masernvirus, womöglich sogar aller anderen Morbilliviren angesehen. Der Erreger kann bis zu fünf Monate in Heu, Stroh oder in der Erde überleben, wird in Dung oder Stallanlagen aber durch Fäulnisprozesse innerhalb von 24 Stunden inaktiviert. Krankheitsverbreitung (Epizootiologie) Hauptwirt des Rinderpestvirus sind Hausrinder. Die Infektion kann außerdem Schafe, Ziegen und alle anderen Wiederkäuer befallen. Auch gewisse andere Paarhufer sind empfänglich: Einige asiatische Schweinerassen können an Rinderpest erkranken, unter den Wildtieren können auch Flusspferde befallen werden. Erkrankungen beim Menschen wurden bisher nicht beobachtet. Das Virus verursacht keine persistierende Infektion, infizierte Tiere sterben entweder oder können das Virus durch eine Immunreaktion eliminieren. Allerdings kann die Infektion in Enzootiegebieten auch subklinisch (unterschwellig) verlaufen, so dass klinisch normale Tiere in solchen Gebieten das Virus für einige Zeit ausscheiden können, ohne selbst an Rinderpest zu erkranken. Ein bis zwei Tage vor den ersten Symptomen beginnt die Virusausscheidung durch das Nasensekret. Nach Ausbruch der Krankheit sind während etwa einer Woche alle Sekrete und Exkrete infektiös, danach nimmt die Virusausscheidung aufgrund der einsetzenden spezifischen Immunantwort rapide ab. Die Übertragung erfolgt durch direkten oder engen indirekten Kontakt, wobei das Virus über die Mandeln in den Körper eindringt. Pathogenese Das Virus vermehrt sich nach der Infektion in den Rachenmandeln und verbreitet sich über das lymphatische System im ganzen Körper. Danach dringt es durch die Blutbahn in die Schleimhäute des Atem- und Verdauungstrakts ein und zerstört die Epithelzellen. Diese durch das Virus verursachten Schäden führen zu Erosionen und Nekrosen der Schleimhäute des Mauls, des Verdauungstrakts sowie der oberen Atemwege; es kommt zu Blutungen in den Darm, Schwellungen und Nekrosen des Lymphsystem des Darms und durch die Zerstörung des Epithels auch zu bakteriellen Sekundärinfektionen. Letztere werden auch durch virusbedingte Zerstörung der B- und T-Lymphozyten begünstigt, die zu einer Schwächung der Immunabwehr führt. Diese lymphotrope Komponente tritt allerdings nur bei einigen Rinderpestvirusstämmen auf. Klinisches Bild Die Inkubationszeit beträgt 3 bis 15 Tage. Die Krankheit beginnt bei Rindern und Büffeln mit einem Prodromalstadium, das durch hohes Fieber (bis 42 °C), Appetitlosigkeit und allgemeine Schwäche gekennzeichnet ist. Ein bis zwei Tage später zeigen die befallenen Tiere Schwellungen der Schleimhäute sowie Augen- und Nasenausfluss. Innerhalb von zwei bis drei Tagen kommt es zu Erosionen der Schleimhaut im Maulbereich, die sich durch Fibrinabsonderung schnell zu käsigen Plaques („Pseudomembranen“) vergrößern. Der Augen- und Nasenausfluss wird wegen Sekundärinfektionen schleimig-eitrig (mukopurulent) bis eitrig; das Flotzmaul erscheint trocken und schrundig. In diesem Stadium tritt wegen der Schädigung der Darmschleimhaut durch das Virus nun auch starker, wässrig-schleimig-blutiger Durchfall auf. Die Tiere haben starke Bauchschmerzen, Durst und Atemprobleme und sterben in der Regel nach vier bis sieben Tagen an Austrocknung. Bei perakuten Verläufen können Todesfälle bereits nach 2–3 Tagen ohne Schleimhautveränderungen auftreten. Bei Schafen und Ziegen können akute und subakute, aber auch latente Verläufe auftreten. Die Symptome ähneln denen bei Rindern, die Krankheit verläuft aber meistens schneller und oft auch ohne Erosionen der Maulschleimhaut. Bei akuten Infektionen stehen Atemwegsprobleme im Vordergrund (Nasenausfluss und Lungenentzündungen mit Husten). Sie enden entweder nach etwa einer Woche tödlich oder die Tiere erholen sich binnen zweier Wochen. Subakute Verläufe sind bei Schafen und Ziegen am häufigsten und sind durch Fieberschübe ohne sonstige Symptome gekennzeichnet. Erkrankungen von Hausschweinen treten nur bei asiatischen Schweinerassen auf. Sie ähneln denen bei Rindern. Akute Verläufe sind durch Schleimhauterosionen, blutigen Durchfall und Nasenausfluss, Erbrechen und Aborte gekennzeichnet. Subakute Infektionen mit Fieber, Appetitlosigkeit und vorübergehenden Hautreaktionen können ebenfalls auftreten. Überlebt ein Tier die Infektion, bleibt es lebenslang gegen Rinderpest immun. Die Rekonvaleszenz geschieht nur langsam und kann durch Sekundärinfektionen und die durch das Virus verursachte Immunschwäche kompliziert werden. In den Enzootiegebieten ist die Morbidität und Letalität gering, bei einer Epizootie in einem Rinderbestand, der bisher keinen Kontakt mit dem Virus hatte, können dagegen alle Tiere erkranken und bis zu 90 % sterben. So war die Mortalität in Asien niedrig, in Afrika während des Seuchenzugs 1889 bis 1896 dagegen hoch, weil sich unter den dort lebenden Rinderrassen kaum genetisch fixierte Abwehrmechanismen hatten herausbilden können. Pathologie Pathologisch-anatomisch fallen vor allem Krusten und Erosionen der Maulschleimhaut auf, die sich bis in die Speiseröhre erstrecken können. Die Vormägen sind selten betroffen, gelegentlich zeigen sich Erosionen im Bereich der Pansenpfeiler. Der Pylorus des Labmagens zeigt häufig blutige Erosionen und nekrotische Herde. Der Dünndarm kann ebenfalls solche Veränderungen zeigen, aber meist geringer ausgeprägt. Die Peyer-Platten sind geschwollen und zeigen Blutungen und Nekroseherde. Am Dickdarm sind die Veränderungen am stärksten, hier finden sich streifenförmige Veränderungen, die durch stark erweiterte und blutgefüllte Kapillaren in der Lamina propria der Schleimhautfalten entstehen („Zebrastreifen“), sowie blutende Schleimhauterosionen. Die Leber kann Stauungserscheinungen zeigen. In der Gallen- und Harnblase finden sich häufig Blutungen. Die Lymphknoten der Bauchhöhle sind geschwollen und ödematös. Die Nasenmuscheln sind geschwollen, weisen Petechien und teilweise Erosionen auf. Die Lungen sind bei Rindern oft unverändert, bei Schafen und Ziegen findet sich dagegen häufig eine Bronchopneumonie. Diagnose In Enzootiegebieten sind die klinischen Erscheinungen für eine Verdachtsdiagnose normalerweise ausreichend; ebenso während Ausbrüchen in normalerweise nicht betroffenen Populationen, sofern das Virus in diesen nachgewiesen werden konnte. Proben sollen bevorzugt vor dem Einsetzen von Durchfall entnommen werden. Geeignete Gewebe sind Blut, Lymphgewebe, Milz und Darm, die bei 4 °C oder auf Eis ins Labor transportiert werden sollten. Der Verdacht auf Rinderpest ist unverzüglich dem Amtstierarzt zu melden, der auch entsprechende diagnostische, Schutz- und Bekämpfungsmaßnahmen einleitet. Die Untersuchung der Proben erfolgt im jeweiligen Referenzlabor des Landes: in Deutschland im Friedrich-Loeffler-Institut, in der Schweiz im Institut für Virologie und Immunologie (IVI). Der indirekte Nachweis einer Rinderpest-Infektion erfolgt durch den Nachweis spezifischer Antikörper in befallenen Tieren mittels Enzyme-linked Immunosorbent Assay (ELISA), der auch als Schnelltest verfügbar ist. Der indirekte Nachweis ist nur in Gebieten sinnvoll, in denen die Krankheit nicht enzootisch ist. Die Polymerase-Kettenreaktion (PCR) kann zum direkten Virusnachweis und zur genauen Genomanalyse durchgeführt werden und erlaubt auch Rückschlüsse auf die Herkunft des Erregers. Weitere Möglichkeiten sind der elektronenmikroskopische Nachweis des Erregers, Immunfluoreszenztest, Immunhistochemie (Peroxidase), Agar-Gel-Immunodiffusion, Immunelektrophorese und passive Hämagglutination. Die Rinderpest gehört zu den anzeigepflichtigen Tierseuchen. Als Differenzialdiagnosen kommen BVD/MD, Küstenfieber, Maul- und Klauenseuche, Infektiöse Bovine Rhinotracheitis, Vesikulärstomatitis und Bösartiges Katarrhalfieber in Frage. Bei Schafen und Ziegen muss auch die Pest der kleinen Wiederkäuer in Betracht gezogen werden. Behandlung und Vorbeugung Die Rinderpest kann nur symptomatisch behandelt werden, was nur bei wertvollen Tieren wirtschaftlich sinnvoll sein kann. Gegen den Flüssigkeitsverlust werden Infusionen eingesetzt, die Sekundärinfektionen können mit Antibiotika behandelt werden. Vorbeugend ist eine Schutzimpfung möglich, bei der allen über einjährigen Rindern und domestizierten Wasserbüffeln ein Lebendimpfstoff verabreicht wird. Die einmalige Impfung hinterlässt eine sehr lange Immunität von über elf Jahren, die maternale Immunität (Immunität durch Antikörper der Mutter) bei Kälbern von geimpften oder durch Infektion immunisierten Tieren dauert 6 bis 11 Monate. Der erste breit eingesetzte Impfstoff wurde in den 1960er Jahren vom Briten Walter Plowright entwickelt. In den 1980er Jahren kam ein Impfstoff aus abgeschwächten Viren zum Einsatz, der hitzestabil und damit für tropische Länder besonders gut geeignet war. Allerdings kann im Antikörper-Test nachträglich nicht mehr zwischen infizierten und geimpften Tieren unterschieden werden, weshalb Massenimpfungen heute nicht mehr durchgeführt werden. Bei einem erneuten Ausbruch der Rinderpest bestünde die Bekämpfungsstrategie aus der Keulung erkrankter und exponierter Tiere, strikter Quarantäne, Desinfektionsmaßnahmen und eventuell punktuellen Impfkampagnen. Wirtschaftliche Auswirkungen Es existieren nur wenige Daten zu den wirtschaftlichen Auswirkungen der Rinderpest, wobei die meisten publizierten Studien sich auf einzelne Länder oder sogar einzelne Ausbrüche beschränken. Ein weiteres Problem beim Abschätzen der wirtschaftlichen Auswirkungen liegt darin, dass Studien zu Ausbrüchen in Afrika in der Literatur überproportional vertreten sind, während die wirtschaftlichen Auswirkungen in Asien fast gar nicht untersucht sind. Daten zu den Rinderpopulationen in Afrika und Asien sind zudem ungenau und teilweise auch lückenhaft, was ein Abschätzen der Auswirkungen der Rinderpest ebenfalls erschwert. Am besten untersucht sind die wirtschaftlichen Auswirkungen der Pan African Rinderpest Campaign zwischen 1986 und 1999 in Benin, Burkina Faso, der Elfenbeinküste, Äthiopien, Ghana, Kenia, Mali, Tansania, Senegal und Uganda. Die Kosten der Kampagne in diesen Ländern beliefen sich auf 51,6 Millionen ECU. Ungefähr 123 Millionen Rinder wurden gegen Rinderpest geimpft. Die Kosten pro geimpftes Rind beliefen sich auf durchschnittlich 0,42 ECU, wobei sie zwischen 0,27 ECU in Äthiopien und 1,71 ECU in der Elfenbeinküste variierten. Die als Folge der Kampagne vermiedenen Verluste wurden mit 126.000 Tonnen Rindfleisch, 39.000 Tonnen Milch, 14.000 Tonnen Mist sowie 86.000 Hektar durch den Einsatz der Rinder als Zugtiere bearbeitetes Land bemessen, wobei die zum Abschätzen dieser Resultate verwendete Methode nicht klar ist. Die Auswirkungen dieser verminderten Verluste auf den Handel und die Volkswirtschaft wurden nicht untersucht, so dass diese Schätzung des wirtschaftlichen Nutzens vermutlich zu niedrig ist. Der Geldwert der durch die PARC zwischen 1986 und 1999 vermiedenen Verluste wird mit 99,2 Millionen ECU beziffert. Literatur Wilhelm Dieckerhoff: Die Geschichte der Rinderpest und ihrer Literatur. Berlin 1890. Weblinks Rolf Göttert, Rinderpest im Rheingau, Stadtarchiv Rüdesheim 2001 P. Roeder und K. Rich: The Global Effort to Eradicate Rinderpest. International Food Policy Research Institute, 2009 Gordon R. Scott: The Murrain Now Known As Rinderpest In: Newsletter of the Tropical Agriculture Association, 2000, 20(4):14-16, abgerufen am 11. Februar 2011 Typische „Zebrastreifung“ der Darmschleimhaut bei Rinderpest (abgerufen am 25. Mai 2011) Donald G. McNeil Jr.: Rinderpest, Scourge of Cattle, Is Vanquished. In: The New York Times, 27. Juni 2011. Einzelnachweise Virale Infektionskrankheit bei Wiederkäuern Anzeigepflichtige Tierseuche Tierseuche (EU)
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https://de.wikipedia.org/wiki/Turmfalke
Turmfalke
Der Turmfalke (Falco tinnunculus) ist der am häufigsten vorkommende Falke Mitteleuropas. Der Öffentlichkeit ist er relativ vertraut, da er sich auch Städte und Stadträume als Lebensraum erobert hat und öfter beim „Rüttelflug“ zu beobachten ist (daher auch die verbreitete Bezeichnung Rüttler – nicht zu verwechseln wiederum mit dem Rötelfalken). 2007 war der Turmfalke in Deutschland und 2008 in der Schweiz „Vogel des Jahres“. Name Die wissenschaftliche Artbezeichnung (, „klingend“ oder „schellend“) weist auf den Ruf des Turmfalken hin, der an ein ti, ti, ti, ti erinnert und in Ton und Rufgeschwindigkeit je nach Situation variiert. Die heute im deutschen Sprachgebrauch übliche Bezeichnung Turmfalke weist darauf hin, dass Turmfalken auch menschliche Bauwerke als Brutplatz nutzen und dabei bevorzugt in den obersten Regionen nisten. Neben der Bezeichnung Turmfalke existieren eine Reihe weiterer Trivialbezeichnungen, die regional unterschiedlich sind. Der Name Rüttelfalke (nicht zu verwechseln mit dem ähnlichen Rötelfalken) weist auf den charakteristischen Flug hin; Mauer-, Dom- oder Kirchfalke auf die in menschlichen Siedlungen präferierten Nistgelegenheiten. Die gelegentlich auch gebrauchte Bezeichnung Taubensperber ist allerdings eine Fehlinterpretation des Beutespektrums des Turmfalken. Anders als beim Wanderfalken zählen Tauben nur selten zu den Vogelarten, die von ihm erbeutet werden, da sie als Beutetier für ihn zu groß sind. Ausgestorben ist die Bezeichnung Wannewehr. Erscheinungsbild Gefieder Turmfalken zeigen in ihrem Gefieder einen ausgeprägten Geschlechtsdimorphismus. Das auffälligste Unterscheidungsmerkmal zwischen männlichen und weiblichen Turmfalken ist die Kopffärbung. Bei Männchen ist der Kopf grau, während Weibchen einheitlich rotbraun gefärbt sind. Männchen haben außerdem auf ihrem rotbraunen Rücken kleine schwarze und zum Teil rautenförmige Flecken. Ihre Oberschwanzdecken sowie der Hinterrücken und die Schwanzfedern – der so genannte Stoß – sind gleichfalls hellgrau. Das Stoßende weist eine deutliche schwarze Endbinde mit einem weißen Saum auf. Die Unterseite ist hell cremefarben und nur sehr leicht bräunlich gefleckt oder gestreift. Der Unterbauch und die Unterflügeldecken sind fast weiß. Das ausgewachsene Weibchen ist am Rücken dunkel quer gebändert. Im Unterschied zum Männchen ist der Stoß braun und zeigt zudem mehrere Querstreifen und eine deutliche Endbinde. Auch die Unterseite ist dunkler als beim Männchen und weist eine stärkere Fleckung auf. Jungvögel gleichen in ihrem Gefieder den Weibchen. Allerdings wirken ihre Flügel runder und kürzer als bei adulten Turmfalken. Außerdem weisen die Spitzen der Handschwingen hellere Säume auf. Wachshaut und Augenring, die bei ausgewachsenen Vögeln gelb sind, sind bei Jungvögeln hellblau bis grüngelblich. Bei beiden Geschlechtern ist der Schwanz abgerundet, da die äußeren Schwanzfedern kürzer als die mittleren Schwanzfedern sind. Bei ausgewachsenen Vögeln erreichen die Flügelspitzen das Schwanzende. Die Beine sind sattgelb, die Krallen schwarz. Körperbau Körpergröße und Flügelspannweite variieren je nach Unterart und Individuum stark. Bei der in Europa vertretenen Unterart Falco tinnunculus tinnunculus erreichen Männchen durchschnittlich eine Körperlänge von 34,5 Zentimetern und Weibchen von 36 Zentimetern. Die Flügelspannweite des Männchens beträgt durchschnittlich knapp 75 Zentimeter und bei den größeren Weibchen 76 Zentimeter. Normal ernährte Männchen wiegen im Schnitt etwa 200 Gramm, Weibchen sind durchschnittlich etwa 20 Gramm schwerer. Während Männchen das ganze Jahr über ein in der Regel konstantes Gewicht haben, schwankt das der Weibchen beträchtlich: Sie sind am schwersten während der Legeperiode, in der auch normal ernährte Weibchen mehr als 300 Gramm wiegen können. Gewicht der Weibchen und Bruterfolg sind dabei positiv korreliert: Schwere Weibchen haben größere Gelege und sind erfolgreicher bei der Aufzucht ihrer Jungen. Flugbild Der Turmfalke ist während seines auffälligen Rüttelfluges gut erkennbar. Diesen nutzt er zur Beutesuche. Er bleibt dabei in einer Höhe von 10 bis 20 Metern an einer Stelle in der Luft stehen und späht nach geeigneter Beute. Der Flügelschlag ist schnell, der Schwanz meist breit gefächert und etwas nach unten geknickt. Auf- und Niederschlag erfolgen in einer weitgehend waagerechten Ebene und bewegen etwa gleich große Luftmengen. Hat er ein potentielles Beutetier, etwa eine Wühlmaus, gesehen, stürzt er im Sturzflug darauf zu und greift es, wobei er kurz vor dem Boden abbremst. Das schnelle Anfliegen seines Jagdgebietes, der Streckenflug, ist durch einen schnellen, etwas hastig wirkenden Flügelschlag gekennzeichnet. Bei günstigem Wind oder bei Annäherung an ein Beutetier kann er aber auch gleiten. Lautäußerungen Untersuchungen haben gezeigt, dass sich bei Weibchen elf und bei Männchen über neun unterschiedliche Lautäußerungen differenzieren lassen. Die Rufe lassen sich in wenige Grundmuster unterteilen, deren Lautstärke, Tonhöhe und Frequenz je nach Situation variiert. Sowohl das Weibchen als auch das Männchen variieren dabei unter anderem den Bettelruf der Jungvögel, der auch als Lahnen bezeichnet wird. Besonders von Weibchen ist dieses Lahnen während der Balz zu hören oder wenn sie ihre Männchen während der Brutzeit um Futter anbetteln. Das ti, ti, ti, das von manchen Autoren auch lautsprachlich als kikiki umschrieben wird, ist ein Erregungslaut, der vor allem dann zu hören ist, wenn die Vögel am Nest gestört werden. Varianten dieses Rufes treten auch kurz bevor das Männchen die Beute am Nest übergibt auf. Die Lautäußerungen des Turmfalken sind auf einer Seite von lbv.de zu hören. Verbreitung Als ein charakteristisches Beispiel für eine altweltliche Verbreitung ist der Turmfalke in Europa, Asien und Afrika zu finden, wo er fast alle Klimazonen der paläarktischen, der äthiopischen und der orientalischen Region besiedelt. Er ist eher im Flachland anzutreffen. Innerhalb dieses großen Verbreitungsgebiets wird eine Reihe von Unterarten beschrieben, deren Anzahl je nach Autor schwankt. Die folgende Unterartengliederung folgt im Wesentlichen Piechocki (1991): Falco tinnunculus tinnunculus , 1758 ist die Nominatform, die fast die gesamte Paläarktis bewohnt. Ihr Brutareal reicht in Europa von 68° N in Skandinavien und 61° N in Russland über die Inseln des Mittelmeers bis nach Nordafrika. Sie ist auch auf den Britischen Inseln verbreitet. F. t. alexandri , 1955 ist auf den südlichen Kapverdischen Inseln beheimatet, F. t. neglectus kommt auf den nördlichen Kapverdischen Inseln vor. Beide Unterarten sind kräftiger gefärbt als die Nominatform und zeichnen sich durch ein kleineres Flügelmaß aus. F. t. canariensis (, 1890) bewohnt die westlichen Kanarischen Inseln und kommt außerdem auf Madeira vor. F. t. dacotiae lebt dagegen auf den östlichen Kanarischen Inseln. F. t. rupicolaeformis (, 1855) ist von Ägypten und dem nördlichen Sudan bis zur Arabischen Halbinsel zu finden. F. t. interstinctus , 1840 lebt in Japan, Korea, China, Burma, Assam und im Himalaya. F. t. rufescens , 1837 bewohnt die afrikanischen Savannen südlich der Sahara bis nach Äthiopien. F. t. archeri & , 1932 kommt in Somalia und an der südlichen Küste Kenias vor. F. t. rupicolus , 1800 ist von Angola aus in östlicher Richtung bis nach Tansania und in südlicher Richtung bis zum Kapland verbreitet. Wird heute als eigene Art Falco rupicolus geführt. F. t. objurgatus (, 1927) kommt im südlichen und westlichen Indien sowie auf Sri Lanka vor. Das International Ornithological Committee führt zusätzlich: F. t. perpallidus (, 1907) kommt im Nordosten Sibiriens über den Nordosten China und Korea vor. F. t. dacotiae , 1913 ist auf den Kanarischen Inseln verbreitet. F. t. neglectus , 1873 kommt im Norden der Kapverdischen Inseln vor. Überwinterungsgebiete Mit Hilfe der Vogelberingung konnte das Zugverhalten von Turmfalken weitgehend entschlüsselt werden. Aufgrund zahlreicher Ringfunde weiß man, dass Turmfalken sowohl Stand-, Strich- als auch ausgeprägte Zugvögel sein können. Ihr Zugverhalten ist im Wesentlichen von dem Nahrungsangebot geprägt, das ihnen in ihren jeweiligen Brutarealen zur Verfügung steht. Die Turmfalken, die in Skandinavien oder im Baltikum brüten, ziehen im Allgemeinen nach Südeuropa, um dort den Winter zu verbringen. In Jahren, in denen eine Wühlmaus-Gradation vorlag und damit das Nahrungsangebot sehr reichlich war, wurden im Südwesten Finnlands Turmfalken beobachtet, die dort ebenso überwinterten wie Raufuß- und Mäusebussarde. Südschwedische Vögel überwintern meist in Polen, Deutschland, Belgien und Nordfrankreich. Detaillierte Untersuchungen haben gezeigt, dass in Zentralschweden brütende Vögel bis Spanien und teilweise sogar bis Nordafrika ziehen. Die Brutvögel Deutschlands, der Niederlande und Belgiens sind überwiegend Stand- und Strichvögel. Nur wenige Individuen unternehmen weite Wanderungen und überwintern in den Regionen, in denen sich auch die Brutvögel Skandinaviens einfinden. Die in Nordasien und Osteuropa brütenden Vögel ziehen nach Südwesten, wobei die jüngeren Vögel offenbar am weitesten ziehen. Zu ihrem Überwinterungsgebiet zählt neben Südeuropa auch Afrika, wo sie bis in Gebiete ziehen, in denen der tropische Regenwald beginnt. Die Vögel, die im europäischen Teil Russlands brüten, nutzen auch das östliche Mittelmeergebiet zur Überwinterung. Die Überwinterungsgebiete asiatischer Populationen reichen vom Kaspigebiet und dem südlichen Zentralasien bis in den Irak und den nördlichen Iran. Auch der nördliche Teil Vorderindiens zählt dazu. Auch für die asiatischen Populationen gilt, dass die Vögel Stand- und Strichvögel sind, wenn ihnen ihr Lebensraum auch während des Winters ausreichend Jagdbeute bietet. Zugverhalten Turmfalken sind sogenannte Breitfrontzieher, die keinen traditionellen Zugrouten folgen und überwiegend einzeln ziehen. So zogen über die Meerenge von Gibraltar unter 210.000 Greifvögeln und Falkenartigen im Jahre 1973 fast 121.000 Wespenbussarde, aber nur 1237 Turmfalken. In dieser Zahl zeigt sich zum einen, dass die in Mitteleuropa so häufigen Vögel nur zu einem kleinen Teil in Afrika überwintern, und zum anderen, dass sie in breiter Front das Mittelmeer überqueren. Während des Zuges fliegen Turmfalken relativ niedrig und halten sich meist in einer Flughöhe von 45 bis 100 Metern auf. Sie setzen ihren Zug auch bei schlechtem Wetter fort und sind anders als viele Greifvögel nicht auf gute Thermik angewiesen. Sie überqueren daher auch die Alpen, die von auf Thermik angewiesenen Greifvögeln wie dem Mäusebussard nur selten überquert werden. Bei ihrer Alpenüberquerung nutzen sie überwiegend Pässe, sie überfliegen aber auch Gipfel und Gletscher. Lebensraum Typische Lebensräume des Turmfalken Der Turmfalke ist eine anpassungsfähige Art, die in unterschiedlichen Lebensräumen zu finden ist. Generell meiden Turmfalken sowohl dichte geschlossene Waldbestände als auch völlig baumlose Steppen. In Mitteleuropa ist er ein häufiger Vogel der Kulturlandschaft, der überall dort leben kann, wo Feldgehölze oder Waldränder vorhanden sind. Grundsätzlich benötigt er zum Jagen freie Flächen mit niedrigem Bewuchs. Dort, wo Bäume fehlen, nutzt er die Masten von Starkstromleitungen als Nistplatz. Aus den 1950er Jahren ist ein Fall von den Orkneyinseln belegt, wo er sogar auf vegetationslosem Boden brütete. Neben dem Vorhandensein von Nistgelegenheiten ist es vor allem das Vorhandensein von Beutetieren, das beeinflusst, welche Lebensräume vom Turmfalken besetzt werden. Sofern Beutetiere ausreichend vorhanden sind, zeigt er eine große Anpassung an unterschiedliche Höhen. So besteht im Harz und im Erzgebirge ein Zusammenhang zwischen dem Auftreten seines dortigen Hauptbeutetiers, der Feldmaus, und den Höhenlagen, bis zu denen Turmfalken zu beobachten sind. Im Harz ist er in Höhenlagen über 600 Meter über NN zunehmend seltener zu beobachten und tritt ab 900 Meter kaum noch auf. In den Alpen dagegen, wo er ein anderes Beutespektrum nutzt, kann man ihn auf den Bergweiden noch in 2000 Meter Höhe bei der Jagd beobachten. Im Kaukasus wurde er noch in Höhenlagen bis zu 3400 Metern beobachtet, im Pamir auch über 4000 Metern. In Nepal kommt er vom Tiefland bis in 5000 Meter vor, in Tibet hat man ihn in Hochgebirgszonen bis 5500 Meter beobachtet. Turmfalken als Kulturfolger Der Turmfalke hat auch Stadtlandschaften als Lebensraum erobert. Er profitiert dabei davon, dass Jagd- und Bruthabitat nicht identisch sein müssen. In Städten brütende Falken müssen allerdings häufig weit fliegen, um Mäuse zu erjagen. So legen die im Turm der Frauenkirche in München brütenden Turmfalken je Maus jeweils mindestens drei Flugkilometer zurück. Untersuchungen lassen darauf schließen, dass Turmfalken eine Entfernung bis zu fünf Kilometer zu ihren Jagdplätzen tolerieren. Bei einer Reihe von in der Stadt brütenden Individuen zeigt sich aber eine Veränderung in der Jagdform und im Beutespektrum, die ausführlicher im Abschnitt Jagdformen beschrieben ist. Ein Beispiel für eine von Turmfalken bevölkerte Stadt ist Berlin. Die Berliner Fachgruppe Turmfalken des Naturschutzbundes Deutschland beschäftigt sich seit Ende der achtziger Jahre mit diesen Tieren im städtischen Habitat. Im Schnitt schwankt der Bestand in Berlin zwischen 200 und 300 Brutpaaren und bricht besonders nach harten Wintern stark ein. Der Bestand wird durch den Einbau von Nisthilfen in öffentlichen Gebäuden wie Kirchen, Schulen oder Rathäusern gestützt. „Natürliche“ Nistmöglichkeiten in Mauernischen sind vor allem an alten Bauwerken zu finden. Diese werden jedoch zunehmend saniert. Moderne Hochhausbauten weisen meist zu wenig Mauerlöcher und Höhlungen auf, um dem Turmfalken als Nistmöglichkeit zu dienen. Entsprechend brüten in Berlin mittlerweile etwa 60 Prozent der Vögel in gezielt für sie ausgebrachten Nisthilfen. Die Stadt birgt Gefahren für die Tiere. So fallen regelmäßig Falken Autounfällen zum Opfer oder prallen gegen Scheiben. Jungfalken können aus der Nistnische fallen und werden geschwächt aufgefunden. Bis zu 50 Tiere werden jährlich in den beiden Stationen der Berliner Fachgruppe Turmfalken betreut. Nahrung und Nahrungserwerb Beutetiere Im offenen Kulturland lebende Turmfalken ernähren sich überwiegend von Kleinsäugern wie Wühlmäusen und anderen Mäusen. In Städten lebende Turmfalken nehmen daneben auch kleine Singvögel, meist Haussperlinge. Welche Tiere den Hauptteil der Beute ausmachen, ist abhängig von den lokalen Gegebenheiten. Untersuchungen auf der Insel Amrum haben gezeigt, dass Turmfalken dort bevorzugt Schermäuse jagen. Anders als in europäischen Großstädten kann die Feldmaus in kleineren Städten den Hauptanteil an der Beute ausmachen. Der Turmfalke nimmt auch mitunter Eidechsen (mit größerem Anteil in südeuropäischen Ländern), teilweise Regenwürmer und einen deutlichen Anteil an Insekten wie Heuschrecken und Käfer als Nahrung. Auf diese Beutetiere greifen brütende Turmfalken zurück, wenn die Kleinsäugerbestände zusammenbrechen. Auch ausgeflogene Jungvögel ernähren sich zuerst von Insekten und größeren Wirbellosen und wechseln erst mit zunehmender Jagderfahrung zu Kleinsäugern. Ein frei fliegender Turmfalke benötigt täglich etwa 25 % seines Körpergewichts als Nahrungsmenge. An verunfallten Vögeln durchgeführte Untersuchungen haben gezeigt, dass Turmfalken im Schnitt etwa zwei anverdaute Mäuse im Magen haben. Ansitzjagd, Rüttelflug und Luftjagd Der Turmfalke ist ein sogenannter Griffhalter, der seine Beute mit den Fängen packt und durch einen Biss in den Nacken tötet. Die Jagd erfolgt teilweise als sogenannte Ansitzjagd, bei der der Falke von Weidepfählen, Telegrafenmasten oder Ästen aus nach Beute späht. Typisch für den Turmfalken aber ist der Rüttelflug. Dies ist eine hochspezialisierte Form des Ruderfluges, bei der der Falke eine Zeit lang über einem bestimmten Ort in der Luft „steht“. Diese Flugform, bei der der Vogel heftig mit den Flügeln schlägt, ist energetisch aufwendig. Bei stärkerem Gegenwind hat der Turmfalke dabei ein Verhalten entwickelt, mit dem er Energie spart. Während der Kopf über dem Fixpunkt bleibt, lässt er seinen Körper innerhalb von Bruchteilen von Sekunden lang nach hinten gleiten, bis der Hals maximal gestreckt ist. Mit Flügelschlägen fliegt er dann wieder aktiv nach vorne, bis der Hals wieder maximal gekrümmt ist. Der Energiegewinn gegenüber einem kontinuierlichen Rütteln beträgt 44 %. Der Rüttelflug wird immer über solchen Stellen ausgeführt, auf denen aufgrund der für sie erkennbaren Urinspuren besonders viele Beutetiere zu vermuten sind. Die Luftjagd wird von Turmfalken nur unter besonderen Bedingungen praktiziert. Sie kommt vor, wenn in Städten lebende Turmfalken Singvogelschwärme überraschen können, sowie auf landwirtschaftlich genutzten Flächen, wenn sich dort größere Trupps kleiner Vögel einfinden. Einige Stadtfalken scheinen sich zu einem großen Teil auf die Vogeljagd umgestellt zu haben, um in städtischen Habitaten zu überleben. Zumindest einzelne Individuen erbeuten regelmäßig die Nestlinge verwilderter Haustauben. Gelegentlich kann man auch junge Turmfalken beobachten, wie sie auf frisch gepflügten Äckern nach Regenwürmern suchen. Optimierung des Energieaufwands – die Jagdformen im Vergleich Im Winter wird die Ansitzjagd am häufigsten praktiziert. In Großbritannien verbrachten Turmfalken im Januar und Februar 85 % ihrer Jagdzeit mit der Ansitzjagd und nur 15 % im Rüttelflug. In den Monaten von Mai bis August wird auf beide Jagdformen gleich viel Zeit aufgewendet. Die Ansitzjagd ist dabei zumindest zeitweilig die unergiebigere Jagdform; nur 9 % der Stöße auf Beutetiere waren im Winter erfolgreich und 20 % der Stöße im Sommer. Bei der Rütteljagd dagegen erbeutet der Turmfalke während des Winters in 16 % der Stöße Beute, während es im Sommer 21 % sind. Entscheidend für den Wechsel der Jagdform ist jedoch der Energieaufwand, der mit der Rütteljagd verbunden ist. Im Sommer ist der Energieaufwand bei beiden Jagdformen für jede erbeutete Maus gleich hoch. Im Winter dagegen ist der Energieaufwand der Ansitzjagd pro erbeuteter Maus trotz der niedrigeren Erfolgsquote nur halb so groß wie der beim Rüttelflug. Mit dem Wechsel der Jagdform optimiert der Turmfalke damit seinen Energieaufwand. Fortpflanzung Balz Die Balzflüge der Turmfalken lassen sich in Mitteleuropa von März bis April beobachten. Die Männchen vollführen dabei ruckartige Flügelschläge, drehen sich halb um die Längsachse und gleiten danach in raschem Gleitflug nach unten. Während dieser Flüge, die vor allem der Revierabgrenzung dienen, ist ein erregtes Rufen zu hören. Die Aufforderung zur Paarung geht überwiegend vom Weibchen aus, das sich in der Nähe des Männchens niederlässt und ein vom Bettelruf der Jungen abgeleitetes Lahnen hören lässt. Nach der Begattung fliegt das Männchen zu dem von ihm ausgewählten Brutplatz und lockt das Weibchen mit hellen zick-Rufen. In der Horstmulde zeigt das Männchen zwei unterschiedliche Balzverhalten, die ineinander übergehen. Unter lauten zick-Rufen legt sich das Männchen in die Horstmulde, als wolle es brüten, scharrt mit den Fängen und vertieft dabei die Brutmulde. Erscheint das Weibchen am Horstrand, richtet sich das Männchen wieder auf und zeigt ein erregtes Auf- und Niederwippen. Normalerweise bietet er dabei eine in der Horstmulde zuvor platzierte Beute mit dem Schnabel an. Brutplatz Turmfalken sind vor allem Felsbrüter, die in entsprechend felsigen Regionen bevorzugt in Spalten und Höhlen brüten. Wie alle Falken bauen auch Turmfalken keine Nester. In felsarmen Regionen nutzt der Turmfalke die Nester anderer Vogelarten wie beispielsweise von Krähen. In der Regel ist der Turmfalke zu schwach, um Krähen von ihren frisch gebauten Nestern zu vertreiben, sodass er in der Regel vorjährige und verlassene Nester nutzt. Es wurden vereinzelt Fälle beschrieben, in denen Turmfalken verwilderte Haustauben von ihren Nestern vertrieben. Gebäudenischen oder Mauerlöcher dienen dem Kulturfolger Turmfalke als Nistplätze; häufig nisten sie in Kirchtürmen oder an Hochhäusern. Er nutzt dabei die obersten Regionen der Vertikalstruktur von Bauwerken, wo er Gefahren am wenigsten ausgesetzt ist. Ist das Nahrungsangebot in einem Lebensraum reichlich, kann es ähnlich wie beim Rötelfalken zu regelrechten Brutkolonien kommen. Aus dem Erdinger Moos in der Nähe von München ist aus den 1930er Jahren eine Kolonie belegt, wo 20 Paare Saatkrähen und 15 Turmfalkenpaare in größter Nähe zueinander brüteten. Die Turmfalken nutzten dabei verlassene Saatkrähennester. Nur das unmittelbare Nistterritorium wird vom Turmfalken scharf verteidigt. Aufzucht der Jungen Der bereits im 2. Lebensjahr brütende Turmfalke legt meist 3 bis 6 Eier, in der Regel ab Mitte April. Die ockergelblich bis braunen Eier sind meist stark gefleckt und zwischen 3,4 und 4,4 Zentimeter lang. Das Weibchen brütet die Eier überwiegend allein aus. Die Jungen schlüpfen nach etwa 27 bis 29 Tagen. In den ersten Tagen hudert das Weibchen die Jungvögel fast ständig und verlässt sie nur für den kurzen Zeitraum, der notwendig ist, um vom Männchen die Nahrung zu übernehmen. Handelt es sich dabei um Mäuse, füttert das Weibchen ihren Nachwuchs vor allem mit Muskelfleisch, während sie selber den Darm und das übrig bleibende Fell frisst. Haben die Jungvögel ihre zweite Lebenswoche vollendet, stellt das Weibchen zunehmend das Hudern ein. Beide Elternvögel versorgen dann unabhängig voneinander die Jungvögel mit Nahrung. In diesem Alter beginnen Jungvögel auch, die ersten Stehversuche zu machen. Am Ende der dritten Lebenswoche haben die Nestlinge das Körpergewicht eines ausgewachsenen Turmfalken erreicht. Der Wechsel vom Daunenkleid ins Gefieder der Jungvögel ist dagegen erst mit der vierten Lebenswoche abgeschlossen. Wie bei allen Falken sind auch junge Turmfalken untereinander kaum aggressiv, die Verluste durch Auseinandersetzungen zwischen den Jungvögeln sind daher sehr gering, zumal die Eltern bei der Fütterung der Jungvögel darauf achten, dass alle von der Nahrung abbekommen. Wenn die Jungvögel in fortgeschrittenem Alter sind, legen die Altvögel die Nahrung meist nur noch bei den Jungvögeln ab, die dann selber fressen. Dabei kann es bei Nahrungsmangel zu ungleicher Verteilung kommen. Die schwächsten Jungvögel haben dann geringere Chancen, an ausreichend Nahrung zu kommen, und können in schlechten Jahren noch am Brutplatz sterben. Lebenserwartung Die ältesten frei lebenden Turmfalken, deren Alter man anhand ihrer Beringung nachweisen konnte, erreichten ein Alter von 18 Jahren. Die Wahrscheinlichkeit, dass ein Jungvogel sein erstes Lebensjahr überlebt, liegt bei etwa 50 Prozent. Eine hohe Sterberate ist in den Monaten Januar und Februar zu verzeichnen, wenn sowohl ausgewachsene Vögel als auch Jungvögel gelegentlich verhungern, weil die Witterungsbedingungen ihre Jagd zu sehr einschränken. Bestand Der Bestand an Turmfalken war in Mitteleuropa über viele Jahrzehnte weitgehend stabil. Nur nach sehr kalten Wintern oder schlechten Mäusejahren kam es kurzzeitig zu Bestandseinbußen, die aber gewöhnlich schnell wieder ausgeglichen wurden. Zu erheblichen Bestandsrückgängen kam es in weiten Teilen Mitteleuropas ab den 1960er Jahren. Die größten Rückgänge und die niedrigste Brutdichte waren dabei in intensiv bewirtschafteten und ausgeräumten Kulturlandschaften zu verzeichnen. Der Tiefstand des Bestandes war Mitte bis Ende der 1980er Jahre zu verzeichnen. Infolge einer Reihe warmer und trockener Sommer sowie bestandsstützender Maßnahmen wie der Ausbringung von Nistkästen und des Rückgangs des Pestizideinsatzes kam es wieder zu deutlichen Erholungen. Für Deutschland wurde der Bestand zu Beginn des 21. Jahrhunderts auf 42.000 bis 68.000 Paare geschätzt. Damit ist Deutschland das mitteleuropäische Land, das den höchsten Bestand aufweist. In Österreich brüten zwischen 5.000 und 10.000 Paare, in der Schweiz kommen zwischen 3.000 und 5.000 Brutpaare vor. Für den weltweiten Bestand gibt es keine gesicherten Angaben, die IUCN gibt als groben Schätzwert etwa 5 Millionen Individuen an. Weltweit gilt die Art laut IUCN als ungefährdet. Nach der aktuellen Roten Liste Deutschlands gilt ihr Bestand ebenfalls als ungefährdet. Mensch und Turmfalke Vogel des Jahres Der Turmfalke war in Deutschland und Österreich Vogel des Jahres 2007, in der Schweiz 2008, ebenso wie 2006 in Lettland, 2009 in Luxemburg, 2010 in Belarus und 2016 in Armenien. Literatur Hans-Günther Bauer, Einhard Bezzel, Wolfgang Fiedler (Hrsg.): Das Kompendium der Vögel Mitteleuropas: Alles über Biologie, Gefährdung und Schutz. Band 1: Nonpasseriformes – Nichtsperlingsvögel. Aula-Verlag Wiebelsheim, Wiesbaden 2005, ISBN 3-89104-647-2. Benny Génsbol, Walther Thiede: Greifvögel. Alle europäischen Arten, Bestimmungsmerkmale, Flugbilder, Biologie, Verbreitung, Gefährdung, Bestandsentwicklung. BLV, München 2004, ISBN 3-405-16641-1. Theodor Mebs: Greifvögel Europas – Biologie – Bestandsverhältnisse – Bestandsgefährdung. Franckh-Kosmos, Stuttgart 2002, ISBN 3-440-06838-2. Rudolf Piechocki: Der Turmfalke. Ziemsen, Wittenberg 1991, ISBN 3-7403-0257-7. Weblinks Turmfalken-Info beim LBV Javier Blasco-Zumeta, Gerd-Michael Heinze: Geschlechts- und Altersbestimmung (PDF-Datei, englisch) Liveübertragung aus dem Wasserturm des Vivantes Klinikum Berlin-Neukölln Livekameras auf dem Berliner Corbusierhaus Federn des Turmfalken Video eines rüttelnden Turmfalken mit Turmfalkenrufen Einzelnachweise Falkenartige Vogel des Jahres (Deutschland) Vogel des Jahres (Schweiz) Wikipedia:Artikel mit Video Vogel des Jahres (Österreich)
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https://de.wikipedia.org/wiki/Little%20Richard
Little Richard
Little Richard (* 5. Dezember 1932 in Macon, Georgia, als Richard Wayne Penniman; † 9. Mai 2020 in Tullahoma, Tennessee) war ein amerikanischer Rock-’n’-Roll-Sänger, -Pianist und -Songwriter. Während der erfolgreichsten Phase seiner Karriere bei Specialty Records Mitte der 1950er Jahre kombinierte der afroamerikanische Musiker Stilelemente aus Blues, Gospel sowie Rhythm and Blues unter der neuen Genrebezeichnung „Rock ’n’ Roll“ und überführte sie damit in den musikalischen Mainstream. Nach hohen Platzierungen in den von schwarzen Interpreten dominierten Rhythm-and-Blues-Charts gelang ihm das Crossover in den genreunabhängigen amerikanischen Popmarkt. Sein schnelles und kraftvolles Pianospiel, sein lauter und überdrehter Gesang sowie seine energiereichen Konzerte inspirierten viele namhafte Musiker. Nach einem mehrjährigen Rückzug für religiöse Studien begann Little Richard in den 1960er Jahren ein Comeback, für das er seinen Sound in Richtung Soul und Funk weiterentwickelte. Ohne an frühere Verkaufserfolge anknüpfen zu können, steigerte er die Extravaganz seiner Bühnenauftritte durch Selbstinszenierung und Elemente der Travestie. Seit den 1980ern stand Little Richard nur noch sporadisch im Aufnahmestudio oder auf der Bühne. Aufgrund seiner genreprägenden und vielgecoverten Songs und deren Charterfolge gehört Little Richard zu den Wegbereitern und Hauptvertretern des Rock ’n’ Roll, weshalb er 1986 als einer der ersten Musiker in die Rock and Roll Hall of Fame aufgenommen wurde. Leben Kindheit, Jugend und erste Aufnahmen (1932–1955): Rhythm and Blues Richard Wayne Penniman wurde am 5. Dezember 1932 in Macon im US-Bundesstaat Georgia als drittes Kind von Leava Mae und Charles „Bud“ Penniman geboren. Er wuchs zusammen mit sieben Brüdern und fünf Schwestern auf. In der Familie erhielt er aufgrund seiner damaligen Körpergröße den Spitznamen „Little“ („kleiner“) Richard. Bud Penniman sorgte als Klubbesitzer unter anderem durch den Handel mit schwarzgebranntem Schnaps für ein bescheidenes Auskommen der Familie. Als häufiger Besucher von Gottesdiensten der örtlichen Pfingstkirche sowie der baptistischen und methodistischen Gemeinden entwickelte Little Richard eine Vorliebe für Gospelmusik, die er als Mitglied der Gruppe The Tiny Tots bei Auftritten in den Kirchen und in den Straßen von Macon und Umgebung aufführte. Dabei entstand sein Wunsch, Priester zu werden. Bei einem Konzert von Sister Rosetta Tharpe im Macon City Auditorium hatte der junge Sänger einen Gastauftritt, der vom Publikum wohlwollend aufgenommen wurde. Bereits als Heranwachsender verspürte Little Richard homosexuelle Neigungen, die in seinem familiären Umfeld auf Spott und bei seinem Vater auf Ablehnung stießen. Da er sein Elternhaus als beengend empfand, verließ er mit 14 Jahren die Highschool und schloss sich mehreren Vaudeville- und Medicine-Shows an, bei denen er seine Erfahrungen als Sänger vertiefen und an seiner Bühnenpräsenz arbeiten konnte. So trug er seine Haare als mächtige Pompadour-Frisur und nahm seinen Spitznamen „Little Richard“ als Künstlernamen an. Schließlich erhielt er um 1951 in Atlanta, einem Zentrum der damaligen Rhythm-and-Blues-Szene, ein Engagement beim Jump-Blues-Sänger Billy Wright, aus dessen Show er Travestie-Elemente wie Frauenkostüme und Make-up übernahm. Wright vermittelte ihm auch einen Studiotermin für erste Blues-Aufnahmen bei RCA Records. Wieder in Macon, freundete sich Little Richard mit dem Rhythm-and-Blues-Musiker Esquerita an, der ihm das besonders „wilde“ Klavierspielen beibrachte. Mit der RCA-Single Every Hour hatte Little Richard 1952 einen ersten regionalen Radiohit. Das versöhnte ihn mit seinem Vater, der kurz darauf bei einer Schießerei vor dessen Klub ums Leben kam. Little Richard nahm daraufhin eine Arbeit als Tellerwäscher im Restaurant der örtlichen Greyhound-Busstation an, um die Familie zu unterstützen. Die unbefriedigende und gering bezahlte Arbeit veranlasste ihn, sich professionell der Musik zu widmen und kommerziellen Erfolg anzustreben. Mit der neu formierten Band The Tempo Toppers spielte Little Richard in Klubs der Südstaaten und erlernte in New Orleans von Earl King den typischen kreolischen Bluesstil. 1953 entdeckte der Produzent Johnny Otis in Houston die Gruppe und deren Frontmann, der sich als „King and Queen“ („König und Königin“) des Blues vermarktete, und ermöglichte die nächsten Aufnahmen bei Peacock Records. Die Zusammenarbeit, aus der neben Directly from My Heart to You nur noch wenige Blues- und Gospel-Nummern hervorgingen, war nicht frei von Konflikten. So schlug sich Little Richard im Streit um Tantiemen mit dem Besitzer des Labels Don Robey. Nach einiger Zeit als Solokünstler stellte Little Richard aus dem Schlagzeuger Charles „Chuck“ Connor und dem Saxophonisten Wilbert „Lee Diamond“ Smith den Kern seiner zukünftigen Liveband The Upsetters zusammen. Die anschließenden Tourneen durch Kentucky, Georgia und Tennessee kamen mit einem gegenüber den Tempo Toppers deutlich härteren Rhythm-and-Blues-Programm, darunter auch einer frühen Version von Little Richards Komposition Tutti Frutti, beim Publikum ausgesprochen gut an. Durchbruch und Karriere-Höhepunkt (1955–1957): Rock ’n’ Roll Auf Anraten des Sängers Lloyd Price sandte Little Richard im Frühjahr 1955 ein Demotape an Art Rupe, den Chef des kalifornischen Independent-Labels Specialty Records in Los Angeles. Dessen A&R-Manager und Produzent Bumps Blackwell ließ sich durch Little Richards hartnäckige telefonische Nachfragen zu einer ersten Aufnahmesession im J&M Recording Studio von Cosimo Matassa in New Orleans überreden. Er buchte hierfür mit Earl Palmer am Schlagzeug, Lee Allen und Alvin „Red“ Tyler an den Saxophonen sowie Frank Fields am Bass dessen renommierte Studioband. In dieser Konstellation und mit wechselnden Gitarristen entstanden in den kommenden zwei Jahren in fünf Studiosessions Little Richards größte Hits und Verkaufserfolge, darunter Tutti Frutti, Long Tall Sally, Ready Teddy, Rip It Up, Good Golly Miss Molly, Jenny Jenny und The Girl Can’t Help It. Für drei Aufnahmetermine ging Little Richard in Kalifornien ins Studio, wobei er einmal von Guitar Slims Band unter der Leitung von Lloyd Lambert und zweimal von den Upsetters begleitet wurde. Seine Liveband ist auch auf Einspielungen aus Washington zu hören, die während einer Konzertreise entstanden. Für Specialty nahm Little Richard von 1955 bis 1957 Material für knapp 20 Singles, sechs EPs sowie die drei Alben Here’s Little Richard, Little Richard und The Fabulous Little Richard auf. Er erarbeitete sich seinen Erfolg, indem er mit den Upsetters auf ausgedehnte Konzertreisen ging und seine Lieder bei Kurzauftritten in Musikfilmen promoten ließ. Mit dem Vertrag bei Specialty Records war Little Richard unzufrieden, da durch die Vermarktung der Musikstücke durch den labeleigenen Musikverlag Venice Music der Großteil der Einnahmen bei Art Rupe verblieb. Diese Übervorteilung förderte den baldigen Bruch der Zusammenarbeit mit Specialty Records. Berufung zum Prediger (1957–1964): Gospel Ende September 1957 flog Little Richard an der Seite Eddie Cochrans und Gene Vincents für eine vierzehntägige Tournee nach Australien. Während des Fluges interpretierte er die Propellertriebwerke, die wegen der Hitze an den Tragflächen vor dem Nachthimmel leuchteten, als Engel. Bei einem Konzerttermin in Sydney beobachtete er am 4. Oktober den gerade gestarteten Satelliten Sputnik 1, den er auf seinem Weg in den Orbit als Feuerball wahrnahm. Diese Erlebnisse verstand er als Warnungen Gottes, und er beschloss, sein unstetes Leben als Rock-’n’-Roll-Musiker zu beenden und Priester zu werden. Gegenüber seinem Umfeld und seinen Anhängern, die mit Unverständnis reagierten, begründete Little Richard seinen Rückzug mit seinem bisherigen lasterhaften und ausschweifenden Lebensstil, der sich nicht mit seiner religiösen Überzeugung vertrüge. Little Richard begann in verschiedenen Kirchen der Erweckungsbewegung zu predigen und trat im Herbst 1958 eine dreieinhalbjährige theologische Ausbildung bei den Siebenten-Tags-Adventisten im Oakwood Bible College in Huntsville, Alabama an. Die Kirchenleitung schätzte die Popularität Little Richards sowie seine Fähigkeit, andere zu begeistern, und tolerierte das Aufsehen, das er durch sein extrovertiertes Erscheinen auf dem Campus verursachte, genauso wie die häufigen Verstöße gegen die Schulordnung. Die im Juli 1959 geschlossene Ehe mit der Sekretärin Ernestine Campbell aus Washington, D.C. wurde 1964 geschieden. Zum einen störte sich seine Frau an der Öffentlichkeit, die Little Richards Prominenz mit sich brachte, zum anderen räumte er im Rückblick ein, dass er sich aufgrund seiner homosexuellen Orientierung nicht ausreichend um die Ehe bemüht habe. Little Richard vollzog diese Wende in seiner Karriere auch musikalisch, indem er sich nun vornehmlich dem Gospelstil widmete. Für George Goldners Plattenlabel End Records nahm Richard Mitte 1959 mehrere Gospelsongs auf, die im Albenformat als Pray Along With Little Richard Vol. 1 und Vol. 2 bei der assoziierten Plattenfirma Golddisc Records erschienen. Bumps Blackwell, der zwischenzeitlich zu Mercury Records gewechselt war, konnte Richard 1961 für einige Studiotermine gewinnen. Die Aufnahmen entstanden unter der Orchesterleitung von Quincy Jones und wurden als LP It’s Real und später als Little Richard. King of Gospel Singers veröffentlicht. Während weitere Einspielungen von religiösen Liedern für Atlantic Records wenig erfolgreich blieben, vermarktete Specialty Records nach und nach alle Aufnahmen von Little Richard aus den eigenen Archiven, darunter die seinerzeit für zu schwach befundenen frühen Bluesnummern, und konnte so bis 1960 regelmäßig Platten mit Originalmaterial veröffentlichen. Der englische Musikpromoter Don Arden lud Little Richard zu einer England-Tournee mit dessen ehemaligem Specialty-Kollegen Sam Cooke ein, der inzwischen im Pop-Genre sehr erfolgreich war. Arden verschwieg einerseits gegenüber Little Richard, dass das europäische Publikum dessen Gospel-Platten weitgehend ignorierte, andererseits machte er die britischen Fans glauben, der Musiker sei für eine Rock-’n’-Roll-Tour gebucht. Als dieser zu seiner ersten Show im Oktober 1962 mit Unterstützung des jungen Organisten Billy Preston begann, spirituelle Lieder wie I Believe und Peace in the Valley zu spielen, reagierte das Publikum enttäuscht und unwillig. Daher organisierte Little Richard mit den Begleitmusikern ein spontanes Rock-’n’-Roll-Comeback, das so enthusiastisch gefeiert wurde, dass er die folgende Tour ganz im alten Genre und in altbekannter Inszenierung durchzog. Brian Epstein, der damalige Manager der Beatles, vereinbarte daraufhin mit der Band und Little Richard einige gemeinsame Konzerte in Nordengland sowie eine anschließende Tour durch Hamburger Clubs. Bei einer zweiten England-Tournee Mitte 1963, zu der Don Arden neben Little Richard die Everly Brothers und Bo Diddley buchte, standen die noch nahezu unbekannten Rolling Stones auf derselben Bühne. In der amerikanischen Heimat blieb seine Abkehr von der Musik und der Lebensführung eines Geistlichen zunächst unbemerkt. Die Sehnsucht nach dem Leben als Rock-’n’-Roll-Star und die Verdienstmöglichkeiten, die ihm durch die aufkommenden Erfolge der Beatles in Amerika vor Augen geführt wurden, besiegelten seinen Entschluss, zur Rockmusik zurückzukehren. Comeback (1964–1977): Soul und Funk Mit Bama Lama Bama Loo startete Little Richard sein Studio-Comeback bei seinem alten Label Specialty Records, das speziell zu diesem Anlass wiedereröffnet wurde. Er versuchte dabei, seinen ursprünglich von Bläsern dominierten Rock-’n’-Roll-Sound zugunsten eines modernen Gitarren-Arrangements zu modifizieren. Die Single erreichte in den Billboard-Charts den 82. Platz. Die Entscheidung, sich auch in den USA wieder der Öffentlichkeit als „King of Rock ’n’ Roll“ zu präsentieren, kam offenbar zu einem ungünstigen Zeitpunkt, da sich der Musikgeschmack Mitte der 1960er Jahre bereits geändert hatte: Der Rock ’n’ Roll des vergangenen Jahrzehnts war im Begriff, von der British Invasion verdrängt zu werden, deren Hauptvertreter stark von Little Richards Werk und Stil beeinflusst worden waren. Little Richard betrieb daher einigen Aufwand, um an die alten Erfolge anzuknüpfen. Er engagierte seinen ehemaligen Mentor Bumps Blackwell als Manager, erweiterte seine Liveband The Upsetters um Statisten für eine aufwändige Bühnenshow, die als Crown Jewels and the Royal Guard firmierte, und tourte intensiv in den USA. Seine Konzerte waren in der Phase seines Comebacks hinsichtlich der Showeinlagen und des Spiels mit Rollen und Klischees unterschiedlicher sexueller Ausrichtungen von einer bis ins Groteske reichenden Opulenz und Selbstdarstellung gekennzeichnet. Die zweite Station seines Comebacks war nach Specialty Records das Blues-Label Vee-Jay Records. Auf den beiden offiziellen Alben Little Richard is Back und Little Richard’s Greatest Hits zeigte sich eine Weiterentwicklung des Sounds in Richtung Soul: Prominente Bläser, neben den Saxophonen nun auch eine aus Blechbläsern bestehende Horn-Sektion und die elektronische Orgel passten seine Neueinspielungen alter Specialty-Hits sowie einige neue Titel den Publikumserwartungen der 1960er Jahre an. Zwischen September 1964 und Juni 1965 gehörte der noch wenig bekannte Jimi Hendrix als Helfer und Gitarrist zum Tross, wurde aber aufgrund seiner Unzuverlässigkeit und Little Richards Dominanz nicht lange geduldet. Ab Ende 1965 war Little Richard für wenige, jedoch sehr ergiebige Monate bei Modern Records unter Vertrag. Wieder fand sich neben neuem Material eine Auswahl an Neueinspielungen alter Hits. Das erste Album Little Richard Sings His Greatest Hits – Recorded Live! sollte durch eingespielten Applaus eine temporeiche Live-Atmosphäre suggerieren und wagte sich mit Do You Feel It in den Funk-Sound. Das zweite Album The Wild and Frantic Little Richard vereinte entspanntere Aufnahmen einer Livesession mit solchen aus dem Studio. Zusammen mit einer namentlich nicht bekannten Sängerin nahm er mit dem Jimmy-Reed-Klassiker Baby What You Want Me to Do erstmals ein Duett auf, dem bis in die 2000er Jahre hinein weitere folgten. Zu Beginn des Jahres 1966 wechselte Little Richard zu Okeh Records in New York. Sein zweijähriger Vertrag sah weder Mitsprache in der Auswahl der Stücke noch im Arrangement vor. Als Produzent wurde sein ehemaliger Specialty-Kollege Larry Williams engagiert, für die Gitarre konnte Johnny Guitar Watson gewonnen werden. An den Kompositionen des ersten Albums The Explosive Little Richard war Little Richard nicht beteiligt. Durch einen dominanten Einsatz von Trompeten und einer funkigen Rhythmusgruppe wurde die musikalische Strategie entlang dem aktuellen schwarzen Mainstream beibehalten. Für das zweite Album Little Richard’s Greatest Hits – Recorded Live! wurde ein kleines, begeistertes Publikum in das zum virtuellen Club Okeh umfunktionierte Studio des Okeh-Mutterlabels CBS Records in Los Angeles eingeladen. Der Sound der Neuaufnahmen alter Hits entsprach dem des Vorgängeralbums, hinzu kamen ein durchgehendes Rhythmus-Arrangement sowie egozentrische und euphorische Zwischenansagen des Sängers. Wegen des ausbleibenden Erfolgs, für den Little Richard Larry Williams’ Motown-Sound verantwortlich machte, nahm er um den Jahreswechsel 1967/1968 nur noch drei Singles für Brunswick Records auf und ließ seinen Vertrag mit Okeh auslaufen. Von 1970 bis 1972 feierte Little Richard bei Reprise Records im Zuge des Rock-’n’-Roll-Revivals den Höhepunkt seines Comebacks. Erneut mit Bumps Blackwell als Manager und Co-Produzenten neben namhaftem Personal wie Jerry Wexler, Tom Dowd, H. B. Barnum und Quincy Jones an den Studio-Mischpulten wollte er mit neuen Songs zurück zum alten Sound der 1950er Jahre. So gelangen einige kleinere Charterfolge mit Singleauskopplungen der drei programmatisch betitelten Alben The Rill Thing („Die wahre Sache“), King of Rock And Roll („König des Rock ’n’ Rolls“) und The Second Comin („Die zweite Ankunft“). Da Little Richard seinen Vertrag im August 1972 nicht verlängerte, konnte das mit Country-Musik-Elementen angereicherte vierte Album Southern Child zunächst nicht erscheinen und wurde erst 2005 veröffentlicht. Obwohl keine der Veröffentlichungen dieser Zeit die innovative Kraft und Popularität seines Hauptwerks aus den 1950er Jahren erreichte, fanden sie auch in Form vieler Wiederveröffentlichungen, Kompilationen und Bootlegs eine weltweite Käuferschaft. Chart-Platzierungen in den wichtigen Musikmärkten beiderseits des Atlantiks blieben jedoch die Ausnahme. Allerdings war Little Richard weiterhin ein Garant für ausverkaufte Konzerthallen. Er zeigte sich durch die Jahre fast täglich dem amerikanischen und europäischen Publikum, häufig in berühmten Konzerthallen oder auf Festivals an der Seite Chuck Berrys, Jerry Lee Lewis’ und Bo Diddleys. Er spielte aber auch auf denselben Bühnen mit aktuellen Größen wie Janis Joplin, John Lennon und Yoko Ono, denen er nicht selten die Schau stahl. Zur Promotion seiner Konzerte und Veröffentlichungen war Richard auch ein häufiger Gast in Fernsehshows unter anderem bei den Gastgebern Merv Griffin, Mike Douglas, Johnny Carson, Steve Allen und Dick Clark. Reprise war das letzte Plattenlabel, bei dem Little Richard für eine längere Zeit unter Vertrag stand. Es folgten einzelne Aufnahmen für die kleinen Firmen ALA Records, Greene Mountain, Manticore Records, Mainstream Records und Creole Records. Alleine eine eintägige Session für Kent Records im Januar 1973 erbrachte genug Material für das Album Right Now, das bei Kents Schwesterlabel United Records erschien und als traditionelle Reaktion auf das letzte, sich schlecht verkaufende, etwas progressivere Reprise-Album The Second Coming gelten konnte. Zudem kamen neue Live-Aufnahmen seiner größten Hits für S. J. Productions in Form der Konzertdokumentation Let the Good Times Roll auf den Markt. Ab 1970 tauchte Little Richard immer wieder als Gastmusiker bei anderen Künstlern auf, darunter Jefferson Starship, Delaney & Bonnie, die James Gang, Canned Heat und Bachman Turner Overdrive. Der zweite Rückzug (1977–1985): Gospel Bereits im August 1972 hatte Little Richard nach einem technisch desaströsen Auftritt im Londoner Wembley-Stadion harte Kritiken von der britischen Presse bekommen. Da zudem das Rock-’n’-Roll-Revival abflaute, spielte Little Richard bei einer weiteren Tour durch England vor halbleeren Häusern. Schon die Plattenverkäufe und Chartnotizen hatten während der Zeit seines Comebacks nicht seinen Erwartungen entsprochen, sodass die Misserfolge bei den Live-Auftritten Little Richards künstlerisches Konzept und dessen wirtschaftliche Planung zusätzlich in Bedrängnis brachten. Auch gesundheitlich machten ihm die anstrengenden Konzertreisen und sein Drogenkonsum zu schaffen, sodass er mehrmals stationär behandelt werden musste. Mit dem erneuten Weggang seines langjährigen Mentors Bumps Blackwell 1974 weiteten sich die Probleme zu einer persönlichen Krise des Musikers aus. Am 1. Januar 1977 gab das neue Management bekannt, dass Little Richard zum zweiten Mal der Rockmusik entsagen und seine Tätigkeit als Prediger wiederaufnehmen wolle. Die Gründe, die Little Richard bei diesem Rückzug angab, ähnelten denen aus dem Jahr 1957: Sowohl seine sexuelle Orientierung als auch das Leben als Rock-’n’-Roll-Musiker seien unvereinbar mit seinen religiösen Überzeugungen. Im Nachhineinen begründete er seine Entscheidung auch mit verschiedenen Todesfällen, darunter dem Herzinfarkt seines Bruders Horace „Tony“ Penniman und Elvis Presleys Tod im August 1977. Im März 1979 veröffentlichte World Records in einer sehr kleinen Auflage das Gospel-Album God’s Beautiful City. Die weiterhin regelmäßigen Auftritte in Fernsehshows nutzte Richard für Predigten und Gebete mit dem Publikum, meist musikalisch ausgestaltet durch ein oder zwei seiner Gospel-Songs. Zu Beginn der 1980er Jahre arbeitete er gemeinsam mit Bumps Blackwell und Charles „Dr. Rock“ White an seiner Biografie The Quasar of Rock, in der er sehr offen über seine persönlichen Einstellungen unter anderem zum Rock ’n’ Roll, zur Homosexualität und zum Rassismus spricht. Das Buch erschien am 1. Oktober 1985 und sorgte für Interesse an Leben und Werk des Künstlers, in dessen Folge Little Richard häufig im Fernsehen, unter anderem wieder bei Merv Griffin und Johnny Carson, aber auch bei David Letterman, Pat Robertson und Phil Donahue zu sehen war. Veteran des Rock ’n’ Roll (1985–2020): Pop-Rock Im Sommer 1985 begann Little Richard, seine schauspielerische Karriere auszubauen, die im Vergleich zu seinem musikalischen Werk wenig Aufmerksamkeit erhielt. Mit Lifetime Friend veröffentlichte er ein neues Gospel-Album bei Warner Brothers. Der Sound entspricht dem Pop-Jahrzehnt seiner Entstehung. Die Singleauskopplung Great Gosh A’Mighty konnte sich in den amerikanischen und britischen Charts platzieren. Dies war ein Erfolg seines neuen Managements, das versuchte, sein Anliegen der christlichen Botschaft mit seinen Pop-Ambitionen zu verbinden. Sein nächstes Album Shake It All About mit Rock-’n’-Roll-Versionen von populären Kinderliedern erschien 1992 beim Musiklabel der Walt Disney Company und erreichte Platinstatus. Aus einer Zusammenarbeit mit dem japanischen Rock-Gitarristen Masayoshi Takanaka folgte das Album Little Richard Meets Takanaka. Die beginnende Aufbereitung seines Werkes in den 1990er Jahren in Form von aufwändigen CD-Ausgaben, die jeweils die kompletten Aufnahmesessions bei einem Label zusammenstellen, sowie die häufigen, guten Platzierungen in den Bestenlisten zum Jahrhundertwechsel weckten das Interesse der Öffentlichkeit an Little Richards frühem Werk. Durch die Beteiligung an der TV-Dokumentation Little Richard im Jahr 2000, in welcher der Schauspieler Leon Robinson Szenen seines Lebens nachspielt, gab Little Richard weitere Einblicke in seine lebhafte Geschichte. In den 1990er und 2000er Jahren ging er immer wieder in Amerika und Europa auf Tournee, oft an der Seite der alten Weggefährten Jerry Lee Lewis und Chuck Berry, die sich mit entsprechendem Programm gemeinsam als „Lebende Legenden des Rock ’n’ Rolls“ präsentierten. Zudem war Little Richard zeitweilig als Gastmusiker zu hören; für Kompilationen und Soundtracks spielte er auch neue Titel ein. Ende 2009 unterzog er sich einer Hüftoperation. Nach mehrmaliger Ankündigung seines Ausscheidens aus dem Musikgeschäft erklärte 2013 der inzwischen Achtzigjährige in einem Interview dem Rolling Stone seinen endgültigen Abschied mit den Worten: „I am done!“ („Ich bin fertig!“). Nach dem Ende seiner Karriere widmete er sich wieder mehr der Religion. Little Richard starb am 9. Mai 2020 im Alter von 87 Jahren an den Folgen einer Knochenkrebserkrankung in seinem Haus in Tennessee. Am 20. Mai wurde Little Richard auf dem Oakwood University Memorial Gardens Cemetery, dem Friedhof seiner ehemaligen theologischen Universität in Huntsville, Alabama, in privatem Kreis beigesetzt. Musikalischer Stil Liedstruktur und Rhythmik Die erfolgreichen Rock-’n’-Roll-Stücke Little Richards ähneln sich in Bezug auf Aufbau, Instrumentierung und Inhalt in markanter Weise. Als Grundlage der Kompositionen dient zumeist ein 12-Takt-Blues, der in drei Akkorden die Hauptfunktionen der Harmonielehre variiert. In der Rhythmik dominiert der 4/4-Takt, der im Blues und im Swing verbreitet ist und sich durch einen deutlichen Backbeat von den Stücken der konkurrierenden Popbranche der 1950er Jahre absetzt. Diese rhythmische Betonung auf dem zweiten und vierten Schlag des Taktes ist bereits im Rhythm and Blues etabliert. Diesen „Rockbeat“ betont die gesamte Rhythmusgruppe notwendigerweise, um gegen Little Richards Lautstärke am Mikrofon und an den Tasten bestehen zu können. Earl Palmer koppelte bei den Aufnahmen in New Orleans am Schlagzeug den Backbeat mit einem swingenden Shuffle, das heißt einer Verschiebung der Achtel hin zur nächsten Viertel. Der Schlagzeuger Charles Connor entwickelt bei den Studioaufnahmen Little Richards mit den Upsetters in Los Angeles den „Choo-Choo-Train“-Stil, bei dem die Achtel durchgehend zwischen den durch den Backbeat akzentuierten Vierteln geschlagen werden, was dem Stampfen eines Zuges ähneln soll. Ein Beispiel hierfür ist das Intro von Keep A Knockin’ vom Januar 1957. Bei einigen langsameren Blues-Balladen wie I’m Just a Lonely Guy, Send Me Some Lovin’ oder Can’t Believe You Wanna Leave kommt ein entspannter 12/8-Takt zum Einsatz, der typisch für viele Pianisten aus New Orleans ist. Im Shuffle spielt auch der Rock-’n’-Roll-Bass für gewöhnlich eine rollende Acht-Ton-Figuration, die dem Boogie-Woogie entnommen ist und aufgrund ihrer konsequenten harmonischen Zuordnung zum Akkordschema die Lieder zusammenhält, gerade dann, wenn zusätzliche Songstrukturen des Gospels oder der Popmusik das Bluesschema variieren. Instrumentierung und Arrangement Während im Rock ’n’ Roll häufig die elektrische Gitarre für den neuartigen, aggressiv lärmenden akkordischen Grundklang sorgt, trat diese bei Little Richard in den Hintergrund, sodass deren Aufgabe durch ein intensives und dominantes Pianospiel übernommen wurde. Die Instrumentierung von Little Richards Hits verwies durch eine prominente Holzbläsersektion einmal mehr auf die zu dieser Zeit ausklingende Swing-Ära. So sind auf den Aufnahmen aus dem J&M-Studio mit Lee Allen und Alvin „Red“ Tyler zumindest zwei Saxophonisten zu hören, die den Gesangsphrasen antwortende, mehrstimmige Riffs einwerfen. Lee Allens Tenorsaxophonsoli wurden aufgrund des treibenden, glissandierenden und röhrenden Stils zu einem wichtigen Markenzeichen von Little Richards Specialty-Aufnahmen. Die Upsetters traten bei Konzerten und Aufnahmen mit bis zu vier Saxophonisten auf. Die im Rhythm and Blues häufig eingesetzte Vokalharmonik fehlte weitgehend, lediglich auf The Girl Can’t Help It wird Little Richard durch eine männliche Gesangsgruppe unterstützt. Das dritte Album The Fabulous Little Richard von 1959 präsentierte zudem Blues-Aufnahmen, die von Specialty Records zur nachträglichen Veröffentlichung während Little Richards theologischer Ausbildung mit einem weiblichen Hintergrundchor mittels Overdub-Technik versehen wurden. Pianospiel Little Richards Klavierspiel war durch den Boogie-Woogie- und Rhythm-and-Blues-Stil aus New Orleans geprägt, den er besonders hart und schnell darbot. Entweder imitierte er dabei mit der linken Hand den Basslauf in der Funktion eines Basso ostinato oder variierte in punktierten Akkorden Formen des Boogie-Woogie. Mit der rechten Hand hämmerte Richard hingegen meist hohe, enorm schnelle Akkorde in durchlaufenden Achteln (Eight-to-the-Bar-Boogie) oder in Triolen. Besonders bei Soli traktierte Little Richard die hohen Oktaven seines Pianos, eine Spielweise, die den Vergleich mit Maschinengewehrsalven provoziert. Sein Produzent Blackwell erinnerte sich an einige Situationen, als Basssaiten unter Little Richards Einhämmern auf die Klaviertastatur rissen. Gesang Das dichte Instrumentalarrangement sorgte – auch aufgrund der bescheidenen Studiotechnik des Toningenieurs Matassa – für eine gleichbleibend hohe Lautstärke der Aufnahmen. Eine musikalische Dynamik fand kaum statt. Bei den typischen Stop-Times handelt es sich um Breaks, bei denen die Instrumente nur den ersten Schlag eines Taktes betonen und ansonsten schweigen, wobei der Sänger im rhythmischen Staccato den Text eher spricht oder ruft als singt – so zu hören beispielsweise in Rip It Up, She’s Got It oder Good Golly Miss Molly. Stimmlich orientierte sich Little Richard zuerst an Roy Brown und anderen Blues-Shoutern des Jump-Blues, die wegen ihres härteren Gesangstils als Belters von den Crooners, den „Schnulzensängern“ der Popmusik, unterschieden werden. Innerhalb des Beltings zeichnete er sich zudem durch einen sehr emotionalen und inspirierten Stil aus, weshalb Arnold Shaw ihn eher zu den Emoters denn zu den reinen Screamers zählt. Eines seiner Markenzeichen war das hohe falsetthafte „Whoooo!“, das er sich von der Gospel-Sängerin Marion Williams abgehört hatte. Der Musikjournalist Nik Cohn beschreibt Little Richards Gesang wie folgt: „Er kreischte und kreischte. Seine Stimme war freakish, unermüdlich, hysterisch und absolut nicht unterzukriegen. Nie war sein Gesang leiser als das Brüllen eines wütenden Stieres. Jede Phrase garnierte er mit Wimmern, Schnarren oder Sirenentönen. Seine Vitalität und sein Drive waren grenzenlos.“ Über diese Qualitäten als Rock-’n’-Roll-Sänger hinaus bescheinigt ihm Robert Chambers eine weite stilistische Bandbreite: „Vom konventionellen Tenor über Gospel und Delta Blues bis zur eleganten und beherrschten Reminiszenz an Nat King Cole; Little Richard kann alles singen.“ Insbesondere in der Phase seines Comebacks ergänzte Little Richard sein Staccato um lang anhaltende, textlose Melismen als Songintros oder Zwischenrufe. Songinhalte Die Texte der Stücke geben klassische Themen des Rock ’n’ Roll vor: Sex und Spaß. Während Little Richards Eigenkompositionen oft zu derber Schlüpfrigkeit neigten und für die Plattenaufnahmen durch versierte Texter entschärft werden mussten, spielen andere Komponisten seiner Hits gerne mit den Zweideutigkeiten, die der Begriffsvorrat der Rock-’n’-Roll-Sprache zur Verfügung stellt. So formuliert die Songwriterin Dorothy La Bostrie die erste Strophe von Tutti Frutti: Dabei umspannt die mögliche Bedeutung des englischen Prädikats to rock ein rhythmisches Bewegen vom Tanz bis zum Geschlechtsakt. Neben dieser Liebeslyrik geht es auch um das Bedürfnis der jugendlichen Hörerschaft nach Spaß und Unterhaltung. So textet der Songwriter John Marascalco 1956 in Rip It Up: Diskografie Little Richard als Schauspieler Little Richard stand zeit seiner Karriere verschiedentlich vor der Kamera. So trat er 1956 im Film The Girl Can’t Help It auf, zu dem er auch den Titelsong beisteuerte, und in Don’t Knock the Rock sowie 1957 in Mister Rock and Roll als Musiker in Erscheinung. Sind diese Auftritte der 1950er Jahre noch mit der damaligen Popularität seiner Musik zu begründen, begann er zu seinem zweiten Comeback ab 1985 Rollen zu übernehmen. Er mimte 1986 den Orvis Goodnight in Zoff in Beverly Hills, 1988 den Bürgermeister in Purple People Eater und den Alphonso in Goddess of Love. 1990 war er als Old King Cole in Mother Goose Rock ’n’ Rhyme, 1991 als Brandon in Sunset Heat, 1992 als Airborne Mustard Lover in The Naked Truth und 1993 in der Rolle des Präsidenten in The Pickle zu sehen. In weiteren Filmen und Fernsehserien spielte er sich selbst oder Rockmusiker in Form kleiner Cameo-Auftritte, namentlich 1991 in der Columbo-Folge Tödliche Liebe und 1993 in Last Action Hero. Ebenso häufig trat er in Nebenrollen von Fernsehserien auf, darunter in Miami Vice, Baywatch, Full House (Staffel 7, Episode 23) und Night Man. Zudem stand er als Interviewpartner für filmische Dokumentationen über Rockmusiker zur Verfügung oder spielte sich selbst in Realdokumentationen, darunter 1973 in einem Film über Jimi Hendrix und 1998 in Why Do Fools Fall in Love über Frankie Lymon. 1980 stand er für die dokumentarische Umsetzung seiner bisherigen Karriere in der Little Richard Story vor der Kamera. Im Jahr 2003 synchronisierte er eine Zeichentrickfigur seiner selbst in der Folge Special Edna der Fernsehserie Die Simpsons. Erfolge und Auszeichnungen Little Richards Chartplatzierungen konzentrieren sich auf den US-amerikanischen und britischen Markt. Er errang mit seinen über eine Million Mal verkauften Singles Tutti Frutti, Long Tall Sally / Slippin’ And Slidin’, Rip It Up / Ready Teddy, Lucille / Send Me Some Lovin, Jenny Jenny / Miss Ann, Keep A Knockin’ und Good Golly Miss Molly Goldstatus. Zwischen 1955 und 1958 hatte Little Richard 18 Charthits aufzuweisen. Neben den Charterfolgen und daraus resultierenden Auszeichnungen der Plattenindustrie wurde Little Richard für sein Werk durch namhafte Institutionen und Medien der Musikbranche prämiert. So war er unter den ersten zehn Künstlern, die 1986 in die gerade gegründete Rock and Roll Hall of Fame gewählt wurden, seine Aufnahme in die Songwriters Hall of Fame folgte 2003, jene in die Blues Hall of Fame im Jahr 2015. Bereits 1990 wurde ihm zu Ehren ein Stern am Hollywood Walk of Fame verlegt. Das Musikmagazin Rolling Stone führt in seiner populären Liste der 500 besten Songs aller Zeiten Little Richard mit Tutti Frutti, Long Tall Sally, Good Golly Miss Molly, The Girl Can’t Help It und Keep A Knockin’ fünfmal. Sein Debütalbum auf Specialty Records Here’s Little Richard schaffte es in der Liste der 500 besten Alben aller Zeiten auf den 50. Platz. In der Wahl der 365 Songs of the Century platzierte sich Tutti Frutti auf Rang 130. Darüber hinaus listete der Rolling Stone Little Richard auf Rang acht der 100 größten Musiker sowie auf Rang zwölf der 100 größten Sänger aller Zeiten. Wirkung Der amerikanische Literaturwissenschaftler David Kirby beklagt in seinem Buch von 2010 Little Richard. The Birth of Rock ’n’ Roll, die geringe Präsenz Little Richards im Musikjournalismus entspräche nicht dessen tatsächlicher musikalischer und kultureller Bedeutung. Zwar habe Little Richard ein extrovertiertes Bühnenimage gepflegt, sich aber kaum für ein professionelles Selbstmarketing interessiert, sodass er in der öffentlichen Wertschätzung schwer zu fassen sei. Andere Musiker ließen hingegen keinen Zweifel am großen Einfluss Little Richards auf ihr Schaffen. Musikalische Wirkung Das Musikmagazin Rolling Stone führt Little Richard in seiner „Liste der 100 größten Künstler aller Zeiten“ aus dem Jahr 2004 auf dem achten Platz. Wenigstens sechs der besser platzierten Musiker bestätigen den starken Einfluss, den Little Richard und seine Musik auf ihr Werk und somit auf die Entwicklung der Rockmusik insgesamt hatte. War Little Richard in seiner frühen Werksphase bei RCA und Peacock selbst noch Imitator der im schwarzen Musikmarkt populären Rhythm-and-Blues-Shouter, entwickelte er bereits mit Tutti Frutti zur ersten Aufnahmesession für Specialty Records einen eigenen Stil, der kennzeichnend für das junge Genre Rock ’n’ Roll wurde. Das erste wichtige Kennzeichen ist die Schlichtheit der Lieder, die sich in ihrer gewollten Einfachheit der musiktheoretischen Analyse aufgrund Unergiebigkeit weitgehend entziehen. So macht Nik Cohn in Little Richards Repertoire „totale Nicht-Songs, […] ohne Melodie, ohne Text“ aus und spitzt seine These so weit zu, dass er das Scat-Intro von Tutti Frutti „AWopBopALooBopALopBamBoom“ als „Nenner der Popmusik“ im Jahr 1956 identifiziert. Prominente Musiker wählten 2007 im Musikmagazin Mojo Tutti Frutti dennoch zur Platte, die die Welt am meisten verändert hat. Kann Little Richards Erfolg aber nicht mit einem originellen und komplexen Songwriting begründet werden, so muss als Kern des künstlerischen Ausdrucks die Darbietung selbst gelten, das heißt der auf Tonträgern und bei Auftritten präsentierte „Sound“ als zweites wichtiges Kennzeichen seiner Musik. Hierbei tritt insbesondere Little Richards originärer Gesangsstil hervor, den viele seiner Nachfolger aus Rock ’n’ Roll und Rockmusik lobten oder sich zu eigen machen suchten: John Lennon und Paul McCartney, der bei der gemeinsamen Tour 1963 Richards „Woooh!“ übernahm, weiter Ian Gillan, Mitch Ryder, Screaming Lord Sutch, Neil Young, Ry Cooder und viele mehr. Sogar Instrumentalisten eiferten Little Richards Stimme nach, wie zum Beispiel Jimi Hendrix mit seiner Gitarre. Auch Lemmy Kilmister (Motörhead) und Dave Grohl (Nirvana, Foo Fighters) nennen Little Richard als wesentlichen musikalischen Einfluss ihres Schaffens. Mit dem stetigen Wechsel zwischen Rock ’n’ Roll und Gospel ist als drittes Merkmal der Musik Little Richards die Emotionalität und religiöse Inbrunst des Ausdrucks zu nennen. Zwar war religiöse Musik durch Gospel- und Spiritual-Gruppen weit verbreitet, die Popularisierung und die Verknüpfung mit den säkularen Inhalten und den Stilmitteln der Rockmusik wurde aber Ende der 1950er Jahre durch wenige Musiker wie Ray Charles gerade erstmals vollzogen. Während Arnold Shaw in diesem Zusammenhang in der Retrospektive von „Gospel-Blues“ spricht, attestierte Quincy Jones als Arrangeur der Mercury-Aufnahmen Little Richards diesem einen „Rock ’n’ Soul“ und zeichnet damit eine Entwicklung der schwarzen Popmusik nach, die sich parallel zum Rock ’n’ Roll des Mainstreams als Soul und später Funk etablierte. Einige der wichtigen Vertreter des Soul wie James Brown, Otis Redding oder Sam Cooke stellen sich in die direkte Nachfolge Little Richards und profitierten von der Zusammenarbeit mit ihm zu Beginn ihrer Karriere. Der ursprüngliche Soul als Verknüpfung von Rock und Gospel lässt sich in Little Richards Biografie bestens nachzeichnen. Allerdings blieb er in seiner eigenen musikalischen Entwicklung während seines Comebacks bezüglich der Innovationskraft und des kommerziellen Erfolgs hinter seinen ehemaligen Nacheiferern zurück. Davon unberührt bleibt seine von religiöser Überzeugung getriebene Eigenwahrnehmung: „Ich nenne es die Musik, die heilt. […] Die Musik, die Blinde sehen macht, die Lahmen, die Tauben und die Stummen gehen, hören und sprechen! Die Musik der Freude, die Musik, die deine Seele hochfliegen lässt. Ja, ja, denn ich bin die lebendige Flamme, und Little Richard ist mein Name …“ Wirkung auf den amerikanischen Musikmarkt Mitte der 1950er Jahre war der amerikanische Musikmarkt durch die Popmusik der Tin Pan Alley dominiert, in der Komponisten und Verleger ihre professionell arrangierten Songs mit möglichst vielen etablierten Entertainern für die bürgerliche weiße Käuferschaft produzierten. Daneben existierten Spartenmärkte für Country-Musik und den schwarzen Rhythm and Blues, der vormals auch als Race Music bezeichnet wurde, mit jeweils eigenen Musiklabeln, Charts, Plattenläden, Radiostationen und Publikum. Hatte ein Titel in einem Spartengenre Erfolg, wurde häufig eine entschärfte Coverversion im Pop-Sound von einem etablierten Crooner eingespielt, seltener auch umgekehrt. Little Richards Aufnahmen für Specialty Records erregten schnell die Aufmerksamkeit der im Popmarkt agierenden Major-Labels. Vor allem Pat Boone coverte 1955 zeitnah Tutti Frutti und konnte mit den größeren Vermarktungsmöglichkeiten des Popmarktes erheblich mehr Platten verkaufen. Mit dem Nachfolge-Cover Long Tall Sally gelang dies 1957 nicht mehr, was eine Verschiebung innerhalb der segregierten Musikmärkte andeutet. Little Richard war das Crossover in den Popmarkt gelungen. Zwischenzeitlich hatte sich der Rock ’n’ Roll als Musik der jungen Generation etabliert, die in den jugendkonformen Inhalten und tanzbaren Rhythmen eine geeignete Ausdrucksform ihres Lebensgefühls erkannte. Neue technische Produktions- und Marketingmethoden sowie die Entwicklung der Massenmedien Kino, Fernsehen und tragbare Radioapparate arbeiteten dieser Entwicklung zu. Das schwarze Original erschien auch für den weißen Teenager attraktiver als das langweilige Cover-Arrangement der Pop-Interpreten. Diese Entwicklung wurde durch Radio-DJs wie Alan Freed befördert, der zudem die Bezeichnung des neuen rassenübergreifenden Genres „Rock ’n’ Roll“ mitprägte und populär machte. Little Richard selbst äußerte sich stets zwiegespalten zum rassengetrennten Musikmarkt. Einerseits begrüßte er die Begeisterung seiner weißen Fans und negierte die Bedeutung der Hautfarbe für die Musik, andererseits beschwerte er sich mit deutlichen Worten sowohl über immer noch latent rassistische Strukturen in der Popbranche als auch über deren schwarze Gegenbewegung im Umfeld der Soul-Musik, als sein Comeback in den 1960er und 1970er Jahren im Hinblick auf ausbleibende Charterfolge misslang. Die Debatte über das Crossover – Gewinn von ökonomischer und musikalischer Freiheit auf der einen und Verlust von Identität und latente Ausbeutung auf der anderen Seite – wird dabei in Little Richards Werk und Biografie besonders deutlich. Bei einer Anhörung vor dem Kongress der Vereinigten Staaten am 20. September 1984, die die Ausbeutung afroamerikanischer Künstler durch die Musikbranche klären sollte, nahm Little Richard für sich in Anspruch, in den 1950er Jahren ebendiese Rassenschranken überwunden zu haben. Vor allem in seiner frühen Rock-’n’-Roll-Werksphase leistete Little Richard einen entscheidenden Beitrag zur Annäherung der verschiedenen Musikmärkte, nicht nur durch seine eigene Aufnahmen, sondern auch durch die Vielzahl von Coverversionen: Vor allem die jungen englischen Beatgruppen der British Invasion füllten ihre Repertoires in den 1960er Jahren mit Little-Richard-Songs. Auch viele Rock- und Hardrockmusiker der späteren Dekaden spielten Little Richards Standards neu ein. Einflüsse auf den Show-Aspekt der Rockmusik Im amerikanischen Musikmarkt der 1950er und 1960er Jahre sahen sich afroamerikanische Musiker wie James Brown und Nat King Cole mit sexuell aufgeladenen Performances rassistischen Anfeindungen des weißen Publikums ausgesetzt. Little Richard und sein frühes Management entwickelten daher bewusst das übertrieben verrückte Image eines Freaks und „King of Rock ’n’ Roll“. Auf den anderen populären „King“ Elvis Presley angesprochen, wich Richard gerne auf den Titel der „Queen of Rock ’n’ Roll“ aus und eröffnete sich und seiner Bühnenpräsenz Elemente der Travestie, die er im Zuge eigener homosexueller Erfahrungen bereits seit früher Jugend ausgebaut und kultiviert hatte. So fürchtete das männliche, weiße Publikum durch ihn keine Nebenbuhlerschaft. Zu diesen Verrücktheiten gehörte die Wildheit seiner Auftritte, darunter energiegeladene und artistische Einlagen am und auf dem Klavier, dazu Striptease und intensiver Publikumskontakt, aber auch außergewöhnliche Bühnenoutfits wie Königsroben, Spiegelanzüge und feminine Kostüme. Waren seine persönlichen und allgemeinen Aussagen und Bewertungen zur Homosexualität auch stets ambivalent, so war seine diesbezügliche Pionierarbeit für spätere Künstler der Rockmusik, insbesondere jene des Glam-Rock, von großer Bedeutung: So stellen sich Sylvester James sowie Elton John und David Bowie selbst in Little Richards Nachfolge. Während Mick Jagger, Marc Bolan oder Freddie Mercury noch auf gesellschaftliche Vorbehalte stießen, als sie sich in den 1970er Jahren eine androgyne Extrovertiertheit nach Little Richards Vorbild aneigneten, fiel ein entsprechendes Auftreten anderen afroamerikanischen Musikern wie Prince und Michael Jackson in den 1980er Jahren bereits leichter. Der Musikjournalist Olaf Karnik sieht einen Grund dafür in der Minstrel-Tradition, die den schwarzen Unterhaltungskünstler zum komödiantischen Schauobjekt verharmloste. Dieses „gender-bending“ (etwa Dehnen des sozialen Geschlechts), das in der Tradition des Dandytums und der Camp-Ästhetik liegt, ist mittlerweile fester Bestandteil der Ausdrucksmöglichkeiten in der musikalischen Show geworden und wurde in den 2000er Jahren von Künstlern wie André 3000 verkörpert. Literatur Filmdokumentationen William Klein: The Little Richard Story, 1980. Bill Hinton: South Bank Show, 1985 (irregulär verbreitet als Little Richard Documentary). Robert Townsend: Die Little Richard Story, 2000 (Little Richard). Weblinks Einzelnachweise Rock-’n’-Roll-Musiker Rocksänger Soulmusiker Pianist Songwriter Pseudonym Mitglied der Rock and Roll Hall of Fame Mitglied der Blues Hall of Fame US-Amerikaner Geboren 1932 Gestorben 2020 Mann
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https://de.wikipedia.org/wiki/Nomoi
Nomoi
Die Nomoi (, , deutsch „Gesetze“) sind ein in Dialogform verfasstes Spätwerk des griechischen Philosophen Platon. Das fiktive, literarisch gestaltete Gespräch über Staatstheorie ist Platons umfangreichste Schrift. An der Diskussion sind drei alte Männer beteiligt: der Kreter Kleinias, der Spartaner Megillos und ein Athener, dessen Name nicht genannt wird. Das Thema des Dialogs ist die Suche nach der bestmöglichen Staatsverfassung und deren Ausgestaltung im Detail. Zunächst werden Zielsetzung und Prinzipien einer umsichtigen Gesetzgebung besprochen und historische Beispiele herangezogen, dann wendet sich das Gespräch konkreten Einzelheiten der Beschaffenheit eines optimal eingerichteten Staates zu. Es wird erörtert, unter welchen Voraussetzungen ein solcher Staat entstehen könnte und wie das Zusammenleben seiner Bürger zu regeln wäre. Angestrebt wird diejenige Verfassung, die den Bürgern dauerhaft die günstigsten Lebensverhältnisse gewährleistet. Die aretḗ (Tüchtigkeit, Tugend) der Bürger ist das Staatsziel, dem alles untergeordnet wird. Kleinias gehört einem Gremium seiner Heimatstadt Knossos an, das die Gründung einer neuen Siedlung auf Kreta vorbereitet. Dieses Projekt nehmen die drei Staatstheoretiker zum Anlass, auf einer Wanderung gemeinsam das Modell eines idealen Stadtstaats auszuarbeiten, wobei der Athener alle wesentlichen Ideen beisteuert. In ihrem Entwurf legen sie neben allgemeinen Grundsätzen auch eine Fülle von Einzelheiten fest. Sie konzipieren detaillierte Vorschriften, um dem neuen Gemeinwesen eine stabile Basis zu verschaffen. Eine Hauptaufgabe der Gesetzgebung sehen sie darin, sozialen Verfallserscheinungen und einem Niedergang der staatlichen Gemeinschaft vorzubeugen. Besondere Aufmerksamkeit widmen sie der Organisation einer sorgfältigen Erziehung der Jugend. Grundlegend ist das Prinzip der Mäßigung, das verhängnisvollen Exzessen vorbeugen soll. Die Nachteile der einseitigen Regierungsformen – Alleinherrschaft und Demokratie – sind zu vermeiden. Daher empfiehlt sich eine ausgewogene Mischverfassung. Regieren soll eine durch Charakterstärke und Sachkompetenz qualifizierte Elite. Gerechtigkeit soll für Eintracht sorgen. Dem Staat kommt eine fürsorgliche, erzieherische Rolle zu, er schafft die optimalen Rahmenbedingungen für eine gelungene Lebensführung der Bürger. Das Streben nach Tugendhaftigkeit bleibt nicht dem Ermessen des Einzelnen überlassen, sondern wird als kollektive Aufgabe aufgefasst. Daher greift der Staat tief ins Privatleben ein. Ein wichtiger Aspekt ist der Einklang zwischen den Menschen und den Göttern, denn der harmonisch geordnete soziale Organismus soll in die umfassende Harmonie des Kosmos eingebettet sein. In diesem konservativen, ganz auf Stabilität ausgerichteten Modell kommt die höchste Autorität im Staat den Gesetzen zu. Für die strikte Einhaltung der Bestimmungen hat ein aufwändiges System von Kontrollen und Strafen zu sorgen. In der Neuzeit hat der Dialog wie schon in der Antike ein zwiespältiges Echo gefunden. Moderne Kritik richtet sich vor allem gegen „autoritäre“ Züge des Gesetzeswerks; das Mandat des Staates zur moralischen Erziehung der Bürger auch mit Zwangsmitteln erregt Befremden. Örtliche Gegebenheiten Die fiktive Diskussion findet auf der Insel Kreta statt, um die Zeit der Sommersonnenwende; die maximale Länge des Tageslichts passt zum gewaltigen Umfang des Themas. Die drei Beteiligten, Kleinias, Megillos und der Athener, unternehmen eine Wanderung. Sie steigen von Knossos zu einer Grotte auf, wo sich ein Heiligtum des Gottes Zeus befindet. Sehr wahrscheinlich ist nicht die als Geburtsstätte des Zeus verehrte diktäische Grotte gemeint, sondern die idäische Grotte im Ida-Gebirge südwestlich von Knossos, etwa 100 Meter oberhalb der Hochebene von Nida. Dort soll der Gott nach seiner Geburt aufgezogen worden sein. Der archäologische Befund vermittelt einen Eindruck von der Bedeutung der Grotte als Kultstätte. Der Eingang der idäischen Grotte liegt auf 1538 Metern Höhe. Für den Aufstieg sind unter antiken Verhältnissen etwa zwölf bis dreizehn Stunden zu veranschlagen. Da die drei Wanderer betagt sind, legen sie öfters Ruhepausen ein, wozu auch die drückende Hitze Anlass gibt. Unterwegs erörtern sie das große Thema der optimalen Gesetzgebung und konzipieren ihren Verfassungsentwurf. Am Ende der Diskussion ist die Grotte noch nicht erreicht. In der Forschung ist erwogen worden, dass das Projekt der Koloniegründung einen historischen Hintergrund haben könnte. Die Kolonie wird bei Platon „Stadt der Magneten“ genannt. Sie soll also den Namen Magnesia erhalten, den laut Angaben im Dialog schon eine frühere Siedlung am selben Ort trug, die vor langer Zeit von ihren Bewohnern verlassen wurde. Eine im späten 3. Jahrhundert v. Chr. angefertigte Inschrift aus der kleinasiatischen Stadt Magnesia am Mäander, die deren Gründungssage überliefert, nimmt auf ein älteres kretisches Magnesia Bezug, das sich zwischen Gortyn und Phaistos in der Ebene von Mesara befunden habe. Von dort seien die Vorfahren der kleinasiatischen Stadtbürger eingewandert, wobei sie ihre bisherige Siedlung aufgegeben hätten. Umstritten ist, ob diese Sage einen historischen Kern hat und wie sich die inschriftliche Überlieferung zu Platons Nomoi verhält. Ein archäologischer Hinweis auf die Existenz einer Siedlung dieses Namens auf Kreta fehlt. Teilnehmer und Umstände Das Gespräch findet in freundschaftlicher, von gegenseitigem Respekt geprägter Atmosphäre statt. Es verläuft konstruktiv und führt zu Ergebnissen, die von allen Beteiligten gebilligt werden. Dadurch unterscheiden sich die Nomoi von vielen Dialogen Platons, in denen gegensätzliche Charaktere und Auffassungen aufeinanderprallen. Die Beteiligung eines kretischen, eines spartanischen und eines athenischen Gesprächspartners hängt mit dem Thema zusammen: Die drei Männer repräsentieren drei Verfassungstraditionen, die in Griechenland in hohem Ansehen standen. Die Gesetze der kretischen Städte wurden auf den mythischen Gesetzgeber Minos zurückgeführt, der sein Wissen nach der Legende in der idäischen Grotte von seinem Vater Zeus empfangen hatte. Die Wanderung zur Grotte ist somit auch als Huldigung an den göttlichen Urheber der kretischen Institutionen aufzufassen. Die Verfassung Spartas galt als Werk des legendären Weisen Lykurg; die dortigen Gesetze und Sitten waren stark auf die Förderung asketischer Disziplin zwecks Erhaltung der militärischen Kampfkraft ausgerichtet, und die Spartaner waren für ihr unbeirrtes Festhalten an den ererbten Einrichtungen und Normen bekannt. Die oft bewunderten spartanischen Tugenden wurden mit der Treue zum lykurgischen Staatsmodell in Verbindung gebracht. Die athenische Verfassung stammte in ihren Grundzügen von Solon, der als einer der „Sieben Weisen“ in höchstem Ansehen stand. Somit brachte jeder der drei Teilnehmer des Dialogs eine besondere Erfahrung mit. Kleinias ist vielleicht eine von Platon frei erfundene Gestalt, einen Beleg für seine historische Existenz gibt es nicht. Im Dialog ist er ein angesehener Bürger von Knossos. Seine Heimatstadt hat ihn beauftragt, zusammen mit neun weiteren Sachverständigen die Gründung einer Kolonie vorzubereiten, und lässt dem Zehnergremium bei der Einführung der Gesetze für die neue Siedlung freie Hand. Daher ist Kleinias an verwertbaren Anregungen sehr interessiert. Für ungewöhnliche Gedanken ist er empfänglich. Unklar ist, ob Megillos eine historische Person oder eine fiktive Figur ist. Einer Forschungsmeinung zufolge handelt es sich um einen Diplomaten, der 408/407 v. Chr. als Mitglied einer dreiköpfigen spartanischen Gesandtschaft nach Athen gekommen sein soll. Damals befand sich der Peloponnesische Krieg, in dem Athen und Sparta die Führungsmächte der beiden feindlichen Bündnisse waren, in seiner Endphase. Die Gesandtschaft hatte den Zweck, über den Loskauf von Kriegsgefangenen zu verhandeln. Außerdem erwähnt der Geschichtsschreiber Xenophon einen spartanischen Gesandten namens Megillos, der im Jahr 396 v. Chr. mit dem persischen Satrapen Tissaphernes verhandelte. Dieser Unterhändler ist vermutlich mit dem Spartaner, der an der diplomatischen Mission in Athen teilnahm, identisch. Jedenfalls hat Platon seinem Megillos die Züge verliehen, die man von einem typischen Spartaner erwartete. In den Nomoi agiert Megillos zurückhaltend, er trägt wenig zur Diskussion bei. Generell vertritt er die in seiner Heimat herrschende konservative Grundhaltung, die durch die Betonung militärischer Belange und Befürwortung einer asketischen Lebensweise charakterisiert ist. Als Angehöriger einer Familie, die traditionell Gastfreundschaft mit Athenern pflegt, hat er einen weiteren Horizont als manche seiner Mitbürger, die weniger an Kontakt mit Fremden gewöhnt sind. Der anonyme Athener ist die Zentralfigur des Dialogs. Er lenkt das Gespräch, verfügt dank seiner hervorragenden Bildung über die gründlichste Kenntnis der komplexen Problematik, bringt die wesentlichen Ideen ein und arbeitet sie auch aus. Seine monologischen Ausführungen machen den Großteil des Textes aus. Damit fällt ihm die gestaltende Rolle zu, die in den weitaus meisten Dialogen Platons dessen Lehrer Sokrates spielt. Die völlige Abwesenheit des Sokrates ist ein sehr auffälliges Merkmal der Nomoi, das sie von allen anderen Dialogen Platons unterscheidet. Sie ist wegen des Schauplatzes auf Kreta unvermeidlich, denn es war allgemein bekannt, dass der historische Sokrates keine Reisen zu unternehmen pflegte. Im Gegensatz dazu hat der Athener auf Reisen vielerorts Erfahrungen gesammelt. Man hat vermutet, dass sich hinter dem Athener Platon selbst verbirgt. Jedenfalls wurde der anonyme Gesprächsteilnehmer aus Athen schon in der Antike als der Sprecher des Autors betrachtet, der dessen eigene Überzeugungen ausdrückt. Diese Interpretation ist die traditionell vorherrschende. Dennoch kann die Staatstheorie des Atheners nicht in allen Einzelheiten ohne Weiteres mit Platons Position gleichgesetzt werden, denn es ist nicht sicher, dass der gesamte Dialog in der vorliegenden Fassung ein völlig authentisches Werk des Philosophen ist. Für eine zeitliche Einordnung der fiktiven Handlung fehlt es an Anhaltspunkten. Falls der Megillos, der im Dialog ein alter Mann ist, mit dem historischen Gesandten gleichzusetzen ist, ist an eine Zeit nach dem Ende des 5. Jahrhunderts v. Chr. zu denken. Inhalt Das Ziel der Gesetzgebung (Bücher I und II) Die Tugend in ihrer Gesamtheit Das Gespräch setzt ohne Rahmenhandlung unvermittelt ein. Der Athener fragt Kleinias und Megillos, ob sie der kretischen und der spartanischen Gesetzgebung einen göttlichen Ursprung zuschreiben. Beide bejahen das, und Kleinias erläutert den Zweck einzelner Bestimmungen, der militärischer Natur sei: Fast alles sei auf den Krieg hin ausgerichtet, „Frieden“ sei ein leeres Wort, denn in Wirklichkeit herrsche zwischen allen Städten auch ohne Kriegserklärung ständiger Krieg, der ein Existenzkampf sei. Der Folgerung, eine gute Verfassung müsse auf militärische Überlegenheit abzielen, stimmt Megillos aus spartanischer Sicht sogleich zu. Kleinias ergänzt, auch innerhalb der Städte und Dörfer seien gewaltsame innere Konflikte ein normaler Zustand. Aus dieser Perspektive erscheint die Kampfkraft als die Fähigkeit, die der Gesetzgeber in erster Linie fördern muss. Der Athener greift den Gedanken auf, dass der Zweck der Gesetzgebung in der Förderung der Tüchtigkeit bestehe, wendet sich aber gegen die einseitige Betonung der Tapferkeit; diese gehöre zwar zur Tüchtigkeit oder Tugend, sei aber deren unbedeutendster Teil. Der Gesetzgeber habe nicht das Schlechteste – den Bürgerkrieg – als Normalzustand ins Auge zu fassen, sondern das Beste, den inneren und äußeren Frieden. Alle kriegerischen Anordnungen seien um des Friedens willen zu treffen. Das Ziel sei die Gesamttugend und deren wichtigster Teil sei die Einsicht (phrónēsis). An zweiter Stelle unter den Tugenden nennt der Athener die mit Vernunft verbundene Besonnenheit, den dritten Rang weist er der Gerechtigkeit (dikaiosýnē) zu und den vierten und letzten der Tapferkeit. Diesen geistigen Gütern hätten sämtliche gesetzlichen Bestimmungen zu dienen, und bei allen Bestrebungen müsse die Vernunft die Leitung haben. Daher sei es sinnvoll, eine Untersuchung der Gesetzgebung mit der Analyse der Einrichtungen, die auf die Tapferkeit abzielen, zu beginnen und dann aufsteigend die übrigen Tugenden ins Auge zu fassen. So könne man zum Verständnis der Gesamttugend und der ihr dienenden Gesetzgebung gelangen. Dieser Vorschlag findet Anklang. Die Tapferkeit und die Besonnenheit In Sparta wird viel zur Steigerung der Tapferkeit unternommen. Megillos zählt einige der anspruchsvollen Abhärtungsübungen auf, die dazu befähigen, auch heftige Schmerzen zu ertragen. Die damit errungene Tapferkeit ist aber, wie der Athener darlegt, einseitig, sie „hinkt“: Man lernt nur dem Schmerz tapfer zu widerstehen, nicht aber das Luststreben unter Kontrolle zu bringen. Spartaner haben wenig Gelegenheit, Selbstbeherrschung im Umgang mit der Lust zu erlernen, denn ihre Gesetze gebieten ihnen, sich von den größten Vergnügungen fernzuhalten. Ähnlich sind die Bestimmungen in den kretischen Städten. Die Meisterung der Begierde ist aber die andere Seite der Tapferkeit. Sie ist sogar wichtiger als die Abhärtung, denn in der Kraftlosigkeit gegenüber den Verlockungen der Lust liegt mehr Feigheit als in der Weichheit angesichts von Schmerz. Wer keine Erfahrungen mit den größten Lüsten hat, wird vom Drang zu ihnen überwältigt werden, sobald eine Gelegenheit auftaucht. Hier liegt ein Mangel der Gesetzgebung von Lykurg und Minos. Noch ungünstiger sieht es in Sparta und in Knossos hinsichtlich der Besonnenheit aus: Kleinias und Megillos können nichts anführen, was wirklich ihrer gezielten Förderung dient. Der Weingenuss als Tugendübung Ungeachtet der Argumentation des Atheners hält Megillos an seiner Überzeugung fest, dass man mit verhängnisvollen Lüsten am besten gar nicht erst Bekanntschaft machen sollte. Er lobt den in Sparta gesetzlich festgelegten restriktiven Umgang mit dem Weingenuss, der bewirke, dass man dort nicht wie anderswo Betrunkene in der Öffentlichkeit sehe. Davon lässt sich der Athener aber nicht beeindrucken. Für ihn handelt es sich um eine äußerlich erzwungene Zurückhaltung, die zusammenbricht, sobald die Standhaftigkeit erschlafft. Er wendet sich gegen pauschale, undifferenzierte Bewertungen des Weintrinkens. Das in Sparta verbotene Symposion (Trinkgelage) sei nicht etwas an sich Schlechtes, es bedürfe nur einer kompetenten Leitung. Wenn es richtig durchgeführt werde, habe es sogar einen bedeutenden pädagogischen Wert. Der Gedankengang, mit dem der Athener seine Auffassung begründet, lautet: Jede Ausbildung zielt auf den Erwerb einer Fähigkeit ab. Von klein auf werden Fähigkeiten eingeübt. Der Übende soll tüchtig werden; Erziehung zur Tugend von der Kindheit an soll ihn zu einem vollendeten Staatsbürger machen. Tüchtigkeit beruht auf Selbstbeherrschung, Untüchtigkeit ist das Resultat von Zügellosigkeit. Zur Veranschaulichung erzählt der Athener das „Marionettengleichnis“: Jedes irdische Lebewesen verhält sich wie eine Marionette, die von einer höheren, göttlichen Instanz geführt wird. Zwei Drähte, an denen die menschlichen Marionetten hängen, sind die Gefühle, die mit ihren Erwartungen verbunden sind. Diese sind von zweierlei Art: Furcht bei Schmerzerwartung und Zuversicht oder Keckheit bei Lusterwartung. Beide wirken zugleich auf den Menschen ein und zerren ihn zu entgegengesetzten Handlungen hin. Hinzu kommt aber noch ein weiterer Faktor, ein dritter Draht: die vernünftige Überlegung, mit der man erwägt, was besser und was schlechter ist, und sich dann für das Bessere entscheidet, auch wenn die Furcht oder die Zuversicht in eine andere Richtung drängen. Der Draht der Vernunft ist aus Gold und daher biegsam, die anderen sind aus unedlem Metall und starr. Der goldene Draht ist zwar schön, aber sanft, er übt keine Gewalt aus. Der Zugkraft des goldenen Drahtes soll man in allem folgen, doch kann sie sich wegen seiner nachgiebigen Beschaffenheit nicht von allein gegen die anderen durchsetzen. Daher muss ihr der Gesetzgeber zu Hilfe kommen. Erziehung im Rahmen der gängigen Regelungen zielt darauf ab, dass man lernt, der Abneigung gegen Unlustgefühle zu widerstehen. Man gewöhnt sich daran, die Furcht vor Schmerzen zu überwinden und Leidvolles zu ertragen, wenn die Vernunft es fordert. Anders verhält es sich jedoch mit der Lusterwartung, von der die Marionette ebenfalls gelenkt wird. Mit ihr hängen Gemütszustände wie Zorn, Übermut und Habgier zusammen. Wie man mit solchen Anwandlungen vernünftig umgeht, wird der Jugend nicht beigebracht. Daher sind die Menschen als Erwachsene derartigen Herausforderungen gewöhnlich hilflos ausgeliefert, was zu Unverschämtheit und Ungerechtigkeit führt. Leider fehlt es an geeigneten Anlässen zu gefahrloser Erprobung dieses Aspekts der Selbstbeherrschung in der Praxis. Dennoch gibt es eine Lösung: Einen guten, sogar wunderbar leichten Weg bietet der Wein. Er beseitigt Hemmungen und ruft die Wirkungen übertriebener Zuversicht hervor: Da die Furcht verschwindet, wird man zügellos und verwegen, rücksichtslos und schamlos. Daher ermöglicht es der überwachte Weingenuss beim Symposion, unter kontrollierten Bedingungen auf gefahrlose Weise Erfahrungen mit derartigen Regungen zu sammeln und ihre Beherrschung einzuüben. So erweist sich das Weintrinken als Weg zur Besonnenheit. Die Aufgabe von Musik und Tanz An die bisherigen Ausführungen anknüpfend legt nun der Athener sein Verständnis der musischen Erziehung dar. Lust und Schmerz sind die ersten Eindrücke, die kleine Kinder empfangen, und unter dem Gesichtspunkt dieser beiden Faktoren begegnen ihnen dann erstmals moralische Qualitäten: das Gutsein (die Tugend) und die Schlechtigkeit. Später kommt die Vernunft hinzu. Entscheidend für den Erfolg der Erziehung ist, dass Lust und Schmerz schon vor der Ausbildung der Vernunft auf richtige Weise mit den ethischen Gegebenheiten verknüpft werden, sodass die Neigungen sich so ausbilden, wie sie sollen. Das Gute soll immer geliebt, das Schlechte verabscheut werden. Wenn die Gefühle von Anfang an richtig ausgerichtet werden, wird die Neigung später, wenn die Vernunft hinzutritt, von der Einsicht nicht korrigiert, sondern bestätigt. Die Erfüllung dieser pädagogischen Aufgabe macht die Erziehung aus. Allerdings lässt die Wirkung einer guten Erziehung im Lauf des Lebens oft nach. Daher muss sie erneuert werden. Diesem Zweck dienen die Feste mit Musik und Tanz. Fast jedes junge Lebewesen ist von Natur aus aktiv, es will sich mit Tönen und Bewegungen wie Hüpfen und Springen äußern. Bei den Tieren verläuft das chaotisch, nur dem Menschen ist der Sinn für Rhythmus und Harmonie gegeben. Musik kann den jugendlichen Bewegungsdrang in eine zuträgliche Bahn lenken. Wenn jemand gut erzogen ist, ist die Tugend und damit die Schönheit in seiner Seele und er erfreut sich am Schönen. Das zeigt sich körperlich, indem er schön singt und tanzt. An der schönen Körperhaltung und Melodie, am schönen Gesang und Tanz kann man erkennen, wie jemand erzogen ist. Bei den Chorreigen anlässlich der Feste wird das vorgeführt. Wer tugendhaft ist und daher am Schönen Freude hat, der singt und tanzt anders als jemand, der charakterlich missraten ist, ebenso wie die Körperhaltung und Stimme eines Tapferen in der Bedrängnis anders ist als die eines Feiglings. Wegen des Zusammenhangs von seelischer Beschaffenheit und körperlicher Erscheinung darf die Auswahl der Lieder und Tänze nicht dem Zufall überlassen bleiben. Die Kompetenz, auf diesem Gebiet Entscheidungen zu treffen, kommt weder den Künstlern noch dem Publikum zu, sondern nur dem Gesetzgeber, der dank seiner Weisheit die seelischen Wirkungen einzuschätzen weiß. Daher sind Musik und Tanz gesetzlich zu reglementieren. Oberflächliches Vergnügen darf nicht das Auswahlkriterium sein, auf das Urteil der Menge kommt es nicht an. Im Tanz und Gesang werden menschliche Gesinnungen nachgeahmt. Schlechtes ist aber unter keinen Umständen nachahmenswert. Die Harmonie von Seele und Körper erfordert, dass der Tugendhafte und seelisch Schöne nur mit angemessenen Melodien und Rhythmen im Chorreigen auftritt, also mit solchen, die eine tugendhafte Haltung ausdrücken. Damit werden die noch weichen Seelen der Kinder bezaubert und für die Tugend gewonnen. Die musische Betätigung soll aber nicht mit der Jugend enden, sondern bis ins hohe Alter fortdauern, wenngleich sich das Verhältnis zu Musik und Tanz mit zunehmendem Lebensalter ändert. Daher ist neben den beiden Chören der Kinder und der Jünglinge ein dritter Chor für die reifen Männer im Alter von dreißig bis sechzig Jahren einzurichten. Lehren aus der Geschichte (Buch III) Historische Erfahrungen und ihre Auswertung Nimmt man überall die Tugendhaftigkeit zum Maßstab, so ist ebenso wie die musische Betätigung auch die politische unter dem Gesichtspunkt zu beurteilen, ob sie die Tugend oder die Schlechtigkeit gefördert hat. Historisch lässt sich dies am Fortschreiten der Staaten in die eine oder die andere Richtung erkennen. Die Betrachtung der Geschichte zeigt, wie Staaten größer und kleiner, besser und schlechter geworden sind und wie dies mit ihren jeweiligen Verfassungen zusammenhängt. Der Athener geht von einem mythischen Geschichtsbild aus, das seine beiden Gesprächspartner teilen. Demnach verläuft die Geschichte zyklisch. Zivilisationen entstehen, entwickeln sich, entfalten ihre Macht, sind Verfallserscheinungen ausgesetzt und werden schließlich durch Katastrophen vernichtet. Die Vernichtung vollzieht sich jeweils so gründlich, dass die Überlebenden nicht an die glanzvolle Vergangenheit der untergegangenen Stadtkulturen anknüpfen können, sondern zu einem Neuanfang unter den primitiven Bedingungen der Bergwildnis gezwungen sind. Viele Generationen lang leben sie verstreut ohne Zivilisation; Künste und Techniken wie etwa Metallgewinnung sind unbekannt. Bei ihrer kärglichen Lebensweise kennen sie keinen Reichtum, daher auch keinen Neid und Zwist. Sie sind unwissende Analphabeten, naiv, gutmütig und aus Unkenntnis der Laster tugendhaft. Maßgeblich sind die Sitten der Vorfahren und die Autorität der Ältesten, Gesetzgeber werden nicht benötigt. In einer späteren Phase entstehen die ersten ummauerten Bergsiedlungen, schrittweise wird der Ackerbau eingeführt, schließlich werden auch Städte im Tiefland gegründet. Dabei schließen sich unterschiedliche Gruppen zusammen, die verschiedenartige Traditionen mitbringen. Sie benötigen nun gemeinsame Regeln des Zusammenlebens. Damit schlägt die Stunde der Gesetzgeber. Sie schaffen Verfassungen, die teils monarchisch, teils aristokratisch geprägt sind. In einer weiteren Phase kommt die Seefahrt auf und die Kriegführung setzt ein, Unrecht und Gewalttätigkeit greifen um sich. Während des Trojanischen Krieges kommt es in den Heimatstaaten der Kämpfer zu Aufständen und nach der Heimkehr der Helden zu Mord, Totschlag und vielen Vertreibungen. Lehrreich ist die Entwicklung auf der Halbinsel Peloponnes, die der Athener nun genauer ins Auge fasst. Dort sind drei Staaten entstanden: Argos, Messene und Sparta. Ursprünglich waren die drei Mächte durch einen Eid verbündet, mit dem sie sich verpflichteten, ihre verfassungsmäßige Ordnung und das bestehende Staatensystem beizubehalten und einander gegen jede Störung der wohlgeordneten Verhältnisse beizustehen. Hätten sie diese anfängliche Eintracht beibehalten, so hätte keine Macht der Welt ihnen gefährlich werden können. Die historische Entwicklung verlief aber völlig anders: Ständig lagen die Spartaner im Krieg gegen Argiver und Messener. Nur Sparta war stabil und erfolgreich, die beiden anderen Staaten wurden durch die Maßlosigkeit ihrer Könige zugrunde gerichtet. Den Erfolg der Spartaner führt der Athener auf die Überlegenheit ihrer Verfassung zurück, die eine kluge, ausgewogene Mischung monarchischer und aristokratischer Elemente sei. Nicht einem Mangel an Tapferkeit seien die Argiver und Messener zum Opfer gefallen, sondern der fehlenden Voraussicht ihrer Gesetzgeber, die es versäumt hätten, die Herrschergewalt durch Gegengewichte zu mäßigen. Dieses Beispiel zeige, wie wenig Tapferkeit allein ohne die übrigen Teile der Gesamttugend auszurichten vermöge. Die Lehren aus den peloponnesischen Entwicklungen werden von der Geschichte Athens und des Perserreichs, der sich der Athener nun zuwendet, bestätigt. Es handelt sich um zwei Staaten, die durch die Einseitigkeit ihrer Verfassungen eindrückliches Anschauungsmaterial bieten. In Athen herrscht radikale Demokratie, im Perserreich hat das monarchische Prinzip seine extremste Ausprägung erhalten. Dies war anfänglich nicht so; in beiden Staaten waren zunächst mäßigende Faktoren wirksam. Im Lauf der Zeit nahm aber die Einseitigkeit zu, was verheerende Auswirkungen hatte. Bei den Persern wurden die Königssöhne schlecht erzogen. Da sie verwöhnt waren, konnten sie nach dem Regierungsantritt der Verantwortung, die mit ihrer gewaltigen Macht verbunden war, nicht gerecht werden. Aus Mangel an Selbstbeherrschung gaben sie ihren tyrannischen Neigungen nach, der Konsens von Herrschern und Beherrschten zerbrach. Den Athenern hingegen wurde das Übermaß an Freiheit, das ihnen die Demokratie bescherte, zum Verhängnis. Ein kultureller Niedergang, der von der Musik ausging, führte zu einem Sittenverfall, Dreistigkeit und Gesetzesverachtung nahmen überhand. Die Umsetzung der gewonnenen Einsichten Aus den bisher dargelegten Beobachtungen und Einsichten zieht der Athener die Bilanz. Drei Ziele hat der Gesetzgeber im Auge zu behalten: Die Stadt, der er eine Verfassung gibt, soll erstens frei sein, zweitens mit sich selbst befreundet sein, also von innerem Zwist und Bürgerkrieg verschont bleiben, und drittens einer vernünftigen Lenkung unterstellt sein. Für das, worauf es dabei ankommt, haben sich schon eine Reihe von Anhaltspunkten ergeben. Nun fragt sich, wie aus diesen Bausteinen eine stimmige Staatstheorie konstruiert werden kann und wie man deren Tauglichkeit erproben könnte. An diesem Punkt berichtet Kleinias von einer glücklichen Schicksalsfügung. Er gehört einem zehnköpfigen Gremium an, das von den Behörden seiner Heimatstadt Knossos den Auftrag erhalten hat, eine bedeutende Koloniegründung, an der auch andere kretische Städte beteiligt sind, vorzubereiten. Für das Vorgehen bei der Einrichtung des neuen Staatswesens hat die Kommission freie Hand erhalten. Daher kann Kleinias die Ergebnisse der Diskussion in das Projekt einbringen. Die drei Männer beschließen, gemeinsam einen Verfassungsentwurf zu erarbeiten, der nicht Theorie bleiben muss, sondern Aussicht auf Verwirklichung hat. Die Staatsgründung (Bücher IV und V) Äußere Rahmenbedingungen und Staatsform Zunächst sind die äußeren Rahmenbedingungen zu klären. Fernhandel ist der Tugend abträglich, da er zu einer Vielzahl von Geldgeschäften führt, die den Charakter verderben. Daher sollte die Stadt mit ihrem Umland möglichst wirtschaftlich autark sein. Sie sollte weder auf Importe angewiesen sein noch über eine Fülle von exportierbaren Gütern verfügen. Eine beträchtliche Entfernung vom Meer ist wünschenswert; Häfen sollten möglichst nicht in der Nähe sein, da sonst korrumpierende Einflüsse einströmen. Ein Problem stellt die Herkunft der Siedler dar. Wenn sie aus vielen verschiedenen Gebieten stammen und daher eine formlose Masse bilden, wird es schwer sein, ein Einheitsbewusstsein zu schaffen. Ist jedoch die Bürgerschaft nach Herkunft und Tradition einheitlich, so wird sie an ihren Sitten festhalten wollen und sich dem Willen des Gesetzgebers nicht leicht fügen. Überhaupt stellt sich die Frage, wie sich der Gesetzgeber die erforderliche Autorität verschaffen kann. Dafür benötigt er nicht nur Kompetenz, sondern auch günstige Umstände. Am einfachsten ist seine Aufgabe, wenn ein gut veranlagter, reformwilliger Herrscher bereits unangefochten an der Macht ist. Dann kann dieser den Gesetzgeber beauftragen, eine neue Verfassung auszuarbeiten, und die Umsetzung einfach anordnen. Der erste Schritt ist die Wahl der Staatsform. Tyrannische Willkürherrschaft scheidet von vornherein aus. In Betracht kommen Demokratie, Oligarchie, Aristokratie und Monarchie. Sie alle sind aber einseitig und daher mangelhaft, denn sie dienen nicht dem Ganzen, sondern dem Nutzen einzelner Personen oder Bevölkerungsteile. Gesetze werden so beschlossen, wie es dem Vorteil der hinter ihnen stehenden Interessengruppen entspricht, nicht wie es das Gemeinwohl erfordert. Das Gemeinwesen wird von einem seiner Teile unterjocht. Dem kann nur vorgebeugt werden, wenn die Gesetze nicht der Willkür von Individuen oder Gruppen unterliegen, sondern umgekehrt die Regierenden den Gesetzen willig gehorchen. Gute Gesetzgeber kombinieren Elemente der einzelnen einseitigen Herrschaftsformen und fügen sie zu einem sinnvoll strukturierten Ganzen, einer ausgewogenen Mischverfassung, zusammen. Leitgrundsätze eines vernünftigen sozialen Lebens Der Athener stellt sich nun vor, dass die Siedler bereits eingetroffen sind, und entwirft eine programmatische Rede, die der Gesetzgeber an die versammelten Neubürger zu halten hätte. Darin erläutert er die Prinzipien eines sinnvoll geregelten sozialen Lebens. In den Mittelpunkt stellt er die Ausgewogenheit, das Einhalten des rechten Maßes. Maßlosigkeit verführt die vom Glück Begünstigten zum Irrglauben, sie wüssten schon als junge Menschen Bescheid, bedürften keiner Führung und könnten andere führen. Solche Fehleinschätzungen rächen sich. Der Besonnene ist bescheiden, nimmt willig seinen Platz ein und erfüllt seine Pflichten. Die Gottheit ist das Vorbild, das Maß aller Dinge; daher soll man danach streben, ihr so ähnlich zu werden wie möglich. Die Pflichten gegenüber Angehörigen, Freunden, Mitbürgern und Fremden sind in den Gesetzen nicht nur darzulegen, sondern auch einsichtig zu machen. Jedem Gesetz ist eine erläuternde Vorrede beizufügen. Die rechte Ordnung besteht darin, dass überall das Bessere herrscht und geehrt wird und das Schlechtere dem Besseren dient. Das Kostbarste und Göttlichste am Menschen ist seine Seele. Ihr gebührt daher besondere Fürsorge und Ehrung. Aus Unwissenheit werden dabei aber schwere Irrtümer begangen. Nicht Nachgiebigkeit und Verwöhnung hilft der Seele, sondern nur das, was sie bessert und dazu beiträgt, dass sie das Beste ergreift und das Schlechte meidet. Vor übermäßiger Selbstliebe hat man sich zu hüten, denn der Liebende wird blind gegenüber dem, was er liebt. Jeder soll bestrebt sein, anderen und besonders der Jugend Vorbild zu sein, denn Vorbildhaftigkeit ist die beste Erziehung. Daher hat der Gesetzgeber nicht die Jungen zu mahnen und zurechtzuweisen, sondern die Älteren, denn an deren gutem oder schlechtem Vorbild orientiert sich die Jugend. Hinsichtlich der leiblichen Güter zeigt sich der Wert des Maßhaltens besonders beim Vererben. Man soll den Kindern keine Reichtümer hinterlassen, denn großer Besitz verdirbt den Charakter und lockt Schmeichler an; doch soll man die Nachkommen auch nicht in Armut zurücklassen, denn sonst droht ihnen das Abgleiten in Knechtschaft. Besonders verdienstlich ist aktiver Widerstand gegen Unrecht. Heilig sind die Verpflichtungen gegenüber den Fremden und besonders das Asylrecht, das, wenn es einmal gewährt ist, unter keinen Umständen verletzt werden darf. Ausführlich geht der fiktive Redner in seiner Ansprache an die Siedler auf das Verhältnis von Lust, Schmerz und Begierden ein. Er versucht ihnen begreiflich zu machen, dass das Leben des Einsichtigen, Besonnenen und Tapferen lustvoller sei als das des Unverständigen, Zügellosen und Feigen. Der Unverständige könne zwar heftigere Lust erleben als der Besonnene, doch überwiege in seinem Leben insgesamt das Schmerzvolle. Die staatliche und soziale Ordnung (Bücher V–XII) Weichenstellungen bei der Staatsgründung Anschließend wendet sich das Gespräch den Einzelheiten der Staatsgründung und Gesetzgebung zu. Besondere Aufmerksamkeit gebührt dem Problem der Landverteilung, denn die Aufteilung des Grundbesitzes ist eine Hauptquelle der Zwietracht. Da Stabilität der gesamten Verhältnisse angestrebt wird, darf die Stadt nicht wachsen, sondern die Zahl der Haushalte ist konstant zu halten. Die Bürgerschaft soll so groß sein, dass sie einerseits die Verteidigung des Staates gegen äußere Feinde gewährleisten kann und andererseits das vorhandene fruchtbare Land zu ihrer Ernährung ausreicht. Unter diesen Gesichtspunkten findet der Athener eine Anzahl von 5040 Haushalten optimal. Unter ihnen wird die nutzbare Fläche aufgeteilt. Hinsichtlich der Frage, was Gemeinschafts- und was Privatbesitz sein soll, kommen verschiedene Modelle in Betracht. Bei dieser Entscheidung hat der Gesetzgeber zu beachten, dass das theoretisch Bessere nicht immer umsetzbar ist. Aus pragmatischen Erwägungen kann er sich gezwungen sehen, auf die beste Option zu verzichten. Je nach den Umständen muss er sich nötigenfalls für die zweit- oder drittbeste Lösung entscheiden. Da die Bürgerschaft eine Einheit bilden soll, gleichsam einen Organismus, wäre das Beste die radikale Abschaffung des Privateigentums. Sie wäre so konsequent durchzuführen, dass nicht nur sämtliche materiellen Güter verstaatlicht werden, sondern auch die Familie als Privatsphäre und „Besitz“ des Familienvaters aufgelöst wird. In diesem Modell wird sogar die Exklusivität der ehelichen Bindung aufgehoben, und die Kinder sind nicht von ihren Eltern aufzuziehen, sondern die Erziehung obliegt der Bürgergemeinschaft. Das hält der Athener für vollkommene Lebensverhältnisse, doch sieht er ein, dass ein solches Modell utopisch ist. Die zweitbeste Lösung nimmt den Privatbesitz an Grund und Boden mit erheblichen Einschränkungen in Kauf. Immerhin soll bei den Grundbesitzern das Bewusstsein einer starken Sozialbindung des Eigentums kultiviert werden. Das Los entscheidet, welche Familie welchen Landbesitz erhält. Jede Familie hat das ihr zugewiesene Land zu behalten, der Verkauf von Immobilien ist verboten. Damit die Zahl der Haushalte konstant bleibt, darf eine Wohnstätte nur an einen der Söhne des Besitzers, den er auswählen kann, vererbt werden. Die Töchter treten durch Heirat in andere Familien ein, überzählige Söhne werden von Bürgern ohne männliche Nachkommen als Erben eingesetzt oder als Kolonisten in die Ferne entsandt. Außerdem kommen Mittel der Familienplanung zum Einsatz, wenn die Bevölkerung zu wachsen droht oder wegen Seuchen oder Kriegen schrumpft. Die Stadt hat keine konvertible Währung, Devisenbesitz ist untersagt, ebenso Besitz von Gold und Silber sowie Kreditgeschäfte. Für Reisen bekommt man die benötigten Devisen vom Staat zugewiesen. Bei der Verheiratung von Töchtern ist jede Mitgift verboten. Als zentrales Anliegen des Gesetzgebers hebt der Athener das Ziel hervor, dass die Bürger miteinander so befreundet wie möglich sein sollen. Daher muss Rechtsstreitigkeiten, die sich meist an Eigentumsfragen entzünden, möglichst vorgebeugt werden. Damit es zu keinen inneren Konflikten kommt, ist soziale Ungleichheit nur innerhalb eines festgelegten engen Rahmens tolerierbar: Die reichsten Bürger dürfen neben ihrem Landlos bewegliche Güter bis zum vierfachen Wert eines Landloses besitzen, also insgesamt maximal das Fünffache des vom Staat garantierten Existenzminimums ihrer ärmsten Mitbürger, die außer dem Landlos nichts haben. Das gesamte Staatsgebiet wird in zwölf Bezirke (Phylen) aufgeteilt. Jedem Haushalt werden zwei Parzellen zugeteilt, eine in der Stadt und eine auf dem Land. Auch den Einfluss des Klimas auf das menschliche Gemüt hat der Gesetzgeber zu berücksichtigen. Das Ämterwesen Ein Gesetzeswerk, wie gut es auch sein mag, kann in der Praxis nicht besser sein als die Menschen, denen die Umsetzung der Bestimmungen obliegt. Daher ist das Vorgehen bei der Besetzung der Ämter von ausschlaggebender Bedeutung. Sowohl die, die in ein Regierungsamt gelangen sollen, als auch die für die Auswahl der Beamten Zuständigen bedürfen einer Qualifikation. Den Nachweis der Befähigung für ein Amt erbringt ein Bürger durch sein Verhalten während seines gesamten bisherigen Lebens, das er unter den Augen seiner Mitbürger verbracht hat. Da dies zum Zeitpunkt der Koloniegründung noch nicht möglich ist, muss die Stadt, von der die Neugründung ausgeht, zunächst ein Gremium einsetzen, das paritätisch aus bewährten Bürgern der Mutterstadt und Vertretern der Neusiedler zusammengesetzt ist. Diesem Gremium werden die ersten Personalentscheidungen übertragen. Für die Einzelheiten macht der Athener konkrete, detaillierte Vorschläge. Er nennt folgende Staatsorgane: Der 37-köpfige Rat der Gesetzeswächter, der die Einhaltung der Gesetze überwacht. Die Gesetzeswächter müssen während ihrer Amtstätigkeit mindestens 50, höchstens 70 Jahre alt sein, dürfen also maximal 20 Jahre amtieren. Anfangs werden sie von einem 200-köpfigen Wahlausschuss, den die Mutterstadt eingesetzt hat, ernannt, später von den Bürgern gewählt. Das Kollegium der drei Strategen (Heerführer). Für die Wahl der Strategen sind zunächst die Gesetzeswächter vorschlagsberechtigt. Wahlberechtigt sind alle Bürger, die Militärdienst geleistet haben. Sie wählen die Strategen aus dem Kreis der Vorgeschlagenen, dürfen aber auch vor der Wahl Änderungen an der Vorauswahl vornehmen: Wenn sie einen der vorgeschlagenen Kandidaten durch eine nicht vorgeschlagene Person ersetzen möchten, können sie einen entsprechenden Gegenvorschlag machen, über dessen Annahme mit einfachem Mehr entschieden wird. Offiziere, darunter die zwölf Taxiarchen sowie Kommandeure der verschiedenen Waffengattungen. Für ihre Einsetzung gelten besondere Bestimmungen; sie werden teils gewählt, teils von den Strategen ernannt. Die 360-köpfige Bule (Staatsrat). Nach einem komplizierten Verfahren haben die Bürger Kandidaten vorzuschlagen, von denen dann 720 von der Bürgerschaft zu wählen sind. Von diesen wird die Hälfte durch Losverfahren ausgeschieden, die übrigen werden Räte. Der Rat ist während seiner einjährigen Wahlperiode nicht in seiner Gesamtheit tätig, sondern er gliedert sich in zwölf Ausschüsse zu je 30 Mitgliedern, von denen jeder einen Monat lang die Amtsgeschäfte führt. Der jeweils geschäftsführende Ausschuss des Rats ist für die Außenpolitik und die innere Sicherheit zuständig, er beruft Versammlungen ein und löst sie auf. Weitere Gremien, darunter diejenigen, denen die Verwaltung der ländlichen Gebiete, der Straßen, Tempel und öffentlichen Gebäude obliegt. Dazu zählen Priesterkollegien, Markt-, Stadt- und Landaufseher sowie Richter. Für ihre Wahl oder Einsetzung gelten spezielle Bestimmungen, die der Athener detailliert darlegt. Das wichtigste aller Ämter hat der Aufseher über das gesamte Erziehungswesen inne. Er wird von einem Teil der Beamtenschaft in geheimer Wahl aus dem Kreis der Gesetzeswächter gewählt. Seine Amtsperiode beträgt fünf Jahre, Wiederwahl ist nicht zulässig. Schließlich weist der Athener darauf hin, dass die anfänglichen Gesetze des neuen Staates notwendigerweise unvollständig sein müssen. Sie bilden einen stabilen Rahmen, sind aber später durch zusätzliche Regelungen und Ausführungsbestimmungen zu ergänzen. Diese Aufgabe wird den Gesetzeswächtern zufallen. Auch dabei soll ausschließlich der Gesichtspunkt maßgeblich sein, wie man als Bürger ein guter Mensch wird. Diesem Ziel wird alles untergeordnet. Der Staat und der Besitz der Staatsbürgerschaft sind keine Selbstzwecke, sondern Mittel zur Erlangung der Tugend. Sollte der Staat trotz aller Bemühungen des Gesetzgebers und der Gesetzeswächter eines Tages korrumpiert werden und seine Bürger schlechter statt besser machen, so ist notfalls Auswanderung geboten. Leitlinien für die Familiengründung und das Leben der Frauen Auch das Familienleben wird nicht dem Zufall und der Willkür überlassen, sondern im Sinne des Staatsziels reglementiert. Die Familiengründung ist Bürgerpflicht; wer sich ihr entzieht, muss eine gesetzlich festgelegte Buße in Kauf nehmen. Spätestens im Alter von 35 Jahren soll jeder Mann verheiratet sein. In die Partnerwahl kann der Staat zwar nicht direkt eingreifen, doch soll den jungen Männern nachdrücklich nahegelegt werden, dass sie bei der Wahl ihrer Gattinnen nicht impulsiv nach subjektiven Gesichtspunkten entscheiden, sondern das Gemeinwohl mitbedenken sollen. Dazu gehört, dass soziale Schichtungen – etwa indem Angehörige einer Oberschicht nur untereinander Ehen schließen – unerwünscht sind. Ratsam ist es, sich nicht mit einer Familie zu verschwägern, die der eigenen Art entspricht, sondern eher mit einer, die eine komplementäre Ergänzung zu dem bietet, was man selbst ist und hat. Dies fördert die wünschenswerte Homogenität der Stadtbevölkerung. Die Frauen darf der Gesetzgeber nicht – wie in den griechischen Staaten üblich – vernachlässigen, sondern er muss auch ihnen die bestmögliche Erziehung zur Tugend verschaffen. Sie sollen nicht in der Verborgenheit der Häuser bleiben, sondern sich am öffentlichen Leben beteiligen. Wenn sie mindestens 40 Jahre alt sind, können sie in Ämter gewählt werden. Auch ihre Heranziehung zum Militärdienst ist bei Bedarf bis zum 50. Lebensjahr möglich. Die Erziehung Schwierig ist es für den Gesetzgeber, in die Erziehung kleiner Kinder einzugreifen, da diese sich in der Verborgenheit der Wohnstätten vollzieht und aus vielen teils unscheinbaren Vorgängen besteht. Aber schon in frühester Kindheit vollziehen sich wichtige Weichenstellungen für die Charakterbildung. Daher sind Empfehlungen nötig. Die Erziehung hat schon im Mutterleib in Form von Gymnastik zu beginnen. Kleinkinder benötigen ständige Bewegung; dies sieht man daran, dass sie in den Schlaf gewiegt werden. Da das schon für Embryonen gilt, sollten Schwangere möglichst viel in Bewegung sein. Wichtig ist auch eine ausgeglichene Stimmung der Schwangeren. Solange kleine Kinder noch nicht stehen können, sollen sie möglichst ununterbrochen getragen werden, dann sind sie später weniger furchtsam. Noch besser ist es, sie bis zum Ende des dritten Lebensjahrs oft zu tragen. In der Erziehung ist der Mittelweg zwischen den schädlichen Extremen der Verzärtelung und der Unterdrückung einzuschlagen. Beim Strafen darf man das Ehrgefühl des Kindes nicht kränken. Ab dem siebten Lebensjahr werden Knaben und Mädchen getrennt unterrichtet, doch sind die Unterrichtsgegenstände dieselben. Die Vernachlässigung der ungeschickteren linken Hand ist verkehrt; anzustreben ist beidhändige Geschicklichkeit. Auch dies gehört zur Ausgewogenheit. Sodann werden Gymnastik und die Spiele der Jugend besprochen. Für die Erziehung sind die Spiele keineswegs unwichtig; sie wirken sich stark auf den Charakter aus und gehören daher zu dem Bereich, den der Gesetzgeber zu studieren und zu regeln hat. Die Ziele und Mittel der Erziehung sind für beide Geschlechter dieselben. Dem Schlaf soll man nicht mehr Zeit widmen als nötig. In diesem Zusammenhang äußert der Athener seine Meinung, die Angelegenheiten der Menschen seien nicht großen Ernstes wert. Es sei zwar unvermeidlich, sie ernst zu nehmen, doch sei dies keine glückliche Lage. Der Mensch sei als Spielzeug Gottes geschaffen, daher solle er sein Leben damit verbringen, möglichst schöne Spiele zu spielen. Anschließend geht der Athener auf die Schule und die einzelnen Unterrichtsgegenstände ein. Es besteht allgemeine Schulpflicht. Zu den Fächern gehören neben Lesen und Schreiben, Musik, Sozialkunde (Behandlung der Gesetzgebung im Unterricht), Tanz, Gymnastik, Arithmetik, Geometrie und Astronomie auch die auf militärische Tüchtigkeit abzielenden Übungen. Die gängigen Tänze sind teils schön, teils hässlich, vulgär und lächerlich. Auch das Abstoßende und Lächerliche soll man anschauen, um sich damit vertraut zu machen und so das Gegenteil davon richtig zu erfassen. Es wäre falsch, das Unwürdige naiv zu ignorieren, doch kein Bürger darf sich dazu hergeben, es selbst zu erlernen und darzustellen. Bei derartigen Darbietungen sollen nur Sklaven und bezahlte Fremde auftreten. Ein weiteres Thema ist die Rolle der Jagd in der moralischen Erziehung. Verächtlich ist die Jagd mit Fallen; nur eine als Kampf mit dem Tier praktizierte Jagd ist eines freien Mannes würdig. Fremden Tragödiendichtern soll die Aufführung ihrer Werke nur erlaubt werden, wenn diese den Staatszielen nicht entgegenwirken. In diesem Zusammenhang behauptet der Athener, die Gesetzgeber seien selbst Tragödiendichter, denn die Staatsverfassung sei eine Darstellung des schönsten und besten Lebens und daher eigentlich die wahrste Tragödie. Feste, Wettkämpfe und Übungen Das Leben der Bürger ist ein unablässiges tägliches Üben mit dem Ziel, immer tüchtiger zu werden. Dafür mangelt es nicht an freier Zeit. Auch die zahlreichen Feste, an denen sportliche Wettkämpfe und musische Wettbewerbe stattfinden, sind Anlässe zum Üben. Zu den zwölf monatlichen Hauptfesten kommen viele kleinere; kein Tag vergeht, ohne dass irgendwo in der Stadt ein Fest gefeiert wird. Den Frauen ist die Teilnahme am sportlichen Wettkampf freigestellt. Vorschriften für das sexuelle Verhalten Der Athener weist darauf hin, dass durch hemmungsloses Ausleben sexueller Begierden großes Unheil entstehe. Dabei denkt er vor allem an die in Griechenland sehr verbreitete Päderastie, aber auch an Ehebruch. Auch hier hat nach seiner Meinung der Gesetzgeber Vorsorge zu treffen. Allerdings ist sich der Athener darüber im Klaren, dass es wegen der Heftigkeit der Begierden schwierig ist, auf diesem Gebiet restriktiven Vorschriften Geltung zu verschaffen. Was nach seiner Ansicht wirksam helfen könnte, wäre eine allgemeine Verpönung unerwünschten Sexualverhaltens nach dem Muster des Inzestverbots, das auch ohne gesetzliche Strafbestimmungen allgemein befolgt wird. Die Wirtschaft Es folgen die Bestimmungen, die das Wirtschaftsleben regeln. Dieses ist einfach strukturiert; da Fernhandel, Zölle und Finanzgeschäfte wegfallen, geht es hauptsächlich um die Belange von Ackerbauern, Hirten und Imkern. Jeder Bürger ist Landwirt und bewirtschaftet sein Landlos mit Hilfe von Sklaven. Besondere Verbote betreffen das Verrücken der Steine, die Grundstücksgrenzen markieren, Übergriffe auf Felder und Weiden der Nachbarn und leichtsinniges Verursachen von Brandschäden. Weitere Vorschriften regeln mögliche Streitfälle bei der Bewässerung und Trinkwasserversorgung und beim Verzehr von fremdem Obst. Kein Bürger soll ein Handwerk ausüben oder von seinen Sklaven ausüben lassen; solche geschäftlichen Betätigungen bleiben den Ausländern vorbehalten. Soweit Einfuhren nötig sind, werden sie vom Staat durchgeführt, damit das Gewinnstreben keine Nahrung findet. Die Bürger sollen nicht selbst auf dem Markt als Verkäufer auftreten, sondern nur Beauftragte hinschicken, da sie sonst vom Tugendstreben abgelenkt würden. Ausländische Gewerbetreibende dürfen sich in der Stadt ansiedeln und sind nicht steuerpflichtig, doch ist die Aufenthaltsgenehmigung in der Regel auf maximal zwanzig Jahre begrenzt; nur in Ausnahmefällen kann bei besonderen Verdiensten eine Sondergenehmigung zu längerem Bleiben erteilt werden. Das Strafrecht und seine Problematik Bevor der Athener auf das Strafrecht zu sprechen kommt, weist er darauf hin, dass das in diesem Zusammenhang ein paradoxes Thema ist: In einer Stadt, in der sämtliche Einrichtungen so gezielt der Förderung der Tugend dienen, dürften schwerere Straftaten der Bürger eigentlich gar nicht vorkommen. Allerdings können solche Fälle nicht mit Sicherheit ausgeschlossen werden, und den Fremden und den Sklaven, die nicht an der Einübung der Tugend teilnehmen, sind kriminelle Handlungen zuzutrauen. Daher sind entsprechende Strafbestimmungen erforderlich. Anschließend werden die Strafen im Einzelnen beschrieben. Auf Kapitalverbrechen wie Tempelraub und Umsturzversuch steht die Todesstrafe. Ein Bürger wird schwerer bestraft als ein Sklave oder ein Fremder, denn jede Strafe zielt – soweit möglich – auf Besserung des Übeltäters oder zumindest Verhinderung von Verschlechterung ab; der Sklave oder Fremde ist vielleicht noch besserungsfähig und erhält daher eine Chance, der Bürger hingegen, der trotz aller Tugenderziehung ein Schwerverbrechen verübt, muss als hoffnungsloser Fall eingestuft werden und wird daher hingerichtet. Bei Verhängung von Geldstrafen darf das Existenzminimum nicht angetastet werden. Alle Gerichtsverfahren sind öffentlich und das Richterkollegium stimmt offen über das Urteil ab. Die Kinder eines Verbrechers dürfen durch die Bestrafung und Schande ihres Vaters nicht in Mitleidenschaft gezogen werden, außer wenn Vater, Großvater und Urgroßvater zum Tode verurteilt wurden; in diesem Fall soll die Neigung zur Kriminalität als erblich gelten, dann verlieren die Kinder ihr Bürgerrecht und müssen das Staatsgebiet verlassen. An diese Ausführungen schließen sich grundsätzliche Erwägungen zum Sinn des Strafrechts an. Einigkeit besteht darüber, dass die Gerechtigkeit schön ist und daher auch alle gerechten Handlungen schön sein müssen. Strafen fügen aber dem Bestraften Leid zu. Wenn solches Leid zwar gerecht, aber hässlich ist, entsteht ein Widerspruch zur anfänglichen Grundannahme; dann erscheint die Todesstrafe als das gerechteste und zugleich hässlichste Leid, das Gerechte und das Schöne können in konträrem Gegensatz stehen. Dagegen ist jedoch einzuwenden, dass sich die Todesstrafe bei genauer Betrachtung nicht als Schaden, sondern als Nutzen für alle erweist, wenn sie nur bei Unheilbarkeit des Charakters verhängt wird. In diesen Fällen ist es für den Übeltäter besser zu sterben, als am Leben zu bleiben und durch weiteres Fehlverhalten noch schlechter zu werden, denn Schlechtigkeit ist ein größeres Übel als der Tod. Zugleich wird die Stadt von seiner Schlechtigkeit befreit, und die abschreckende Wirkung der Strafe kann andere von Verbrechen abhalten. So haben alle von der Hinrichtung einen Vorteil. Nicht das Leben schlechthin, sondern nur ein gutes Leben stellt einen Wert dar. Keinesfalls dürfen Heilbare zum Tode verurteilt werden. Ein Problem stellt die Unterscheidung zwischen „freiwillig“ und „unfreiwillig“ begangenen Taten dar. Wer wegen Wahnsinn, Krankheit oder Minderjährigkeit nicht als schuldfähig gilt, kann nur zivilrechtlich, nicht strafrechtlich zur Verantwortung gezogen werden. Aus philosophischer Sicht ist aber nicht nur das Verhalten in solchen Fällen unfreiwillig, sondern überhaupt jede schlechte Tat. Dies ergibt sich aus der Einsicht, dass jeder Mensch eigentlich das Gute will und nur durch Unwissenheit auf Abwege gerät. Niemand strebt das Schlechte als solches an, sondern Übeltaten werden nur begangen, weil der Täter davon irrtümlich etwas für ihn Gutes erhofft oder von einem Affekt übermannt worden ist. So gesehen dürfte es keine Strafen geben, wenn nur absichtliches Anstreben von Schlechtem in Kenntnis von dessen Schlechtigkeit als freiwillig gelten und deswegen strafbar sein soll. Aus juristischer Sicht ist das Strafrecht aber unentbehrlich. Daher sind Straftaten juristisch aus einer anderen Perspektive zu beurteilen; es geht nicht um das philosophische Verständnis von Freiwilligkeit, sondern um Schädigungen, bei denen es sinnvoll ist, zwischen vorsätzlich und ohne Vorsatz bewirkten Schäden zu unterscheiden sowie zwischen verschiedenen Affekthandlungen und falschem Handeln aus Unkenntnis des Richtigen. Strafrechtlich kommt es stets auf die Gesinnung des Täters an. Anschließend werden die einzelnen Tötungsdelikte und Fälle von Körperverletzung mit ihren jeweiligen Strafmaßen eingehend behandelt. Die Bedeutung der Frömmigkeit Ein weiteres bedeutendes Thema ist das Verhältnis der Stadt zu den Göttern. Religion ist nicht Privatsache, sondern wird von der Bürgergemeinschaft gemeinsam praktiziert. Die Bewahrung der Frömmigkeit ist eine wichtige Aufgabe des Gesetzgebers. Die enge Anbindung der Stadt an die Götter erfordert, dass die Bürger im Kult einmütig handeln und dass keiner das Verhältnis der Gemeinschaft zu den Göttern durch Religionsfrevel stört. Der Athener unterscheidet drei Arten von Unfrömmigkeit: erstens die Meinung, dass es keine Götter gebe; zweitens die Ansicht, dass die Götter nicht an den Schicksalen der Menschen interessiert seien; drittens den Glauben, dass man die Haltung der Götter beeinflussen könne, etwa indem man sie nach einer Freveltat durch Opfer und Gebete beschwichtige. Alle drei Einstellungen betrachtet der Athener als krankhaft. Er hält es aber nicht für ausreichend, gesetzliche Bestimmungen gegen die Unfrömmigkeit einzuführen, sondern wählt einen rationalen Ansatz: Die Unfrommen sollen mit Argumenten von der Irrigkeit ihrer Meinungen überzeugt werden. Damit wendet sich das Gespräch den Gottesbeweisen zu. Die Auseinandersetzung mit dem naturalistischen Weltbild Kleinias meint, die kosmische Ordnung, die an den Himmelskörpern und am Wechsel der Jahreszeiten erkennbar sei, sei ein ausreichender Beweis für göttliche Lenkung. Hinzu komme, dass der Götterglaube bei allen Völkern verbreitet sei. Damit gibt sich der Athener aber nicht zufrieden. Er weist auf eine tiefer liegende Problematik hin. Nach seiner Darlegung wird die Unfrömmigkeit durch den Umstand genährt, dass die herrschenden Ansichten über die Götter auf uralten Mythen basieren, deren Aussagen in mancher Hinsicht moralisch fragwürdig sind und kein Vertrauen verdienen. Atheisten halten die Himmelskörper für bloße Gesteine, an denen nichts göttlich sei. Diese Auffassung muss widerlegt werden. Zunächst fasst der Athener die Grundzüge der naturalistischen Weltdeutung zusammen. Ihr zufolge sind die Elemente und alle aus ihnen zusammengesetzten Dinge – der gesamte Kosmos – aus dem Zusammenwirken von Naturgegebenheiten und Zufall hervorgegangen, soweit sie nicht vom Menschen erschaffen sind. Dahinter steht keine Vernunft, kein Gott, keine Intelligenz und Absicht. Die Gestirne sind nicht beseelt, sondern werden nur von physikalischen Notwendigkeiten umhergetrieben. Die jeweilige Beschaffenheit der einzelnen physikalischen Objekte einschließlich der Lebewesen ist durch unterschiedliche Mischung von Warmem und Kaltem, Trockenem und Feuchtem, Weichem und Hartem und weiterer entgegengesetzter Qualitäten erklärbar; diese Faktoren haben durch ihre chaotische Interaktion alles hervorgebracht. Die Technik, mit der Dinge absichtsvoll künstlich erzeugt werden, ist nicht ein Mittel, das einer schöpferischen Gottheit zu Gebote steht, sondern nur eine späte Erfindung von Menschen. Alles Ausgedachte, jedes künstliche Erzeugnis ist entweder willkürlich und wahrheitsfern oder beruht auf den Naturgegebenheiten. Religion, Ethik und Gesetzgebung sind reine Produkte des menschlichen Geistes, die in der Wirklichkeit keine Korrelate haben. Gerechtigkeit ist kein objektiver Sachverhalt, sie hat keinen Bezug zur Wahrheit, denn sie steht in keinem Zusammenhang mit den Naturgegebenheiten. Vielmehr ist sie etwas, was Menschen willkürlich immer wieder neu festsetzen und worüber sie ständig streiten. In seiner Gegenargumentation nimmt der Athener die Seele – den belebenden Faktor in den Lebewesen – als Ausgangspunkt. Aus naturalistischer Sicht ist sie ein relativ spät entstandenes Erzeugnis physikalischer Prozesse. Dem stellt er seine Sichtweise entgegen, die von einem umgekehrten Kausalzusammenhang ausgeht: Nicht die Elemente haben die Seele hervorgebracht, sondern alles Materielle hat eine seelische Ursache. Gegebenheiten, Aktivitäten und Erzeugnisse der Seele wie Meinung, Fürsorge, Vernunft, Kunst und Gesetz existieren, bevor materielle Eigenschaften wie Härte und Weichheit, Schwere und Leichtigkeit in Erscheinung treten. Werke der Vernunft gehen der Natur und deren Werken voraus. Die Priorität der Seele leitet der Athener aus ihrem Verhältnis zur Bewegung ab. Er unterscheidet zwei Hauptarten von Bewegung. Manche Dinge können nur dann in Bewegung geraten und ihrerseits anderes bewegen, wenn sie dazu einen Impuls von außen erhalten; andere sind in der Lage, sich selbst und anderes von sich aus zu bewegen, sie bedürfen dazu keines Anstoßes. Die zweite Bewegungsart ist gemeint, wenn der Begriff „Seele“ verwendet wird. Wenn man sich den Kosmos als anfänglich ruhendes System vorstellt und dann fragt, wie die erste Bewegung zustande gekommen sein kann, so zeigt sich, dass sie nicht von einem Ding ausgegangen sein kann, das von Natur aus träg ist und ohne Anstoß in Ruhe verharrt, sondern nur von einem, das aus eigener Kraft bewegungsfähig ist. Den ersten Impuls zu den Bewegungen der materiellen Dinge muss eine Seele gegeben haben. Diese Seele ist die Weltseele, die den Kosmos belebt. Somit kann Seelisches nicht auf Materielles zurückgeführt werden; vielmehr muss die Beweglichkeit der Materie eine seelische Ursache haben. Des Weiteren kann aus der Art der Wirkungen auf die Beschaffenheit der Ursache geschlossen werden. Chaotische Bewegungen müssen eine vernunftlose und damit schlechte Ursache haben, geordnete eine vernünftige und gute. Die Bewegung des Himmelsgewölbes, das sich um die Erde dreht, erfolgt auf gesetzmäßige, geordnete, immer gleiche Weise; sie ist eine gleichförmige Kreisbewegung. Aus dieser Art der Bewegung kann gefolgert werden, dass die Seele, die das Himmelsgewölbe lenkt, vernünftig und tugendhaft sein muss. Ihre Wirkungen lassen erkennen, dass sie die beste Seele und von göttlicher Natur ist. Analoges gilt für die Kreisbewegungen der einzelnen Himmelskörper, etwa der Sonne; auch sie sind vernünftig geordnet und müssen daher von göttlichen Seelen – den Gestirngottheiten – verursacht sein. Der Kosmos existiert dank der Mächte, die ihn ordnen, nicht umgekehrt. Die Beziehung zwischen Menschen und Göttern Die zweite Art der Unfrömmigkeit ist die Hypothese, der zufolge die Götter zwar existieren, aber sich nur um Bedeutendes kümmern und an Kleinigkeiten wie den menschlichen Taten und Schicksalen nicht interessiert sind. Diese Vorstellung resultiert aus einem zwiespältigen Befund: Einerseits erscheint die Existenz einer göttlichen Weltordnung als evident, andererseits deutet der Mangel an Gerechtigkeit in den menschlichen Angelegenheiten darauf, dass hier keine göttliche Fürsorge waltet. Wenn man davon ausgeht, dass die Götter gut sind, also nichts Schlechtes wollen und bewirken, dann scheinen Ungerechtigkeiten wie beispielsweise der Erfolg von Tyrannen nur mit einem Desinteresse der Götter an den menschlichen Verhältnissen erklärbar zu sein. Dem hält der Athener entgegen, dass eine solche Gleichgültigkeit mit der guten Natur der Götter unvereinbar sei. Nach seiner Argumentation kann es drei Gründe dafür geben, dass jemand sich nur um das Große und Ganze kümmert und das Kleine missachtet: Entweder fehlt aus Unwissenheit oder Schwäche die Fähigkeit, für alles zugleich zu sorgen, oder das Kleine wird aus Leichtsinn und Bequemlichkeit vernachlässigt, oder man meint, das Kleine sei belanglos. Die beiden ersten Möglichkeiten kommen nur für Menschen, nicht für gute Götter in Betracht. Die dritte Möglichkeit würde bedeuten, dass die Menschen aus göttlicher Sicht keiner Aufmerksamkeit wert sind. Diese Hypothese zerreißt die Einheit der Natur. Das Kleine ist aber ein Teil des Ganzen, und wenn die kleinen Teile vernachlässigt werden, kann es auch um das aus ihnen zusammengesetzte Ganze nicht gut stehen. Daher muss Fürsorge für das Ganze eine Betreuung sämtlicher Teile einschließen. Das Walten der Götter zielt auf das Beste für das Ganze; wie dieses sich zum Wohl eines bestimmten Teils verhält, ist jedoch aus der Perspektive eines einzelnen menschlichen Individuums, das die Zusammenhänge nicht durchschaut, nicht zu erkennen. Dadurch entsteht der falsche Eindruck von Ungerechtigkeit in der Weltordnung. Dem Weltbild, in dem die menschlichen Taten und Schicksale aus göttlicher Sicht belanglos sind, stellt der Athener ein Modell entgegen, in dem der Mensch in eine umfassende kosmische Ordnung eingebettet ist. Das Individuum kann die Weltordnung erkennen und sich als Teil von ihr verstehen, da seine seelische Konstitution ihr entspricht. Es spielt im Kosmos eine Rolle, für die es selbst verantwortlich ist. Abschließend wendet sich der Athener gegen die dritte Art von Unfrömmigkeit: die Meinung, man könne die Götter umstimmen, das heißt, sie mit Gebeten oder Opfergaben dazu bewegen, ein Unrecht milder zu beurteilen, als sie es sonst täten. Darin sehen er und Kleinias eine abscheuliche Gotteslästerung. Die Götter würden damit für bestechlich erklärt; damit stünden sie moralisch noch unter einem unbestechlichen Hirtenhund, der eine Herde bewacht. Mit diesen Argumenten meint der Athener die Richtigkeit seines religiösen Weltbilds bewiesen zu haben. Wenn die gegenteiligen Auffassungen widerlegt sind, kann kein Zweifel mehr daran bestehen, dass zwischen dem Staat und den Göttern eine reale Beziehung besteht. Dann lässt sich gegen das Recht und die Pflicht des Staates, Religionsfrevel zu bestrafen, kein Einwand mehr erheben. Anschließend legt der Athener die Einzelheiten der Strafbestimmungen dar, die er bei solchen Vergehen für nötig hält. Bei der Frömmigkeit, die er den Bürgern zur Pflicht machen will, handelt es sich nicht um einen „Glauben“ an die Götter im Sinne einer subjektiven Meinung, die man alternativen Meinungen vorzuziehen hätte. Gemeint ist vielmehr ein Anerkennen und Respektieren des göttlichen Waltens, das der Athener für eine offenkundige Tatsache hält, die nur von Verblendeten ignoriert werden könne. Eigentumsrecht, Handels- und Gewerberecht, Familienrecht Es folgen zahlreiche Einzelbestimmungen über das Eigentum und über Kauf und Verkauf. Dazu gehört, dass man sich Fundsachen – auch vergrabene Wertsachen – keinesfalls aneignen darf. Alles, was man kauft, soll sofort bezahlt werden, Geschäfte mit Zahlungsaufschub und Kreditgeschäfte genießen keinen Rechtsschutz. Verkäufern ist es untersagt, ihre Waren anzupreisen oder ihre Behauptungen über deren Qualität eidlich zu bekräftigen. Der Handel ist nichts an sich Schlechtes, sondern sinnvoll, wird aber in der Praxis gewöhnlich nicht von den besten Bürgern, sondern von charakterlich minderwertigen, geldgierigen Menschen betrieben. Daher ist es angebracht, den Kleinhandel in engen Grenzen zu halten und sorgfältig zu überwachen, damit er nicht zur Quelle von Schlechtigkeit wird. Kein Bürger soll sich den moralischen Risiken aussetzen, die sich im Geschäftsleben bei gewerbsmäßiger Betätigung – auch im Dienstleistungsgewerbe – ergeben. Daher bleiben diese Bereiche ausländischen Geschäftsleuten vorbehalten. Gegen Täuschung, Betrug und Übervorteilung im Kleinhandel und bei Dienstleistungen müssen die zuständigen Behörden vorgehen. Weitere detaillierte Bestimmungen des Gesetzgebers regeln das Erbrecht, den Schutz der Waisen, die den Kindern obliegende Versorgung der Eltern im Alter, Konflikte zwischen Eltern und Kindern sowie die Ehescheidung. Sonstige Einzelbestimmungen Beendet wird die Erörterung einzelner Sonderfragen mit der Behandlung einer Vielzahl von Vergehen und unerwünschten Verhaltensweisen und der Festlegung verschiedener Verwaltungsvorschriften. Zu den Vergehen gehören beispielsweise Giftmischerei, Schadenzauber, Beleidigung, Verweigerung des Heeresdienstes, Feigheit im Krieg, übermäßiger Aufwand bei Bestattungen und Vorteilsannahme durch Personen, die im Staatsdienst tätig sind. Da der Staat dafür sorgt, dass kein anständiger Mensch in äußerste Armut gerät, ist Bettelei verboten. Gegen mutwilliges Prozessieren aus Streitsucht oder Geldgier muss der Gesetzgeber einschreiten; ebenso gegen Gerichtsredner, die versuchen, Prozessbeteiligten mit rhetorischen Tricks Vorteile zu verschaffen, die ihnen nicht zustehen. Bei Diebstahl von Gemeineigentum kommt es nicht auf die Deliktsumme an, sondern nur auf die Frage, ob der Dieb als heilbar oder unheilbar einzustufen ist. Vereidigung ist für Bürger, die vor Gericht als Kläger oder Beklagte auftreten, nicht vorgesehen, denn das Risiko, dass sie der Versuchung zum Meineid erliegen, darf nicht in Kauf genommen werden. Steuern können als Einkommens- oder als Vermögenssteuer erhoben werden; jährlich sind Einkommensteuererklärungen abzugeben. In diesem Zusammenhang stellt der Athener noch ein besonders wichtiges Staatsorgan vor, die Euthynen. Diese Kontrollbeamten, deren Amtszeit 25 Jahre beträgt, werden in einem aufwändigen Verfahren von der gesamten Bürgerschaft gewählt und genießen höchstes Ansehen. Sie nehmen die Klagen von Bürgern gegen Beamte entgegen; ihre Aufgabe ist das Einschreiten gegen Amtsmissbrauch, wobei sie zugleich als Untersuchungsinstanz und als Richter fungieren. Gegen ihre Urteile kann bei einem Revisionsgericht Berufung eingelegt werden, und sie können auch wegen Amtsmissbrauch bei einem besonderen Gerichtshof verklagt werden. Die Nächtliche Versammlung Am Ende des Dialogs tritt nochmals die Frage in den Vordergrund, wie dem Verfall des Staates durch Schwinden der Gesetzestreue vorzubeugen ist. Zu diesem Zweck soll ein besonderes Verfassungsorgan geschaffen werden, die „Nächtliche Versammlung“. Sie trägt ihren Namen, weil sie jeweils in der Morgendämmerung tagt. Mitglieder sind die zehn ältesten Gesetzeswächter und eine Reihe weiterer hervorragend qualifizierter Bürger. Unter ihnen sollen auch jüngere Männer sein. Auf ihre gründliche philosophische Ausbildung muss besonderes Gewicht gelegt werden. Die Nächtliche Versammlung übt keine Regierungsfunktion aus, sie ist nur Aufsichtsbehörde und legt die verbindliche Interpretation der Gesetze fest. Kleinias und Megillos sind nun von dem Gesamtkonzept überzeugt. Sie wollen den Athener zu weiterem Mitwirken an dem Staatsgründungsprojekt bewegen, da es ohne ihn nicht gelingen könne. Damit endet der Dialog, die Antwort des Atheners wird nicht mitgeteilt. Politischer und philosophischer Gehalt Für die Geschichte der politischen Philosophie und speziell der Verfassungsgesetzgebung sind vor allem fünf Hauptgedanken der Nomoi bedeutsam: die Mischverfassung als Mittelweg, der die Nachteile einseitiger Modelle vermeiden soll. das Prinzip der unbedingten Gesetzesherrschaft, das einen übergesetzlichen Status einzelner Individuen oder Institutionen grundsätzlich ausschließt. Dies zeigt sich auch darin, dass die Bürger gegen jede Entscheidung der Verwaltung klagen können. die Forderung, dass Gesetzen eine Präambel voranzustellen ist, welche das Anliegen des Gesetzgebers erläutern und damit seine Überlegungen und Entscheidungen einsichtig machen soll. die Forderung, dass die Vergabe von Ämtern ausschließlich auf der Basis nachgewiesener Kompetenz erfolgen darf, wobei die charakterliche Eignung eine maßgebliche Rolle spielt. die Verknüpfung von Staatstheorie und Metaphysik durch ein naturrechtliches Verständnis der Gesetzgebung. Ein zentraler Aspekt ist die im Dialog vielfach hervorgehobene Bedeutung der „Überredung“. Einerseits sind viele Strafbestimmungen streng und manche sogar drakonisch, vor allem die Anwendung der Todesstrafe in Fällen von mutmaßlicher „Unheilbarkeit“ der Verbrecher, andererseits legt Platon großes Gewicht auf eine nachvollziehbare Begründung der einzelnen Vorschriften. Die Bürger sollen die Gesetze willig respektieren, weil ihnen deren Vernünftigkeit einleuchtend erklärt wird. Allerdings versteht Platon unter „Überredung“ nicht nur rationale Argumentation, sondern auch Ermahnung und Beeinflussung auf emotionalem Weg. Die Interpretation seines Verständnisses von Überredung ist in der Forschung umstritten. Einerseits erwartet Platon, dass dank der unablässigen moralischen Erziehung die gesamte Bevölkerung tugendhaft wird und in diesem Zustand verbleibt, andererseits sieht sein Gesetzeswerk ein ausgeklügeltes System von Kontrollen zur Aufdeckung von Verfehlungen vor. Großen Wert legt er darauf, dass die Bürger Gesetzesübertretungen zur Anzeige bringen sollen. Ein zentrales Element der platonischen Philosophie, die Ideenlehre, wird in den Nomoi nicht ausdrücklich thematisiert. In der Forschung bestehen unterschiedliche Auffassungen darüber, ob der Philosoph dieses Konzept in seinen letzten Werken noch vertreten hat. Eine deutliche Mehrheit der Philosophiehistoriker nimmt an, dass die Ideenlehre in den Nomoi implizit präsent ist. Seit langem wird in der Forschung das Verhältnis der Nomoi zu Platons Dialog Politeia („Der Staat“) intensiv diskutiert. Aristoteles berichtet, die Politeia sei vor den Nomoi geschrieben worden. Einer verbreiteten Interpretation zufolge hat Platon erkennen müssen, dass die in der Politeia empfohlene Staatsform ohne Privatbesitz und Familie, die er für die beste hielt, keine Akzeptanz fand und unrealistisch war. Daraufhin hat er die Nomoi als Darstellung des „zweitbesten Staates“ verfasst. Demnach ist dieses Spätwerk als Ausdruck seiner Resignation im Alter zu deuten. Die Resignations-Hypothese ist aber auch auf Widerspruch gestoßen. Nach einer gegenteiligen Deutung hat der alte Platon die Bereitschaft der Bürger, sich dauerhaft vernünftigen Regeln zu unterstellen, zuversichtlich eingeschätzt, sein Gesetzgebungsentwurf basiert auf einer optimistischen Haltung. Umstritten ist, ob die Nomoi eher einen Verzicht auf das Konzept der Politeia markieren oder dessen Weiterentwicklung darstellen. Verschiedentlich ist die Rolle der Nächtlichen Versammlung missverstanden worden, indem ihre Befugnisse mit denen der Philosophenherrscher in der Politeia verglichen wurden, deren Macht uneingeschränkt ist. In der neueren Forschung wird betont, dass die Nächtliche Versammlung der Gesetzesherrschaft unterworfen ist. Herwig Görgemanns versuchte die Sonderstellung der Nomoi in Platons Gesamtwerk mit der Hypothese zu erklären, sie seien nicht als streng philosophisches Werk zu betrachten. Das Zielpublikum sei eine breitere Öffentlichkeit und besonders die Jugend. Entstehungszeit und Authentizitätsfrage Der außergewöhnliche Umfang des Dialogs spricht für eine längere Entstehungszeit. Es gibt Anzeichen für Abfassung in verschiedenen Phasen. Eine Forschungsrichtung nimmt an, Platon habe schon in den 360er Jahren einen Entwurf oder eine frühe Fassung („Proto-Laws“) geschrieben; den Anstoß dazu hätten seine damaligen Bemühungen um die Einführung einer von philosophischem Gedankengut geprägten Verfassung in Syrakus gegeben. Dass die Nomoi in ihrer überlieferten Gestalt in Platons letzte Schaffensperiode gehören, gilt in der Forschung allgemein als sicher. Für die Spätdatierung werden auch sprachstatistische Untersuchungsergebnisse geltend gemacht. Verbreitet ist die Ansicht, dass es sich um das letzte Werk des Philosophen handelt. Einen Anhaltspunkt für die Datierung bietet die Erwähnung der Unterwerfung von Lokroi durch Syrakus, die wohl 352 v. Chr. stattfand, wenige Jahre vor Platons Tod. Gewichtige Hinweise, darunter inhaltliche Unstimmigkeiten, deuten darauf, dass Platon die Nomoi nicht vollendet hat. Möglicherweise ist die überlieferte Fassung eine von fremder Hand überarbeitete Version. Der Philosophiegeschichtsschreiber Diogenes Laertios erwähnt eine Überlieferung, nach der Platons Schüler Philippos von Opus die auf Wachstafeln aufgezeichneten Nomoi umgeschrieben hat. Was genau damit gemeint ist, ist unklar, doch dürfte es sich jedenfalls um einen Hinweis auf Unfertigkeit des Werks bei Platons Tod handeln. Wahrscheinlich hat Philippos nach dem Tod des Autors die für die Folgezeit maßgebliche Abschrift angefertigt und diesen Text veröffentlicht. Ob er dabei inhaltliche Eingriffe vornahm, ist unbekannt; diese Frage wird in der Forschung unterschiedlich beurteilt. Die Vermutung, dass Philippos auch inhaltlich einen erheblichen Beitrag zur überlieferten Fassung geleistet hat, wurde schon im 19. Jahrhundert vorgetragen und hat in neuerer Zeit wieder Befürworter gefunden. Nach dieser Hypothese sind die Nomoi „halbauthentisch“. Die gängige Einteilung der Nomoi in zwölf Bücher stammt nicht von Platon. Sie wird von einer erst im Mittelalter bezeugten Überlieferung Philippos von Opus zugeschrieben, ist aber wohl nicht auf ihn zurückzuführen, sondern erst nach dem 4. Jahrhundert v. Chr. eingeführt worden. Rezeption Antike Die Nachwirkung der Nomoi in der Antike war beträchtlich. Vielleicht schenkte schon Platons Zeitgenosse Isokrates dem Werk Beachtung. Aristoteles, der den Dialog kritisch beurteilte, legte eine Sammlung von Auszügen aus dem umfangreichen Text an. Er zählte in seiner Politik die Nomoi fälschlich zu den Dialogen, an denen Sokrates beteiligt ist; vielleicht kannte er eine Fassung, in der Sokrates auftritt, doch wahrscheinlich hat er sich nur ungenau ausgedrückt. Aristoteles rückte die Nomoi in die Nähe der Politeia; er hielt die beiden Werke für weitgehend übereinstimmend. Die vom Athener vorgeschlagene Zahl von rund 5000 waffenfähigen Bürgern fand er zu hoch, denn da die Bürger nicht produktiv tätig seien, sei für deren Lebensunterhalt zusätzlich eine vielfache Menge von Frauen und Bediensteten erforderlich, was ein großes Territorium voraussetze. Problematisch sei ferner die Unveränderlichkeit der Anzahl der Haushalte auch bei wachsender Kinderzahl. Platon habe zwar eine Mischverfassung gefordert, doch sei das monarchische Element nicht vertreten; außerdem sei der demokratische Anteil unvorteilhaft und der oligarchische dominiere. Über weite Strecken sind die Bücher 7 und 8 der Politik des Aristoteles von seiner Auseinandersetzung mit den Nomoi geprägt. Der Verfasser des Dialogs Epinomis – nach heutigem Forschungsstand wahrscheinlich Philippos von Opus – konzipierte sein Werk als Fortsetzung der Nomoi. Daher ließ er dieselben drei Personen auftreten wie Platon: den Athener, Kleinias und Megillos. Ebenso wie Platon wies er dem Athener die Hauptrolle zu. In manchen Einzelheiten wich er aber von der Auffassung ab, die Platons Athener in den Nomoi vertritt. Im 3. Jahrhundert v. Chr. schrieb der Stoiker Persaios eine kritische Abhandlung über die Nomoi in sieben Büchern. Der Stoiker Poseidonios missbilligte Platons Forderung, der Gesetzgeber solle den Gesetzen erläuternde und begründende Vorreden mit grundsätzlichen Erwägungen beifügen. Poseidonios meinte, ein Gesetz solle vielmehr kurz sein und nicht erörtern, sondern nur befehlen. Cicero ahmte in seiner Schrift De legibus („Über die Gesetze“) Platons Nomoi in formaler Hinsicht nach, er folgte ihrer Anlage in der Szenerie und Dramaturgie und entnahm ihnen auch einige Einzelheiten. Er teilte Platons Überzeugung, der Gesetzgeber habe seine Entscheidungen nicht nur anordnend zu verkünden, sondern auch in Vorreden zu den einzelnen Gesetzen verständlich zu machen. Inhaltlich schloss sich Cicero aber dem Konzept der Nomoi nicht an. In der Tetralogienordnung der Werke Platons, die anscheinend im 1. Jahrhundert v. Chr. eingeführt wurde, gehören die Nomoi zur neunten Tetralogie. Der Philosophiegeschichtsschreiber Diogenes Laertios zählte sie zu den „politischen“ Schriften und gab als Alternativtitel „Über die Gesetzgebung“ an. Dabei berief er sich auf eine heute verlorene Schrift des Mittelplatonikers Thrasyllos. Der jüdische Geschichtsschreiber Flavius Josephus lobte in seiner Schrift Contra Apionem einzelne Bestimmungen der Nomoi. Lukian ließ in seiner Luftfahrtsatire Ikaromenippos den Göttervater Iuppiter sagen, ihm würden keine Opfer mehr dargebracht, seine Altäre seien kälter als Platons Nomoi. Der antiphilosophisch gesinnte Gelehrte Athenaios griff im Rahmen seiner Polemik gegen Platon auch das Konzept der Nomoi an. Es sei realitätsfremd und daher nutzlos. Eine solche Gesetzgebung sei nicht für wirkliche Menschen geeignet, sondern nur für die, die sich der Autor in seiner Phantasie vorgestellt habe. Daher hätten die Athener das Verfassungsprojekt verlacht und niemand denke daran es umzusetzen. Bei den spätantiken Neuplatonikern gehörten die Nomoi nicht zum Kanon der Werke, die im Philosophieunterricht behandelt wurden. Ihr Interesse an dem Dialog richtete sich in erster Linie auf die im zehnten Buch behandelte metaphysische Thematik. Der Neuplatoniker Syrianos schrieb einen Kommentar zum zehnten Buch, der nicht erhalten geblieben ist. Der Verfasser der anonym überlieferten spätantiken „Prolegomena zur Philosophie Platons“, der sich auf den Neuplatoniker Proklos berief, berichtete von einer Überlieferung, der zufolge Platon die Nomoi, sein letztes Werk, bei seinem Tod unkorrigiert und in Unordnung hinterließ. Aus diesem Grund habe nach der Überlieferung Philippos von Opus das Manuskript überarbeiten müssen. Auch bei Kirchenschriftstellern wie Eusebius von Caesarea und Theodoret fanden die Nomoi Beachtung. Christliche Apologeten verwerteten die theologischen Ausführungen im zehnten Buch des Dialogs für ihre Zwecke. Die antike Textüberlieferung beschränkt sich auf einige Papyrus-Fragmente aus der römischen Kaiserzeit. Mittelalter Die älteste erhaltene mittelalterliche Nomoi-Handschrift entstand im 9. Jahrhundert im Byzantinischen Reich. Im 11. Jahrhundert fertigte Gregorios Magistros eine armenische Übersetzung an. Bei den lateinischsprachigen Gelehrten des Westens waren die Nomoi im Mittelalter unbekannt. Ob der gesamte Text des Dialogs im arabischsprachigen Raum vorhanden war, ist unklar. Im 10. Jahrhundert berichtete der Gelehrte ibn an-Nadīm in seinem Kitāb al-Fihrist, es gebe zwei Übersetzungen der Nomoi, eine von Ḥunain ibn Isḥāq (9. Jahrhundert) und eine von Yaḥyā ibn ʿAdī (10. Jahrhundert). Yaḥyā hat sicher ins Arabische übersetzt, Ḥunain möglicherweise ins Syrische. In der Forschung wird bezweifelt, dass es sich tatsächlich um Übersetzungen des ganzen Dialogs handelte; vielleicht stand den Übersetzern nur eine antike Inhaltszusammenfassung zur Verfügung. Der einflussreiche Philosoph al-Fārābī schrieb eine „Zusammenfassung der Nomoi Platons“ (Talkhīs nawāmīs Aflātūn), wobei er sich auf die ersten neun Bücher beschränkte, da ihm der Rest nicht vorlag. Der byzantinische Platoniker Georgios Gemistos Plethon († 1452) setzte sich mit den Nomoi auseinander. Eine Abschrift aus seinem Besitz, in der er willkürliche Eingriffe in den Text vornahm, zeugt von seinem eigenwilligen Umgang mit dem Erbe des antiken Philosophen, das er für die Gegenwart fruchtbar machen wollte. Seine eigene Verfassungstheorie beschrieb Gemistos in seinem nur teilweise erhaltenen Hauptwerk Nómōn syngraphḗ („Darlegung der Gesetze“, kurz Nómoi „Die Gesetze“). Dabei knüpfte er schon mit dem Titel an den platonischen Dialog an, von dessen Gedankengut er sich anregen ließ. Frühe Neuzeit Im Westen wurden die Nomoi im Zeitalter des Renaissance-Humanismus wiederentdeckt. Die erste lateinische Übersetzung erstellte der scharf antiplatonisch eingestellte Humanist Georgios Trapezuntios 1450–1451 auf Wunsch von Papst Nikolaus V.; sie ist sehr frei und fehlerhaft. 1458 verfasste Georgios die Schrift Comparatio philosophorum Platonis et Aristotelis („Vergleich der Philosophen Platon und Aristoteles“), in der er fundamentale Kritik am Konzept der Nomoi übte: Es sei unflexibel, unnatürlich und schon im Ansatz verfehlt, die Missbilligung des Strebens nach Reichtum verkenne die menschliche Natur, außerdem sei ein so armer und kleiner Staat militärisch nicht überlebensfähig. Der Platoniker Bessarion veröffentlichte 1469 eine Entgegnung, die Schrift In calumniatorem Platonis („Gegen den Verleumder Platons“). In deren fünftem Buch ging er ausführlich auf Georgios’ Kritik an den Nomoi ein und warf ihm Hunderte von Irrtümern vor. Die zweite Übersetzung ins Lateinische stammt von Marsilio Ficino. Er veröffentlichte sie 1484 in Florenz in der Gesamtausgabe seiner Platon-Übersetzungen. Die Erstausgabe des griechischen Textes erschien im September 1513 in Venedig bei Aldo Manuzio im Rahmen der von Markos Musuros herausgegebenen Gesamtausgabe der Werke Platons. Der Reformator Johannes Calvin (1509–1564) nahm in seiner einflussreichen Schrift Institutio Christianae religionis auf das Marionettengleichnis Bezug. Seine Vorstellungen über die Verfassung von Staat und Kirche zeigen Übereinstimmungen mit dem Gedankengut der Nomoi. Der Staatstheoretiker Jean Bodin hielt das Modell der Nomoi nicht für eine Mischverfassung, sondern für eine echte Demokratie. Diese Einschätzung begründete er in seiner 1576 veröffentlichten Schrift Les six livres de la République damit, dass Platon die Souveränität der Volksversammlung zugewiesen und ihr auch das Recht der Ernennung und Absetzung von Beamten eingeräumt habe. Moderne Literarische Aspekte Die Urteile über die literarische Qualität sind teils sehr kritisch ausgefallen. Friedrich Nietzsche vermerkte: „höchst schlotterige Composition, (…) langweiliger stotternder Dialog“. Ulrich von Wilamowitz-Moellendorff befand, der Stil sei „überall künstlerisch oder besser künstlich geformt, überall unfrisch, oft manieriert, durchaus Altersstil, mit Recht oft mit dem des alten Goethe verglichen“. Der Leser werde die Schale hart finden und darin nicht immer einen genießbaren Kern. Auch Gerhard Müller meinte, die Künstlichkeit sei ein wesentlicher Zug der Nomoi; es gebe in dem Werk eine Fülle von schlecht gebauten Sätzen und Satzsystemen. Egil A. Wyller charakterisierte die Darstellung als weitschweifig und oft pedantisch umständlich. Olof Gigon beanstandete eine „unwahrscheinliche Kompliziertheit in allen Formulierungen“, eine „zeremoniöse Betulichkeit“, die allerdings wohl damit zu erklären sei, dass der Autor die Redeweise alter Männer habe nachbilden wollen. Franz von Kutschera fand den Stil störend; er sei manieriert und das gehe oft auf Kosten der Klarheit. Andere Gelehrte beurteilten die literarische Qualität positiver. Georg Picht griff den Vergleich mit Stil und Sprache des späten Goethe in lobendem Sinne auf. Klaus Schöpsdau meinte, der Dialog nötige zur Bewunderung für seine innere Stimmigkeit und sinnfällige Systematik. Politische und philosophische Aspekte Der politische und philosophische Gehalt des Werks ist in der Moderne zwiespältig beurteilt worden. Eduard Zeller betonte, es sei Platon um Vermittlung zwischen seinem philosophischen Ideal und dem Realisierbaren gegangen; unter diesem Gesichtspunkt sei der Wert der Schrift nicht gering. Sie zeuge von Reife des Urteils und sei „in allen ihren Grundzügen mit folgerichtiger Verständigkeit ausgeführt“. Ulrich von Wilamowitz-Moellendorff fand viel zu bemängeln. Er stellte fest, der Verfassungsentwurf sei recht lückenhaft und unfertig, es gebe eine Reihe von Widersprüchen, die Ausführungen über das Weintrinken seien wunderlich und gehaltlos. Einen Hauptmangel sah er im statischen Charakter der Gesellschaft, insbesondere im Fehlen einer wissenschaftlichen Forschung, die Fortschritt ermöglichen würde. Den Bürgern, die ihr Leben auf die empfohlene Weise zu verbringen hätten, drohe Langeweile. Karl Praechter hob die Lehre von der Verfassungsmischung hervor, mit der Platon einen weltgeschichtlich bedeutsamen Weg eröffnet habe. Die im Vergleich mit der Politeia stärkere Beachtung des Empirischen, zumal in den historischen Abschnitten des Dialogs, weise in die Richtung, die später Aristoteles eingeschlagen habe. Ähnlich urteilte Werner Jaeger, der ebenfalls die „Rücksicht auf die Erfahrung“ betonte und eine methodische Nähe zu Aristoteles konstatierte. Er meinte, das ganze Werk sei dem Aufbau eines gewaltigen Systems der Erziehung gewidmet; deren Ziel sei „die menschliche Gesamttugend, die volle Entfaltung der Persönlichkeit“. Alfred Edward Taylor hielt die Nomoi für Platons reifste Schrift über die Themen, die ihm schon immer die wichtigsten gewesen seien. Dieser Meinung war auch Heinrich Dörrie; er schrieb, man habe in den Nomoi „nicht den matten Ausklang eines ohnehin erfüllten Lebens zu erblicken, sondern dessen unbestreitbare Krönung“. Franz von Kutschera lobte die Einsicht, die Definition eines Staatsziels müsse Ausgangspunkt jedes politischen Ordnungssystems sein. Er bemerkte dazu, dass davon auch heutige Gesetzgeber viel profitieren könnten. In den meisten Verfassungen fehle die Angabe des Ziels oder sie sei unvollständig. Wie schon Wilamowitz weist auch Klaus Schöpsdau auf die Problematik des Verbots von Neuerungen hin, das zu einer völligen Erstarrung des geistigen Lebens führen müsse. Anlass zu heftiger Kritik boten schon im 19. Jahrhundert ausgeprägt „autoritäre“ Züge des Gesetzeswerks, die seither immer wieder angeprangert worden sind. Als anstößig empfunden wird vor allem das umfassende Mandat des Staates zur moralischen Erziehung der Bürger auch mit Zwangsmitteln. Dazu gehören die tiefen Eingriffe der Behörden in den persönlichen Lebensbereich der Bürger, die Strenge der Strafbestimmungen (vor allem die Todesstrafe für eine Reihe von Delikten) sowie das Kontroll- und Überwachungssystem samt Ermunterung zur Denunziation. Kritiker beurteilen all dies als repressiv oder sogar totalitär; sie vergleichen Platons Staat der Gesetze mit der Inquisition und mit modernen totalitären Systemen. John Stuart Mill befand in einem 1866 publizierten Essay, die strenge Unterdrückung unerwünschter Meinungen in Magnesia erinnere an die spanische Inquisition unter dem berüchtigten Großinquisitor Tomás de Torquemada. Der Religionsphilosoph Wladimir Sergejewitsch Solowjow nannte 1898 die Nomoi eine „direkte prinzipielle Absage an Sokrates und die Philosophie“; in Platons Leben sei das eine „tiefe, tragische Katastrophe“ gewesen. Francis M. Cornford griff 1935 den Vergleich mit der Inquisition auf und stellte sich vor, dass Sokrates im Staat der Nomoi ebenso wie in Athen vor Gericht gestellt worden wäre. Ausführlich und mit besonderem Nachdruck hat Karl Popper den Totalitarismusvorwurf vorgetragen. Er sieht in den Nomoi den Höhepunkt von Platons Verrat an den Überzeugungen des Sokrates. In diesem Dialog habe Platon „die Theorie der Inquisition entwickelt“, er stehe dort dem Geist der Demokratie noch feindseliger gegenüber als in der Politeia. Poppers Interpretation ist verschiedentlich als einseitig und nur teilweise zutreffend kritisiert worden. Er beurteilt den Verfassungsentwurf der Nomoi nach modernen Maßstäben und vor dem Hintergrund moderner Verhältnisse. Ein Vergleich des platonischen Modells mit der konkreten Realität der damaligen griechischen Staatenwelt zeigt jedoch, dass manche Züge, die heute befremdlich oder totalitär erscheinen, in der griechischen Gesellschaft verankert waren und nicht als anstößig empfunden wurden. In einer eingehenden Analyse ist Paul Veyne zum Ergebnis gekommen, Platon habe nur die damalige soziale und politische Wirklichkeit systematisiert und perfektioniert. Daher seien die Nomoi nicht als Utopie zu betrachten, sondern als extremes, aber in seinem Gedankengut realitätsnahes politisches Programm. Dieses habe sich nur durch seine Konsequenz von der Denkweise und Praxis der Zeitgenossen abgehoben. Kai Trampedach, der sich mit Veynes Arbeit kritisch auseinandersetzt, räumt die Nähe zur Realität ein, hält aber daran fest, dass die geplante Siedlung trotz unleugbarer Realisierbarkeit mancher Details eine literarische Fiktion sei. In den Nomoi sei kein anwendungsfähiges politisches Programm enthalten. Zu den nicht realisierbaren Aspekten gehöre die vorgesehene Autarkie und weitgehende Abgeschlossenheit. Utopisch sei auch die Einführung einer philosophischen Ansprüchen genügenden „Vernunftreligion“ als Fundament des Staates, denn dies sei mit dem mythisch fundierten griechischen Volksglauben faktisch unvereinbar. Religion sei nicht planbar. Ausgaben und Übersetzungen Gunther Eigler (Hrsg.): Platon: Werke in acht Bänden, Band 8, Teile 1 und 2, 4. Auflage, Wissenschaftliche Buchgesellschaft, Darmstadt 2005, ISBN 3-534-19095-5 (Abdruck der kritischen Ausgabe von Édouard des Places und Auguste Diès; Übersetzung von Klaus Schöpsdau). Klaus Schöpsdau (Übersetzer): Platon: Nomoi (Gesetze). Übersetzung und Kommentar (= Ernst Heitsch u. a. (Hrsg.): Platon: Werke. Übersetzung und Kommentar, Band IX 2). 3 Teilbände, Vandenhoeck & Ruprecht, Göttingen 1994–2011, ISBN 3-525-30433-1 (Teilband 1), ISBN 3-525-30434-X (Teilband 2), ISBN 3-525-30435-8 (Teilband 3). Klaus Schöpsdau (Übersetzer): Platon: Nomoi. Aus dem Griechischen übersetzt von Klaus Schöpsdau. Mit Anmerkungen, Literaturhinweisen und Nachwort versehen von Michael Erler. Reclam, Ditzingen 2019. Otto Apelt (Übersetzer): Platon: Gesetze. In: Otto Apelt (Hrsg.): Platon: Sämtliche Dialoge, Bd. 7, Meiner, Hamburg 2004, ISBN 3-7873-1156-4 (Übersetzung mit Einleitung und Erläuterungen; Nachdruck der Ausgabe Leipzig 1916). Eduard Eyth (Übersetzer): Die Gesetze. In: Erich Loewenthal (Hrsg.): Platon: Sämtliche Werke in drei Bänden, Bd. 3, unveränderter Nachdruck der 8., durchgesehenen Auflage, Wissenschaftliche Buchgesellschaft, Darmstadt 2004, ISBN 3-534-17918-8, S. 215–663. 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https://de.wikipedia.org/wiki/Endotracheale%20Intubation
Endotracheale Intubation
Bei der endotrachealen Intubation (kurz oft auch als Intubation bezeichnet) wird ein Endotrachealtubus (flexibler Schlauch, meist aus Kunststoff) durch den Mund (orotracheal), die Nase (nasotracheal) oder über ein Tracheostoma in die Luftröhre (Trachea) eingebracht. Mithilfe eines Ballons (Cuff, s. u.) werden die Atemwege vor dem Eindringen von Sekreten (Aspiration) geschützt und eine sichere künstliche Beatmung ermöglicht. Die endotracheale Intubation gilt heute als Standardmethode der Atemwegssicherung. Sie wird in der Anästhesie, Intensiv- und Notfallmedizin bei Patienten in Narkose, bei Bewusstlosigkeit oder akuten Störungen der Atmung, etwa im Rahmen der Wiederbelebung eingesetzt. Endotrachealtubus Der Endotrachealtubus ist ein leicht gebogener, in der Ausführung für Erwachsene ca. 25–30 cm langer Kunststoffschlauch (früher wurde auch Gummi als Material verwendet), dessen äußerer Durchmesser in etwa dem Kleinfingerdurchmesser des Patienten entspricht. Am hinteren (maschinen- bzw. behandlerseitigen) Ende hat der Tubus einen Anschlussstutzen für ein Beatmungs- bzw. Narkosegerät oder einen Beatmungsbeutel. Das gegenüberliegende (patientenseitige) Ende ist abgeschrägt, um das verletzungsfreie Einführen durch die Stimmlippen zu erleichtern. Ein bis zwei Fingerbreit darüber ist (meist) ein kleiner Ballon angebracht, der sogenannte Cuff (deutsch: Manschette). Dieser kann über einen am Tubus befestigten Schlauch mit Luft befüllt werden (z. B. über eine Luer-Spritze), um die Luftröhre vollständig abzudichten; der einzige Weg in die Lunge führt dann über den Tubus. Das Risiko einer Aspiration ist damit vermindert. Es gibt mehrere Arten von Endotrachealtuben. Am häufigsten werden vorgeformte, relativ starre Tuben verwendet, die nach ihrem Erstbeschreiber, dem britischen Anästhesisten Ivan Whiteside Magill (1888–1986) benannt sind. Sie sind in Herstellung und Handhabung verhältnismäßig einfach, bieten jedoch die Gefahr, einen verhältnismäßig großen Raum außerhalb des Patienten zu beanspruchen; außerdem können sie abgeknickt und dabei vollständig verschlossen werden. Daher wird u. a. für Operationen im Gesicht, am Hals (z. B. Struma-Operationen) oder auch in Bauchlage vielfach ein biegsamer Tubus verwendet, dessen Design auf Philip D. Woodbridge (1895–1978) zurückgeht. Er verdankt seine Flexibilität und zugleich Knickfestigkeit einer Metallspirale, die in die Hülle aus sehr weichem Kunststoff eingearbeitet ist. Diese Woodbridge-Tuben nennt man daher auch Spiraltuben. Traditionell wurden für Kinder bis zum Alter von 8 Jahren häufig Tuben ohne Cuff eingesetzt. Wegen der Verengung der Luftröhre hinter den Stimmbändern (subglottische Enge) dichtet bei Kindern ein Tubus in passender Größe meist ausreichend ab. Vorteil ist, dass eine mögliche Schädigung der Schleimhäute durch den aufgepumpten Cuffballon oder durch harte Kunststofffalten des Cuffs beim Einsatz ungecuffter Tuben verhindert werden kann. Nachteil ist, dass ein zu klein gewählter Tubus ohne Cuff nicht abgedichtet werden kann und ein risikobehafteter Tubuswechsel erforderlich werden kann. Bei modernem Cuffmaterial sowie engmaschiger Kontrolle des Cuffdrucks hat sich im Rahmen von Intubationsnarkosen der Einsatz gecuffter Tuben bei Kindern als sicher erwiesen. Insbesondere bei Notfällen wird inzwischen der Einsatz von gecufften Tuben empfohlen, da bei zu kleinem Tubus die Gefahr eines Tubuswechsels entfällt. Zur Regulation des Cuffdrucks wurde auch die Verwendung eines Cuffdruckregulators empfohlen. Es gibt auch spezielle Tuben, die innen in zwei Hälften längsgeteilt sind – sog. Doppellumentuben (von lat. lumen: „Licht“, in diesem Falle im Sinne von „lichte Öffnung“). Sie sollen eine seitengetrennte (unabhängige) Beatmung beider Lungenflügel (bzw. die Beatmung eines einzelnen Lungenflügels bei gleichzeitiger Ruhigstellung des anderen) ermöglichen, was bei einigen Eingriffen in der Thoraxchirurgie erforderlich ist. Diese Technik wird mitunter auch als endobronchiale Intubation bezeichnet, da die Spitze des Tubus in einem Hauptbronchus zu liegen kommt. Anwendungsgebiete Eine endotracheale Intubation wird angewendet, um Patienten, die selbst nicht ausreichend atmen oder nur unzureichende Schutzreflexe besitzen, einen gesicherten Beatmungsweg zu verschaffen. Die Intubation verhindert die Verlegung der oberen Atemwege und bietet aufgrund des aufblasbaren Cuffs einen sehr guten Schutz vor Aspiration. Rachensekret, Mageninhalt, Blut oder Fremdkörper können bei korrekt durchgeführter Intubation nicht oder allenfalls in geringer Menge in die Lunge gelangen. Im Einzelnen kommt eine endotracheale Intubation in folgenden Situationen in Frage (bzw. ist sogar geboten): bei allen Patienten, deren Schutzreflexe nicht ausreichend funktionieren. Dies kann u. a. durch einen Herz-Kreislaufstillstand, durch eine Narkose oder eine Intoxikation (Vergiftung) verursacht sein. bei nicht oder nicht ausreichend spontan atmenden Patienten (bei respiratorischer Insuffizienz), die eine Unterstützung bei der Atmung benötigen. Dies kommt hauptsächlich in der Intensivmedizin, bei der Herz-Lungen-Wiederbelebung im Rahmen der Notfallmedizin und bei Narkosen vor. Einige Narkotika haben als Nebenwirkung eine Reduktion des Atemantriebs, die bis zu einem Atemstillstand führen kann. Auch Muskelrelaxantien führen, indem sie die gesamte Muskulatur und somit auch das Zwerchfell erschlaffen lassen, zu einem (im Rahmen einer Narkose gezielt herbeigeführten) Atemstillstand. bei diagnostischen Maßnahmen an den Luftwegen, z. B. Bronchoskopie bei endoskopischen Operationen an den Atemwegen, wie z. B. Lasertherapie oder Stenting der Bronchien bei blutenden Verletzungen im Bereich der oberen Atemwege, um eine Aspiration zu verhindern bei Anschwellen der oberen Atemwege mit Erstickungsgefahr (z. B. aufgrund einer Insektenstichallergie oder auch einer Reizgasvergiftung) Die endotracheale Intubation ist in Deutschland eine Maßnahme, die dem Grundsatz nach dem ärztlichen Personal vorbehalten und für die eine entsprechende Ausbildung und Übung erforderlich ist. Im Rettungsdienst wird sie notfalls auch von entsprechend qualifizierten Rettungsassistenten bzw. Notfallsanitätern mit entsprechender Zusatzausbildung ausgeführt. In anderen Ländern werden allerdings Intubationen auch routinemäßig von nichtärztlichem Personal ausgeführt. Vorgehen Die endotracheale Intubation geschieht in der Regel durch direkte Laryngoskopie (konventionelles Vorgehen), wobei ein Laryngoskop zur Darstellung der Glottis benutzt und der Tubus unter direkter Sicht eingeführt wird. Diese Technik lässt sich in der Regel nur bei komatösen oder narkotisierten Patienten anwenden, es sei denn in bestimmten Ausnahmefällen, bei denen man zuvor eine Lokalanästhesie des Kehlkopfs durchgeführt hat. Dabei sollte der (erwachsene) Patient in die sogenannte verbesserte Jackson-Position (benannt nach Chevalier Jackson, amerikanischer Laryngologe, 1865–1958) gebracht werden, also mit hochgelegtem Kopf und leicht überstrecktem Hals. Eine Alternative stellt die fiberoptische Intubation dar. Diese funktioniert gegebenenfalls unter Lokalanästhesie mittels eines flexiblen Endoskops, des sogenannten Bronchoskops, oder einer transportablen, halbstarren Intubationsfiberoptik. Nach erfolgreicher Intubation wird der Tubus vom Intubierenden gehalten, bis er gegen Verrutschen gesichert („fixiert“) ist; gegebenenfalls ist der Schutz des Tubus durch einen Beißkeil zweckmäßig. In bestimmten Fällen kann ein blinder, das heißt ein Intubationsversuch ohne laryngoskopische Sicht nasal unternommen werden. Diese Methode wurde von dem bereits oben erwähnten Ivan Magill eingeführt, der bereits 1920 mit Rowbotham auf breiter Basis die endotracheale Intubation in der Anästhesie etabliert hat. Sie eignet sich besonders für die Intubation des wachen Patienten bei schwierigen Intubationsbedingungen, insbesondere wenn kein Bronchoskop zur Verfügung steht. In Zeiten vielfältiger Alternativen (s. u.) wird die blinde Intubation nur noch in Ausnahmefällen durchgeführt. Vielen Medizinern bereitet die Intubation erhebliche Probleme, obwohl sie eine wichtige ärztliche Maßnahme bei der Behandlung lebensbedrohlicher Notfälle darstellt. Dies ist unter anderem auf mangelnde Gelegenheiten zum Erlernen zurückzuführen, aber auch auf die „handwerklichen“ Ansprüche dieser Prozedur, die für eine sichere Durchführung häufiges Üben erfordert. Deshalb steht in vielen Kliniken ein Team zur Reanimation bereit, das in der Regel durch die Anästhesieabteilung oder die Intensivstation gestellt wird. Das Erlernen der Intubationstechnik kann zunächst am Modell erfolgen; verschiedene Hersteller bieten Übungspuppen an, die allerdings die sehr unterschiedlichen Atemwegsbedingungen nicht immer einwandfrei abbilden können. Das am Modell Gelernte kann dann z. B. in der Anästhesieabteilung unter Aufsicht vertieft werden. Wichtig für die erfolgreiche Intubation sind eine ruhige Vorgehensweise, eine geeignete Arbeitshöhe, gute Sicht mittels des Laryngoskopes, effiziente Absaugmöglichkeit, die ausreichende Ruhigstellung des Patienten, gegebenenfalls ein Führungsstab im Tubus (bei Spiraltuben obligat) und geschultes Assistenzpersonal. Zur Kontrolle der richtigen Tubuslage gibt es folgende sichere Kriterien: die Einführung des Tubus unter Sicht bei Auskultation (Abhören mit dem Stethoskop) ein nach dem Einführen auf beiden Seiten gleiches Beatmungsgeräusch (wobei als Auskultationspunkte der 5. Interkostalraum in der mittleren Axillarlinie, etwa in Höhe der Brustwarzen, und die Mohrenheimsche Grube zweckmäßig sind) der Nachweis von Kohlendioxid in der Ausatemluft mittels Kapnometrie eventuell die Kontrolle durch eine Bronchoskopie (insbesondere bei Verwendung eines Doppellumentubus) die korrekte Lage der Tubusspitze in einer Röntgenaufnahme des Brustkorbs Komplikationen Eine gefährliche Komplikation ist die Fehlintubation in den Ösophagus (Speiseröhre) statt in die Trachea (Luftröhre). Nicht rechtzeitig erkannt und korrigiert, führt eine Fehlintubation zu einer Sauerstoffunterversorgung des Organismus mit den möglichen Folgen Hirnschaden, Herzinfarkt und Tod. Vor Einführung der Routinemessung des exspiratorischen Kohlendioxids (Kapnometrie) ab Anfang der 1980er Jahre war diese Komplikation gefürchtet. In bestimmten Ausnahmesituationen, nämlich wenn der Patient noch gleichzeitig über eine Eigenatmung verfügt, führt eine nicht gleich erkannte oesophageale Intubation zwar nicht zwangsläufig zu einem Sauerstoffmangelschaden, kann jedoch einen Magenriss zur Folge haben. Leichenversuche haben gezeigt, dass die Insufflation von etwa 6 Liter Luft eine Magenruptur herbeiführt. Eine fehlgeschlagene Intubation wird vor allem dann zur Komplikation, wenn man den Patienten nicht anderweitig ausreichend beatmen kann. Vor allem nach fehlgeschlagenen Intubationsversuchen können durch Schwellungen und Blutungen die Atemwege verlegt sein. Deshalb ist es wichtig, vor Routineintubationen (zum Beispiel in der Anästhesie) auf überraschende Schwierigkeiten eingestellt zu sein und im Falle eines „schwierigen Atemweges“ planmäßig nach einem Algorithmus vorzugehen. In Operationsabteilungen wird dazu meist ein spezieller Wagen mit Material für eine schwierige Intubation vorgehalten. Eine gefürchtete Komplikation ist die sogenannte Aspiration, das Eindringen von Mageninhalt in das Bronchialsystem, während des Intubationsvorgangs. Das Risiko dafür ist bei einer zu flachen Narkose bzw. Bewusstlosigkeit, insbesondere aber bei Patienten mit vollem Magen, in Situationen eines Darmverschlusses (Ileus) oder auch bei Hochschwangeren erhöht. In solchen Fällen wird – normale Atemwegsanatomie vorausgesetzt – eine sogenannte RSI (Rapid Sequence Induction), auch Ileuseinleitung genannt, durchgeführt. Ein Hauptcharakteristikum ist dabei der Verzicht auf eine Maskenbeatmung nach Injektion der Narkosemittel. Zur Minimierung des Aspirationsrisikos bei Routinenarkosen müssen Patienten daher grundsätzlich einige Stunden im Vorfeld nüchtern bleiben. Als weitere Gefahr besteht die Möglichkeit der Verletzung der Stimmbänder oder der Aryknorpel, sehr selten auch eines Risses der Trachea, insbesondere bei Verwendung eines Führungsstabes. Wird der Tubus versehentlich über die Aufzweigung der Luftröhre hinaus in einen der beiden Hauptbronchien vorgeschoben, wird nur ein Lungenflügel belüftet. Dabei wird wegen der Form der Bifurkation typischerweise der rechte Hauptbronchus intubiert. Daher gehört die oben angeführte Auskultation der Lungen und ggf. die Lagekorrektur des Tubus zum Standardvorgehen unmittelbar nach erfolgter Intubation. Bei Langzeitbeatmungen kann der Druck des Cuffs Nekrosen oder Ulzerationen der Tracheaschleimhaut verursachen. Daher ist eine Überwachung des Cuff-Drucks auf Intensivstationen und bei längeren Narkosen üblich; vielfach wird sie grundsätzlich bei allen Intubationsnarkosen angewendet. Eine weitere Komplikation ist die Beschädigung oder die Lockerung von Zähnen, insbesondere der vorderen oberen Schneidezähne, durch Kontakt mit dem Laryngoskop. Zudem kann durch die Reizung des Parasympathikus, einem Teil des vegetativen Nervensystems, in sehr seltenen Fällen ein reflektorischer Atemstillstand oder gar Herzstillstand im Gefolge einer Intubation auftreten. Sonderformen Bei bestimmten Operationen, insbesondere im Bereich der Thoraxchirurgie, ist es nötig, nur einen Lungenflügel in die Atmung einzubeziehen und den anderen stillzulegen. In aller Regel kommt dann ein Doppellumentubus (siehe oben) oder auch ein Tubus mit einem sogenannten Bronchusblocker zum Einsatz. In äußerst seltenen Fällen, insbesondere in der Thoraxchirurgie bei Kindern oder auch bei Verletzungen der oberen Luftwege (z. B. Abriss der Luftröhre oder eines Hauptbronchus), kann es zweckmäßig sein, einen „normalen“ Tubus gezielt bis in einen der beiden Hauptbronchien vorzuschieben (selektive endobronchiale Intubation). Eine gezielt einseitige Intubation mit einem gewöhnlichen Tubus kann in Einzelfällen auch im Falle von in die Trachea verschluckten Fremdkörpern lebensrettend sein, die so tief sitzen, dass nicht einmal eine Koniotomie den Luftweg freimachen könnte. Als äußerste Maßnahme bietet sich hier der Versuch an, den Fremdkörper mit einem Tubus in einen Hauptbronchus nach unten zu schieben, sodass der andere Lungenflügel anschließend belüftet werden kann und der Patient eine Überlebenschance hat. Nach der so erfolgten Sicherung der Vitalfunktion muss anschließend natürlich eine Entfernung des Fremdkörpers sowie eventuell eine Reinigung und Spülung mittels Bronchoskopie erfolgen. Alternative Atemwegssicherung Gelingt eine Atemwegssicherung mittels endotrachealer Intubation nicht (schwierige Intubation), stehen eine Reihe alternativer Verfahren zur Verfügung. Eine Beutel-Masken-Beatmung stellt die Sauerstoffversorgung sicher, bis der Patient wieder erwacht. Ein Videolaryngoskop kann die Sicht auf die Glottis verbessern. Weiter stehen mit Larynxmaske, Larynxtubus und Combitubus verschiedene Alternativen zur Verfügung. Ist auf keine Weise eine Sauerstoffversorgung oder Intubation möglich (Cannot-ventilate-cannot-intubate-Situation), bleibt als letztes Mittel die Koniotomie, bei der ein chirurgischer Zugang zum Atemtrakt in Höhe des Kehlkopfes geschaffen wird, indem die Membran (Ligamentum conicum) zwischen Ringknorpel und Schildknorpel eröffnet wird. Bei längerer Beatmung stellt die Tracheotomie eine Alternative zur endotrachealen Intubation dar. Die Tracheotomie ist ein chirurgischer Eingriff, bei dem durch die Halsweichteile ein Zugang zur Luftröhre geschaffen wird. Indikationen zur Tracheotomie können beispielsweise die Notwendigkeit einer Langzeitbeatmung nach Unfällen oder Operationen, neurologische Erkrankungen mit Störungen des Schluckreflexes, Strahlenbehandlung am Kopf oder Hals oder Kehlkopflähmungen sein. Geschichte Ein erster Bericht über eine endotracheale Intubation (mit einem Schilfrohr) und anschließende rhythmische Beatmung von Tieren, wobei es zum Wiedereinsetzen des Herzschlags bei Pulslosigkeit gekommen sein soll, stammt aus dem Jahr 1543: Andreas Vesalius wies in diesem Bericht darauf hin, dass eine solche Maßnahme unter Umständen lebensrettend sein könne. Er blieb jedoch unbeachtet. Im Jahr 1858 schrieb der englische Narkosepionier John Snow über endotracheal durchgeführte Chloroformnarkosen bei Kaninchen. 1869 führte dann der deutsche Chirurg Friedrich Trendelenburg erstmals eine endotracheale Intubation am Menschen zur Narkoseführung durch, was er 1871 publizierte. Hierbei brachte er den zum Schutz vor Aspiration von Blut mit einer aufblasbaren Manschette versehenen Tubus nach temporärer Tracheotomie über ein Tracheostoma ein. 1878 nahm der Glasgower Chirurg William Macewen mittels eines Metalltubus die erste orotracheale (durch den Mund-Rachen-Raum in die Luftröhre erfolgte) Intubation vor. Mit seiner Arbeit über die orale Intubation bei Diphtherie trug J. O’Dwyer 1887 zum Bekanntwerden des Verfahrens bei. Karl Maydl berichtete 1893 über einige HNO-ärztliche Eingriffe nach oraler Intubation. Hilfreich war die Entwicklung Alfred Kirsteins, der 1895 das erste Laryngoskop mit direkter Sicht auf den Kehlkopf für die endotracheale Intubation entwickelt hatte. Eine den heute üblichen Verfahren ähnliche Methode, mit einer aufblasbaren Gummimanschette an einem halbsteifen Trachealtubus, verwendete später auch Viktor Eisenmenger. Der endotrachealen Überdruckbeatmung, wie sie heute weltweit Standard ist und auch von Franz Kuhn zwischen 1902 und 1908 vorgeschlagen wurde, wurde ab 1905 der Weg durch Ludolph Brauer bereitet. In Amerika wurde die endotracheale Intubation und „intratracheale Narkose“ (genannt auch „endotracheale Narkose“) mit Überdruckbeatmung bereits um 1900 in der Thoraxchirurgie angewendet, etwa nach einer von Rudolph Matas (New Orleans) beschriebenen Methode mittels eines zur Abdichtung mit Metallstopfen versehenen Tubus. Wie Trendelenburg verabreichte Matas das Narkotikum über einen Trichter. In den Jahren des Ersten Weltkrieges erarbeiteten insbesondere Ivan Magill und Robert Reynolds Macintosh tiefgreifende Verbesserungen bei der Anwendung der Intubation. Mit Macintoshs Namen ist bis heute der gebräuchlichste auswechselbare Spatel des Laryngoskops benannt, und Magill ist Namenspate für einen annähernd kreissegmentförmig gebogenen Tubus sowie die Magill-Zange, die u. a. zum Positionieren des Tubus bei der nasalen Intubation geeignet ist. In Deutschland kann vor allem der Kasseler Chirurg Franz Kuhn als Vorreiter der Intubation gelten; er konzipierte einen eigenen, von einem Darmrohr abgeleiteten Tubus, der (in tiefer Narkose) manuell in die Trachea eingeführt wurde. Hierbei griff er unter anderem auf eine Arbeit von E. Schlechtendahl in Barmen zurück, der eine orale Intubation in tiefer Chloroformnarkose beschrieben hatte. Kuhn fasste die Vorteile einer orotrachealen Intubation 1902 in fünf Punkten zusammen: Zunächst sah er darin eine weniger eingreifende Alternative zur bis dahin immer noch in vielen Fällen (insbesondere bei Halseingriffen mit Beteiligung der Luftröhre) praktizierten Tracheotomie, wie sie Trendelenburg eingeführt hatte. Des Weiteren nannte er die elegante Umgehung der Probleme von Stimmritzenkrämpfen und anderer Probleme während einer Chloroformnarkose. Ein weiteres Argument für ihn war, dass eine Intubation ständig freie Atemwege gewährleistete und darüber hinaus eine Überdruckbeatmung wesentlich einfacher machte, insbesondere in Notsituationen; hierbei bezog er sich ausdrücklich auf die Arbeiten von O'Dwyer sowie S. W. Herzog aus Charkow; Letzterer hatte 1898 die Überdruckbeatmung als erfolgversprechende Wiederbelebungsmaßnahme propagiert. Schließlich sah er die Möglichkeit, bei Eingriffen im Bereich der oberen Luftwege die bis dahin nur intermittierend applizierten Narkosegase kontinuierlich zuzuführen und damit eine gleichmäßigere Narkose zu gewährleisten. Als weitere Begründung für eine Intubation sah Kuhn den sicheren Schutz vor einer Aspiration an, z. B. von Rachensekreten oder Blut. Kuhn verfeinerte in der Folgezeit die Technik der Intubation, die bis dato nur selten bzw. nur bei Operationen im Nasenrachenraum verwendet worden war, und baute sie systematisch weiter aus. Als weitere wichtige Indikation führte auch er 1905 Operationen am offenen Brustkorb an, bei denen nur eine Überdruckbeatmung das Zusammenfallen der Lunge verhindern kann. Kuhns oben angeführte Argumente haben bis heute nicht an Aktualität verloren. Trotzdem setzte sich diese bahnbrechende Neuerung in Deutschland und teilweise auch seinen Nachbarländern vorläufig nicht durch, weil der einflussreiche Chirurg Ferdinand Sauerbruch sie ablehnte. Dies führte dazu, dass die Anästhesie in Deutschland jahrzehntelang von der weltweiten Entwicklung abgehängt blieb. Erst nach dem Ende des Zweiten Weltkrieges wurde Sauerbruchs verhängnisvolles Verhalten in seiner Tragweite erkannt und die endotracheale Intubation auch in den deutschsprachigen Ländern als Standard etabliert. Den Bedürfnissen der Thoraxchirurgie nach einseitiger Beatmung nur eines Lungenflügels wurde in der Mitte des 20. Jahrhunderts durch die Entwicklung neuer Tuben Rechnung getragen, die eine seitengetrennte Beatmung ermöglichen, wobei als Pioniere E Carlens (1949), G. M. J. White (1960) und F. L. Robertshaw (1962) zu nennen sind. In der Folgezeit wurden weitere Fortschritte erzielt, z. B. mit der Einführung von besser verträglichen Tubusmaterialien bzw. besser anpassungsfähigen Cuffs. Es blieb aber zunächst das Problem, dass auch für erfahrene Anwender ein „Bodensatz“ von Patienten blieb, bei denen eine endotracheale Intubation auf dem üblichen Wege nicht möglich war, z. B. aufgrund individueller anatomischer Besonderheiten, Fehlbildungen, Tumorleiden usw.; noch in den 1980er Jahren galt die Faustregel, dass eine endotracheale Intubation bei jedem hundertsten Patienten schwierig und bei jedem tausendsten unmöglich sei. Daher darf es als Meilenstein angesehen werden, als der Japaner Shigeto Ikeda 1966 erstmals ein flexibles, auf Fiberglasbasis beruhendes Bronchoskop vorstellte; Peter Murphy konnte bereits im darauffolgenden Jahr zeigen, dass dieses Hilfsmittel nicht nur eine (wenngleich aufwendigere) Alternative zur herkömmlichen Intubation mit einem Spatel bot, sondern auch Intubationen ermöglichte, die anders nicht erfolgreich bewerkstelligt werden konnten. Die weitere Verfeinerung der Videooptik führte im Verlauf späterer Jahre zur Entwicklung von Intubationsspateln mit Videofunktion, die die einfachere Handhabung der Spatelintubation teilweise mit den Vorteilen einer Videobronchoskopie verband und diese wiederum in vielen – jedoch nicht allen – Fällen entbehrlich machte. Außer für Kurznarkosen, bei denen Beatmungsmasken zum Einsatz kamen (und kommen), blieb die endotracheale Intubation über lange Jahre das alleinige Standardverfahren der Allgemeinanästhesie. Dies änderte sich, nachdem 1987 Archibald Brain seine sogenannte Larynxmaske vorgestellt hatte, die seither ständig weiterentwickelt wurde und in der Folgezeit den Endotrachealtubus teilweise verdrängte. Gründe dafür sind die weniger invasive (und zudem leichter erlernbare) Einführungstechnik, der Wegfall der Verletzungsmöglichkeit der Stimmbänder und ggf. die Möglichkeit einer flacheren, relaxationsfreien Narkoseführung (weil die hochempfindlichen Stimmbänder nicht tangiert werden). Andererseits bietet die Larynxmaske keinen sicheren Aspirationsschutz und hat weitere Nachteile, etwa hinsichtlich der Dislokationssicherheit. Es bleibt daher außer Diskussion, dass die endotracheale Intubation weiterhin den Goldstandard insbesondere bei anspruchsvollen Vollnarkosen und auch in der Notfallmedizin darstellt. Literatur Hans-Joachim Hartung, Peter M. Oswald, G. Petroianu: Die Atemwege. Wissenschaftliche Verlagsgesellschaft, Stuttgart 2001. ISBN 3-8047-1735-7. H. Orth, I. Kis: Schmerzbekämpfung und Narkose. In: Franz Xaver Sailer, Friedrich Wilhelm Gierhake (Hrsg.): Chirurgie historisch gesehen. Anfang – Entwicklung – Differenzierung. 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https://de.wikipedia.org/wiki/Frankfurter%20Nationalversammlung
Frankfurter Nationalversammlung
Die Frankfurter Nationalversammlung (zeitgenössisch auch constituierende Reichsversammlung, deutsches Nationalparlament, Reichsparlament, Frankfurter Parlament oder bereits Reichstag wie später in der Reichsverfassung) war von Mai 1848 bis Mai 1849 das verfassungsgebende Gremium der Deutschen Revolution sowie das vorläufige Parlament des entstehenden Deutschen Reiches. Die Nationalversammlung tagte in der Paulskirche in Frankfurt, daher steht häufig der Name Paulskirche für die Nationalversammlung. Als Parlament beschloss die Nationalversammlung auch die Reichsgesetze. Am 28. Juni 1848 richtete die Nationalversammlung mit dem Zentralgewaltgesetz die Provisorische Zentralgewalt ein, also eine vorläufige deutsche Regierung. Der Bundestag des Deutschen Bundes hatte Ende März bzw. Anfang April 1848 ein Bundeswahlgesetz beschlossen, damit das deutsche Volk eine Nationalversammlung wählen konnte. Organisiert wurde die Wahl von den deutschen Einzelstaaten. Die Nationalversammlung sollte eine Verfassung für einen deutschen Bundesstaat entwerfen, die mit den Einzelstaaten zu vereinbaren war. Aus eigenem Machtbewusstsein setzte sie allerdings auch sich und eine Zentralgewalt an die Stelle der Organe des Deutschen Bundes. Die Nationalversammlung verabschiedete am 28. März 1849 die Frankfurter Reichsverfassung (Verfassung des deutschen Reiches). Nach ihrer Auffassung war sie allein zur Inkraftsetzung imstande. Die Verfassung wurde von den meisten deutschen Einzelstaaten sowie beiden Kammern des preußischen Landtags angenommen, nicht aber vom preußischen König und den großen Einzelstaaten wie Bayern und Hannover. Österreich hatte sich durch eine neue, durch den Kaiser oktroyierte Verfassung für einen österreichischen Einheitsstaat vom neuen deutschen Reich de facto ausgeschlossen. Preußen und Österreich, dann auch andere Staaten, befahlen im Mai den Abgeordneten aus ihren Ländern, ihr Mandat niederzulegen, und traten der Revolution nun mit offener Gewalt entgegen. Die Reichsverfassungskampagne scheiterte. Auch durch sonstige Mandatsniederlegungen schrumpfte die Zahl der Abgeordneten, bis die Nationalversammlung von der Linken dominiert wurde. Ende Mai 1849 flohen die verbliebenen Abgeordneten nach Stuttgart und bildeten dort ein Rumpfparlament, das aber bedeutungslos blieb und schon am 18. Juni durch württembergisches Militär aufgelöst wurde. Die einstigen Abgeordneten der konstitutionellen Liberalen, das rechte Zentrum, traf sich Ende Juni im Gothaer Nachparlament, einer privaten Versammlung. Dort nahmen sie im Wesentlichen den preußischen Versuch an, die Erfurter Union als kleindeutschen Staat zu errichten. Während viele linke Abgeordnete Deutschland verließen oder verfolgt wurden, gab es eine größere Zahl von Abgeordneten, die später den Reichstagen des Norddeutschen Bundes und des Deutschen Kaiserreichs angehörten. Der prominenteste war Eduard von Simson, Präsident der Nationalversammlung, des Erfurter Unionsparlaments und erster Reichstagspräsident. Geschichte Wahl der Nationalversammlung Zu Beginn der deutschen Revolution, im März 1848, war zunächst der Bundestag Fokus der gesamtdeutschen Erneuerungen. Der Bundestag war das höchste Organ des Deutschen Bundes, und zwar mit Gesandten der Einzelstaaten. Daneben bildete sich ein Vorparlament, eine Versammlung von Abgeordneten der Parlamente der Einzelstaaten. Eine der wichtigsten Entscheidungen der damaligen Zeit war das Bundeswahlgesetz, genauer zwei Bundestagsbeschlüsse vom 30. März und 7. April auf Vorschlag des Vorparlaments. Dem Bundeswahlgesetz zufolge sollten die Einzelstaaten Abgeordnete zu einer constituierenden deutschen Nationalversammlung wählen lassen. Dazu gab das Bundeswahlgesetz ihnen einen grundlegenden Rahmen mit, etwa, dass für je 50.000 Einwohner ein Abgeordneter zu wählen war und dass jeder männliche, volljährige, selbstständige Staatsangehörige wählen durfte. Wegen einer fehlenden Bestimmung konnten die Staaten selbst entscheiden, ob die Wahl direkt oder indirekt sein sollte. Obwohl die Nationalversammlung schon am 1. Mai zusammentreten sollte, wurde in manchen Staaten an diesem Tag oder erst später gewählt, und es dauerte auch noch einige Tage, bis die Ergebnisse ermittelt waren. Die rechtlichen und faktischen Bedingungen der Wahl waren regional sehr unterschiedlich, man geht insgesamt von einer Wahlbeteiligung zwischen vierzig und siebzig Prozent aus. Endphase Die Ablehnung der Kaiserkrone durch Friedrich Wilhelm IV. von Preußen sorgte für große Bestürzung in der Nationalversammlung. Sie hielt aber an der Reichsverfassung fest und wählte einen dreißigköpfigen Ausschuss, der den Bericht der Kaiserdeputation prüfen sollte. Ziel war es, die Fürsten und Regierungen durch die öffentliche Meinung zu bezwingen. Eine Note der Achtundzwanzig, der Bevollmächtigten kleinerer Staaten, nahm die Verfassung an ebenso wie die Abgeordnetenkammer der preußischen Nationalversammlung. Letztere drohte ihrem König, bei weiterer Ablehnung keine preußische Regierung mehr zu unterstützen. Der Konflikt eskalierte daraufhin: Ende April lehnte der König nicht nur die Kaiserkrone endgültig ab, sondern löste auch die Kammer in Preußen auf; gleiches geschah in Hannover, Sachsen und weiteren Staaten. Am 3. Mai setzte die Nationalversammlung noch eine Frist zur Anerkennung und bestimmte mit 190 zu 188 Stimmen am 4. Mai, dass sie selbst anstatt des Kaisers (des preußischen Königs) die Wahlen zum ersten Reichstag ausschrieb. Dieser sollte einen neuen Kaiser wählen. Sie rief Regierungen, Landtage, Gemeinden und das Volk allgemein dazu auf, die Verfassung zur Geltung zu bringen. Als die Linke Gewaltaktionen forderte, zogen sich die gemäßigten Abgeordneten allmählich zurück. Wie schon zuvor die österreichische Regierung erklärte nun auch die preußische am 14. Mai, die Mandate der Frankfurter Abgeordneten aus Preußen seien erloschen, diese Abgeordneten dürften nicht mehr an den Sitzungen teilnehmen. Mit dem Scheitern der Verfassungsvereinbarung sei die Aufgabe der Nationalversammlung erledigt. Die preußische Regierung sah die Nationalversammlung nicht mehr als gesetzliche Vertretung des Volkes an. Sachsen und Hannover folgten dem preußischen Beispiel im Mai, Baden im Juni 1849. Die staatsstreichartige Maßnahme war rechtswidrig, denn die Wahlen zur Nationalversammlung beruhten auf Landeswahlgesetzen, die noch in Kraft waren, und die Landeswahlgesetze wiederum waren Vollzugsmaßnahmen des Bundeswahlgesetzes, das ebenfalls noch in Kraft war. Viele Abgeordnete unterwarfen sich und legten die Mandate nieder. Am 19. Mai stimmte eine Minderheit der erbkaiserlichen Gruppe mit der Linken: Mit 126 zu 116 Stimmen setzte man den Reichsverweser ab, weil er den Boden des Konstitutionalismus verlassen habe. Am Tag darauf entschlossen sich die Mitglieder des ehemaligen Casino (darunter von Gagern), sofort auszutreten. Die Nationalversammlung hatte nur noch 150 Mitglieder, die Linke dominierte. Am 30. Mai beschlossen 71 gegen 64 Abgeordnete bei vier Enthaltungen, den Sitz nach Stuttgart zu verlegen, weil sie den Einmarsch preußischer Truppen in Frankfurt fürchteten. Das etwa hundertköpfige Rumpfparlament in Stuttgart wurde zunächst von der württembergischen Regierung geduldet, aber am 18. Juni mit Waffengewalt aufgelöst. Die Abgeordneten flohen meist in die Schweiz. In Frankfurt verblieben die großdeutschen Konservativen (zusammen mit der Zentralgewalt), sie sahen sich als die rechtmäßige Nationalversammlung an. Funktionen Die Frankfurter Nationalversammlung hatte zunächst nur eine klare Aufgabe: Sie sollte laut Bundeswahlgesetz eine Verfassung für ganz Deutschland entwerfen und diese mit den Regierungen vereinbaren. Allerdings stellte sich bei Antritt der Nationalversammlung die Frage nach dem Fortbestand des Bundestages und nach der Einrichtung einer Bundesexekutive. Der Krieg gegen Dänemark und andere Probleme zeigten einen Handlungsbedarf auf. So traf die Nationalversammlung auch Beschlüsse außerhalb ihrer ursprünglichen Aufgabe, sie diente als Parlament bei einer Reichsgesetzgebung und arbeitete mit der von ihr eingesetzten Zentralgewalt zusammen. Zentralgewalt Nach längeren Beratungen über eine Bundesexekutive, also einer Regierung für die Bundes- bzw. Reichsebene, verabschiedete die Nationalversammlung am 28. Juni 1848 das Reichsgesetz über die Einführung einer provisorischen Zentralgewalt für Deutschland. Die vorläufige Verfassungsordnung für Deutschland sah einen Reichsverweser vor, eine Art Ersatzmonarchen, der Minister ernannte. Für sich selbst definierte die Nationalversammlung im Zentralgewaltgesetz folgende Rolle: Sie wählte den Reichsverweser Ihr waren die Minister verantwortlich, das Gesamt-Reichsministerium Die Minister mussten ihr auf Verlangen Auskunft erteilen Sie beschloss gemeinsam mit der Zentralgewalt über Krieg und Frieden und Verträge mit auswärtigen Mächten Am 29. Juni wählte die Nationalversammlung Erzherzog Johann von Österreich zum Reichsverweser. Dieser ernannte im Juli bzw. August das Kabinett Leiningen und später auch weitere Kabinette. Zwar war es nicht ausdrücklich geregelt, dass ein Minister auf Wunsch der Nationalversammlung zurücktreten musste, de facto war dies aber der Fall, auch, weil die Nationalversammlung der wichtigste politische Rückhalt für die Regierung darstellte. Es setzte sich also eine parlamentarische Regierungsweise durch. Die Nationalversammlung hatte allerdings nicht die Möglichkeit, den Reichsverweser Johann abzusetzen, auch wenn später das Stuttgarter Rumpfparlament seine Tätigkeit für gesetzwidrig erklärt hat. Reichsgesetzgebung Zu den Ergebnissen der Abgeordnetenarbeit gehört eine Reihe von Gesetzen und Verordnungen zu verschiedenen Themengebieten. Einige davon behandeln ganz direkt die Tätigkeit oder den Status der Abgeordneten, wie das Reichsgesetz, betreffend das Verfahren im Falle gerichtlicher Anklagen gegen Mitglieder der verfassunggebenden Reichsversammlung vom 30. September 1848. Andere haben Bezug auf die Zentralgewalt, wiederum andere hatten nicht zuletzt den Zweck, durch eher unstrittige Regelungen den Nutzen der Nationalversammlung als ordnungs- und einheitsstiftenden Gesetzgeber zu demonstrieren, vor allem die Allgemeine Deutsche Wechselordnung vom 24. November 1848. Als besonders wichtig sahen die Abgeordneten die Grundrechte des deutschen Volkes an, die eigentlich Teil der künftigen Verfassung waren, aber bereits am 20. Dezember 1848 als Reichsgesetz verabschiedet wurden. Der Grundrechtskatalog legte individuelle Freiheitsrechte der Deutschen fest, aber auch zum Beispiel institutionelle Garantien bezüglich der Rechtspflege, und er verbot Strafen wie den Pranger und weitgehend die Todesstrafe. Wegen der Abschaffung von Adelsprivilegien wurde der Grundrechtskatalog naturgemäß nicht von absolut allen Deutschen begrüßt. Gesetze wurden von der Nationalversammlung beschlossen und dann vom Reichsverweser und dem entsprechenden Fachminister unterzeichnet, um dann im Reichsgesetzblatt veröffentlicht zu werden. Grundlage für dieses Verfahren war das Reichsgesetz betreffend die Verkündung der Reichsgesetze und der Verfügungen der provisorischen Zentralgewalt vom 27. September 1848. Kein Gesetz, aber ein damit vergleichbarer früher Beschluss der Nationalversammlung vom 14. Juni 1848 führte zur Schaffung einer deutschen Reichsflotte. Eine Publikation der Reichsgesetze in den entsprechenden Gesetzblättern der Einzelstaaten war für die Gültigkeit der Reichsgesetze nicht notwendig. Ähnlich wie bei der Zentralgewalt und der Reichsverfassung waren es wieder die kleinen Staaten, die die Reichsgesetzgebung grundsätzlich anerkannten, während die Mittelstaaten und Großmächte sich sperrten. Trotz des Bundesreaktionsbeschlusses von 1851, der die Reichsgesetzgebung und ihre Folgen in der Landesgesetzgebung bekämpfte, lebte das juristische Erbe der Nationalversammlung fort und wurde teilweise in die Gesetzgebung des Norddeutschen Bundes aufgenommen. Verfassungsgebung Vor allem nach den Schwierigkeiten im Sommer und Herbst 1848, dem entstehenden Deutschen Reich und seiner Zentralgewalt Anerkennung zu verschaffen, konzentrierten die Abgeordneten sich auf die Verfassungstätigkeit. Dabei mussten sie die politische Lage in Deutschland, vor allem den Dualismus von Österreich und Preußen, sowie erhebliche Meinungsverschiedenheiten berücksichtigen, die es auch innerhalb der Nationalversammlung gab. Umstritten waren insbesondere das Reichsgebiet und das Reichsoberhaupt. Zu Beginn gingen die Abgeordneten mit größter Selbstverständlichkeit davon aus, dass das bisherige Bundesgebiet im Wesentlichen das Reichsgebiet werden sollte und dass der entsprechende Teil Österreichs dazugehörte. Österreich machte allerdings spätestens Anfang März 1849 überdeutlich, dass es nur mit allen seinen Gebieten (einschließlich Ungarn und Norditalien) einer deutschen Staatsorganisation zugehörig sein wollte und ein Nationalparlament ablehnte. Deutschland sollte ein großösterreichischer Staatenbund sein. Preußen hingegen sendete verhalten positive Signale über eine deutsche Einigung aus. Diese Situation führte dazu, dass die Verfassung zwar die Reichsglieder mitsamt Österreich auflistet, aber von der Möglichkeit spricht, dass Österreich sich erst später dem Reich anschließt. Ähnlich war die Zugehörigkeit Schleswigs zum Reich einer späteren Regelung vorbehalten. Die Mehrheit der Abgeordneten befürwortete eine einzige Person als Reichsoberhaupt, und zwar einen Monarchen. Die Republikaner waren generell in der Minderheit, aber längere Zeit gab es noch den Gedanken, ein mehrköpfiges Organ an die Spitze des Reiches zu stellen. Abstimmungen im März 1849 führten dann zur Entscheidung, dass die Nationalversammlung einen der deutschen Fürsten zum Kaiser wählt, dessen Krone anschließend erblich sein sollte (erbkaiserliche Lösung). Die Nationalversammlung wählte ebenfalls Ende März den preußischen König Friedrich Wilhelm IV. zum Kaiser. Damit verbunden war die Frage nach der Macht des Kaisers, die ebenfalls erst im März entschieden wurde. Die Rechten und die rechte Mitte befürworteten ein absolutes Veto des Kaisers, das heißt, dass Gesetze des Reichstags nur mit seiner Zustimmung in Kraft treten konnten. Die linkeren Abgeordneten wollten ein nur suspensives Veto: Der Einspruch des Kaisers hätte das Inkrafttreten eines Gesetzes nur zeitlich aufgeschoben. Letztere Ansicht setzte sich durch Abstimmungsabsprachen durch, weil einige linke Stimmen für die Lösung ohne Österreich benötigt wurden (Pakt Simon-Gagern). Entgegen der Absicht des Bundeswahlgesetzes von 1848 haben die Abgeordneten die Verfassung eigenmächtig verkündet, ohne Vereinbarung mit den Regierungen der Einzelstaaten. Laut Zentralgewaltgesetz war das Zustandekommen der Verfassung auch keine Aufgabe für die Zentralgewalt. So trat die Verfassung bereits mit ihrer Verkündung am 28. März 1849 in Kraft, unterschrieben wurde sie vom Präsidenten der Nationalversammlung Eduard Simson und den übrigen Abgeordneten. Die heutige Fachliteratur ist sich über die Gültigkeit uneinig; einige Autoren bejahen sie, andere verneinen sie, andere sagen vermittelnd beispielsweise, sie habe keine Rechtswirksamkeit erlangt. Letztlich war es damals eine politische Entscheidung, ob man sie anerkennen wollte oder nicht. In der Folge erkannten 28 Regierungen, unter Druck der König Württembergs und ferner die revolutionären Regime in Sachsen und der Pfalz die Verfassung an. Der wankelmütige König Friedrich Wilhelm IV. von Preußen lehnte sie allerdings ebenso wie die Kaiserkrone ab (endgültig am 28. April) und schlug gemeinsam mit anderen Monarchen die Revolution nieder. Das Frankfurter Reichswahlgesetz vom 12. April 1849 ist an sich ein einfaches Reichsgesetz, wenngleich es materiell durchaus zum Reichstag und damit zu einem Organ der Reichsverfassung gehört. Auch aus praktischen Gründen hat der Verfassungsausschuss das Thema aus der Verfassung ausgelagert. Der Ausschuss selbst hatte zunächst ein ungleiches Wahlrecht vorgeschlagen, das viele Wähler der Nationalversammlung wieder vom Wählen ausgeschlossen hätte. Auch weil die kleindeutsch-erbkaiserliche Partei die Stimmen der linken Abgeordneten benötigte, setzte sich das gleiche und allgemeine Männerwahlrecht für das Reichswahlgesetz durch. Genauer gesagt regelte das Gesetz die Wahlen zum Volkshaus des Reichstags, zu dieser Wahl ist es wegen der Niederschlagung der Revolution aber nicht mehr gekommen. Abgeordnete Anzahl und regionale Herkunft Laut Bundesmatrikel, mit ihren veralteten Bevölkerungszahlen, und der Formel, dass pro 50.000 Einwohner ein Abgeordneter zu wählen war, kommt man auf eine Zahl von 649 Abgeordneten. Einige Wahlkreise in Böhmen und Mähren, mit tschechischer Bevölkerung, boykottierten die Wahl jedoch. Vertreten waren in der Nationalversammlung daher nur die 33 Abgeordneten deutscher Muttersprache aus Böhmen, Mähren und Österreichisch-Schlesien. So kommt man auf 585. Da viele Abgeordnete beispielsweise ein Landtagsmandat oder Regierungsamt innehatten, hielten sich normalerweise etwa 400 bis 450 Mitglieder in Frankfurt auf. Bei wichtigen Abstimmungen gaben bis zu 540 Abgeordnete die Stimme ab. Im April 1849 waren es noch 436, bevor die Österreicher abberufen wurden. Zahlen zur Gesamtzahl aller Abgeordneten zu allen Zeiten unterscheiden sich, Jörg-Detlef Kühne zufolge waren insgesamt 799 verschiedene Abgeordnete erschienen. Das lag daran, dass etwa ein Viertel der Abgeordneten ausgewechselt wurde, meist durch Ersatzleute, zum kleineren Teil durch Nachwahlen. Der deutsche Historiker Wolfram Siemann nennt eine Zahl von 812 Abgeordneten insgesamt, Nipperdey 830, Jansen kommt nach Vorarbeiten anderer Autoren auf 809. Diese Zahl verwendet auch das Biographische Handbuch von Heinrich Best und Wilhelm Weege: Ihr Kriterium ist die Teilnahme an wenigstens einer Sitzung der Nationalversammlung bzw. des Rumpfparlaments, soweit sie durch das offizielle Protokoll dokumentiert wurde. Allerdings wurde das Protokoll am Anfang und in der Auflösungsphase mangelhaft geführt. Alle Abgeordneten wurden durch Los in eine von 15 Abteilungen eingeteilt. Zur Wahlprüfung kontrollierte jede Abteilung die Legitimation der Mitglieder einer anderen. Innerhalb der ersten zwei Wochen der Nationalversammlung musste eine Wahlanfechtung angemeldet werden (bzw. nach einer Neuwahl), dabei war die Wahl nur anfechtbar, wenn die beanstandeten Punkte einen Einfluss auf das Ergebnis haben konnten. Die Vorsitzenden aller 15 Abteilungen bildeten den Zentralwahlausschuss, der geprüfte Fälle gegebenenfalls dem Plenum der Nationalversammlung zuleitete. Bekannte Abgeordnete Bei den wohlwollenden Zeitgenossen finden sich Beschreibungen, denen zufolge die Nationalversammlung „die besten Köpfe der Zeit“ oder die „geistige Elite Deutschlands“ vereint habe, man habe ihresgleichen nicht mehr gehabt. Viele Abgeordnete waren der gesamtdeutschen Öffentlichkeit bereits bekannt, darunter nicht zuletzt zwei schon sehr betagte Pioniere der Nationalbewegung wie Ernst Moritz Arndt und der „Turnvater“ Friedrich Ludwig Jahn. Ebenso wie der Schriftsteller Ludwig Uhland waren sie allerdings kaum in die parlamentarische Arbeit mit ihren Fraktionen eingebunden. Bedeutende Geisteswissenschaftler, vor allem der „germanistischen“ Fächer, waren der Sprachforscher Jacob Grimm und die Historiker Georg Waitz, Johann Gustav Droysen und Georg Gottfried Gervinus, ferner die Rechtsgelehrten Wilhelm Eduard Albrecht, Friedrich Christoph Dahlmann und Robert von Mohl. Eigentliche Politiker mit überregionaler Bekanntheit waren bereits Heinrich von Gagern, Robert Blum, Ludwig Simon und Johann Adam von Itzstein. Soziale Zusammensetzung Veit Valentin beklagte, ebenso wie andere Historiker, dass die „untere Bevölkerungsschicht völlig unzureichend vertreten“ gewesen sei. Keine Arbeiter, nur ein einziger Bauer und nur vier Handwerksmeister als Vertreter des bürgerlichen Mittelstands hätten in der Paulskirche gesessen. „Das Frankfurter Parlament war zu viel Universität und zu wenig politische Börse. Es ist kein getreues Abbild der damaligen sozialen Schichtung in Deutschland gewesen […]. Das Frankfurter Parlament war eine Art gewähltes Oberhaus.“ Demgegenüber nennt Thomas Nipperdey es „albern, von einem Parlament zu erwarten, daß es die soziale Struktur der Wählerschaft spiegelt“. Die Nationalversammlung war ein Honoratiorenparlament, aber nicht durch Manipulation, denn gerade beim allgemeinen, demokratischen Wahlrecht setzte sich die damalige soziale Rangordnung durch. Ferner darf man die politischen Orientierungen und den sozialen Status der Wähler nicht gleichsetzen: Es gab viele Überschneidungen, die Demokraten waren nicht einfach die kleinen Leute und die Liberalen nicht allesamt Honoratioren oder „Bourgeoisie“. Ebenso wie Nipperdey weist Hans-Ulrich Wehler das Wort vom „Professorenparlament“ zurück, wenngleich einige Professoren tatsächlich sehr bekannt waren. Diese Berufsbezeichnung galt nur für 12 Prozent der Abgeordneten, davon waren die Hälfte (49 Abgeordnete) Professoren an Universitäten und die übrigen an höheren Schulen. Viel treffender wäre eine Bezeichnung als „Beamtenparlament“ (rund 56 Prozent) oder als „Juristenparlament“ (rund 50 Prozent). Wehler: Die akademisch Gebildeten lieferten einen Anteil von mindestens 81,7 Prozent, der damit wesentlich höher lag als beim konstituierenden Reichstag von 1867 (62,6 Prozent), bei der Weimarer Nationalversammlung (knapp 38 Prozent) und beim Parlamentarischen Rat (66,2 Prozent). Die akademischen Berufe entschlüsseln sich auf (in Prozent aller Abgeordneten): Justiz und Verwaltung 47,5 Prozent; Lehrberufe 15,8 Prozent; Freie Berufe 6,9 Prozent; Marginalisierte Intelligenz 6,4 Prozent; Klerus 4,7 Prozent. Ferner gehörten dem Wirtschaftsbürgertum 8,4 Prozent der Abgeordneten an, den Gutsbesitzern 6,6 Prozent und den Offizieren 2,4 Prozent. Zehn Abgeordnete (1,2 Prozent) werden den Unterbürgerlichen Schichten zugerechnet. Die Frankfurter Abgeordneten waren mit durchschnittlich 43,5 Jahren deutlich jünger als beispielsweise die Mitglieder des Parlamentarischen Rates (54,1 Jahre, erster Bundestag: 50 Jahre, vergleichbar mit 1867 und 1919). Das liegt teilweise an der gestiegenen allgemeinen Lebenserwartung, außerdem hatten die Mitglieder der Schweizer Bundesversammlung 1848 ein ähnlich niedriges Durchschnittsalter. Jüngere Abgeordnete schlossen sich eher der Linken, ältere der Rechten an. Eine Stimme für einen Linken war eine Stimme gegen die regionalen Eliten, während die von der Revolution wenig erfassten Gebiete vor allem die „alten Kämpen der vormärzlichen Opposition“ gewählt haben. 43,1 Prozent der Abgeordneten hatten den Katholizismus als religiöses Bekenntnis, bei einer katholischen Bevölkerung im Deutschen Bund von 54,2 Prozent. Diese Konfession war also deutlich unterrepräsentiert. Das hängt damit zusammen, dass die politischen Eliten eher Protestanten waren: Bei einem Bevölkerungsanteil von 46,8 Prozent stellten die Protestanten 54,6 Prozent der Abgeordneten. Juden, ein Prozent der Bevölkerung, waren sieben Abgeordnete (0,9 Prozent). Hinzu kommen 11 Abgeordnete (1,4 Prozent) der Abgeordneten, die dem deutschkatholischen oder freireligiösen Bekenntnis angehörten (in der Bevölkerungsstatistik tauchen sie nicht auf). Die Frankfurter Abgeordneten hatten eher wenig Erfahrung in Landes-, Provinz- oder Gemeindeversammlungen, laut einer groben Schätzung etwa zu einem Fünftel. Der Wert erhöht sich, wenn man die (kurze) Tätigkeit im Fünfzigerausschuss und im Vorparlament hinzunimmt. Höher liegt der Anteil auch bei den Südwestdeutschen mit der dortigen parlamentarischen Tradition. Ein Preuße aus dem Rheinland behauptete unwidersprochen in der ersten Sitzung, ein großer Teil habe schon in Kammern gesessen, was sich möglicherweise auf die Vereinigten Landtage oder die gewählten Gemeindevertretungen in Preußen mitbezog. Kühne schätzt, dass der Anteil 1848/1849 dem von 1867 entsprach (nämlich 36,7 Prozent). Möglicherweise hatte die geringe parlamentarische Erfahrung negative Folgen für das Funktionieren der Nationalversammlung und der Qualität ihrer Ergebnisse. Jedoch ist am Inhalt der Reichsverfassung nicht abzulesen, so Kühne, dass die Abgeordneten fehlende Wirklichkeitsnähe aufwiesen. Spätere parlamentarische Tätigkeit und Verfolgung Ende 1849 bzw. Anfang 1850 wurde das Erfurter Unionsparlament gewählt; von dessen Mitgliedern haben zwanzig Prozent bereits in der Frankfurter Nationalversammlung gesessen. Das gilt für 59 Abgeordnete im Volkshaus (bei einer Gesamtzahl von 224) und drei im Staatenhaus (von 96). Berücksichtigt man zusätzlich Mitglieder des Vorparlaments, kommen beim Volkshaus sechs und beim Staatenhaus zehn Mitglieder hinzu. 51 der Frankfurter Abgeordneten saßen ab 1867 im norddeutschen bzw. ab 1871 deutschen Reichstag. In den beiden norddeutschen Reichstagen von 1867 gehörten je 5,6 Prozent aller Abgeordneten zu dieser Gruppe, im ersten deutschen Reichstag von 1871 waren es 7,7 Prozent. Der Anteil sank danach deutlich ab. Neun weitere Frankfurter Abgeordnete waren süddeutsche Mitglieder im Zollparlament von 1868. Die letzten beiden Abgeordneten der Frankfurter Nationalversammlung im Reichstag waren Karl Mayer und Hermann Henrich Meier, die noch 1884 gewählt wurden. Zu den bekanntesten Reichstagsabgeordneten aus der Frankfurter Zeit gehörten Eduard Simson, Georg Beseler und Robert Mohl. Nachweislich 136 der linken Abgeordneten wurden strafrechtlich oder dienstrechtlich verfolgt; einige entkamen Letzterem, indem sie ihr Amt aufgaben, beispielsweise Carl Friedrich Rheinwald, der seine Professur niederlegte. 18 Abgeordnete wurden zum Tode verurteilt, wobei es in zwei Fällen tatsächlich zur Hinrichtung kam (Robert Blum, Wilhelm Adolph von Trützschler). Die übrigen flüchteten und ihr Vermögen wurde in der Regel beschlagnahmt, ebenso bei langjähriger Haftstrafe. Zwei weitere wurden zum Tode verurteilt und zu lebenslänglich begnadigt (Otto Leonhard Heubner, entlassen 1859). Die Strafen reichten ansonsten von symbolischen Geldstrafen (Ludwig Uhland, Friedrich Theodor Vischer) oder zur Nichtanerkennung der Wahl zum Bürgermeister, der Aberkennung des Titels Kammerherr (Otto von Waxdorf), Suspendierung (Carl Alexander Spatz 1853, wegen Kontakt zu Exilanten), der Verbannung aus Österreich (Heinrich Reitter). Ludwig Simon aus Trier wurde in Abwesenheit zum Tode verurteilt und später zu einer Reserveübung einberufen, um ihn wegen Desertion zusätzlich zu einer hohen Geldstrafe und Festungshaft verurteilen zu können. Für die Teilnahme am Rumpfparlament wurden zwölf Abgeordnete gar nicht verfolgt, andere zum Tode verurteilt (wegen Hochverrats). Aus Protest dagegen lehnte Uhland die Aufnahme in den Orden Pour le mérite ab. Selbst nach Einstellung von Verfahren oder Verbüßung von Strafen wurden die Verfolgten polizeilich überwacht, auch deren Verwandte und Bekannte. Letzteres schadete dem Ruf vieler Bürger, die selbst gar nicht politisch aktiv waren. Viele ehemalige Abgeordnete zogen sich aus der Politik zurück, weil sie Nachstellungen fürchteten, betont Jansen, nicht, weil sie „Philister“ geworden seien. Gewaltsam ums Leben gekommen sind, wie Blum, während der Dauer der Nationalversammlung noch zwei weitere Abgeordnete: Hans von Auerwald und Felix von Lichnowsky. Die beiden Mitglieder des Casino gerieten bei den Septemberunruhen in Frankfurt in eine wütende Menge, die gegen die Waffenstillstandsentscheidung der Nationalversammlung protestierte. Arbeitsweise und innere Organisation Tagungsort Paulskirche Die evangelische Gemeinde von Frankfurt stellte der Nationalversammlung die Paulskirche zur Verfügung. Anstelle des Altars platzierte man das Pult für das Präsidium und den Redner, die Kirchenorgel darüber wurde mit dem Gemälde Germania verhüllt, an deren beiden Seiten auf der Galerie sich die Bibliothek der deutschen Reichsversammlung befand. Ansonsten war die Galerie der Ort, von dem aus Besucher den Verhandlungen der Nationalversammlung folgten. Nachteile der Paulskirche waren zu enge Gänge zwischen den Sitzreihen im dichtgedrängten Plenarsaal und das Fehlen von Büros oder Räumen zur Beratung. Die Empore gab zweitausend Zuschauern Platz, die sich hörbar in die Debatten einmischten, doch auch die Abgeordneten lieferten in der fieberhaften Atmosphäre lauten Beifall oder Tadel. Geschäftsordnung Der aus dem Vorparlament hervorgegangene Fünfzigerausschuss hätte theoretisch einen Entwurf für eine Geschäftsordnung der Nationalversammlung erarbeiten können, lehnte dies aber am 29. April 1848 ab. Noch vor Zusammentritt arbeitete Robert Mohl an einem Entwurf, den er nach einem Treffen schon in Frankfurt eingetroffener Abgeordneter zusammen mit zwei weiteren Abgeordneten ausarbeitete. Der Entwurf wurde am 10. Mai fertig und in der ersten Sitzung am 18. Mai als provisorisches Reglement angenommen. Man setzte dazu eine Kommission ein, die die definitive Geschäftsordnung vom 29. Mai erarbeitete, die nach kurzer Aussprache angenommen wurde. Die sechs Abschnitte mit 49 Paragraphen behandelten: Wahlprüfung; Vorstand und das Personal der Versammlung; Öffentlichkeit und Beschlussfähigkeit; Ausschüsse; Ordnung der Debatte; Eingaben. Die Geschäftsordnung regelte unter anderem, dass die Sitzungen öffentlich waren, aber unter bestimmten Bedingungen vertraulich sein konnten; beschlussfähig war die Nationalversammlung bei Anwesenheit von zweihundert Mitgliedern. In den 15 Abteilungen wurden die Verhandlungsgegenstände vorberaten. Es war geregelt, wie Anträge behandelt wurden (für die Vorlage im Plenum waren zwanzig Unterstützungen notwendig), und dass die Tagesordnung vom Präsidenten am Ende der vorigen Sitzung festgesetzt wurden. Redner sprachen in der Reihenfolge, in der sie sich meldeten, aber mit Abwechslung von Gegnern und Befürwortern der Vorlage. Die Redezeit war nicht begrenzt. Zwanzig Abgeordnete gemeinsam konnten den Schluss einer Debatte beantragen, die Entscheidung lag dann beim Plenum. Dass die Abgeordneten sich ihren Sitzplatz frei aussuchen durften, war nicht eigens festgelegt. Durch förmliche Änderung oder einfachen Gebrauch wurde die Geschäftsordnung abgewandelt. Die Vorberatung in den Abteilungen wurden vom Fraktionswesen überlagert, so dass man auf die geplante Neuauslosung verzichtete. Weitgehend bestimmten die Fraktionen die Redner in einer Debatte. Die Redezeit wurde trotz zweier Anträge dazu nicht begrenzt. Eine namentliche Abstimmung mit Namensaufruf musste stattfinden, wenn mindestens fünfzig Abgeordnete dies forderten; Bassermann wollte dies nur noch bei Bedarf wegen Unsicherheit über das Abstimmungsergebnis zulassen, doch die Gegner sahen in der namentlichen Abstimmung den Sinn, den Wählern zu dokumentieren, wer wie abgestimmt hatte. Schließlich wurden zur Zeitersparnis am 17. Oktober 1848 Stimmkarten eingeführt (weiß „ja“, blau „nein“). Wer wie abgestimmt hatte, stand dann später im Protokoll. Ein anonymes Wahlverfahren lehnte man allgemein ab. Gesamtvorstand Am 17. Mai trafen sich bereits über dreihundert Abgeordnete im Frankfurter Römer; sie entschieden, dass die Nationalversammlung durch einen Alterspräsidenten eröffnet werden sollte, nicht durch den Vorstand des Fünfzigerausschusses, wie Robert Mohl vorgeschlagen hatte. Tags darauf kamen sie erneut im Römer zusammen, ernannten den siebzigjährigen Friedrich Lang zum Alterspräsidenten (obgleich dieser nicht der Älteste aller Abgeordneten war) und die acht jüngsten Anwesenden zu „Alterssekretären“. Dann zogen die etwa 350 Abgeordneten gemeinsam zur Paulskirche. Die erste Sitzung verlief noch chaotisch und planlos, und bei der Wahl Heinrich von Gagerns zum Präsidenten am 19. Mai passierte es, dass einige Abgeordnete nur „Gagern“ auf den Wahlzettel geschrieben hatten, obwohl es mit dem Bruder Maximilian noch einen weiteren Abgeordneten dieses Namens gab. Heinrich von Gagern beseitigte das Chaos des Anfangs allerdings rasch. Laut Geschäftsordnung vom 29. Mai wählte eine absolute Mehrheit der anwesenden Abgeordneten den Präsidenten und die beiden Vizepräsidenten der Nationalversammlung. Alle vier Wochen bedurften sie einer Neuwahl, das war eine Neuerung, die auf Mohl zurückging und das Präsidentenamt jedem offen halten sollte. Der Präsident hielt die Ordnung im Haus aufrecht, bestimmte die Tagesordnung und leitete die Versammlung. Zum Gesamtvorstand gehörten ferner acht Schriftführer (Sekretäre), die in gemeinsamer Wahl mit relativer Mehrheit für die gesamte Dauer gewählt wurden. Der Gesamtvorstand ernannte das Personal der Versammlung, die Kanzlei. Im November 1848 waren dies ein Vorstand der Kanzlei, ein Registrator mit elf Gehilfen sowie acht Sekretariatsassistenten. Das Stenographische Büro hatte einen Vorstand (der Abgeordnete Wigard), unter dem zwölf Stenographen und 13 Kanzlisten arbeiteten. Ferner bestand das Personal aus Boten und Dienern. Die Präsidenten waren: Friedrich Lang als Alterspräsident, 18. Mai 1848 bis 19. Mai 1848 Heinrich von Gagern, 19. Mai 1848 bis 16. Dezember 1848 Eduard Simson, 18. Dezember 1848 bis 11. Mai 1849 Theodor Reh, 12. Mai 1849 bis 30. Mai 1849 Friedrich Wilhelm Löwe war Präsident des Stuttgarter Rumpfparlaments, 6. Juni 1849 bis 18. Juni 1849. Fraktionen Die Arbeit in Fraktionen war aus Sicht der Abgeordneten ein notwendiges Übel. Seit Juni halfen sie dabei, den Geschäftsablauf zu bestimmen, die Zahl der Zufallsentscheidungen zu begrenzen, Koalitionen zu schließen und mit eigenen Publikationen die Öffentlichkeit zu beeinflussen. Sie arbeiteten mit politischen Vereinen außerhalb des Parlaments zusammen und spiegelten die Gesellschaft mit ihren verschiedenen Elementen wider. Ein demokratisch-pluralistisches Parteiensystem war als weitere Folge abzusehen. Fraktionen hießen nach der Gaststätte, in der die Abgeordneten sich trafen. Im Oktober 1848 waren dies (in Klammern die ungefähre Fraktionsstärke in Prozent): Konservative Rechte: Café Milani (6) Konstitutionell-liberales rechtes Zentrum: Casino (21), Landsberg (6) und Augsburger Hof (7) Parlamentarisch-liberales linkes Zentrum: Württemberger Hof (6), Westendhall (7) Demokratische Linke: Deutscher Hof (8), Donnersberg (7) Etwa ein Drittel der Abgeordneten gehörte keiner Fraktion an. Ab Oktober überlagerte die Frage kleindeutsch/großdeutsch die ansonsten stabilen Fraktionen, im Februar 1849 hießen die Gruppen in dieser Frage: Die Großdeutschen trafen sich als „Mainlust“. Es handelte sich um die Linke mit etwa 160 Mitgliedern, die einen Einheitsstaat befürworteten, und dazu um eine Abspaltung des Casinos namens Pariser Hof, etwa hundert oft katholisch und föderalistisch orientierte Süddeutsche und Österreicher. Pariser Hof und Linke waren sich in sonstigen Fragen allerdings sehr uneins. Die kleindeutsche oder erbkaiserliche Partei war der „Weidenbusch“ mit etwa 220 Mitgliedern. Es waren eher norddeutsche Protestanten, die dem Casino, dem Landsberg, dem Augsburger Hof und teilweise dem Württemberger Hof und vereinzelt der Westendhall entstammten. Der „Braunfels“ bestand aus Liberalen und Demokraten vor allem der Westendhall. Sie boten dem Weidenbusch einen Kompromiss an, wenn dadurch die Reichsverfassung durch demokratische Elemente wie ein allgemeines Wahlrecht gestärkt wurde. Bei den wichtigen Verfassungsabstimmungen im März 1849 stimmten die drei Gruppen nicht ganz einheitlich ab, aber bei der Frage, ob die Kaiserwürde erblich sein solle, stimmten dank des Simon-Gagern-Paktes (vom Braunfels bzw. Weidenbusch) 267 Abgeordnete mit Ja und 263 mit Nein. Ausschüsse Insgesamt hat die Nationalversammlung 17 selbstständige und zehn vorübergehende Ausschüsse eingesetzt. Ein Abgeordneter musste mindestens einem angehören. Wurde ein Platz frei, schlug der Ausschuss drei Abgeordnete vor, von denen das Plenum einen wählte. Die Sitzungen waren nicht öffentlich, aber der Präsident durfte an allen teilnehmen. Entgegen der ursprünglichen Regelung konnte ein Ausschuss Zeugen und Sachverständige auch ohne ausdrückliche Zustimmung des Plenums befragen. Liste der Ausschüsse: Vorbereitungskommission für die Einrichtung der Nationalversammlung, 18. Mai 1848 bis 17. Juni 1848 Revisionskommission zur Vorberatung über die von der vorbereitenden Kommission abgeschlossenen Verträge, 19. Mai 1848 bis 16. Juni 1848 Ausschuß für die Geschäftsordnung, seit 19. Mai 1848 Redaktionskommission für die Protokolle, 22. Mai 1848 bis 16. Juni 1848 Ausschuß für den Raveaux’schen Antrag, seit 22. Mai 1848 Zentralausschuß für die Prüfung der Wahlen, seit 23. Mai 1848 Ausschuß für den Entwurf der Reichsverfassung (Verfassungsausschuss), seit 24. Mai 1848 Ausschuß für Arbeiter-, Gewerbe- und Handelsverhältnisse (Volkswirtschaftlicher Ausschuss), seit 24. Mai 1848 Ausschuß für die Priorität der Petitionen und Anträge, seit 24. Mai 1848 Ausschuß für die Marine, seit 26. Mai 1848 Ausschuß für völkerrechtliche und internationale Fragen, seit 29. Mai 1848 Ausschuß für die Prüfung der Anträge in Bezug auf die provisorische Zentralgewalt, seit 3. Juni 1848 Ausschuß für Volksbewaffnung und Heerwesen, seit 5. Juni 1848 Ausschuß zur Begutachtung der österreichisch-slavischen Frage, seit 5. Juni 1848 Ausschuß für Gesetzgebung, seit 17. Juni 1848 Ausschuß für Begutachtung der Wahlen in Thiengen und Konstanz, seit 1. Juli 1848 Ausschuß für die Entwerfung des Gesetzes über die Ministerverantwortlichkeit, seit 1. Juli 1848 Ausschuß für die Kirchen- und Schulangelegenheiten (Commission für das Unterrichts- und Volkserziehungswesen), seit 7. Juli 1848 Ausschuß für Sektion für das Volksschulwesen Kommission für Vorbereitung des Empfangs des Reichsverwesers, seit 10. Juli 1848 Finanzausschuss, seit 25. August 1848 Ausschuß für die Entwerfung einer Proklamation der Nationalversammlung, seit 20. September 1848 (in Bezug auf die Septemberunruhen) Ausschuß für den Schmidt-Wiesnerschen Antrag, seit 5. Oktober 1848 Ausschuß für die Einleitung der Untersuchung gegen die Abgeordneten Robert Blum und Johann Georg Günther, seit 5. Oktober 1848 Ausschuß für die österreichischen Angelegenheiten, seit 17. Oktober 1848 Ausschuß für Anträge über das Verhältnis der Zentralgewalt zu den Einzelstaaten, seit 7. November 1848 Kommission für die Anordnungen zur Totenfeier für den Abgeordneten Robert Blum, seit 23. November 1848 Ausschuß zur Begutachtung und Berichterstattung über die Vorlage des Reichsministeriums über das österreichische Verhältnis zur Bildung eines Bundesstaates der deutschen Länder, seit 18. Dezember 1848 Ausschuß für die Durchführung der Reichsverfassung (Dreißigerausschuss), seit 11. April 1849 Fünfzehnerausschuß, seit 8. Juni 1849 Bewertung Die Nationalversammlung und andere Versammlungen der Zeit „zeigten viele Ansätze eines entwickelten Parlamentarismus“, so der Historiker Siemann. Die Regierungsweise war parlamentarisch, Fraktionen bildeten den Willen und wirksame Ausschussarbeit bewältigte Einflüsse von außerhalb der Nationalversammlung. Das Bürgertum war im Umgang mit politischer Macht in demokratischen Institutionen erstaunlich reif und fähig zum parlamentarischen Kompromiss, den die Grundrechte und „die ausgewogene Konstruktion der Reichsverfassung“ krönten. Hahn und Berding erinnern an die zahlreichen Forderungen einer politisierten Gesellschaft, die an die Abgeordneten herangetragen wurden, über Vereine, Zeitungen, Interessenverbände und Petitionen. „Das Wechselspiel zwischen repräsentativer Volksvertretung und einer zunächst unbeschränkten Öffentlichkeit, wie es durch die Revolution möglich geworden war, ließ die Paulskirche zum politischen Forum der Nation werden.“ Trotz ihrer beachtlichen Leistungen zu Verfassung und Gesetzgebung, meint Frank Lorenz Müller, wuchs die Nationalversammlung nicht zu einer „zupackenden, praktisch-handelnden Körperschaft“ heran, sie sei zu fachlich und philosophisch geblieben. Bernhard Mann wirft ihr vor, im Mai und Juni 1848 ihre Trümpfe überreizt zu haben, unhaltbar sei ihre Position gewesen, die Verfassung ohne die Regierungen festzustellen. Außerdem hätte sie eine Zentralgewalt einsetzen sollen, die völlig abhängig von ihr war, um mehr Parlamentarisierung und Parteibildung im ganzen Land zu erreichen. Man müsse aber gerechterweise hinzufügen, dass ein modernes Parteiwesen erst gerade durch die Presse-, Versammlungs- und Vereinsfreiheit möglich geworden war und dass die österreichischen Politiker nur geringe und die preußischen zumindest keine großen Erfahrungen im Parlamentarismus hatten. Siehe auch Liste der Mitglieder der Frankfurter Nationalversammlung Politische Parteien in Deutschland 1848–1850 Erfurter Unionsparlament 1850 Konstituierender Reichstag 1867 Literatur Allgemeine Darstellungen Karl Binding: Der Versuch der Reichsgründung durch die Paulskirche in den Jahren 1848 und 1849. Duncker & Humblot, Leipzig 1892 (Google Books). Heinrich Best, Wilhelm Weege: Biographisches Handbuch der Abgeordneten der Frankfurter Nationalversammlung 1848/49. Droste, Düsseldorf 1998, ISBN 3-7700-0919-3. Manfred Botzenhart: Deutscher Parlamentarismus in der Revolutionszeit 1848–1850. Droste Verlag, Düsseldorf 1977. Frank Engehausen: Werkstatt der Demokratie. Die Frankfurter Nationalversammlung 1848/49. Campus, Frankfurt am Main 2023, ISBN 978-3-593-51651-6. Günter Mick: Die Paulskirche. Streiten für Recht und Gerechtigkeit. Wissenschaftliche Buchgesellschaft, Darmstadt 1997, ISBN 3-7829-0470-2. Karl Obermann: Die Wahlen zur Frankfurter Nationalversammlung im Frühjahr 1848. Die Wahlvorgänge in den Staaten des Deutschen Bundes im Spiegel zeitgenössischer Quellen. Deutscher Verlag der Wissenschaften, Berlin 1987. Wilhelm Ribhegge: Das Parlament als Nation, die Frankfurter Nationalversammlung 1848/49. Droste, Düsseldorf 1998, ISBN 3-7700-0920-7. Quellen Franz Wigard (Hrsg.): Stenographischer Bericht über die Verhandlungen der deutschen constituirenden Nationalversammlung zu Frankfurt am Main. Joh. David Sauerländer, Frankfurt am Main 1848. (Digitalisat weiterer Bände im Münchener Digitalisierungszentrum). Beständeübersicht im Bundesarchiv Koblenz Stenographischer Bericht über die Verhandlungen der deutschen constituirenden Nationalversammlung zu Frankfurt am Main. Herausgegeben auf Beschluß der Nationalversammlung durch die Redactions-Commission und in deren Auftrag von Franz Wigard. Gedruckt bei Johann David Sauerländer, Frankfurt am Main 1849. Erster Band: Nr. 1 – 33. S. 1 bis 782 (Google Books). Zweiter Band: Nr. 34 – 61. S. 783 bis 1572 (Google Books). Dritter Band: Nr. 62 – 89. S. 1573 bis 2368 (Google Books). Vierter Band: Nr. 90 – 112. S. 2369 bis 3166 (Google Books). Fünfter Band: Nr. 113 – 132. S. 3167 bis 3990 (Google Books). Sechster Band: Nr. 133 – 155. S. 3991 bis 6778 (Google Books). Siebenter Band: Nr. 156 – 181. S. 4779 bis 5566 (Google Books). Achter Band: Nr. 182 – 209. S. 5567 bis 6360 (Google Books). Neunter Band: Nr. 210 – 237. S. 6361 bis 6886 (Google Books). Frankfurter Parlament 1848: Verzeichniß der bis zum 27. Juli 1848 angemeldeten Abgeordneten der deutschen Nationalversammlung (Google Books). Frankfurter Parlament 1848: Bericht über die Wirksamkeit des Fünfziger-Ausschusses (Google Books). Verhandlungen der deutschen verfassungsgebenden Reichs-Versammlung zu Frankfurt am Main. Herausgegeben auf Beschluß der Nationalversammlung durch die Redactions-Commission und in deren Auftrag von dem Abgeordneten Konrad Dietrich Haßler. Gedruckt von Carl Horstmann, Frankfurt am Main 1848/49. Erster Band, enthaltend die amtlichen Protokolle der 1. bis 180. Sitzung (Google Books). Zweiter Band, enthaltend das zweite Belagenheft, oder die Ausschuß- und Commissionsberichte zu No. 1 bis 180 der amtlichen Protokolle (Google Books). Dritter Band, enthaltend die amtlichen Protokolle der 181. bis 234. Sitzung (Google Books). Vierter Band, enthaltend das vierte Beilagenheft, oder die Ausschuß- oder Commissionsberichte zu No. 181 bis 234 der amtlichen Protokolle (Google Books). Fünfter Band, enthaltend die im ersten Beilagenhefte abgedruckten, von den Abgeordneten gestellten selbstständigen und Verbesserungs-Anträge (mit Ausnahme der auf die einzelnen Abschnitte der Reichsverfassung bezüglichen) (Google Books). Sechster Band, enthaltend die im dritten Beilagenhefte abgedruckten, auf die einzelnen Abschnitte des Verfassungswerkes bezüglichen Anträge (Google Books). Frankfurter Parlament 1848: Verzeichniß der bis zum 27. Juli 1848 angemeldeten Abgeordneten der deutschen Nationalversammlung (Google Books). Frankfurter Parlament 1848/49: Biographische Umrisse der Mitglieder der deutschen konstituirenden Nationalversammlung zu Frankfurt am Main – Nach Authentischen Quellen. Verlag Schmerber, Frankfurt am Main 1848/49. Erstes Heft, 1848 (Google Books). Zweites Heft, 1849 (Google Books). Drittes und Viertes Heft, 1849 (Google Books). Deutsche Staatsgrundgesetze in diplomatisch genauem Abdrucke. Zu amtlichem und zu akademischem Gebrauche. Herausgegeben von Karl Binding. Band II: Die Verfassung des Deutschen Reiches vom 28. März 1849 und die Entwürfe der sogenannten Erfurter Unionsverfassung (März und April 1850). Wilhelm Engelmann, Leipzig 1893 (Google Books). Weblinks BIORAB-FRANKFURT (Online-Datenbank mit Kurzbiographien der Abgeordneten) (PDF; 204 kB) Informationsseite des Deutschen Bundestags Bernhard Wördehoff: Gegen Demokraten helfen nur Soldaten; Artikel zur Geschichte der Frankfurter Nationalversammlung und den Gründen ihres Scheiterns, in der Wochenzeitung Die Zeit vom 16. Juni 1989, Nr. 25/1989, S. 45/46 (www.zeit.de) Posting Paulskirche (historischer Live-Blog der KGParl auf Grundlage von Briefen der Abgeordneten der Frankfurter Nationalversammlung) Einzelnachweise Deutsches Reich 1848/1849 Historisches Parlament (Deutschland) Frankfurt am Main im 19. Jahrhundert 1848 Gegründet 1848 Historische Organisation (Frankfurt am Main) Aufgelöst 1849 Organisation (19. Jahrhundert)
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https://de.wikipedia.org/wiki/Unken
Unken
Die Unken (Bombina), auch bekannt unter der veralteten Bezeichnung Feuerkröten, sind eine Gattung von Froschlurchen, die gemeinsam mit den Barbourfröschen (Barbourula) die Familie der Bombinatoridae bilden. Stammesgeschichtlich werden sie dabei zu den urtümlichen „niederen“ Froschlurchen (Archaeobatrachia) gestellt. Je nach Literatur werden fünf bis acht Arten der Gattung unterschieden, deren Verbreitungsgebiete von Europa bis nach Ostasien reichen. Merkmale Morphologie der adulten Tiere Unken sind – entgegen einer weit verbreiteten Meinung – keine „besonders dicken Kröten“, sondern im Gegenteil sehr kleine, warzige, krötenartige Amphibien mit abgeflachten Körpern, von denen die meisten Arten nur etwa vier bis fünf Zentimeter lang werden. Auf ihrer Unterseite tragen sie auffällig bunte (Warn-)Farben als Zeichnungsmuster, die potenzielle Fressfeinde auf ihre Hautgifte aufmerksam machen sollen. Oberseits weisen sie eine meist graue bis braune Färbung auf, durch die sie auf schlammigem Boden gut getarnt sind – auch die meist auffällig leuchtend-grün und schwarz marmorierte Oberseite der Chinesischen Rotbauchunke (Bombina orientalis) wirkt in ihren natürlichen Lebensräumen eher tarnend. Die Haut ist mit sehr vielen drüsenhaltigen Warzen bedeckt, die bei den Gelbbauchunken zudem hornige Spitzen tragen. Zu den besonderen und für die Unken einzigartigen Merkmalen (Autapomorphie) gehören zudem die auffällig langen Querfortsätze der Lendenwirbelsäule. Außerdem teilen sie mit den Scheibenzünglern die für diese namensgebende runde Zunge, die bis auf einen schmalen Rand mit dem Mundboden verwachsen und deshalb nicht ausstreckbar ist. Als weitere Merkmale gibt es bei ihnen und den Scheibenzünglern acht präsakrale (vor dem Kreuz gelegene) Wirbel mit sich überlappenden oberen Wirbelbogen, von denen der zweite bis vierte jeweils ein freies Rippenpaar trägt. Solche Rippen sind bei den meisten der über 5000 Froschlurcharten nicht mehr vorhanden. Der Schultergürtel ist beweglich, das Brustbein nur knorpelig angelegt. Die Pupillen der recht nahe beieinanderstehenden Augen sind dreieckig bis herzförmig. Ein Trommelfell ist bei den Tieren nicht äußerlich sichtbar. Bei der Rotbauchunke (Bombina bombina) haben die Männchen innere und kehlständige Schallblasen, die den anderen Arten fehlen. Im Oberkiefer tragen sowohl das Maxillare wie auch das Praemaxillare Gaumenzähne; der Unterkiefer ist unbezahnt. Zwischen den Fingern besitzen Unken eine basale Spannhaut; an den Zehen sind diese Schwimmhäute vollständig ausgebildet. In der Paarungszeit kann man bei den Männchen zudem Brunftschwielen an den Fingern und Unterarmen erkennen, die als dunkle bis schwarze Verdickungen ausgebildet sind. Diese Schwielen kommen bei der Riesenunke (Bombina maxima) auch an der Brust und bei der Gelbbauchunke (Bombina variegata) ebenso an den mittleren Zehen vor. Morphologie der Larven Die Larven der Unken, also die Kaulquappen, erreichen eine maximale Länge, die etwa der der ausgewachsenen Tiere entspricht. Demzufolge sind sie kurz vor der Metamorphose einschließlich des Ruderschwanzes um fünf Zentimeter lang. Wie bei den Larven der Eigentlichen Scheibenzüngler (Discoglossus) sowie der Geburtshelferkröten (Alytes) befindet sich das Atemloch (Spiraculum) nicht an der linken Rumpfseite, sondern an der Unterseite auf der Körpermittellinie, wobei es im Vergleich zu den beiden anderen Gruppen deutlich näher am Rumpfende gelegen sein kann. Der hohe obere Flossensaum reicht relativ weit nach vorn und umfasst immer mindestens das letzte Rumpfdrittel. Der Schwanz ist kleiner als das 1,5-Fache der Rumpflänge und der Flossensaum besitzt ein feines Linienmuster. Bei Quappen der Rotbauchunke (Bombina bombina) sind oberseits zudem zwei helle Längsstreifen parallel zur Wirbelsäule zu erkennen. Sie schwimmen wenig im freien Wasser umher, sondern halten sich bevorzugt zwischen Wasserpflanzen auf. Eines der markanten Merkmale bei der Bestimmung von Larven der Froschlurche stellt die Ausprägung des Mundfeldes dar. Die Ober- und die Unterlippe sind dabei von arttypischen Lippenzähnchenreihen sowie von warzenähnlichen Ausstülpungen (Mundrandpapillen) geprägt. Die Bombinatoridae, die Eigentlichen Scheibenzüngler sowie die Geburtshelferkröten besitzen dabei doppelzeilige Lippenzähnchenreihen auf beiden Lippen. Dabei weist die Oberlippe zwei, die Unterlippe drei Doppelreihen auf. Bei ihnen umgeben außerdem die Mundrandpapillen das gesamte Mundfeld, während bei den Scheibenzünglern der mittlere Bereich der Oberlippe diese lappigen Hautsäume nicht erkennen lässt. Verbreitung und Lebensraum Die Arten der Unken haben ein paläarktisches Verbreitungsgebiet; das bedeutet, dass sie sowohl in Europa als auch im vorwiegend klimatisch gemäßigten Asien zu finden sind. Die Rotbauchunke und die Gelbbauchunke kommen dabei – im letzteren Fall in mehreren Unterarten – in weiten Teilen Europas und Westasiens vor; vor allem die Rotbauchunke hat ein weitläufiges Verbreitungsgebiet. Alle weiteren Arten leben in Ostasien. Mit Ausnahme der Chinesischen Rotbauchunke, deren Verbreitungsgebiet bis in den Osten Russlands reicht und die auch in Teilen Koreas und auf einzelnen Inseln Japans zu finden ist, findet man sie nur sehr lokal in verschiedenen Regionen Chinas. Alle Arten der Unken bevorzugen als Habitate stehende Gewässer, die sie anders als viele andere Froschlurche nur ungern über größere Distanzen oder längerfristig verlassen. Die Rotbauchunke lebt dabei vor allem im kontinental geprägten Tiefland an Stillgewässern wie kleineren Altarmen von Flüssen oder ruhigen Feldweihern und vor allem an Überflutungstümpeln in Auen. Die Gelbbauchunke findet man dagegen nur in höher gelegenen Gebieten, insbesondere Mittelgebirgsregionen, wo sie sich vor allem in Klein- und Kleinstgewässern wie Tümpeln, Lehmpfützen oder wassergefüllten Fahrrinnen aufhält, oft auch in der Nähe von kleinen Bergbächen. Die asiatischen Arten leben ebenfalls in Kleingewässern und können dabei bis in Höhen von über 3000 Metern vorkommen. Lebensweise Allgemeines Verhalten Unken sind außerhalb der Paarungszeit weitgehend nachtaktiv und kommen in intakten Populationen in größerer Anzahl vor. Sie leben semi-aquatil und sind entsprechend morphologisch an das Wasserleben gut angepasst. Ihr Ruheverhalten innerhalb von Gewässern besteht darin, dass sie sich breitbeinig an der Wasseroberfläche treiben lassen, vor allem in flacheren und damit wärmeren Gewässerbereichen. Sie halten sich aber auch am Erdboden entlang der Uferlinie auf. Während der Wintermonate verfallen die Tiere in Winterstarre, bei der sie sich im Erdreich vergraben bzw. in vorhandene Höhlungen zurückziehen. Fortpflanzung und Entwicklung Die Paarungsrufe der Männchen klingen sehr eigentümlich „melancholisch“ (insbesondere bei der Rotbauchunke) oder „glockenartig“ (bei der Gelbbauchunke). Bei der Paarung umklammern sie an den Weibchen nicht den Bereich der Achseln, sondern die Lendengegend (vergleiche: Amplexus). Ihren Laich legen Unken in kleinen Klumpen an Wasserpflanzen oder am Gewässerboden ab; die Chinesische Rotbauchunke klebt die Eier an die Unterseite hohlliegender Steine auf dem Gewässerboden. Dabei können die Tiere in mehreren Schüben während des gesamten Sommers laichen. Es handelt sich immer um deutlich weniger als 100 Eier pro Paarung. Portraitseite mit Ruf der Rotbauchunke Portraitseite mit Ruf der Gelbbauchunke Ernährung Unken orientieren sich beim Beutefang in erster Linie optisch und reagieren mit einem unselektiven Zuschnappreflex ihrer Kiefer gegenüber sich vor ihnen bewegenden Objekten bis zu einer Größe von etwa 3,5 Zentimetern. Das Nahrungsspektrum der adulten Unken setzt sich vor allem aus Insekten und deren Larven zusammen. Dabei ist die konkrete Zusammensetzung aber abhängig von der lokalen Verfügbarkeit der Nahrungstiere. Bei Untersuchungen in der Ukraine etwa wurde bei Rotbauchunken eine Zusammensetzung des Mageninhalts von durchschnittlich 56 % Zuckmückenlarven, 18 % verschiedenen Käfern, 3 % Webspinnen und einem Rest aus verschiedenen weiteren Wirbellosen, deren Anteil meist unter 1 % lag, festgestellt. Bei der Gelbbauchunke bestand die größte Nahrungsgruppe aus Käfern (31 %), gefolgt von Ameisen (15 %), verschiedenen Zweiflüglern (14 %, darin auch die Zuckmücken) und mehreren anderen Tiergruppen mit Anteilen bis 9 %. Die Larven ernähren sich dagegen vor allem vom Algenrasen auf Steinen und anderen Strukturen unter Wasser. Daneben fressen sie auch den Laich anderer Froschlurche sowie gelegentlich auch den der eigenen Art sowie kleinere, geschwächte oder tote Kaulquappen. Natürliche Feinde Unken werden trotz ihrer Hautsekrete von verschiedenen Tierarten verzehrt. Dazu gehören vor allem Schlangen, wie etwa in Europa die Ringelnatter (Natrix natrix) oder die Würfelnatter (Natrix tesselata). Unter den Vögeln erbeuten Weißstörche (Ciconia ciconia), Schwarzstörche (Ciconia nigra) und eine Reihe kleinerer Vogelarten (Krähen, Elstern etc.) die adulten Tiere. In der Ukraine wurde zudem beobachtet, dass Rotbauchunken vom Nachtreiher (Nycticorax nycticorax) gejagt wurden und zwischen 5 und 25 Prozent der Gesamtnahrung ausmachten. Weiterhin erbeuten auch Igel und Spitzmäuse diese Froschlurche. Die Larven und Eier werden von Kammmolchen, Wasserfröschen und Wasserschildkröten wie der Europäischen Sumpfschildkröte (Emys orbicularis) verspeist. Unter den Schmarotzern spielen vor allem die parasitischen Würmer eine Rolle. Die Rotbauchunke wird beispielsweise von mindestens 15 Arten der Saugwürmer, acht Fadenwurmarten und zwei Kratzwürmern (Acanthocephala) befallen; außerdem ist sie Zwischenwirt für mindestens zwei Bandwurmarten. Bei der Gelbbauchunke sind bislang nur zwei Parasiten nachgewiesen worden – der Bandwurm Nematotaenia dispar und der Kratzer Acathocephalus ranae – während es zum Parasitenbefall der asiatischen Arten keine Untersuchungen oder Nachweise gibt. Auch Kannibalismus wurde bei Unken, vor allem der Gelbbauchunke, beschrieben. Dabei fressen die Larven teilweise die Eier sowie kleinere Larven der gleichen Art, ausgewachsene Tiere die Larven. Verteidigung Bei Störungen tauchen auf der Wasseroberfläche treibende Unken ab und versuchen, unter Wasser aus dem Störbereich zu fliehen. An Land verfallen die Tiere bei Bedrohung in eine typische Schreckstellung, die als Unkenreflex oder Kahnstellung bekannt ist und auch bei wenigen anderen Amphibien beobachtet wurde. Dabei heben sie ihre Gliedmaßen verdreht nach oben, so dass die Unterseiten mit der roten, orangefarbenen oder gelben Warnfärbung sichtbar werden. Die Handrücken werden dabei über die Augen gelegt und die Fußoberseiten auf den Rücken des Tieres gedreht, während es ein Hohlkreuz bildet. Außerdem produzieren Unken in ihren Hautdrüsen ein Sekret, welches Reiz- und Giftstoffe enthält und als „Unkenspeichel“ bezeichnet wird. Dieser kann in solchen Mengen produziert werden, dass er die Körperoberfläche als weißer Schaum bedeckt. In dem nach Lauch riechenden Hautsekret sind verschiedene Stoffe enthalten, die beim Menschen vor allem die Schleimhäute der Augen und der Nase reizen. Einige der Inhaltsstoffe sind dabei auch giftig, andere wirken antimikrobiell und halten entsprechend den Körper von Bakterien oder Pilzsporen frei. Als Hauptbestandteil kommen das Bombinin (benannt nach der Gattung), das Bombinin-H-Peptid sowie eine Reihe von sehr ähnlichen Peptiden vor, die als „Bombinin-like Peptides“ (BLP) bezeichnet werden und in arttypischer Zusammensetzung vorliegen. So wurden bei der Rotbauchunke neben Bombinin auch mehrere freie Aminosäuren sowie eine große Menge Serotonin festgestellt. Das Sekret der Gelbbauchunke enthielt zudem ein hämolytisch wirksames Polypeptid. Bei der Riesenunke wurde das Maximin isoliert, welches ebenfalls im Aufbau dem Bombinin gleicht. Im Labor zeigte sich, dass Maximin auch als Zellgift gegen Tumore sowie eine Form als potentieller Wirkstoff gegen das HI-Virus der Krankheit AIDS wirkt. Evolution und Systematik Stammesgeschichte Die frühesten Fossilfunde der Unken für Mitteleuropa stammen aus dem Pliozän und sind entsprechend zwischen zwei und fünf Millionen Jahren alt. Die meisten Skelette wurden dabei in fossilen Tierbauen in Pisede in Mecklenburg gefunden. Die ältesten Funde der Scheibenzüngler im weiteren Sinne (Discoglossoidea), zu denen auch die Unken zählen, werden in Europa auf das Obere Jura (195 bis 135 Millionen Jahre) und in Nordamerika auf die Oberkreide (135 bis 65 Millionen Jahre) datiert. Auf der Basis dieser Funde sowie dem heutigen Verbreitungsgebiet in Europa und in Ostasien lässt sich die evolutionäre Entstehung der Scheibenzüngler und Bombinatoridae (Unken und Barbourfrösche) auf dem nördlichen Urkontinent Laurasia verorten. Externe Systematik Während die Unken noch vor einigen Jahren zu den Scheibenzünglern (Discoglossidae) gezählt wurden, wird die Gattung heute mehrheitlich gemeinsam mit den Barbourfröschen (Barbourula) der separaten Familie Bombinatoridae zugeordnet. Entsprechend stellen die Barbourfrösche die Schwestergruppe der Unken dar und die Scheibenzüngler mit den Eigentlichen Scheibenzünglern (Discoglossus) und den Geburtshelferkröten (Alytes) die Schwestergruppe der aus den beiden Gattungen bestehenden Bombinatoridae. Diese Hypothese, die beide Familien als echte monophyletische Taxa ansieht und entsprechend neben dem Schwestergruppenverhältnis der beiden Gattungen innerhalb der Bombinatoridae auch eines der Gattungen Alytes und Discoglossus voraussetzt, wurde mittlerweile auch genetisch durch einen Vergleich des mitochondrialen Genoms bestätigt. Die Scheibenzüngler und die Bombinatoridae bilden wiederum gemeinsam ein Taxon, welches als Scheibenzüngler im weiteren Sinne (Discoglossoidea) bezeichnet wird. Die Scheibenzüngler und die Bombinatoridae werden in die Archaeobatrachia, also die „Urtümlichen Froschlurche“, eingeordnet. Neben ihnen werden auch die Neuseeländischen Urfrösche (Leiopelmatidae) und die Schwanzfrösche (Ascaphidae) zu dieser Unterordnung gezählt. Die Archaeobatrachia stellen die ursprünglichste Gruppe der rezenten Froschlurche dar und werden in ihrer Gesamtheit entsprechend den übrigen Anuren als Schwestertaxon gegenübergestellt: Interne Systematik Die Erstbeschreibung der Gattung Bombina erfolgte unter diesem Namen 1816 durch Lorenz Oken, der die bereits 1758 durch Carl von Linné als Rana variegata beschriebene Gelbbauchunke sowie die 1761 ebenfalls durch Linné beschriebene Rotbauchunke, die dieser Rana bombina nannte, in eine eigene Gattung Bombina stellte. Bereits 1768 wurden die Arten dann durch Josephus Nicolaus Laurenti den Kröten in der Gattung Bufo zugeschlagen. Eine erneute Beschreibung erfolgte 1820 durch Blasius Merrem unter dem Namen Bombinator (darauf aufbauend nannte John Edward Gray die Familie Bombinatoridae), die sich als gültiger Gattungsname bis 1907 halten konnte. In dem Jahr griff Leonhard Hess Stejneger auf den nach der Prioritätsregel der zoologischen Nomenklatur gültigen Namen von Oken zurück, Bombinator blieb allerdings weiterhin das häufigste Synonym. Die interne Systematik der Unken ist teilweise noch umstritten, so dass innerhalb der Literatur verschiedene Ansichten über den Status der einzelnen Arten vorliegen. Nach molekularbiologischen Untersuchungen werden zehn Arten in zwei Untergattungen unterschieden. Während die Gelbbauchunke ebenfalls noch Unterarten aufweist. Untergattung Bombina Rotbauchunke – Bombina bombina (Linnaeus, 1761) Chinesische Rotbauchunke – Bombina orientalis (Boulenger, 1890) Apennin-Gelbbauchunke – Bombina pachypus (Bonaparte, 1838) Europäische Gelbbauchunke – Bombina variegata variegata (Linnaeus, 1758) Dalmatinische Gelbbauchunke – Bombina variegata kolombatovici (Bedriaga, 1890) Griechische Gelbbauchunke – Bombina variegata scabra (Kuester, 1843) Untergattung Grobina Guangxi-Rotbauchunke – Bombina fortinuptialis (Hu & Wu, 1978) Hubei-Rotbauchunke – Bombina microdeladigitora (Liu, Hu & Yang, 1960) Lichuan-Rotbauchunke – Bombina lichuanensis (Ye & Fei, 1994) Riesenunke – Bombina maxima (Boulenger, 1905) Zwischen manchen Arten wie der Rotbauch- und der Gelbbauchunke ist eine Hybridisierung möglich, die in den Regionen auftritt, in denen beide Arten sympatrisch und syntop zu finden sind – dieses Überschneidungsgebiet stellt allerdings einen sehr schmalen Streifen dar (Beispiel einer entsprechenden Lokalität: Neusiedler See). Die Hybride sind in ihrer Färbung relativ variabel und stellen dabei einen intermediären Zustand der beiden Elternarten dar. Sie sind voll reproduktionsfähig und können sich entsprechend auch untereinander fortpflanzen, haben jedoch vor allem in der zentralen Hybridisierungsregion eine deutlich erhöhte Mortalitätsrate. Der Einfluss der beiden Arten aufeinander ist bis in eine 10-fache Entfernung des eigentlichen Hybridisierungsgebietes genetisch bestimmbar, wirkt sich jedoch mit zunehmendem Abstand vom Zentrum immer weniger phänotypisch aus. Etymologie Wortherkunft der deutschen Bezeichnung Unke Die Etymologie des Namens Unke ist schwierig – das Wort hat verschiedene Wurzeln und mehrmals in der Geschichte hat sich seine Bedeutung verändert. Eine Wurzel ist sicher das nordgermanische unkvi, das wahrscheinlich mit dem lateinischen anguis (= die Schlange) urverwandt ist. Aus unkvi entwickelte sich dann im Althochdeutschen, Mittelhochdeutschen und auch im Mittelniederdeutschen unc (= die Schlange). Eine andere Wurzel ist das nordgermanische ûkôn (= die Kröte) aus dem sich im ahd. ûcha, mhd. ûche auch ouche und ouke, nhd. auke und euke entwickelte. Eine dritte Erklärung ist ein lautmalendes Ausrufewort aus unk, abgeleitet aus dem Ruf der Männchen. Daraus leitet sich auch das deutsche Verb unken ab (so viel wie vage Warnungen ausstoßen), was dann die Etymologische Figur „Unken unken“ ermöglicht. Interessant ist die Zusammenführung zweier Bedeutungen in einen Wortstamm. In der frühen Mythologie wurde die Kröte oft mit Tod und Reinkarnation in Verbindung gebracht, die Schlange hingegen galt als Sinnbild der Unendlichkeit, aber auch als Symbol des Phallus, also des auf- und absteigenden Heros. In der christlichen Mythologie war die Schlange dann das Sinnbild des Sündenfalls. Seltener wurde die Bezeichnung Unke auch für den Basilisken oder Eidechsen gebraucht. Die Verwendung in der Bedeutung Schlange findet sich bis in das 17. Jahrhundert, unter anderem bei Jakob Ayrer (1598), in Johann Georg Agricolas Chirurgia (1643), in Christian Franz Paullinis Philosophischer Feierabend (1700), in Jacob Grimms Deutsche Mythologie (1825; hier spezifisch für die Ringelnatter oder Wasserhausotter) sowie in Alfred Brehms Tierleben (1864–1869) für die Blindschleiche. In der Bedeutung Kröte findet sich der Begriff vor allem später, neben weiteren bei Notker II., bei Daniel Sanders und bei Bonifaz Wimmer. Die Verwendung in der Bedeutungseigenschaft Basilisk findet sich unter anderen bei Karl Wilhelm Diefenbach und bei Scherz-Oberlin. Als Gattung wurden die Unken 1816 von Lorenz Oken erstbeschrieben; ab diesem Zeitpunkt setzt sich der Begriff langsam für die heute gemeinte Gattung durch. Eine Theorie für die Begriffswandlung ist das Seltenerwerden der Schlangen im 17. Jahrhundert mit dem Beginn der massiven Bekämpfung und Vertreibung von Schlangen aus den Kulturregionen. Ein anderer Erklärungsversuch besagt, dass Unken zwar recht laut rufen, jedoch nur sehr schwer zu entdecken sind, sich in der Nähe der Gewässer aber oft Ringelnattern fanden, denen die Rufe dann fälschlicherweise zugeschrieben wurden. Etymologie der wissenschaftlichen Namen Der gültige wissenschaftliche Name Bombina sowie das Synonym Bombinator leiten sich von der lateinischen Bezeichnung bombus ab, die für „tiefer Ton“ steht. Er bezeichnet also die Tonlage des Unkenrufes (gemeint ist hier insbesondere der Ruf der Rotbauchunke). Menschen und Unken Gefährdung und Schutz Die beiden in Mitteleuropa heimischen Arten, die Rotbauchunke und die Gelbbauchunke, werden auf der Roten Liste weit oben geführt. Die Rotbauchunke gilt beispielsweise in Deutschland als vom Aussterben bedroht während die Gelbbauchunke als stark gefährdet gekennzeichnet ist. Der Bestandsrückgang ist allerdings auch international zu beobachten – besonders am nordwestlichen Arealrand der Art. So gingen in Südschweden mittlerweile alle natürlichen Vorkommensgebiete der Rotbauchunke verloren und seit 1960 wird versucht, sie künstlich wieder anzusiedeln. In Dänemark waren von den ursprünglich etwa 100 bekannten Populationen der Art mehr als die Hälfte bis zum Jahr 1950 verschwunden; im Jahr 1996 gab es nur noch sieben Vorkommen. Eine ähnliche Entwicklung ist auch aus dem Osten Schleswig-Holsteins und Niedersachsens zu vermelden. Die größten deutschen Populationen der Rotbauchunke befinden sich heute entlang der Elbe sowie in Brandenburg und in Mecklenburg-Vorpommern – aber auch hier ist sie teilweise stark rückläufig. Vergleichbares lässt sich auch über die Gelbbauchunke sagen, deren Bestände in weiten Teilen ihres Verbreitungsgebietes im Rückgang begriffen oder sogar erloschen sind. Zur Gefährdung und auch zu den Bestandszahlen der asiatischen Arten liegen keine Daten vor. Bis auf die Riesenunke und die Chinesische Rotbauchunke wurden alle Arten bislang nur als Einzelindividuen oder als kleine Populationen beschrieben, die sehr kleinräumig verbreitet sind. Auch über den Status der Riesenunke können keine genaueren Aussagen getroffen werden. Die Chinesische Rotbauchunke gilt als weit verbreitete und häufige Amphibienart, deren Status in weiten Teilen des Verbreitungsgebietes zwar als wenig erforscht gilt, die insgesamt jedoch als noch nicht gefährdet angesehen wird. Die Gefährdung der europäischen Unkenarten geht, wie bei den meisten Amphibien, mit dem Rückgang der Gewässer und damit ihrer Lebensräume einher. Sehr viele Stillgewässer werden im Rahmen der landwirtschaftlichen Nutzung sowie anderer Flächentrockenlegungen sowie bei der Begradigung und dem Ausbau von Bach- und Flussläufen (weniger Überschwemmungsflächen) und bei der Absenkung des Grundwassers zerstört. Dies betrifft gerade auch die Klein- und Kleinstgewässer, in denen Unken heimisch sind. Hinzu kommt eine zunehmende Verschmutzung der Gewässer durch Pestizide und Dünger. Mit dem Verschwinden einzelner Populationen tritt zudem eine Verinselung der noch bestehenden Populationen ein, deren genetischer Pool dadurch von dem anderer abgetrennt wird. Durch diese immer stärker werdende Isolation wird der Rückgang weiter verstärkt. Die von Gelbbauchunken bevorzugten Lebensräume müssen ständig durch Nutzung oder Pflege offengehalten werden, da sie sonst sehr rasch verbuschen. Neue „Pionierbiotope“ können in der mitteleuropäischen Kulturlandschaft dagegen kaum mehr auf natürliche Weise entstehen. Meist nur noch in Bodenabbaugruben und auf lehmigen Waldwegen finden sich geeignete Bedingungen. Als Schutzmaßnahmen kommen bei den Unken vor allem lebensraumerhaltene und -fördernde Maßnahmen in Frage. So sollten Gebiete, in denen die Tiere vorkommen, unter Schutz gestellt und die Landwirtschaft extensiviert werden. Dazu gehört vor allem auch die Neuanlage und Sanierung von Kleingewässern (Biotopverbund), der Erhalt von Grünflächen sowie der Rückbau von Entwässerungsanlagen. Neben diesen anthropogenen Einflüssen werden jedoch auch klimatische Gründe des Rückgangs vermutet: Die Unken hatten ihren Verbreitungshöhepunkt in der Zeit des Klimaoptimums nach der letzten Eiszeit (vergleiche: Atlantikum), so dass die Klimaentwicklung seit dieser Zeit ein weiterer Faktor sein könnte. Diesem kann mit Mitteln des Artenschutzes nicht begegnet werden. Heimtierhaltung Achtung: Für die Haltung der Tiere ist eine Beratung durch Fachleute und die Weiterbildung durch geeignete Literatur vor der Anschaffung unbedingt notwendig. Dieser Text ersetzt keine Haltungsanweisungen. Jede Entnahme von Amphibien und deren Entwicklungsstadien aus der freien Natur ist beispielsweise in Deutschland nach dem Bundesnaturschutzgesetz und der Bundesartenschutzverordnung verboten. Letztere bezieht neben den europäischen Arten ausdrücklich auch Bombina orientalis mit ein. Die stark bedrohten europäischen Unken sind zudem EU-weit nach der Fauna-Flora-Habitat-Richtlinie streng geschützt. Für die Terraristik spielt vor allem die Haltung der Chinesischen Rotbauchunke eine Rolle, während die Rotbauchunke, die Gelbbauchunke sowie die Riesenunke relativ selten gehalten werden. Dabei werden sowohl Wildfänge als auch Zuchttiere angeboten, wobei zumindest bei den europäischen Arten aufgrund des Schutzstatus ein Nachweis erforderlich ist, dass es sich nicht um Wildfänge handelt. Die Tiere benötigen ein ihren Bedürfnissen entsprechend ausgestattetes Aquaterrarium. Es sollte sich dabei um eine strukturreiche Einrichtung handeln, in dessen Wasserteil auch eine Bepflanzung sowie einige hohlliegende Steine vorhanden sein müssen. Als Futter werden sowohl Insekten als auch kleine Fleischbrocken angenommen. Der Besatz sollte allerdings nicht zu groß werden, da es ansonsten zu Beißereien und auch Verletzungen kommen kann. Eine Überwinterung der Tiere erfolgt in einem Behältnis, welches mit feuchtem Moos und Laub ausgelegt ist, an einem kühlen, aber frostfreien Ort. Die Chinesische Rotbauchunke lässt sich in Gefangenschaft gut züchten. Für die Larven sollten separate Becken angelegt werden, da bei den Tieren Kannibalismus auftreten kann. Bei Nachzuchttieren kann die rote Unterseitenfärbung bei der Chinesischen Rotbauchunke sowie der Rotbauchunke deutlich blasser sein als beim Wildtyp; dies lässt sich durch Futterzugabe von Canthaxanthin-Präparaten dauerhaft beheben. Unken in Kunst, Literatur und Mythologie Durch die Bedeutungswandlung des Begriffs Unken im Laufe der Zeit wird dieser auch in der Literatur in verschiedenen Bedeutungen verwendet. Zum Teil ist gerade bei kürzeren literarischen Erwähnungen gar nicht zu unterscheiden, ob eine Schlange oder ein Froschlurch gemeint ist. Insbesondere vor dem 19. Jahrhundert, aber auch heute noch werden Unken oft mit Kröten gleichgesetzt – wobei der Begriff Kröte seinerseits tiersystematisch nicht scharf abgegrenzt ist. So kann mit einer „Unke“ durchaus auch eine Kröte gemeint sein und umgekehrt. Die Unke als Begriff für Fabelwesen dagegen findet in der Literatur kaum Verwendung. Von einer Bedeutung des Begriffs Unke im heutigen Sinne für die Gattung Bombina kann bei historischen Quellen also nur dann ausgegangen werden, wenn es sich um einen lautmalenden Bezug auf den Unkenruf handelt. In der Malerei ist das Motiv der Unke kaum anzutreffen; es findet sich jedoch vereinzelt auf Altären, in Niederösterreich zum Beispiel auf dem Altar der Kaiser-Jubiläums-Kirche in der Marktgemeinde Hirtenberg. Verbreitet ist die Unke auf keltischen Sandsteinaltären in Gestalt von Köpfen mit Opfermulde, die auf der Rückseite regelmäßig eine hochspringende Unke und ein Raubtier, möglicherweise einen Wolf zeigen. Das identische Motiv findet sich auch seltener auf monumentalen Sandstein Altären oder Grenzsteinen. In Trankrezepten aus der Hexerei gibt es kaum Erwähnungen, obwohl dies wegen der Hautsekrete der Unke nahe läge. Häufig findet sich jedoch die Kröte in solchen Rezepten und es besteht wieder die Möglichkeit, dass Unken nicht von Kröten unterschieden wurden. Einer der seltenen Hinweise auf die Verwendung von Unken in solchen Tränken findet sich allerdings bei Properz in seinen Elegien. Dort heißt es: Bedeutend ist die Unke in dem Osterritual Blut der Erneuerung, das durch Arator überliefert ist. Im Somnium, dem sechsten Schritt des Rituals, heißt es: Im späteren Somnium tauchen aber auch die Worte Schlange, Kröte und Drache auf. Gemeint ist hier das Böse, das dem Menschen innewohnt. Gegen Ende des Rituals wird die Unke getötet, aber auch der Zeremonienmeister selbst stirbt. Das Bild soll die Notwendigkeit darstellen, den Satan und seinen unendlichen Einfluss auf den Menschen abzutöten – dieser Feind ist der Mensch aber selbst! Allegorien Die Unke wird als Allegorie auf verschiedene Themen verwendet. Häufig verkörpert sie das Bild des Unheilspropheten oder Verkünders schlechter Omen und findet sich das Unkenlied auch als Ankündigung des Todes oder als Trauerlied. Generell werden die vom Menschen als traurig empfundenen Rufe auch in der Literatur in melancholischen Zusammenhängen erwähnt, oft auch in Verbindung mit Zweifeln (vgl. Das Unkenlied des Zweifels). Hieraus hat sich auch die deutsche Redewendung Allen Unkenrufen zum Trotz entwickelt; der Unkenruf meint hier die geäußerten Bedenken von Zweiflern oder Pessimisten. Andere Motive benutzen das Wort Unke als Synonym für eine alte Frau oder ein unsympathisches Mädchen bzw. generell für Hässlichkeit, was sich vom warzigen Äußeren der Tiergattung ableitet. Ein drittes Motiv wäre die Trunkenheit wie in Voll wie eine Unke sein, möglicherweise abgeleitet aus dem Anblick der beim Rufen teilweise extrem stark aufgeblähten männlichen Unken. Zudem wird der Ausdruck rumunken regional für übertriebenes Gemecker oder schlechtes Reden verwendet. Unken im Märchen Im Märchen findet sich die Unke als Froschlurch selten; für eine Schlange steht der Begriff jedoch häufig. Immer ist die Unke dann ein Glücks- oder Segensbringer. Bei den Gebrüdern Grimm gibt es zwei solcher Märchen: Das Märchen von der Unke erzählt das Schicksal einer Schlange, das mit dem Schicksal eines Kindes verknüpft ist. Solange das Kind die Schlange füttert, gedeiht es, sobald aber die Mutter die Unke erschlägt, stirbt auch das Kind. Im Märchen Die Unke mit der Krone wird das Tier als empfindsames Wesen, das einen Schatz zu Tage trägt, gezeichnet. Als ein Kind den Schatz fortnimmt, tötet sich die Unke selbst. Auch im Neuen deutschen Märchenbuch von Bechstein finden sich Märchen, die explizit den Begriff der Unke synonym für eine Schlange verwenden. In dem Märchen Schlange Hausfreund ist die Unke ein segensreiches Tier, das den Wohlstand bringt und sich eng mit einer Katze befreundet. Deutlicher wird die mythologische Bedeutung im Märchen Die Schlange mit dem goldenen Schlüssel. Hier wird das Tier, solange eine Erlösung in Sicht ist, als Schlange und erst danach, als es für weitere hundert Jahre ein verlorenes Wesen ist, als Unke bezeichnet. Unkenrufe in der Lyrik Der Unkenruf als akustisch wahrnehmbares Element der Umwelt ist als Motiv in der Lyrik weit verbreitet, dabei ist er im literarischen Sinne streng genommen kein Tierlaut, da er nicht lautmalend wiedergegeben wird, sondern beschrieben wird. Das Wort Unke selbst oder das Verb unken kann jedoch als Interjektion des Ruflauts unk interpretiert werden. Unterschieden werden muss zwischen dem Ruf der Gelbbauchunken und dem der Rotbauchunken. Ersterer, der auch oft mit dem Ruf der nahe verwandten Geburtshelferkröte verwechselt wird, klingt zart oder glockenhell und findet sich zum Beispiel bei Annette von Droste-Hülshoff: Der Ruf der Rotbauchunke ist eher dumpf und tiefer. Er wird vom Menschen als melancholisch, bedrohlich und düster empfunden und findet sich zum Beispiel bei Nikolaus Lenau in seinem Versepos Die Albigenser. In dieser Metapher steht deutlich der pessimistische, zweifelnde und betrübte Charakter des Unkenlieds im Vordergrund. Der Unkenruf als akustisches Motiv findet sich in der Lyrik darüber hinaus auch bei Theodor Fontane, Bettina von Arnim, Georg Heym und vielen anderen deutschen Dichtern. Unkenrufe in der Prosa In der Prosa steht nicht so sehr die Wirkung des Unkenrufs auf den Menschen im Vordergrund, sondern das Äußere der Unke, das als abstoßend empfunden wird. Dieses Motiv ist etwa aus der Erzählung Der Räuber Hotzenplotz von Otfried Preußler bekannt. Dort hat der böse Zauberer Petrosilius Zwackelmann die gute Fee Amaryllis in eine Unke verwandelt – erst Kasperl gelingt es, den Zauber aufzuheben und die Unke wieder in die Fee zurückzuverwandeln. Aus Schreck fällt der böse Zauberer in den Unkenpfuhl (Tümpel) und stirbt. Berühmt geworden ist der Unkenruf als Erkennungszeichen durch Nachahmung bei Karl May, in dessen Büchern er sich an mehreren Stellen findet. In Durch das Land der Skipetaren sagt Sihdi Ali Bei zum Beispiel: Aber auch zum Beispiel in In den Schluchten des Balkan oder anderen Karl-May-Büchern findet sich der Unkenruf als Erkennungszeichen, einschließlich der Indianergeschichten, die in Nordamerika spielen – wo es keine Unken gibt. Zu dem erzählerischen Werk von Günter Grass schließlich zählt auch eine Erzählung namens Unkenrufe (1992), der im Jahr 2005 von Robert Gliński verfilmt wurde. Unken in Comic und Film Die Schuhfirma Salamander gab jahrzehntelang Werbehefte mit der Comicfigur Lurchi heraus, die über fünf tierische Freunde um einen Feuersalamander berichten – eines der Tiere ist die männliche Unke Unkerich. Dieser hat im Gegensatz zu lebenden Unken die Warnfärbung nicht auf der Bauchseite, dafür aber am sonstigen Körper – der Bauch hingegen ist weiß. Auffallend ist Unkerichs sehr dicke Statur. Er trägt schwarze Stiefel und einen breiten Gürtel, auf dem Kopf hat er stets eine amtlich scheinende blaue Mütze mit rotem Rand. Böse Zungen behaupten eine Ähnlichkeit der Figur mit Hermann Göring. Unkerich spielt immer eine lächerlich anmutende Autorität wie einen Schulwart, Polizisten oder ähnliches – im Heft 53 verkleidet sich Unkerich als Frau und wirkt besonders lächerlich. In der Fernsehserie Bezaubernde Jeannie wird die Unke kurz in der 89. Episode erwähnt. Hier behauptet Jeannies böse Schwester, Jeannie selbst sei im unglücksbringenden Sternzeichen der Unke geboren und bringe denen, die sie lieben, Unglück oder sogar den Tod. Literatur Andreas Nöllert, Christel Nöllert: Die Amphibien Europas. Franckh-Kosmos, Stuttgart 1992. ISBN 3-440-06340-2 Rainer Günther (Hrsg.): Die Amphibien und Reptilien Deutschlands. Gustav Fischer Verlag, Jena 1996. ISBN 3-437-35016-1 Sergius L. Kuzmin: Die Amphibien Rußlands und angrenzender Gebiete. Neue Brehm-Bücherei. Bd. 627. Westarp Wissenschaften, Magdeburg 1995. ISBN 3-89432-457-0 Axel Kwet: Reptilien und Amphibien Europas. Franckh-Kosmos, Stuttgart 2005. ISBN 3-440-10237-8 René E. Honegger: Threatened Amphibians and Reptiles in Europe. Supplementary Volume of „Handbuch der Amphibien und Reptilien Europas“. Akademische Verlagsgesellschaft, Wiesbaden 1981. ISBN 3-400-00437-5 Birgit Gollmann, Günter Gollmann: Die Gelbbauchunke – von der Suhle zur Radspur. Zeitschrift für Feldherpetologie. Beiheft 4. Laurenti-Verlag, Bielefeld 2002. ISBN 3-933066-10-7 Andreas Krone, Klaus-Detlef Kühnel (Hrsg.): Die Rotbauchunke (Bombina bombina) – Ökologie und Bestandssituation. RANA. Sonderheft 1. Verlag Natur und Text, Rangsdorf 1996. ISBN 3-9803856-9-8 Jacob Grimm: Deutsche Mythologie. Vollständige Ausgabe. Marix Verlag: Wiesbaden 2007, ISBN 978-3-86539-143-8. Weblinks American Museum of Natural History (AMNH): Amphibian Species of the World: Bombina Bombinatoridae The Firebellied Toad FAQ Die Unkenarten AmphibiaWeb Einzelnachweise Unken und Barbourfrösche
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https://de.wikipedia.org/wiki/King%20Crimson
King Crimson
King Crimson ist eine britische Progressive-Rock-Gruppe. Sie wurde 1968 für einen Auftritt am 13. Januar 1969 im Fulham Palace Cafe von Robert Fripp und Michael Giles gegründet und besteht – mit Fripp als Vordenker – in wechselnden Formationen bis heute. Das Album In the Court of the Crimson King (1969) gilt als Meilenstein des Progressive Rock. Im Laufe ihres 50-jährigen Bestehens hat die Band immer wieder verschiedene, auch neu aufkommende Musikstile in ihr Musikkonzept eingearbeitet und sich gewandelt. Ihre Musik zeichnet sich durch eine große dynamische Bandbreite sowie vielfältige rhythmische Modelle aus. Die Mitglieder von King Crimson haben vor oder nach ihrem Mitwirken bei King Crimson mit bekannten Künstlern und Bands (Frank Zappa, Peter Gabriel, Yes, David Bowie und anderen) zusammengearbeitet. Ein guter Teil der Geschichte von King Crimson ist geprägt durch den ständigen Austausch von Mitgliedern. Geschichte Die Geschichte der Band lässt sich in sechs auch stilistisch teilweise recht unterschiedliche, von mehr oder weniger langen Pausen unterbrochene Phasen einteilen: den Zeitraum der ersten vier Alben von 1969 bis 1971, auf denen die Musik der Band recht abwechslungsreich, teilweise ruhig und reich instrumentiert, mit Anregungen aus Klassik, Jazz und Psychedelic Rock gestaltet ist; die Zeit von 1972 bis 1974, in der nach einer vollkommenen personellen Neuformierung Einflüsse von Strawinsky, Free Jazz, Hardrock und der Hang zu ausgedehnten Improvisationen hervorstechen; die drei Alben der 1980er Jahre (1981–1984), auf denen neben einem moderneren Klangbild besonders der Einfluss von Minimal Music und New Wave auffällt; den wieder etwas härteren Klang des Doppeltrios der 1990er Jahre (1995–1997) sowie der diversen Nebenprojekte ProjeKct One, ProjeKct Two, ProjeKct Three und ProjeKct Four; die Aufnahmen der auf das „Doppelduo“ Belew, Fripp, Gunn und Mastelotto reduzierten Band ab dem Jahr 2000; die 7- bis 8-köpfige Besetzung mit drei Schlagzeugern seit 2013. Der Beginn Robert Fripp tat sich 1967, nachdem er in der Gruppe The League of Gentlemen gespielt hatte, mit den Brüdern Michael und Peter Giles von Trendsetters Limited zusammen. Das Trio nahm 1968 die Single One in a Million sowie die LP The Cheerful Insanity of Giles, Giles and Fripp auf. Im selben Jahr stießen der Lyriker Peter Sinfield, der später auch Synthesizer spielte und für die Lichtshow zuständig war, der Multiinstrumentalist Ian McDonald von der Band Infinity sowie die von Fairport Convention stammende Sängerin Judy Dyble dazu. In dieser Besetzung wurden Demos von I Talk to the Wind und dem Titel Under the Sky aufgenommen. Peter Giles und Dyble verließen die Band aber gleich darauf. Die verbliebenen drei Musiker rekrutierten den Sänger und Bassisten Greg Lake und gründeten am 13. Januar 1969 offiziell King Crimson. Der Name King Crimson stammt von Peter Sinfield als Synonym für Beelzebub, den Fürsten der Dämonen. Laut Robert Fripp ist Beelzebub eine Wortentlehnung der arabischen Floskel B'il Sabab, was ungefähr „Der Mann mit einem Ziel“ bedeutet. Crimson King ist auch der Name einer Kulturvarietät des Blutahorns. Das Blatt dieses Baumes wurde deshalb immer wieder in die Gestaltung der Cover integriert. Der Auftritt der Band am 9. April 1969 im Londoner Club Speakeasy machte auf Musikerkollegen wie Steve Hackett, Bill Bruford und Pete Townshend großen Eindruck. Im Juli trat die Band dann im Londoner Hyde Park gemeinsam mit den Rolling Stones vor 650.000 Zuschauern auf. Die erste Platte In the Court of the Crimson King wurde im Oktober veröffentlicht. Sie erreichte Platz 5 in den englischen Charts und bekam sehr gute Kritiken. Die Presse feierte die Band teilweise schon als „the next Beatles“. Während der darauffolgenden Tournee durch England und die USA, unter anderem mit den Rolling Stones, Iron Butterfly, Fleetwood Mac und Janis Joplin, erreichten die musikalischen Differenzen innerhalb der Gruppe ihren ersten Höhepunkt. In der Folge verließen Ian McDonald und Michael Giles die Band, weil sie mit der musikalischen Richtung unzufrieden waren. Fripp bot seinen Kollegen an, die Band zu verlassen, zumal er auch ein Angebot von Yes sowie vom späteren Journey-Drummer Aynsley Dunbar für die Gruppe Blue Whale hatte, entschloss sich aber dann doch zum Weitermachen. Von 1969 bis 1972 Die personellen Wechsel blieben das einzig Konstante in dieser Zeit. Das verbliebene Trio veröffentlichte eine Single Cat Food/Groon im März 1970 und entwickelte gleichzeitig das Material für die zweite, stilistisch an das Debütalbum angelehnte LP In the Wake of Poseidon. Mel Collins kam an Bord und der Bassist Peter Giles war bei den Aufnahmen dabei. Greg Lake verabschiedete sich im April, um die Gruppe Emerson, Lake and Palmer mitzugründen. Als Ersatz am Bass kam Gordon Haskell und mit ihm entstand das dritte Album Lizard, auf dem Andy McCullough Schlagzeug spielte und Jon Anderson von der Gruppe Yes in dem fast ganzseitigen Titelstück als Sänger zu hören ist. Verstärkt wurde die Band dabei vom Jazzpianisten Keith Tippett, Mark Charig (Kornett), Nick Evans (Posaune) sowie Robin Miller (Oboe und Englischhorn). Das Album wirkt durch die Mitwirkung von Gastmusikern farbiger und ist deutlicher vom Jazz beeinflusst als seine beiden Vorgänger. Der Titelsong des Albums Lizard ist zwanzig Minuten lang. Bevor die Platte veröffentlicht wurde, verließen jedoch Haskell und McCullough die Band wieder. Haskell begann daraufhin eine Solokarriere, während McCullough zu der Band Greenslade stieß. Fripp machte sich erneut auf die Suche nach neuen Mitgliedern. Der Schlagzeuger Ian Wallace und der Sänger Boz Burrell waren bald gefunden, aber als sich kein Bassist auftreiben ließ, entschied Fripp sich, Burrell selbst das Bassspiel beizubringen. Während der darauffolgenden langen Tour wurde 1971 das Album Islands aufgenommen. Es wirkt sehr ruhig und ist über weite Strecken von akustischen Instrumenten dominiert. Es war das letzte Album, auf dem Tippett mitwirkte. Ende des Jahres verließ auch Peter Sinfield die Band – er war neben Robert Fripp das letzte Gründungsmitglied gewesen. 1972 unternahm die Band eine letzte Tour, nach der die Bandmitglieder auseinandergehen wollten. Fripp machte aus den Aufnahmen dieser Tour das Album Earthbound, das erste Livealbum der Band, sozusagen als Abschied. Wallace, Burrell und Collins verließen die Gruppe, um mit Alexis Korner zu spielen. Wallace gründete 2004 das Crimson Jazz Trio. Von 1972 bis 1975 Fripp sah sich nun vor die Aufgabe gestellt, eine vollkommen neue Band zusammenzustellen. Er gewann den vom Free Jazz kommenden Perkussionisten Jamie Muir und den ehemaligen Family-Sänger und Bassisten John Wetton, den Fripp vom College her kannte. Von Yes kam der Schlagzeuger Bill Bruford, und zuletzt fand sich der Geiger David Cross. Für den Entwurf der Texte wurde Richard Palmer-James engagiert. 1973 erschien Larks’ Tongues in Aspic und die Formation ging auf Tournee durch Großbritannien, Europa und die USA. Die Musik der Band hatte durch die Neubesetzung deutlich an rhythmischer Durchschlagskraft gewonnen. Sie war zum Teil angelehnt an Hardrock und Heavy Metal, eine Musikrichtung, die gerade in den USA und Großbritannien sehr erfolgreich war. Fripp spielte die Gitarre lauter und aggressiver als zuvor und Brufords Schlagzeug mischte sich mit dem energischen Bass von Wetton. Muir verließ die Gruppe im Frühjahr 1973. Auf der darauffolgenden längeren Tour wurde Material für die 1974 veröffentlichte Platte Starless and Bible Black aufgenommen. Der überwiegende Teil dieses Albums besteht aus Liveaufnahmen. Die Band war eine „Live-Band“ geworden, deren wahrer Charakter sich nur bei Konzerten zeigte. Aus diesem Grund war auch die nächste Platte USA aus Live-Mitschnitten zusammengestellt. Bei Konzerten der Band war mindestens ein Titel vollkommen frei improvisiert. Nun verließ auch David Cross, der der Ansicht war, dass seine Violine im Klangbild unterging, die Gruppe. Das verbleibende Trio nahm Red auf. Mit von der Partie waren auch wieder Ian McDonald, Mel Collins, Marc Charig und Robin Miller als Studiomusiker sowie Cross auf der Live-Improvisation des Konzertes in Providence. Die Platte war nach Meinung der Musiker die stärkste seit In The Court … und schien der Band eine erfolgreiche Zukunft zu verheißen. McDonalds Wiedereinstieg war sogar bereits im Gespräch, doch dann entschied Fripp, die Band aufzulösen, und verkündete: „King Crimson is completely over for ever and ever“ (‚Mit King Crimson ist es ein für alle Mal vorbei‘). Damit schien das Schicksal der Gruppe zunächst besiegelt. Reunion Anfang 1981 stellten Robert Fripp und Bill Bruford Überlegungen an, eine neue Gruppe zu gründen, die Discipline heißen sollte. Nachdem Tony Levin, der unter anderem schon mit John Lennon, Yoko Ono und Peter Gabriel gearbeitet hatte, an Bord war, nahm Fripp mit dem Gitarristen Adrian Belew Kontakt auf, der gerade mit den Talking Heads auf Tour war. Die Tatsache, dass Fripp einen zweiten Gitarristen neben sich haben wollte, zeigt, dass er diesmal weg vom King-Crimson-Klang wollte. Es misslang insofern, als Fripp bei den Proben bemerkte, dass diese neue Band doch im Grunde wieder King Crimson war. Man einigte sich (nicht zuletzt aus Vermarktungsüberlegungen) darauf, die Band wieder King Crimson zu nennen und das Ergebnis war die Trilogie Discipline, Beat und Three of a Perfect Pair. Die Musik dieser drei Alben ist konzentrierter und weniger ausufernd als auf den Alben der 70er Jahre. Der moderner wirkende Klang mit elektronischem Schlagzeug und unverzerrt gespielten Gitarren wirkt zum Teil an die Talking Heads und Police angelehnt. Einige Titel, wie Neurotica, Dig Me oder No Warning, die ein Klangbild aus metallischen Geräuschen, Sirenen und anderen Reizklängen zeichnen, lehnen sich an den Industrial Rock an. So äußerte sich Belew folgendermaßen zu den Titeln Industry A und B: “It’s supposed to give you a feeling of walking through a factory.” (‚Es soll einen glauben lassen, man spaziere durch eine Fabrik‘). Neuartig für die Musik der Band sind die eng verzahnten, sich ergänzenden Parts der beiden Gitarristen. Dazu Adrian Belew: Die Alben waren auch kommerziell erfolgreich. Discipline erreichte Goldstatus in Japan und Three of a Perfect Pair Platz 30 in den britischen Charts. Die Band unternahm bis in das Jahr 1984 ausgiebige Tourneen. Nach dem dritten Album löste sie sich dann auf. Fripp war darüber hinaus in rechtliche Auseinandersetzungen mit seinem Management geraten, die einige Jahre andauern sollten. In den späten 80er Jahren kam es zusätzlich zu auch in Interviews ausgetragenen Differenzen zwischen Fripp und Bruford. Die 1990er Jahre Anfang der 1990er trennte sich Fripp in einem langwierigen, minutiös dokumentierten Verfahren von seiner bisherigen Platten- und Management-Firma E.G. Gleichzeitig startete er mit Discipline Global Mobile (DGM) den Versuch, eine auf ethischen Grundsätzen und nicht Profitstreben basierende Plattenfirma zu etablieren. Es wurde eine durch DGM ermöglichte und bis heute fortgeführte Archivreihe mit Liveaufnahmen aus allen King-Crimson-Phasen gestartet. Sie umfasste zwar auch regulär erhältliche CDs und Boxsets, vor allem aber wurde der Versuch gemacht, in einer Art CD-Abonnement seltene Aufnahmen (Live-, Probenmaterial) für den „harten Kern der Fans“ bereitzustellen. Diese ursprünglich D.G.M. Collectors’ Club genannte CD-Reihe wurde später in King Crimson Collectors’ Club umbenannt. 1991 versuchte Fripp den Sänger der Gruppe Japan, David Sylvian, für eine neue King-Crimson-Formation zu gewinnen, was dieser aber ablehnte. Trotzdem unternahmen die beiden mit dem Bassisten Trey Gunn 1992 eine gemeinsame Tournee. Danach nahmen die drei mit dem Ex-Peter-Gabriel-Drummer Jerry Marotta die 1993 veröffentlichte CD The First Day auf. Fripp entwickelte nun die Idee von zwei einander gegenüber stehenden Trioeinheiten. Für das eine Trio waren Fripp, Gunn und der Mr.-Mister-Schlagzeuger Pat Mastelotto vorgesehen, für das andere Belew, Levin und Marotta. Anstatt des vorgesehenen Marotta wurde dann jedoch wieder Bill Bruford engagiert. Dieses Sextett spielte die CDs VROOOM (1994) und THRAK (1995) sowie das frei improvisierte THRaKaTTaK (1996) ein. Musikalisch verbanden diese Aufnahmen den Hardrock der Formation von 1972 bis 1975 und Elemente der Noise-Musik mit der eher songorientierten Musik der 1980er Jahre. Da die Unterhaltskosten für die sechsköpfige Band relativ hoch waren, zerfiel die Gruppe nach der dritten CD. Fripp schlug vor, die Band in Teileinheiten aufzusplitten (in seinen Worten „fraKctalisation“), die spontan und unvorbelastet arbeiten könnten. So entstanden aus Splittergruppen von King Crimson bestehende Projekte mit den Namen ProjeKct One, ProjeKct Two, ProjeKct Three und ProjeKct Four. Ab 2000 Nach dem Ende der ProjeKcts verließ Bruford die Band und Levin verkündete, sein Engagement bis auf weiteres ruhen zu lassen. Der als „sehr englisch“ geltende, spleenig-intellektuelle Fripp, der schon in den 1970er Jahren in der Musikpresse „Mr. Spock of Rock“ genannt wurde, hatte sehr genaue Vorstellungen über die mit King Crimson einzuschlagende musikalische Richtung, was zu Konflikten mit den Mitmusikern führte. Fripp im Interview mit der holländischen Zeitung Het Parool im Jahr 1999: Außerdem sah Fripp personellen Wechsel als Bestandteil der Bewahrung musikalischer Kreativität: Die verbleibenden vier Mitglieder (Belew, Fripp, Gunn und Mastelotto) produzierten the construKction of light (2000) und Heaven and Earth, das unter dem Namen ProjeKct X veröffentlicht wurde. Es folgte die ausgedehnte the construKction of light-Tour sowie eine Tour als Vorgruppe der Progressive-Metal-Band Tool, die der Band einen neuen Publikumskreis erschließen sollte. Im Bonustrack The King Crimson Barber Shop auf dem im Jahr 2001 remasterten Album Three of a Perfect Pair (1984) wird mithilfe eines stilistischen Bruchs ein humoristisches Resümee der Bandgeschichte gezogen. Im Song wird auf das mit der Band assoziierende Gitarrenspiel verzichtet und stattdessen im deutlichen acapella-Text auf weitere charakteristische Instrumente (Chapman Stick) und die elitären Seiten von Gründer Robert Fripp (keine Fotos und Zugaben) verwiesen. Ironisch kommt zudem ihr Song 21st Century Schizoid Man zur Sprache, mit dem die Band im Jahr 1969 kritisch Stellung zum Vietnamkrieg bezog. 2003 veröffentlichte die Band das Album The Power to Believe, das aus Material der vorangegangenen Tour erstellt wurde und Platz 65 in den deutschen Charts erreichte. Ende des Jahres nahm Trey Gunn seinen Abschied von der Band und Tony Levin wurde wieder Bassist. Am 2. August 2008 erfolgte die Rückkehr auf die Bühne mit einem Konzert in Nashville, The Belcourt Theatre. Weiteres Mitglied von King Crimson ist seitdem der Schlagzeuger Gavin Harrison von Porcupine Tree. Mit einem Blogeintrag vom 5. Dezember 2010 erklärte Robert Fripp die Band jedoch für faktisch aufgelöst. Am 30. Mai 2011 erschien das Album A Scarcity of Miracles – A King Crimson ProjeKct. Die beteiligten Musiker sind Robert Fripp, Jakko Jakszyk (unter anderem Level 42 und The Tangent) und Mel Collins, Tony Levin und Gavin Harrison. Aus diesem ProjeKct erwuchs schließlich 2013 die achte „Inkarnation“ von King Crimson, erstmals seit 1981 ohne Adrian Belew. Zur bestehenden Besetzung des ProjeKcts stießen Pat Mastelotto sowie erstmals Bill Rieflin (R.E.M.) hinzu. Es wurden Liveaufnahmen von Konzerten in den Jahren 2014 und 2015 veröffentlicht. Bill Rieflin wurde zwischenzeitlich durch Jeremy Stacey ersetzt, kehrte aber als Keyboarder zu King Crimson zurück und wurde als solcher Ende 2017 für einige Konzerte durch Chris Gibson ersetzt sowie für Konzerte im Jahr 2019 durch Theo Travis. King Crimsons umfangreiches Angebot an Liveveröffentlichungen wurde auch 2017 und 2018 fortgesetzt. Während auf Konzerten der neuesten Bandinkarnation durchaus Stücke gespielt werden, von denen keine Studioaufnahmen existieren, bleibt unklar, ob ein neues Studioalbum in Planung ist. Musik Musikstile In die Musik der Band fließen Elemente der Rockmusik, des Jazz, der klassischen Musik sowie der Musik außereuropäischer Kulturen ein. In Bezug auf moderne Harmonik und Rhythmik ist die Musik gewagter als von manch anderer Band des Progressive Rock. Auch innerhalb der einzelnen Alben ist sie häufig von extremen Gegensätzen geprägt. Diese Experimentierfreudigkeit sowie der weniger bombastische Klang hebt King Crimson von anderen Progressive-Rock-Bands wie Genesis, Yes oder Emerson, Lake and Palmer ab. Rock Auf den Alben der frühen 1970er Jahre sind Einflüsse des Acid Rock und Psychedelic Rock festzustellen. Titel wie In the Court of the Crimson King, In the Wake of Poseidon, Red und Teile von Lizard erinnern an den Bombast-Sound von Procol Harum, Moody Blues und Pink Floyd. So ist in Starless () über einen Mellotron-Teppich aus klaren Dur- und Moll-Akkorden (g-Moll – B-Dur – Es-Dur – c-Moll – d-Moll) ein an Pink Floyd erinnerndes Gitarrenthema gelegt. Mit Songs wie I Talk to The Wind oder Cadence and Cascade von den ersten beiden Alben sind auch akustische Balladen im Repertoire vertreten. Eher im Hardrock-Gewand geben sich 21st Century Schizoid Man vom Debütalbum (besonders auch die Live-Versionen, wie z. B. auf Earthbound), Easy Money, Red sowie die verschiedenen Teile von Larks’ Tongues in Aspic (Noten und Hörbeispiel). Hier dominieren E-Gitarren-Riffs, verzerrte Gitarrensoli und aggressiver Gesang über wuchtigem Schlagzeug- und Bassspiel. So beginnt 21st Century Schizoid Man mit einem einprägsamen Riff (). Später geht der Song in rasante Unisono-Läufe () über, die an den schnellen Teil von Deep Purples Titel Child in Time erinnern. Direkte Einflüsse aus der Blues-Musik sind sehr selten. Eher vom New Wave geprägt ist dann die manchmal an die Talking Heads erinnernde Musik der Alben der 80er Jahre. Jazz Der Einfluss der Jazz-Musik ist schon dadurch gegeben, dass einige der Musiker, die im Laufe der Jahre bei King Crimson spielten, aus dem Jazz-Umfeld stammen. So kommt der Perkussionist Jamie Muir vom Free Jazz. Adrian Belew war vor seiner Zusammenarbeit mit Fripp Gitarrist bei Frank Zappa. Der Jazz-Einfluss ist am deutlichsten in den ausgedehnten Kollektivimprovisationen der Bandbesetzung ab 1972, besonders gut auf dem hauptsächlich live eingespielten Album Starless and Bible Black zu hören. Die in die Musik einfließenden Jazzstile sind, im Gegensatz zu den Einflüssen älterer Jazzformen wie Ragtime und Swing bei den Kollegen von Emerson, Lake and Palmer, eher moderner. Hektische Bebop-Linien treffen sich mit Jazzrock, wie in One More Red Nightmare vom Album Red, und kollidieren mit Free-Jazz-Elementen. Ein Beispiel dafür bietet Keith Tippetts Klavierspiel aus dem Mittelteil von Lizard. Zu Klavier und Bass gesellen sich schnelle Jazzläufe, die sich Saxophon und Posaune gegenseitig zuwerfen (). Im rhythmisch freien, freejazzigen Titel We’ll Let You Know vom Album Starless sind über ein funkiges Bassfundament teilweise heftige „Einsprengsel“ von E-Piano, Gitarre und Schlaginstrumenten gelegt. Die Beeinflussung durch den Jazz spiegelt sich auch in Interviews mit Fripp wider: Die von ihm am häufigsten erwähnten Musiker und Bands, wie Ornette Coleman, Charlie Parker, Miles Davis, Tony Williams, Frank Zappa, Weather Report und das Mahavishnu Orchestra, stammen aus dem Bereich des Jazz oder Jazzrock. Klassik Der Einfluss klassischer Musik zeigt sich bei King Crimson kaum in Bearbeitungen klassischer Werke, wie sie sonst im Progressive Rock häufig sind. Eine Ausnahme ist der Beginn von The Devil’s Triangle auf dem zweiten Album In the Wake of Poseidon, eine kaum verhüllte Version von Gustav Holsts Mars aus seiner Suite The Planets. Der Bezug zur Klassik ist eher durch die Verwendung von im Rock selten gebrauchten Instrumenten wie Oboe, Klarinette, Flöte, Violoncello und Viola gegeben. Der Titel Song for the Gulls – A Prelude vom Album Islands wird zum Beispiel nur von einem Streichquartett ausgeführt. Auch in Trio vom Album Starless fehlt das rocktypische Instrumentarium. Eine weitere Parallele zu klassischer Musik kann in dem Bemühen der Band um den Aufbau langgezogener Spannungsbögen, dynamische Differenziertheit und die Ausarbeitung musikalischer Ideen in mehrteiligen Zyklen (Larks’ Tongues in Aspic 1 bis 4) gesehen werden. Direkte stilistische Einflüsse kommen eher aus der Musik des 20. Jahrhunderts. Hier scheinen Igor Strawinsky mit seinem Montageprinzip und seiner rhythmischen Energie, Béla Bartók mit der musikalischen Erforschung bestimmter Intervalle, der Minimalismus eines Steve Reich sowie die Klangexperimente von John Cage und anderen Komponisten Anregungen gegeben zu haben. So meinte Robert Fripp: Andere Musikkulturen Hier ist besonders die Musik des ostasiatischen Raums und speziell die indonesische Gamelan-Musik (siehe das Kapitel Rhythmische Expeditionen) zu nennen. Aber auch im melodischen Bereich sind Einflüsse aus diesen Gegenden zu hören. So erzeugt der Einsatz der pentatonischen Reihe C – D – E – G – A zusammen mit einer recht arhythmischen Gestaltung im Titel Trio auf dem Album Starless () eine chinesisch wirkende Atmosphäre. Auch in Solo-Parts der Violine auf Larks’ Tongues in Aspic I vom gleichnamigen Album ist eine asiatische Melodiegebung zu hören. Ebenso kommen aber afrikanische Polyrhythmik und orientalische Tonleitern, zum Beispiel im Titel The Power to Believe II, zum Einsatz. In Lizard wird zu einem Bolero-Rhythmus vom Klavier eine von spanischer Musik inspirierte Melodie gespielt. Auf dem Titel The Sheltering Sky vom Album Discipline spielt Bruford mit sonst für das Vibraphon verwendeten Klöppeln auf einer Schlitztrommel und verleiht dem Stück einen in Richtung Weltmusik gehenden Klang. Zwischen Konsonanz und Dissonanz Besondere Spannungsmomente gewinnt die Musik der Band durch das Nebeneinander und gelegentlich auch scharfe Aufeinandertreffen von konsonanten, harmonischen und eher dissonanten Songs oder Songteilen. Einige Titel wie Exiles, In the Court of the Crimson King, Moonchild sowie Teile von Lizard und Starless beruhen auf einfachen, reinen Dreiklängen und gängigen Akkordfolgen und Kadenzen. So hat der Anfangsteil von Lizard () eine einfache Folge von Dominante, Subdominante und Tonika zur Grundlage. Exiles auf Larks’ Tongues in Aspic () bringt gebrochene Dreiklänge des Klaviers über der Akkordfolge C-Dur – h-moll – a-moll – D-Dur – C-Dur – D-Dur. Die Ballade Moonchild stellt den Moll-Septnonakkord in den Vordergrund. Die Einleitung des Titels Vrooom auf dem Album Thrak () weist dagegen eine an Claude Debussy und Maurice Ravel angelehnte, kompliziertere Harmonik mit Terzenschichtung auf. Der Arbeit mit eher dissonanten Intervallen, wie großen Sekunden oder gar verminderten Quinten und kleinen Sekunden, schenken Fripp und seine Mitstreiter besondere Aufmerksamkeit. So bringt der Titel Pictures of a City including 42nd At Treadmill vom zweiten Album ein schnelles Gitarrenriff in verminderten Quinten beziehungsweise übermäßigen Quarten () (G – Cis, Fis – C, G – Cis, B – E, C – Fis, die Sexte B – G, G – Cis). In einem anderen Songteil spielen Gitarren und Saxophone eine punktierte Figur in kleinen Terzen (). Im folgenden Abschnitt () ist dann die dissonante Wirkung mit kleinen Sekundreibungen extrem ausgeprägt. Im ersten Takt trifft das D der Gitarre auf das Cis des Saxophons, im zweiten das H auf das C, und schließlich erklingen im vierten Takt F, Fis und Gis gleichzeitig. In diesen und anderen Titeln, wie der Liveversion von Groon, begibt sich die Musik der Band schon auf das Gebiet der freien Atonalität. In Interviews betont Fripp die Bedeutung der Kenntnis und Beherrschung in der Rockmusik eher unüblicher Skalen, was in der Musik der Band auch umgesetzt wird. Fripp: „The possibilities for extending musical vocabulary are quite immense. Since it takes three or four years to be able to work within any one scale fluently and utterly, there is more than enough work for a lifetime.“ (Die Möglichkeiten das musikalische Vokabular zu erweitern sind riesig groß. Da es drei oder vier Jahre dauert, bis man in der Lage ist, mit einer Tonleiter flüssig und fehlerfrei zu arbeiten, gibt es mehr als genug Arbeit für ein ganzes Leben.) So beruht zum Beispiel der Titel Fracture () auf der LP Starless and Bible Black auf der über dem Ton Cis errichteten Ganztonleiter. Dynamisches Spektrum Die Band verfügt über einen weiten dynamischen Ausdrucksbereich, der in der Rockmusik sonst eher selten ist. In extrem leise und sparsam instrumentierten Songs und Songteilen, wie Islands, Trio, Book of Saturday und Teilen von Lizard, wird dabei oft eine fast kammermusikalisch intime Wirkung erreicht. So beschränkt sich der Titel Lady of the Dancing Water vom Album Lizard () auf akustische Gitarre, E-Piano und Gesang, über den impressionistisch anmutende Flötenfiguren gelegt sind. In Islands werden dezente Klavierakkorde sowie Cello und leise Kornetttöne verwendet. Der Titel Trio () beschränkt sich auf lang ausgehaltene Töne von Mellotron, Violine und Bass. Den Gegensatz dazu stellen Titel wie 21st Century Schizoid Man, Fracture und der zweite Teil von Starless dar. Sie sind geprägt von harten Gitarrenriffs, verzerrten Gitarrensoli, wuchtigem Schlagzeugsound und teilweise exaltiertem Gesang. Mitunter gehen die Songs damit in Richtung der „Klangeruptionen“ des Mahavishnu Orchestra oder der von Rückkopplungen geprägten Titel von The Velvet Underground. Diese beiden Dynamikextreme können dabei im Sinne eines Crescendo und Decrescendo ineinander übergehen oder sich abrupt gegenüberstehen. Im Titel Starless () wird ein ruhiger und melodischer Part von einem dissonanteren Teil abgelöst. Dabei wird immer wieder, fast schon monoton, eine Note repetiert. Schlagzeug und Bass sowie ein an Black Sabbath erinnerndes Gitarrenriff steigern das Lautstärkeniveau, bis schließlich ein hektisches Saxophonsolo in eine wieder ruhigere Reprise des Anfangs überleitet. Im Titel Easy Money von der LP Larks’ Tongues in Aspic () ist der Dynamikwechsel dagegen sprunghaft ausgeführt. Nach harten E-Gitarren-Riffs kommt ein plötzlicher Schnitt, einige leise Beckenschläge leiten in Gesang über, der nur von wenigen auf einer unverzerrten Jazz-Gitarre gezupften Tönen begleitet wird. Rhythmische Expeditionen Speziell in den 1980er und 1990er Jahren befassen sich Fripp und seine Mitstreiter in ihren Titeln intensiv mit der Überlagerung verschiedener Metren und Rhythmen (Polymetrik und Polyrhythmik). Das wird oft dadurch erreicht, dass Fripp und Belew verschiedene, manchmal an Minimal Music und Gamelan-Musik erinnernde Muster gegeneinander setzen. So spielt im Titel Neal and Jack and Me vom Album Beat () eine Gitarre abwechselnd sich wiederholende Achtel-Figuren in Fünfer- und Achtergruppen, während die zweite Gitarre Dreiergruppen dagegen setzt, was zu einer laufenden Verschiebung der jeweils zusammentreffenden Töne führt. Nach demselben Prinzip wechseln im Titel Frame by Frame auf der LP Discipline () sechs und sieben Achtel in der einen Gitarre gegen sieben Achtel in der anderen, was im Hörergebnis zu unmerklichen, fast wie „falsch gespielt“ wirkenden Verschiebungen führt. Wechselnde Taktarten während des Songs sind, wie auch bei anderen Bands des Progressive Rock, ebenfalls üblich. So wechselt der Titel Larks’ Tongues in Aspic Part 2 () häufig zwischen einem Vier-Viertel- und Fünf-Viertel-Takt. Bill Brufords komplexes, oft durch elektronisches Schlagzeug und außereuropäische Schlaginstrumente angereichertes Spiel verstärkt noch den Eindruck rhythmischer Vielschichtigkeit. Klangexperimente und Elektronik Von Beginn an haben sich Fripp und seine Mitstreiter mit Klangexperimenten und der Erforschung und Erweiterung der klanglichen Möglichkeiten ihrer jeweiligen Instrumente beschäftigt. So sind schon auf dem ersten Album In the Court of the Crimson King Klangcollagen, wie sie seit dem Album Sgt. Pepper’s Lonely Hearts Club Band der Beatles oft verwendet wurden, zu hören. Im Schlussteil von In the Court of the Crimson King ertönt sogar eine Truhenorgel. Der Titel Moonchild geht nach zweieinhalb Minuten in ein improvisiertes psychedelisches Klang-Gemälde über. Ähnliches ist im Titel The Devil’s Triangle anzutreffen. Sinfield arbeitete in den frühen 1970er Jahren mit einem VCS3-Synthesizer. In Lizard wird eine Gitarre rückwärts abgespielt. Zusammen mit Brian Eno entwickelte Fripp dann 1972 eine als Frippertronics bezeichnete Methode zur Klangerzeugung, mittels der die Tonband-Experimente von Steve Reich modifiziert wurden. Zur Erzeugung von Frippertronics werden zwei Tonbandgeräte (Revox A77) benutzt: Das erste Gerät zeichnet das von der Gitarre stammende Eingangssignal auf. Das Tonband durchläuft dann das zweite Gerät, von wo aus das Signal wiedergegeben und dem Eingangssignal im ersten Bandgerät beigemischt wird. Der ursprünglich erzeugte Ton wird wiederholt („geloopt“) und durch den neuen Ton des Instruments ergänzt. Ein gutes Beispiel für die Frippertronics ist der Anfang des Titels Requiem vom Album Beat. Ab 1981 ersetzte Fripp die mechanische Loop-Technik der Frippertronics durch den Einsatz von Gitarren-Synthesizern und nannte die so erzeugten Klänge in Anlehnung an Murray Schafer Soundscapes. Bill Bruford hat sein Schlagzeug schon früh um diverse Klangerzeuger aus aller Welt sowie elektronisches Schlagzeug erweitert. Tony Levin und Trey Gunn benutzen den sogenannten Chapman Stick. Gunn spielt zusätzlich Warr Guitar. Außerdem spielt Levin seinen Bass gelegentlich mithilfe von Drumsticks (Funky Fingers). Texte Die Texte der ersten vier Alben stammen von Peter Sinfield. In farbiger, bildreicher, manchmal überladener Sprache wird ein mystisch-traumartiges und melancholisches Bild vergangener Zeiten mit Königen, Bischöfen, Rittern, Hofnarren und Propheten beschworen. Die Natur (Mond, Sonne, Wind, Bäume sowie maritime Motive wie Wellen, Inseln und Möwen) dient im Stil der Romantik des 19. Jahrhunderts zur Darstellung des eigenen Seelenlebens. So wird im Titel Islands eine Insel zum Bild der menschlichen Isolation. Dabei tauchen Figuren der griechischen Mythologie, wie Poseidon, Odysseus und Circe, und literarische Gestalten (Polonius aus Shakespeares Hamlet) ebenso auf wie historisch reale Personen (Platon). Andere Texte beschäftigen sich mit der Gegenwart, wie zum Beispiel 21st Century Schizoid Man, das die Zerstörungswut und Todessehnsucht der Gesellschaft anspricht. In Pictures of a City wird die Kälte und Anonymität der Großstadt, in Cat Food und Cirkus die Sensationsgier und Konsummentalität thematisiert. Dabei sind manche Titel wie Happy Family (mit Bezug auf die Beatles) und Ladies of the Road von sarkastischem Humor geprägt. Der Titel Starless and Bible Black ist ein Zitat aus Dylan Thomas’ Hörspiel Under Milk Wood (auf der Albumrückseite mit "Acknowlegement to D.T." erwähnt). Für die Texte der nächsten drei Alben war dann Richard Palmer-James zuständig. Seine Lyrik ist weniger mystisch-phantastisch als Sinfields. Sie ist eher vom europäischen Existenzialismus beeinflusst. Die Texte handeln von persönlichen Beziehungen, wie in Book of Saturday oder Starless. Palmer-James zu Book of Saturday: „It’s a kind of a love song. There’s something in it like looking over the book, in which you insert pictures, fragments of your writings, shopping-lists, memories, tickets.“ Fallen Angel zeichnet ein Bild der Gewalt der Großstadt, während Lament die verschiedenen Seiten des Lebens als Rockstar beschreibt. Palmer-James zu Lament: „Lament is a rather melancholy reflection on everything connected with the things happening when you appear on the stage and entertain the audience with your music.“ Easy Money interpretiert Palmer mit folgenden Worten: „It’s a more general thing, about all these people who are guided by the lowest motives in their lives.“ Der Titel The Night Watch, der von Rembrandt und dessen Gemälde Die Nachtwache handelt, versetzt den Hörer dagegen wieder in die Vergangenheit. Die Atmosphäre des Titels Exiles ist nach Palmers eigenen Worten vom Roman Ein Porträt des Künstlers als junger Mann des irischen Schriftstellers James Joyce beeinflusst. Nach der Wiedervereinigung der Band Anfang der 80er Jahre verfasste Sänger und Band-Gitarrist Adrian Belew die Texte von King Crimson. Die Unsicherheit und Gefährdung des modernen Lebens ist nun ein wesentliches Element. Titel wie ProZaKc Blues, Neurotica oder Cage beschreiben die Neurosen und Depressionen der heutigen Massengesellschaft. Gestörte oder sinnlos gewordene Kommunikation und Beziehungen sind das Thema von Three of a perfect pair oder Elephant talk („Talk, talk, talk, it’s only talk. Comments, cliches, commentary, controversy … it’s only talk, cheap talk“ aus Elephant talk). Gewalt ist das Thema von Thela Hun Ginjeet (ein Anagramm für „Heat in the jungle“) und Cage. Im Titel the construKction of light klingt Nihilismus an („And if god is dead what am I, a fleck of dirt on the wing of a fly…“). Das Album Beat ist von den Schriften der Beat Generation beeinflusst: Der Song Neal and Jack and Me bezieht sich auf den Schriftsteller Jack Kerouac und seinen Freund Neal Cassady. Sartori in Tangier bezieht sich auf Kerouacs Geschichte Satori in Paris. The Howler spielt vermutlich auf Allen Ginsbergs Gedicht Howl an. Der Titel The Sheltering Sky des Vorgängeralbums Discipline ist durch Paul Bowles’ gleichnamigen Roman motiviert. Cover-Art Die Cover der ersten drei Studioalben sowie der Kompilation The Young Persons’ Guide to King Crimson sind äußerst farbig und fantasiereich gestaltet. Das expressionistisch wirkende Cover des ersten Albums stammt von dem 1970 verstorbenen Künstler und Computer-Programmierer Barry Godber. Das Cover von Lizard stammt von Gini Barris. In die im Stil der mittelalterlichen Buchmalerei verzierten Buchstaben sind einzelne Songtitel illustrierende Bilder eingefügt. Dabei illustriert die Rückseite des Covers den Text des Titelsongs und die Vorderseite den der restlichen Titel. Das an den Beatles-Film Yellow Submarine erinnernde Cover von The Young Persons’ Guide To King Crimson besteht aus den beiden Bildern The Landscape Player und Earth des schottischen Künstlers Fergus Hall. Die Cover der Studioalben der 80er Jahre sind einfarbig gestaltet und enthalten neben dem Bandnamen den Albumtitel und jeweils ein Symbol. Auf dem Album Discipline sind als Symbol zwei verknotete Linien von Steve Ball dargestellt (dieses Symbol wird auch auf der DGM-Startseite als abgewandeltes Symbol genutzt), auf dem Album Beat ist als Symbol eine pixelige Note dargestellt, auf dem Album Three of a Perfect Pair wird ein abstraktes Symbol von Peter Willis genutzt, das eine männliche Sonnengottheit auf der Oberseite und eine weibliche Mondgottheit auf dem Boden darstellt – eine Annäherung von Opposition und Versöhnung, von männlichen und weiblichen Prinzipien – und eine Fortsetzung von Larks’ Tongues in Aspic ist. In jüngerer Zeit zieren die Cover markante Gemälde der englischen Malerin P. J. Crook. Rezeption Die Musik der Band wurde im Allgemeinen von den Käufern und mehr noch von Kritikern gut aufgenommen. Die Plattenverkäufe waren angesichts der Experimentierfreude der Band doch recht beachtlich. So erreichte ihr Debüt In the Court of the Crimson King Platz 5 in den britischen LP-Charts und Platz 28 in den USA. Islands erreichte Platz 30 in Großbritannien und 76 in den USA. Das Album Larks’ Tongues in Aspic von 1974 erreichte in Großbritannien Platz 20. King Crimsons Musik der 1970er Jahre bekam wegen ihrer Innovativität und musikalischen Vielfältigkeit hauptsächlich gute Kritiken. So stufte sie der Melody Maker 1969 bereits als wegweisende Band ein: „This eagerly-awaited first album is no disappointment, and confirms their reputation as one of the most important new groups for some time.“ Sie ähnele „… wegen ihrer fragilen Gruppen-Konsistenz einem Feuerrad: hell und flammend, doch von kurzer Dauer und nur durch Zentrifugalkraft zusammengehalten.“ Der Rolling Stone meinte, King Crimson „…kombinierten verschiedenartige musikalische Ausdrucksformen zu surrealistischen Werken voller Macht und Originalität.“ Das Rock-Lexikon von Schmidt-Joos/Graves lobte: „Das profunde Musikverständnis der Fripp-Combo zeigte sich in der makellosen Realisierung komplizierter Spielvorlagen mit kühnen Stilsprüngen, ausgeklügelten Klangverästelungen, effektvoll dosierten Ton-Tricks, die weit über den experimentellen Rahmen hinausgingen, in dem sich die Moody Blues oder Pink Floyd bewegten.“ Allerdings wurde die Neigung der Band zur „…artistischen Selbstgefälligkeit, die sich im Leerlauf allzu ätherischer Instrumental-Passagen erschöpft oder brillante Ideen durch häufige Wiederholung entwertet“, kritisiert. Der All Music Guide hob hervor, dass die Band sich nicht dem Mainstream anbiedere: „…the absence of mainstream compromises and the lack of an overt sense of humor ultimately doomed the group to nothing more than a large cult following, but made their albums among the most enduring and respectable of the prog rock era.“ Der Crawdaddy lobte die Verschmelzung verschiedener musikalischer Stile, die sich „…im Verlauf der LP-Produktionen von Wagnerscher Fülle zu Haydnscher Zartheit verfeinerten.“ Die Werke der Gruppe ab den 80er Jahren wurden unterschiedlich aufgenommen. So bezeichnete der Melody Maker die Reformierung der Gruppe als „schmerzlose Wiedergeburt, die mehrere Augenblicke der Größe aufweist“. Das Magazin Village Voice sah es als das „Comeback einer Traumband jedes Gitarren-Freaks“. Die New York Times freute sich auf „…eine Band, die das Genre des Artrock interessant machen könnte“. Andere Stimmen sahen eher die Wiederholung alter Muster sowie hyperintellektuelle Spielereien. Der New Musical Express kritisierte die gelegentlich exzentrischen Collagen aus Minimal Music, afrikanischer Polyrhythmik und typischen King-Crimson-Schwellklängen als „…uninspirierte und enervierende Gelecktheiten“. Die Alben der 90er Jahre fanden wieder vorwiegend – aber nicht einhellig – positive Aufnahme. So meinte der Rolling Stone zum 1994er Album Thrak: „Die schiere Körperlichkeit ihres Sounds ist beeindruckend“, und das Magazin Mojo schrieb: „Thrak ist ein kraftvolles und inspiriertes Comeback.“ THRaKaTTak wurde von der Zeitschrift Q als „…kaum anhörbar“ eingestuft, während es Ulrich Bassenge als „höchst spannende Forschungen zu den Themen Loops, Samples, Chapman-Sticks, schlagzeugspielende Gitarristen und Midi-Gitarren“ sah. Über the construKction of light im Jahr 2000 meinte der Musikexpress: „Wirres Zeug? Nur scheinbar. All das ist jenseits des Verstehens, aber diesseits des Fühlens“. Die Berliner Morgenpost goutierte anlässlich eines Konzertes im Mai 2000 die Innovationsfreudigkeit der Band mit folgenden Worten: „Nostalgie tötet, lautet die Devise, und deshalb gibt es kaum ältere Kompositionen, und wenn, dann werden sie zerstückelt und zerfrickelt und zerfrippelt bis zur Unkenntlichkeit. Das ist Heavy Metal Artrock mit Augenzwinkern und artistischen Dimensionen.“ Diskografie Literatur Eric Tamm: Robert Fripp. From King Crimson to Guitar Craft. Faber and Faber, Winchester 1990. Sid Smith: In the Court of King Crimson. Helter Skelter Publishing, London 2001, ISBN 1-900924-26-9. Bill Bruford: When In Doubt, Roll! Modern Drummer Publications, Cedar Grove 1988, ISBN 0-7935-3529-8. Tony Levin: Crimson Chronicles. Band 1. The ’80’s. Levin, Woodstock 2004, ISBN 0-9668137-1-5. Allan F. Moore: Rock. The Primary Text. Developing a musicology of rock. Buckingham Phil 1993, ISBN 0-335-09787-1. Edward L. Macan: Rocking the Classics, English Progressive Rock and the Counterculture. Oxford University Press, New York/Oxford 1997, ISBN 0-19-509888-9 (Analysiert den progressiven Rock nach klassischer Musiktheorie und Soziologie). Frank Samagaio: The Mellotron Book. ProMusic, Vallejo 2002, ISBN 1-931140-14-6. Carlos Romeo: King Crimson. Catedra, Madrid 1999, ISBN 84-376-1714-6. Einzelnachweise Weblinks Discipline Global Mobile, Seite von Robert Fripps Musik-Label mit zahlreichen Informationen über King Crimson (englisch) Elephant Talk, Newsletter zu King Crimson und Robert Fripps Projekten (englisch) Andrew Keeling: . Musikalische Analysen mehrerer King-Crimson-Alben (englisch) Progressive-Rock-Band Britische Band
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https://de.wikipedia.org/wiki/Kabinett%20M%C3%BCller%20II
Kabinett Müller II
Das Kabinett Müller II amtierte als deutsche Reichsregierung in der Weimarer Republik vom 28. Juni 1928 bis zum 27. März 1930. Sie war die zweite Große Koalition dieser Epoche. Unter dem sozialdemokratischen Reichskanzler Hermann Müller kam diese Koalition aus SPD (Sozialdemokratische Partei Deutschlands), DDP (Deutsche Demokratische Partei), Zentrum (Deutsche Zentrumspartei), BVP (Bayerische Volkspartei) und DVP (Deutsche Volkspartei) auf die längste Regierungszeit dieser politisch instabilen Republik. Die Koalition konnte einige außenpolitische Erfolge erzielen, zerbrach aber schließlich an innenpolitischen Differenzen. Sie war zugleich die letzte Regierung der Weimarer Republik, die sich auf parlamentarische Mehrheiten stützte. Die nachfolgenden Kabinette regierten mit Hilfe der Notverordnungsvollmachten des Reichspräsidenten. Wahlen Nachdem die Bürgerblock-Regierung unter Reichskanzler Wilhelm Marx an unterschiedlichen schulpolitischen Vorstellungen gescheitert war, wurden für den 20. Mai 1928 Reichstagswahlen angesetzt. Die Linksparteien SPD und KPD gingen als Sieger aus diesen Wahlen hervor. Die SPD gewann 22 Sitze hinzu und verfügte damit über 153 der 491 Reichstagssitze. Die KPD erhöhte ihre Mandatszahl von 45 auf 54. Das bürgerliche Parteienspektrum war stark in Bewegung geraten. Insbesondere die bürgerlichen Mittelparteien und die DNVP waren die Wahlverlierer. Die DNVP verfügte nicht mehr über 103, sondern nur noch über 73 Sitze. Die DVP verlor 6 Mandate und kam fortan auf 45 Sitze. Die DDP rutschte von 32 auf 25 Sitze ab. Auch das Zentrum musste 7 Sitze abgeben und verfügte nun über 62, die BVP stellte 16 Mandatsträger (vorher 19). Die NSDAP verlor 2 Mandate und stellte nunmehr 12 Reichstagsabgeordnete. Die Wahl zeigte, dass die Bindungsfähigkeit der Mittelparteien nachließ. Ein beachtlicher Teil ihrer vormaligen Wähler wandte sich von den demokratisch-liberalen Parteien ab und favorisierte reine Interessenparteien, wie die Wirtschaftspartei oder die Christlich-Nationale Bauern- und Landvolkpartei. 1924 konnten die reinen Interessenparteien zusammen 4,9 Prozent der abgegebenen Stimmen auf sich vereinigen. 1928 wuchs dieser gemeinsame Stimmenanteil auf 8,6 Prozent. Schon in der nächsten Reichstagswahl vom 14. September 1930 sollten manche dieser Wähler zur NSDAP überlaufen. Retardiert wurde diese Entwicklung durch die Sezessionen in der DNVP; 1932 gingen die Wähler der Interessenparteien dann fast restlos zur NSDAP über. Die erheblichen Verluste der DNVP führten in dieser Partei zu einer Stärkung der antidemokratischen Bestrebungen. Im Oktober 1928 wurde Alfred Hugenberg, der Führer ihres nationalistischen Flügels, Parteivorsitzender, was zu den eben erwähnten Abspaltungen führte. Regierungsbildung Die SPD als stärkste Fraktion im Reichstag sondierte die Möglichkeiten einer Regierungsbildung. Bereits 1927 hatte sie auf dem Parteitag in Kiel ihre Bereitschaft zur Regierungsverantwortung zum Ausdruck gebracht. Viele Alternativen bei der Regierungsbildung gab es nicht. Die Mandate reichten nicht, um eine Weimarer Koalition zu bilden (also ein Bündnis von SPD, Zentrum und DDP). Eine Regierung aller bürgerlichen Parteien gegen die Sozialdemokraten war ebenfalls nicht möglich, auch dafür reichte die Anzahl der Mandate nicht. Als Lösung blieb eine Große Koalition, also die Weimarer Koalition erweitert um BVP und DVP. Diese Konstellation kam rechnerisch auf 301 Mandate. Innerhalb der SPD wurde Hermann Müller für das Amt des Reichskanzlers favorisiert. Anfänglich konkurrierende Überlegungen, den preußischen Ministerpräsidenten Otto Braun in Personalunion auch zum Kanzler des Reiches vorzuschlagen, wurden rasch verworfen. Reichspräsident Paul von Hindenburg hätte lieber den DVP-Vorsitzenden Ernst Scholz als Kanzler gesehen, ließ sich jedoch von seiner Kamarilla überzeugen, die sich von einer sozialdemokratischen Kanzlerschaft mittelfristig eine Abnutzung der SPD versprach. Am 12. Juni 1928 betraute Hindenburg Müller schließlich mit der Regierungsbildung. Dennoch wirkte der Reichspräsident weiterhin bei der Regierungsbildung mit. Er setzte Wilhelm Groener als Reichswehrminister durch und lehnte die Ernennung von Joseph Wirth vom linken Zentrumsflügel zum Vizekanzler ab. Das Zentrum entsandte schließlich allein Theodor von Guérard als „Beobachter“ in das Kabinett, in dem er das Amt des Verkehrsministers übernahm. Eine volle Regierungsbeteiligung wollte das Zentrum damit nicht verbunden sehen. Auch die DVP sträubte sich. Sie wollte zunächst nur dann in die Reichsregierung eintreten, wenn sie auch in Preußen an der Regierung beteiligt würde. Sie verlangte dort die Erweiterung der Weimarer Koalition um die DVP. Erst das energische Einschreiten von Gustav Stresemann, der unter Müller wieder Außenminister wurde, führte zum Einlenken der DVP. Nachdem sich die Regierungsbildung über Wochen hingezogen hatte, trat Müller schließlich am 3. Juli 1928 mit seiner Regierungserklärung vor das Parlament. Eine formale Koalitionsregierung konnte er jedoch nicht präsentieren. Die Regierung verstand sich vielmehr als „Kabinett der Persönlichkeiten“ – die Fraktionen, aus denen die Minister kamen, behielten sich die Opposition gegen Teile der Regierungspolitik vor. Auch viele Reichstagsabgeordnete der SPD, der mit Abstand größten Regierungspartei, blieben gegenüber der neuen Regierung reserviert. Sie wünschten sich SPD-Minister als Erfüllungsgehilfen der Fraktion und der Partei. Insgesamt konnte von einer breit gesicherten Unterstützung der Regierung durch die Regierungsparteien nicht gesprochen werden. Erst am 13. April 1929 wurde aus dem „Kabinett der Persönlichkeiten“ eine klassische Koalitionsregierung auf der Basis einer Koalitionsvereinbarung. Zuvor war von Guérard zurückgetreten, um eine stärkere Ministerbeteiligung des Zentrums zu erzwingen. Dies gelang schließlich, seit April 1929 war das Zentrum mit drei Ministern vertreten. Streit um den Panzerkreuzer A Zu Beginn seiner Amtszeit geriet das neue Kabinett in eine schwere Krise. Grund dafür waren die konfliktreichen politischen Auseinandersetzungen um das Panzerschiff A in der Öffentlichkeit und in der Regierung selbst. Der Versailler Vertrag machte dem Deutschen Reich erhebliche rüstungspolitische Auflagen. Neubauten von Kriegsschiffen waren jedoch nicht gänzlich untersagt. Die Reichswehr drängte noch unter der Regierung Marx energisch auf den Bau neuer Panzerkreuzer, die angeblich als Ersatz für veraltete Einheiten gedacht waren. Während der Reichsrat sich unter der Führung Preußens im Dezember 1927 gegen den Bau ausgesprochen hatte, stimmte der Reichstag mit der damaligen Mehrheit der Bürgerblockparteien für den Bau. Der Reichsrat antwortete am Tag der Reichstagsauflösung, am 31. März 1928, mit der Forderung an das nunmehr nur noch geschäftsführende Kabinett, den Bau des Schiffes frühestens nach dem 1. September 1928 und nach erneuter Prüfung der finanziellen Lage zu bewilligen. Im Reichstagswahlkampf von 1928 hatten die Linksparteien SPD und KPD dieses Projekt scharf kritisiert und die Forderung aufgestellt, dieses Rüstungsvorhaben zugunsten von sozialpolitischen Vorhaben aufzugeben. Ihre Wahlkampfparole lautete: „Kinderspeisung statt Panzerkreuzer“. Auch die DDP hielt das Rüstungsvorhaben für ein wenig sinnvolles Prestigeprojekt der Marine. Während der Koalitionsverhandlungen drängte allerdings die DVP auf den Bau des Schiffes und berief sich auf den entsprechenden Beschluss des vorigen Reichstages. Sie wurde dabei vom Zentrum unterstützt, allerdings nur halbherzig. Die DDP hielt sich zurück. Um die Bildung der Koalition nicht zu gefährden, wurde ein Beschluss zunächst zurückgestellt. Die Frage holte das Kabinett im August 1928 wieder ein, als Reichswehrminister Groener im Kabinett den Antrag stellte, die erste Rate für den Bau des Panzerkreuzers A zu bewilligen. Dem standen nach Auskunft des Finanzministers Rudolf Hilferding auch keine finanzpolitische Bedenken entgegen. Groener drohte mit seinem Rücktritt, falls dieses Vorhaben durch die neue Regierung verhindert werde. Auch Gerüchte über einen dann folgenden Rücktritt des Reichspräsidenten erhöhten den Druck auf die sozialdemokratischen Kabinettsmitglieder. Diese wollten kurz nach ihrer Amtsaufnahme weder eine Regierungs- noch gar eine Verfassungskrise heraufbeschwören und stimmten schließlich der Bewilligung von Geldern zu. Dieser Kabinettsbeschluss stieß in der Reichstagsfraktion der Sozialdemokraten und in der Gesamtpartei auf heftige Kritik. Die KPD nutzte die Situation, um ein Volksbegehren gegen den Panzerkreuzerbau zu starten. Auf diese Weise unter Druck gesetzt, beschloss die SPD-Fraktion, einen Antrag auf Beendigung des Kriegsschiffbauprojekts zu stellen. In der Reichstagsabstimmung über diesen Antrag herrschte am 15. November 1928 strenger Fraktionszwang, so dass auch die drei SPD-Minister und der Kanzler gegen den Regierungsbeschluss stimmen mussten, den sie Wochen vorher im Kabinett noch mitgetragen hatten. Dies kam einem Misstrauensvotum gegen sich selbst gleich. Dieses Abstimmungsverhalten wurde den Sozialdemokraten in der bürgerlichen Öffentlichkeit als Mangel an Regierungsfähigkeit vorgehalten. Joseph Wirth vom Zentrum sprach offen von einer „schleichenden Krise des deutschen Parlamentarismus“. Das Abstimmungsverhalten der Sozialdemokraten konnte die Bewilligung von Geldern für den Panzerkreuzerbau zudem nicht verhindern, denn die bürgerlichen Parteien brachten eine Mehrheit gegen den SPD-Antrag auf Stopp des Rüstungsvorhabens zustande. Mitte Juni 1929 stand die zweite Rate für den Panzerkreuzer A zur Diskussion, allerdings ohne in der Öffentlichkeit für ähnliche Kontroversen zu sorgen. Im Reichstag stellte die Fraktion der KPD den Antrag, diese Rate zu streichen. Die SPD-Fraktion stimmte dem Antrag der Kommunisten zu. Die sozialdemokratischen Kabinettsmitglieder waren diesmal jedoch nicht an einen Fraktionszwang gebunden. Sie stimmten gegen den KPD-Antrag und gehörten damit zur Reichstagsmehrheit. Ruhreisenstreit Eine erste große sozial- und wirtschaftspolitische Krise musste die Große Koalition im so genannten Ruhreisenstreit bewältigen, der „größte(n) und längste(n) Aussperrung, die Deutschland bis dahin erlebt hatte“. Dieser Konflikt wurde von Oktober bis Dezember 1928 in der Eisen- und Stahlindustrie an Rhein und Ruhr ausgetragen. Erste Anzeichen einer sich eintrübenden Konjunktur waren für den regional zuständigen Metallarbeitgeberverband Anlass, gewerkschaftliche Forderungen nach einer Tariferhöhung abzulehnen und stattdessen in den entsprechenden Tarifverhandlungen nur eine Verlängerung des bestehenden Vertrags anzubieten, bei gleichzeitiger geringfügiger Erhöhung der Entgelte für Niedriglohngruppen. Die Tarifparteien konnten sich nicht einigen, so dass ein staatlich bestellter Schlichter, Oberlandesgerichtsrat Wilhelm Joetten, am 26. Oktober 1928 die Entscheidung zu treffen hatte. Die Gewerkschaften akzeptierten seinen Schlichterspruch, die Arbeitgeber lehnten ihn ab. In einem seit 1923 üblich gewordenen Rechtsverfahren konnte der Reichsarbeitsminister, im konkreten Fall jetzt der Sozialdemokrat Rudolf Wissell, den Schiedsspruch in solch einer Situation für allgemeinverbindlich erklären. Bereits am 13. Oktober 1928 hatten die Arbeitgeber ihren Belegschaften aber zum 28. Oktober gekündigt und die Betriebe geschlossen. Sie waren im Unterschied zu früher auch nicht mehr bereit, Allgemeinverbindlichkeitserklärungen zu akzeptieren, so dass am 1. November tatsächlich ca. 200.000 bis 260.000 Beschäftigte ausgesperrt waren. Die Arbeitgeber gingen außerdem gerichtlich gegen Zwangsschlichtung und Allgemeinverbindlichkeitserklärung vor. Für die Haltung der Arbeitgeber war der Inhalt des Schiedsspruchs von geringerer Bedeutung. Wichtiger war ihnen das Verfahren an sich. Stichentscheide (durch eine Person) erschienen ihnen unangemessen. Vor allem aber hielten sie das Verfahren der Allgemeinverbindlichkeitserklärung für einen Ausdruck von staatlicher Lohnfestsetzung. Die sozialpolitischen Neuerungen der Republik, zu denen der Achtstundentag, die Tarifautonomie und die mit dem Gesetz über Arbeitsvermittlung und Arbeitslosenversicherung (AVAVG) 1927 eingeführte Arbeitslosenversicherung gehörten, hielten sie – wie Allgemeinverbindlichkeitserklärungen zur Beendigung von Tarifauseinandersetzungen – für Fehlentwicklungen, die zurückgedrängt werden sollten. Zu einem Zeitpunkt, als erneut eine sozialdemokratisch geführte Regierung auf Reichsebene etabliert war, setzten die Arbeitgeber das Arbeitskampfmittel Aussperrung ein, um der „staatlichen Lohnfindung“ energisch entgegenzutreten. Die vorherigen bürgerlichen Regierungen hatten sie in dieser Hinsicht geschont. Die Öffentlichkeit reagierte überwiegend mit Ablehnung, weil die Arbeitgeber das noch laufende Schlichtungsverfahren nicht abgewartet hatten, sondern flächendeckende Kündigungen aussprachen, und weil die dann folgende Aussperrung so viele Beschäftigte betraf. Von den Ausgesperrten waren 160.000 nicht gewerkschaftlich organisiert und daher ganz ohne gewerkschaftliche Unterstützungsgelder. Leistungen aus der Arbeitslosenversicherung durften nicht gewährt werden. So warnte beispielsweise die Frankfurter Zeitung am 30. Oktober 1928: Es ist mit aller Deutlichkeit zu sagen, daß die Sabotierung eines verbindlichen Schiedsspruches durch Stillegung sich nicht etwa bloß gegen die Arbeiter, sondern gegen eine staatliche Einrichtung, also gegen den Staat richtet und daher eine Art revolutionären Aktes darstellt. Die Allgemeinheit kann sich dem unter keinen Umständen unterwerfen. Mit ihrem Vorgehen hatten die Unternehmer nicht nur große Teile der Presse gegen sich. Auch Bischöfe und Professoren veranstalteten Sammlungen für die Ausgesperrten. Einige Städte im östlichen Revier gingen dazu über, Fürsorgeleistungen an die betroffenen Arbeiter zu zahlen, ohne vorab deren individuelle Bedürftigkeit zu prüfen und ohne diese Zahlungen mit einer späteren Rückzahlungspflicht zu verbinden. Auch der Reichstag bewilligte am 17. November 1928 – mit den Stimmen der DVP – Sondermittel für die unbürokratische Unterstützung der Ausgesperrten. Erst am 4. Dezember wurde die Aussperrung aufgehoben. Diese Erfahrung führte in Teilen des schwerindustriellen Unternehmerlagers dazu, nach Alternativen zur parlamentarischen Willensbildung zu suchen und verstärkt auf autoritäre Regierungsformen zu setzen. Teilerfolge, die sie im Ruhreisenstreit erringen konnten, reichten nicht mehr aus, um sie an das parlamentarische Regierungssystem der Republik zu binden. Zu diesen Teilerfolgen zählte, dass schließlich ein Sonderschlichter, Innenminister Carl Severing, den Entscheid des Arbeitsministers zum großen Teil aufhob und am 21. Dezember 1928 einen Sonderschiedsspruch fällte, der unter dem lag, den sein Ministerkollege Wissell für verbindlich erklärt hatte. Auch das Reichsarbeitsgericht erließ am 22. Januar 1929 ein den Unternehmern entgegenkommendes endgültiges Urteil: Stichentscheide wurden darin für generell unzulässig erklärt. Das konkrete Schiedsverfahren sei überdies durch Formfehler geprägt gewesen. Radikalisierungen in der Parteienlandschaft In den Monaten der Großen Koalition vollzog sich eine Radikalisierung in Teilen der Parteienlandschaft. Auch jene Kräfte, die Parlamentarismus und Demokratie bejahten, waren von diesen Tendenzen betroffen, zumindest indirekt. Die SPD sah sich starken Angriffen von links ausgesetzt, seit die KPD sich die Sozialfaschismusthese zu eigen gemacht hatte und die Sozialdemokratie darum zunehmend zum „Hauptfeind“ machte. Auch wenn die SPD die tragende Kraft der Koalition war, nahm die Koalitionsmüdigkeit vor allem auf dem linken Flügel immer stärker zu. Neben der Kritik etwa in der Panzerkreuzerfrage spielte dabei auch die grundsätzliche Skepsis gegen ein Bündnis mit rechten Parteien eine Rolle. Ihr Reichstagsabgeordneter Max Seydewitz (später KPD und SED) äußerte, dass die Koalitionspolitik „eine große Gefahr für die Sozialdemokratie, für die Arbeiterklasse und für den Bestand der Republik“ sei. Paul Levi, ein zur SPD zurückgekehrter Mitbegründer der KPD, bezeichnete die Koalition gar als „Karikatur einer Regierung.“ Im Übrigen war ein Teil der Linken bereit, die Regierungsverantwortung bis zu einer neuen revolutionären Situation den bürgerlichen Parteien zu überlassen, hielt man doch den Bestand der Republik für gesichert. Auch wenn die Mehrheit der Partei weiter hinter der Regierung stand, machen Äußerungen wie diese deutlich, dass es selbst in der SPD erhebliche Vorbehalte gegen eine fortgesetzte Regierungsbeteiligung gab. Am anderen Ende des Parteienspektrums hatte die NSDAP bei Wahlen auf Reichsebene zwar kaum Erfolg. Bemerkenswert war jedoch ihr Abschneiden in einigen ländlichen Krisenregionen an der Westküste Holsteins; in den Kreisen Dithmarschens erreichte sie einen Stimmenanteil von fast 29 bzw. 37 Prozent. Den Nationalsozialisten gelang es auch, von anderen Rechtsparteien als legitimer Bündnispartner anerkannt zu werden, beispielsweise bei der Kampagne gegen den Young-Plan (siehe unten). Ferner gewann sie unter Studenten mehr und mehr Anhänger. Die DNVP legte sich unter dem neuen Vorsitzenden Alfred Hugenberg, der über ein großes Verlags- und Zeitungsimperium verfügte und dem als früherem Krupp-Direktor der Großteil der schwerindustriellen Spenden zufloss, auf einen kompromisslosen Kurs gegen die Republik fest. Auch das Zentrum bewegte sich mit der Wahl von Ludwig Kaas am 29. Dezember 1928 deutlich nach rechts. Kaas lehnte die Partei wieder stärker an die katholische Kirche an. Zu einem „Führertum großen Stils“ äußerte er sich öffentlich zustimmend. Auch hatte er mehrfach abschätzige Bemerkungen zur Außenpolitik Stresemanns gemacht, die er für „erledigt“ hielt. Das Zentrum wolle er von den „unberechenbaren Zufälligkeiten des parlamentarischen Wetterwechsels“ unabhängig machen. All das zeigte, dass die Partei dabei war, von republikanischen Standpunkten abzurücken. Young-Plan Außenpolitisch stand die endgültige Festsetzung der Reparationen im Vordergrund, die Deutschland nach den Bestimmungen des Versailler Vertrags leisten musste. Seit 1924 galt hier der Dawes-Plan, der allerdings keine Endsumme festgelegt hatte. Die Höhe der Zahlungen, die das Deutsche Reich mittlerweile aufbringen musste, war für die Reichsregierung angesichts sich verschlechternder Konjunkturdaten ein Motiv, auf Änderungen zu drängen. Das Ergebnis der Verhandlungen stand am 7. Juni 1929 fest: der so genannte Young-Plan, benannt nach Owen D. Young, dem Vorsitzenden der in Paris tagenden internationalen Expertenrunde. Dieser Plan sah vor, dass Deutschland bis 1988 Reparationszahlungen an die neu einzurichtende Bank für Internationalen Zahlungsausgleich in Basel zu leisten hatte. Die Kapitalsumme der Reparationen wurde auf rund 36 Milliarden Reichsmark festgelegt. Die Jahresraten sollten sich in den ersten zehn Jahren auf 2 Milliarden Reichsmark belaufen, danach ansteigen und nach 37 Jahren wieder absinken. Die jährlichen Transferleistungen wurden in zwei Teile geteilt: Ein Teil der Jahresrate war „ungeschützt“ und musste von Deutschland in jedem Fall gezahlt werden. Dieser Teil konnte in Anleihen „mobilisiert“ werden, wodurch die Gläubiger sofort Geld bekamen und Deutschland mit seinen jährlichen Zahlungen Verzinsung und Tilgung zu übernehmen hatte. Hieran hatte vor allem Frankreich großes Interesse. Der zweite, „geschützte“ Teil konnte bei ungünstigen finanziellen Rahmenbedingungen für höchstens zwei Jahre gestundet werden. In diesem Fall sollte ein Beratender Sonderausschuss zusammentreten, um die deutschen Zahlungsprobleme zu untersuchen. Ob dieser Ausschuss eine Revision des ansonsten als „endgültig“ geltenden Plans vorschlagen durfte, war zwischen deutschen und französischen Kommentatoren umstritten. Der Young-Plan sah ferner vor, dass die ausländische Kontrolle über die deutschen Finanzen, insbesondere die Reichsbank, entfiel. Überdies enthielt die Übereinkunft eine Regelung, die zur Minderung der deutschen Reparationslast führte, falls die Vereinigten Staaten auf Kriegsschulden verzichten würden, die die Alliierten im Weltkrieg bei ihnen gemacht hatten. Im Gegenzug für die deutsche Zustimmung zur Neuregelung der Reparationen kam Frankreich Deutschland in der Frage der Rheinlandbesetzung entgegen. Eine in Den Haag tagende internationale Konferenz über den Young-Plan legte hier im August 1929 vorzeitige Räumungstermine fest. Zum ersten dieser Termine wurde der 30. November 1929 bestimmt, der zweite und zugleich letzte fiel nun auf den 30. Juni 1930. Das war gegenüber den Bestimmungen des Versailler Vertrags ein Vorziehen von fünf Jahren. Ob der Young-Plan als Erfolg der Außenpolitik von Gustav Stresemann zu beurteilen sei, ist in der Forschung umstritten. Zwar entsprach die Senkung der Annuitäten ebenso den deutschen Wünschen wie der um fünf Jahre vorgezogene Abzug der ausländischen Truppen aus dem Rheinland. Dafür hatte sich Deutschland aber für die nächsten 59 Jahre zu Reparationszahlungen in einer Höhe verpflichten müssen, von der niemand sagen konnte, ob sie realistisch war. Problematisch erschien weniger die Aufbringung der Summe, als ihr Transfer: Die Reparationsgläubiger nahmen das Geld nur in Gold oder Devisen an. Da die deutsche Handelsbilanz seit Jahren passiv war, hatte man diese Devisen durch private Kreditaufnahme im Ausland beschafft. Der Young-Plan war, wie der Berliner Historiker Henning Köhler schreibt, „ein wirtschaftlicher Schönwetterplan, der nur bei weiterem Zufluss ausländischer Kredite und halbwegs befriedigender Wirtschaftslage funktionieren konnte.“ Aber eben danach sah es nach dem New Yorker Börsenkrach vom 24. Oktober 1929 nicht aus. Mit mehr oder weniger lauten Bedenken befürworteten alle Parteien der Großen Koalition den Young-Plan, der schließlich im März 1930 vom Reichstag ratifiziert wurde. Teilweise parallel zum Young-Plan wurde das Deutsch-Polnische Liquidationsabkommen verhandelt und beschlossen. Es regelte den gegenseitigen Verzicht auf finanzielle Forderungen beider Staaten und schuf Rechtssicherheit für die deutsche Minderheit in Polen. Es handelt sich dabei um einen der wenigen konkreten Schritte zur Normalisierung der Beziehung beider Staaten. Schon vorher aber hatte auf der politischen Rechten ein groß angelegter demagogischer Feldzug gegen den Young-Plan begonnen. Vor allem die vorgesehene Dauer der Reparationszahlungen wurde dabei ausgeschlachtet. Die zentrale publizistische Rolle in der Agitation übernahm Alfred Hugenberg, der seine Zeitungen auf die Anti-Young-Kampagne festlegte. Politisch wurde bereits am 9. Juli 1929 ein Bündnis gegen den Young-Plan geschmiedet, das neben der DNVP, dem Stahlhelm und dem Alldeutschen Verband einige Interessenparteien sowie auch die NSDAP umfasste. Adolf Hitler war neben Hugenberg, Stahlhelm-Führer Franz Seldte und dem Alldeutschen Heinrich Claß gleichberechtigter Partner. Dieses Parteienbündnis präsentierte ein so genanntes Freiheitsgesetz, das es auch „Gesetz gegen die Versklavung des deutschen Volkes“ nannte. Der Gesetzentwurf forderte die Aufhebung der Kriegsschuld-Artikel des Versailler Vertrags sowie die bedingungslose und sofortige Räumung des Rheinlands. Des Weiteren sollte es der Reichsregierung verboten sein, neue Lasten und Verpflichtungen gegenüber den früheren Kriegsgegnern einzugehen; und Mitgliedern der Reichsregierung drohte die Verurteilung wegen Landesverrats, sollten sie den Young-Plan unterzeichnen. Die Gesetzesinitiative scheiterte in dem Volksentscheid gegen den Young-Plan am 22. Dezember 1929 deutlich. Statt der notwendigen 21 Millionen wurden nur 5,8 Millionen Ja-Stimmen für die Initiative abgegeben. Die NSDAP konnte sich in der Kampagne gegen den Young-Plan jedoch als radikal nationalistisch profilieren. Dies bescherte ihr Erfolge bei den Wahlen auf Landesebene. Bei den Wahlen zum Badischen Landtag (27. Oktober 1929) erreichten die Nationalsozialisten 7 Prozent der Stimmen, in Lübeck kamen sie am 10. November 1929 auf 8,1 Prozent. Bei der Landtagswahl in Thüringen (8. Dezember 1929) entfielen 11,3 Prozent aller Stimmen auf die NSDAP, was erstmals zu einer Regierungsbeteiligung auf Landesebene führte – Wilhelm Frick wurde Minister für Inneres und Volksbildung. Finanzprobleme, Arbeitslosenversicherung und Bruch der Koalition Die Finanzprobleme der Regierung blieben ungelöst. Da alle Parteien der Großen Koalition die Annahme des Young-Plans durch eine Reichstagsmehrheit wollten, wurden in der Finanzpolitik grundsätzliche Lösungen nur aufgeschoben. Tragfähige Kompromisse fanden insbesondere die Flügelparteien der Großen Koalition, also DVP und SPD, kaum noch. Das erste Problem betraf die dramatischen Liquiditätsschwierigkeiten, mit denen das Reich spätestens seit Mitte 1929 mit jedem Monatsende und jedem Quartalswechsel konfrontiert wurde. Mehrfach stand es vor der Zahlungsunfähigkeit. Die nachlassende Binnenkonjunktur warf vorangegangene Steuerschätzungen über den Haufen. Außerdem sorgte sie für ein Ansteigen der Arbeitslosenzahlen, für die die Arbeitslosenversicherung nicht ausgelegt war – das Reich musste hier stetig Gelder zuschießen. Die Parteien waren sich auch beim zweiten, umfangreicheren Themenkomplex uneins. Die Vorstellungen, wie man zu einer Konsolidierung des Haushalts und zum Abbau der aufgelaufenen Staatsverschuldung kommen sollte, lagen weit auseinander. Die DVP und die hinter ihr stehenden Unternehmerverbände forderten mit Bezug auf Finanzreformen primär Ausgabensenkungen, vor allem auf dem Feld der Sozialpolitik. Dabei favorisierten sie Leistungskürzungen der Arbeitslosenversicherung. Wenn es Steuererhöhungen überhaupt geben musste, dann sollten nach Meinung der DVP möglichst Verbrauchsteuern ins Auge gefasst werden, wie zum Beispiel die Tabaksteuer, die Biersteuer oder die Branntweinsteuer. Eine Erhöhung der Direkte Steuern (zum Beispiel auf Vermögen oder Einkommen) wurde hier abgelehnt. Verbrauchsteuererhöhungen stießen bei der SPD überwiegend auf Ablehnung, die hier eine unzulässige Belastung „der Massen“ sah, die sie dann nicht mittragen wollte, wenn „die Besitzenden“ nicht auch ihren besonderen Teil zur Haushaltskonsolidierung beitrugen. Eine Erhöhung der Biersteuer wurde überdies von der Bayerischen Volkspartei durchgehend abgelehnt. Die Wege zu einer Finanzreform waren aus den gleichen Interessensgegensätzen verbaut wie die zu einer noch umfassenderen Steuerreform. Wer belastet, wer nicht belastet und wer entlastet werden sollte, war in einem Maß umstritten, dass sich handlungsrelevante gemeinsame Ansätze nicht finden ließen. Rudolf Hilferding scheiterte schließlich an diesen Themen und bat am 20. Dezember 1929 um seine Entlassung als Finanzminister. Der Präsident der Reichsbank, Hjalmar Schacht, hatte zuvor die Finanzpolitik der Regierung öffentlich als unsolide gebrandmarkt und anschließend durchsetzen können, dass 1930 450 Millionen Reichsmark zusätzlich aufzubringen waren, die dem Schuldenabbau zu dienen hatten. Die von Hilferding geplante Senkung und Abschaffung bestimmter Steuerarten war damit hinfällig. Schacht konnte diesen Schuldenabbau durchsetzen, weil die Lösung des massiven Kassenproblems zum Jahresultimo 1929 von der Reichsbank abhing. Ohne wohlwollende Haltung des Reichsbankpräsidenten war im Dezember der notwendige Kredit zur Überbrückung der Liquiditätsengpässe nicht zu beschaffen. Das dritte und die Koalition letztlich sprengende Problem war die Arbeitslosenversicherung. Dieser 1927 eingeführte Zweig der Sozialversicherung war auf das Maximum einer Unterstützung von 800.000 Arbeitslosen ausgelegt. Mit Hilfe eines Notstocks konnten noch einmal weitere 600.000 Arbeitslose versorgt werden. Der beginnende wirtschaftliche Abschwung führte jedoch rasch zu einem Anwachsen der Arbeitslosenzahlen deutlich über diese Belastungsgrenzen hinaus. Bereits im Februar 1929 wurden 2,8 Millionen Arbeitslose gezählt. Das Reich war per Gesetz gezwungen, das Defizit der Versicherung mithilfe von Zuschüssen aus dem Reichshaushalt auszugleichen. Um aus der Sackgasse einer permanenten und immer höheren Bezuschussung hinauszufinden, boten sich prinzipiell zwei Lösungen an. Zum einen hätte der Beitragssatz, der bei 3 Prozent lag, erhöht werden können. Beschäftigte und Unternehmen brachten diesen Satz zu gleichen Teilen auf. Diese Lösung wurde von den Gewerkschaften und den Sozialdemokraten vorgeschlagen. Zum anderen hätten Leistungen gekürzt werden können – das war das zentrale Ansinnen der Unternehmer und der mit ihr verbundenen DVP. Die gegensätzlichen Positionen blieben hier verhärtet. Die Gewerkschaften fürchteten einen Abbau sozialstaatlicher Errungenschaften – sie sahen schon im Ruhreisenstreit ein solches Vorhaben durchscheinen. Die Unternehmer befürchteten ihrerseits einen Verlust der internationalen Konkurrenzfähigkeit, wenn sich der Faktor Arbeit durch Beitragserhöhungen verteuern würde. Sie forderten stattdessen konstante Beitragssätze und außerdem steuerliche Entlastungen, die die Unternehmen zur Bildung von mehr Eigenkapital nutzen sollten. Trotz zahlreicher Einigungsversuche kam es zu keiner grundsätzlichen Lösung. Auch eine Novelle des AVAVG vom 12. Oktober 1929 blieb „nur ein Torso“, der das Finanzierungsproblem nicht behob. Erst am 21. Dezember 1929 wurde der Beitragssatz doch auf 3,5 Prozent angehoben. Für eine nachhaltig entlastende Wirkung sorgte aber auch diese Beitragshöhe nicht. Die Zahl der Arbeitslosen lag im März 1930 bei 3 Millionen. Die Sozialdemokraten forderten eine weitere Beitragserhöhung. Ergänzend dazu schlugen sie auch einen Solidarbeitrag der „Festbesoldeten“ vor: Die Beamten und Angestellten im öffentlichen Dienst sollten mit 3 Prozent ihres Gehalts zur Sanierung der Arbeitslosenversicherung beitragen. Diese Vorstellungen wurden von der DVP strikt abgelehnt. Dort verlangte man „innere Reformen“, also Leistungskürzungen und straffere Verwaltung. Heinrich Brüning, der Vorsitzende der Zentrumsfraktion, versuchte am 27. März 1930 noch einen Kompromiss, der die offene Frage der Reform der Arbeitslosenversicherung auf den Herbst 1930 verschob. Seine Kompromissformel ließ offen, ob ein halbes Jahr später Leistungen gekürzt, Beiträge erhöht oder Steuern zur Bezuschussung der Arbeitslosenversicherung angehoben würden. Brünings Vorschlag sah allerdings einen in seiner Höhe jetzt von vornherein begrenzten Festzuschuss des Reiches (also nicht mehr unbegrenzte Zuschüsse) vor. Dieser letzte Kompromissversuch wurde schließlich von der SPD-Fraktion abgelehnt. Die Sozialdemokraten forderten weiter eine Erhöhung der Beiträge sowie eine Beibehaltung klarer gesetzlicher Pflichten des Reiches, die Arbeitslosenversicherung in Notlagen ausreichend zu bezuschussen. In der Diskussion der SPD-Reichstagsfraktion plädierte Reichsarbeitsminister Wissell zusammen mit Vorstandsvertretern der Freien Gewerkschaften für eine Ablehnung des Brüning-Kompromisses. Hermann Müller, der für eine Annahme des Kompromisses geworben hatte, reichte nach dem Ablehnungsbeschluss der SPD-Fraktion am Abend des 27. März 1930 beim Reichspräsidenten die Demission des Gesamtkabinetts ein. Hindenburg ernannte bereits drei Tage später Heinrich Brüning zum Kanzler. Die sozialdemokratischen Minister wurden im neuen Kabinett durch Konservative und Vertraute Hindenburgs ersetzt. Brüning konnte auf das Machtmittel der Notverordnungen zurückgreifen, das der Reichspräsident Hermann Müller gezielt vorenthalten hatte. Der neue Reichskanzler machte in seiner Regierungserklärung sogleich deutlich, dass er notfalls auch ohne Parlament die aus seiner Sicht notwendigen Entscheidungen durchsetzen werde. Er drohte, den Reichspräsidenten um die Auflösung des Reichstags zu bitten, falls dieser seinen Vorstellungen nicht folgten wolle. Seit geraumer Zeit schon und mehrfach hatte die Einflussgruppe um Hindenburg, hatten Personengruppen aus der Reichswehr, Teile der Schwerindustrie und Großagrarier nach Wegen gesucht, eine Regierung ohne und gegen die Sozialdemokratie zu etablieren. Die damit einhergehende Schwächung des Parlaments war für diese Interessengruppen kein Hindernis, sondern ein notwendiger und begrüßenswerter Akt der autoritär-präsidialen Wende. Urteil der Historiker Nicht die gesamte Regierungszeit des Kabinetts Müller II wird kontrovers diskutiert, sondern nur ihr Ende. Die Streitfrage dabei lautet, wer die Hauptverantwortung dafür trägt, dass der Reichstag durch die Inthronisierung der Präsidialkabinette so erheblich an politischem Gewicht verloren hat bzw. dafür, dass die Große Koalition im März 1930 auseinanderbrach. Diese Diskussion über das Ende der Regierungszeit ist zugleich eine Diskussion über die Ausgangsbedingungen und den Stellenwert des Kabinetts Brüning I. Zwei Thesen stehen sich gegenüber. Die erste wurde vor allem durch Werner Conze formuliert. Er betonte, die Krise des Parteiensystems sei der Hauptgrund für das Scheitern der parlamentarisch verankerten Regierungen gewesen. Vor allem die Sozialdemokratie habe sich am Ende der Kanzlerschaft von Hermann Müller Kompromissen verweigert. Deshalb sei die Koalition auseinandergebrochen. Auf die Große Koalition folgte nach Conze nicht sofort der Versuch, den Parlamentarismus in Deutschland systematisch zurückzudrängen. Brüning habe stattdessen versucht, die gefährdete Demokratie in Deutschland zu retten. Die zweite, gegenteilige These geht vor allem auf die Arbeiten von Karl Dietrich Bracher zurück. Sie interpretiert die Kanzlerschaft von Heinrich Brüning als erste Stufe der Auflösung der Weimarer Republik und weist den alten Machteliten – Reichspräsident, Reichswehr, Großlandwirtschaft und Schwerindustrie – die Verantwortung für das Scheitern des Parlamentarismus zu. Bereits deutlich vor dem Ende der Regierung Müller II hätten die parlamentskritischen Positionen der alten Eliten stark in die DVP hinein gewirkt, deren Führung darum bis zuletzt zielstrebig an der Ablösung der von der Sozialdemokratie getragenen Regierung mitgewirkt habe. Die Ablehnung des Brüning-Kompromisses am 27. März 1930 durch die SPD wird gemäß dieser These gelegentlich als taktischer Fehler kritisiert, nicht aber als Grund für das Scheitern des Parlamentarismus angesehen. Die Forschungen zum Ende der Großen Koalition und zum Beginn der Präsidialkabinette machen insgesamt deutlich, wie sehr in allen Parteien, die die Große Koalition gebildet hatten, der Vorrat der innenpolitischen Kompromissbereitschaft seit Herbst des Jahres 1929 verbraucht wurde. Sie haben auch gezeigt, dass zu dieser Regierung im Frühjahr 1930 vor allem von Gegnern der Sozialdemokratie im Umfeld des Reichspräsidenten Hindenburg eine antiparlamentarische Alternative aufgebaut worden war, die die politische Stellung des Reichstags insgesamt schwächte. Das erste Präsidialkabinett Brüning war demnach nicht nur eine Folge des Scheiterns der Großen Koalition, sondern als geplante Regierungsalternative auch eine der Ursachen dieses Scheiterns. Einzelnachweise Quellen und Literatur Akten der Reichskanzlei. Das Kabinett Müller II. 28. Juni 1928 – 27. März 1930 (2 Bände). Bearb. von Martin Vogt, Oldenbourg, München 1970 (siehe Weblinks) Eberhard Kolb: Die Weimarer Republik, 2., durchges. u. erg. Aufl., Oldenbourg, München 1988. ISBN 3-486-48912-7 Peter Longerich: Deutschland 1918–1933: Die Weimarer Republik. Handbuch zur Geschichte, Fackelträger, Hannover 1995. ISBN 3-7716-2208-5 Hans Mommsen: Die verspielte Freiheit. Der Weg der Republik von Weimar in den Untergang. 1918 bis 1933, Propyläen, Berlin 1989. ISBN 3-549-05818-7 Ludwig Preller: Sozialpolitik in der Weimarer Republik. Unveränd. Nachdr. d. erstmals 1949 erschienenen Werkes, mit e. Nachw. u. e. Auswahlbibliogr. zur Taschenbuchausg. von Florian Tennstedt, Athenäum-Verlag, Droste, Kronberg/Ts. und Düsseldorf 1978. ISBN 3-7610-7210-4 Klaus Schönhoven: Reformismus und Radikalismus. Gespaltene Arbeiterbewegung im Weimarer Sozialstaat, Dt. Taschenbuch-Verl., München 1989. ISBN 3-423-04511-6 Helga Timm: Die deutsche Sozialpolitik und der Bruch der großen Koalition im März 1930 (Beiträge zur Geschichte des Parlamentarismus und der politischen Parteien, Bd. 1), Droste Düsseldorf 1953. Bernd Weisbrod: Schwerindustrie in der Weimarer Republik. Interessenpolitik zwischen Stabilisierung und Krise, Hammer, Wuppertal 1978. ISBN 3-87294-123-2 Heinrich August Winkler: Arbeiter und Arbeiterbewegung in der Weimarer Republik. Der Schein der Normalität. 1924-1930, Dietz, Berlin/Bonn 1985. ISBN 3-8012-0094-9 Heinrich August Winkler: Weimar 1918–1933. Die Geschichte der ersten deutschen Demokratie, 2., durchges. Aufl., Beck, München 1994. ISBN 3-406-37646-0 Heinrich August Winkler: Der lange Weg nach Westen, Bd. 1: Deutsche Geschichte vom Ende des Alten Reiches bis zum Untergang der Weimarer Republik, Beck, München 2000. ISBN 3-406-46001-1 Weblinks bzw. als bundesarchiv.de: Das Kabinett Müller II (1928-1930). Herausgegeben für die Historische Kommission bei der Bayerischen Akademie der Wissenschaften von Karl Dietrich Erdmann und für das Bundesarchiv von Wolfgang A. Mommsen (bis 1972), 1970. ISBN 978-3-486-41542-1. Muller #02 Kabinett mit SPD-Beteiligung
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https://de.wikipedia.org/wiki/Julia%20Domna
Julia Domna
Julia Domna († Frühjahr 217 in Antiocheia) war die zweite Frau des römischen Kaisers Septimius Severus (193–211) und die Mutter der Kaiser Caracalla (211–217) und Geta (Mitherrscher 211). Julia Domna stammte aus Syrien. Nach dem Tod ihres Mannes konnte sie den Machtkampf zwischen ihren beiden Söhnen nicht verhindern. Caracalla nutzte ihre Vermittlungsbereitschaft, um seinen Bruder in eine Falle zu locken; bei einem vorgeblichen Versöhnungsgespräch ließ er Geta in Julias Anwesenheit ermorden. Unter der anschließenden Alleinherrschaft Caracallas wurde sie weiterhin hoch geehrt, schon zu Lebzeiten wurde ihr wie einer Göttin gehuldigt. Nachdem Caracalla am 8. April 217 einem Mordanschlag zum Opfer gefallen war, wählte sie angeblich den freiwilligen Hungertod. Die frei erfundene Legende von einer sexuellen Beziehung Julias mit Caracalla beschäftigte die Phantasie der Nachwelt. Leben Herkunft, Heirat und Mutterschaft Julia Domna stammte aus einer sehr reichen und angesehenen Familie der syrischen Stadt Emesa (heute Homs). Ihr Vater Iulius Bassianus übte das Amt des Oberpriesters des Sonnengottes Elagabal aus, das in der Familie erblich war. Der Elagabal-Kult spielte im religiösen Leben der Stadt eine zentrale Rolle. Der Name Domna ist semitischen Ursprungs. Seine Übereinstimmung mit dem lateinischen Wort dom(i)na (Herrin) ist zufällig; es handelt sich nicht, wie früher angenommen wurde, um eine Latinisierung des aramäischen Namens Martha („Herrin“). Als Julias Ehe mit dem künftigen Kaiser Septimius Severus beschlossen wurde, war sein Aufstieg noch nicht abzusehen. Severus, der aus Leptis Magna in Nordafrika stammte, amtierte in den frühen achtziger Jahren als Legat einer in Syrien stationierten Legion, der Legio IIII Scythica. Wohl in der Zeit dieses Syrienaufenthalts kam er mit der Familie seiner künftigen Frau in Kontakt. Er soll sich für Julia als Gemahlin entschieden haben, weil ihr Horoskop ihr einen Herrscher als Gatten verhieß. Diese Überlieferung kann einen historischen Kern haben, denn Severus legte zeitlebens großen Wert auf Vorzeichen und Wahrsagung. Es kann sich aber auch um eine nachträgliche Erfindung handeln, deren Urheber dann wohl Severus selbst war. Für Severus war es die zweite Ehe. Ab 186 war er Statthalter der Provinz Gallia Lugdunensis. Daher musste Julia von ihrer syrischen Heimat nach Gallien übersiedeln. Die Hochzeit fand 187 in Lugdunum – dem heutigen Lyon – statt. Lugdunum war der Verwaltungssitz der Gallia Lugdunensis. Am 4. April 188 wurde Julias erster Sohn Caracalla in Lugdunum geboren. Nach dem Ende der Statthalterschaft in Gallien verlegte die Familie ihren Wohnsitz nach Rom. Dort wurde am 7. März 189 der jüngere Sohn Geta geboren. Außerdem soll Severus zwei Töchter aus seiner ersten Ehe gehabt haben. Als er 191 Statthalter der Provinz Oberpannonien wurde, musste er seine Kinder in Rom zurücklassen. Ob Julia ebenfalls in Rom blieb oder mit ihrem Mann in Oberpannonien lebte, ist unbekannt. Im Verlauf der Wirren des „zweiten Vierkaiserjahrs“ 193 griff Severus nach der Kaiserwürde, da der in Rom von den Prätorianern eingesetzte Kaiser Didius Julianus kaum Autorität hatte. Am 9. April 193 wurde Severus in Carnuntum von seinen Truppen zum Kaiser ausgerufen. Anschließend zog er nach Italien, wo er sich schnell durchsetzte. Am 9. Juni hielt er seinen Einzug in Rom. Julia erhielt nun den Titel Augusta. Rolle als Kaiserin Als Kaiserin begleitete Julia ihren Mann auf mehreren Reisen und Feldzügen. Im Bürgerkrieg mit dem Gegenkaiser Pescennius Niger (193–194) begab sich die Kaiserfamilie nach Kleinasien, wo die militärische Entscheidung fiel. Von 195 bis 196 dauerte der mit dem ersten Partherkrieg des Severus verbundene zweite Orientaufenthalt der Kaiserfamilie. Seit dem 14. April 195 oder 196 trug die Kaiserin den Ehrentitel mater castrorum („Mutter des Feldlagers“) nach dem Vorbild der Faustina, der Frau des Kaisers Mark Aurel, als dessen Adoptivsohn sich Severus ausgab. Schon 197 begab sich Severus mit seiner Familie erneut in den Osten, um einen weiteren Feldzug gegen die Parther durchzuführen. Diesmal dauerte der Orientaufenthalt mehrere Jahre. 199 reiste die Kaiserfamilie nach Ägypten, wo sie bis 200 blieb. Erst 202 kehrte sie nach Rom zurück. 202–203 hielt sich die Familie in Severus’ nordafrikanischer Heimat auf. Auch bei der letzten militärischen Unternehmung des Kaisers, dem von 208 bis 211 dauernden Britannienfeldzug, nahm er seine Frau und seine beiden Söhne mit. In der öffentlichen Selbstdarstellung des Severus spielte der dynastische Gedanke und damit die Kaiserfamilie eine zentrale Rolle, wie Münzen und Ehrenbögen zeigen. Der Öffentlichkeit wurde das Bild einer harmonischen, vorbildlichen Herrscherfamilie vermittelt, die Kontinuität und Stabilität gewährleistete. Auf Münzen wurde die „Ewigkeit der (kaiserlichen) Herrschaft“ (aeternitas imperii) – ein neu eingeführter, auf die Dynastie bezogener Ausdruck – verkündet und die „ewige Eintracht“ (concordia aeterna) betont. In diesem Rahmen fiel der Kaiserin die Rolle eines Symbols von Glück (felicitas) und Eintracht (concordia) zu. Nur auf Julias Münzen, nicht auf denen des Kaisers wurde der Vesta-Tempel abgebildet, der unter Severus nach einem Feuer neu errichtet worden war. Ob daraus gefolgert werden kann, dass der Wiederaufbau unter ihrer Leitung stand, ist umstritten. Auffallend ist die sehr große Zahl der Ehreninschriften für Julia sowohl aus der Regierungszeit des Severus als auch aus der Caracallas; für keine andere Kaiserin sind mehr Ehrungen bezeugt. Ein gefährlicher Gegner Julias war der Prätorianerpräfekt Plautian, ein Landsmann des Kaisers aus dessen libyscher Heimatstadt Leptis Magna, der eine außerordentliche Machtstellung errang. Sein Einfluss war so groß, dass Severus im April 202 den Thronfolger Caracalla gegen dessen Willen mit Plautians Tochter Fulvia Plautilla verheiratete. Plautian konnte es sich sogar erlauben, die Kaiserin respektlos zu behandeln. Er sammelte angebliches Belastungsmaterial, mit dem er ihr einen unanständigen Lebenswandel nachweisen wollte, und intrigierte beim Kaiser gegen sie. Dadurch wurde sie in die Defensive gedrängt und sah sich zeitweilig zu einer zurückgezogenen Lebensweise gezwungen. Erst 205 wendete sich das Blatt, als es Caracalla gelang, den Prätorianerpräfekten mit einer Intrige zu stürzen und töten zu lassen. Nach der Ausschaltung Plautians konnte Julia ihren Einfluss ausbauen. Die folgenden Jahre waren aber von dem Konflikt zwischen ihren beiden Söhnen überschattet. Caracalla und Geta sollten nach dem Willen ihres Vaters künftig gemeinsam herrschen, aber sie hassten und bekämpften sich. Alle Versuche, die beiden zu versöhnen, blieben erfolglos. Das Krisenjahr 211 Nachdem Septimius Severus am 4. Februar 211 auf dem Britannienfeldzug in Eboracum (heute York) gestorben war, übernahmen Caracalla und Geta die Herrschaft. Sie brachen den Feldzug ab und kehrten mit Julia nach Rom zurück. Wegen der Todfeindschaft der Brüder trieb das Reich auf einen Bürgerkrieg zu. Der Geschichtsschreiber Herodian berichtet, es sei sogar eine Reichsteilung erwogen worden, wobei Geta die östliche Reichshälfte erhalten hätte; angeblich widersetzte sich Julia diesem Vorhaben und brachte es zum Scheitern. Es ist aber unwahrscheinlich, dass ein solcher Plan bestand; falls es ihn gab, war er von vornherein chancenlos, denn Caracalla war entschlossen, die Alleinherrschaft zu erringen. Im Dezember 211 gelang es Caracalla schließlich, den Bruder in einen Hinterhalt zu locken. Er täuschte Verhandlungsbereitschaft vor und bewog Julia, Geta zu einem Versöhnungsgespräch einzuladen. Leichtsinnigerweise meinte Geta, in Anwesenheit der Mutter vor seinem Bruder sicher zu sein, und erschien ohne seine Leibwache. Caracalla ließ ihn sofort in den Armen der ahnungslosen Julia töten, wobei auch sie verletzt wurde. Anschließend wurde über Geta die damnatio memoriae verhängt. Wer um ihn trauerte, musste dies mit dem Leben bezahlen. Auch Julia durfte keine Trauer zeigen. Rolle unter Caracalla Wahrscheinlich war nach dem Mord an Geta das Verhältnis zwischen Julia und Caracalla unheilbar zerrüttet. Äußerlich wurde sie aber weiterhin hoch geehrt; sie hatte ihren eigenen Hofstaat und eine Leibgarde aus Prätorianern. Ihre Ehrungen überstiegen das bisher den Kaiserinnen zugebilligte Ausmaß. Auf Inschriften und auf Münzen wurde Julia nicht nur Mutter des Feldlagers, sondern auch Mutter des Senats und des Vaterlands genannt; sie war die erste Angehörige einer Kaiserfamilie, die diesen erweiterten Ehrentitel erhielt. Als erste Frau wurde sie mit dem Titel Pia Felix geehrt, der zuvor nur in der männlichen Form Pius Felix in der Kaisertitulatur vorgekommen war. Ihre Aufgabe war die Prüfung der Bittschriften und die Erledigung der lateinischen und griechischen Korrespondenz des Kaisers. Inwieweit sie auf die Reichsverwaltung Einfluss nehmen konnte, ist nicht bekannt. Caracalla interessierte sich in erster Linie für militärische Angelegenheiten, aber es ist nicht anzunehmen, dass er die Verwaltung weitgehend dem Ermessen seiner Mutter überließ; vielmehr behielt er sich alle wesentlichen Entscheidungen vor. Trotzdem hatte Julia aufgrund der ständigen Distanz ihres Sohnes, insbesondere während des Krieges mit Parthia, alle Pflichten und Befugnisse der Regierung inne. Cassius Dio behauptet, Julia habe die schwere Belastung des Staatshaushalts durch Caracallas Großzügigkeit gegenüber den Soldaten missbilligt und ihm deswegen Vorhaltungen gemacht, aber nichts erreicht. Auch sonst habe sie ihm immer wieder kluge Ratschläge erteilt. Anstelle ihres Sohnes antwortete Julia auch auf Petitionen des Senats und des gesamten Reiches und unterzeichnete Dokumente. Kulturelle Aktivität Für das geistige Leben war Julia sehr aufgeschlossen. Schon zu Lebzeiten ihres Mannes bildete sich um sie ein Kreis von Literaten und philosophisch Interessierten. Zu ihnen gehörte der Schriftsteller Flavius Philostratos, der eine Lebensbeschreibung des neupythagoreischen Philosophen Apollonios von Tyana verfasste, was seinen Angaben zufolge auf Julias Wunsch geschah. Er vollendete das romanhaft ausgestaltete Werk aber erst nach ihrem Tod. Philostratos bezeichnete die Kaiserin als Philosophin und erwähnte, dass sie rhetorische Betätigung schätzte und förderte und auf einen gepflegten literarischen Stil besonderen Wert legte. In einem Brief an Julia, dessen früher bezweifelte Echtheit heute als gesichert gilt, verglich er sie mit der berühmten Athenerin Aspasia. Der Brief vermittelt einen Eindruck von den Interessen des Literatenkreises: Philostratos verteidigte die Sophisten, insbesondere den berühmten Redner Gorgias von Leontinoi, und ihren üppigen, kunstvollen Stil gegen die Kritik Plutarchs. Anscheinend bevorzugte Julia einen einfacheren Stil. Der Brief setzt voraus, dass die Kaiserin über ausreichende Bildung verfügte, um Philostratos’ literarische Bezugnahmen zu verstehen und zu würdigen. Allerdings ist mit der Möglichkeit zu rechnen, dass er den Brief nicht abgeschickt hat. Die Intellektuellen pflegten die Kaiserin wohl auf Reisen zu begleiten. Zu der Gruppe zählten neben Philostratos der Sophist Philiskos von Thessalien, dem Julia den Rhetoriklehrstuhl in Athen verschaffte, und vermutlich der spätere Kaiser Gordian I.; weitere Namen sind nicht bekannt. Letzter Orientaufenthalt und Tod Im Jahr 214 begab sich Caracalla mit seiner Mutter in den Osten, wo er einen neuen Krieg gegen die Parther beginnen wollte. Während er 216 einen wenig ergiebigen Feldzug unternahm und den folgenden Winter in Edessa verbrachte, blieb Julia in der Großstadt Antiocheia. Dort erhielt sie die Nachricht vom Tod ihres Sohnes; am 8. April 217 war Caracalla einem Attentat zum Opfer gefallen, das der Prätorianerpräfekt Macrinus organisiert hatte. Macrinus wurde vom Heer zum Kaiser ausgerufen. Mit Caracallas Tod starb die männliche Nachkommenschaft von Severus und Julia aus. Der Herrschaftsantritt des neuen Kaisers Macrinus bedeutete einen Dynastiewechsel, die severische Familie war entmachtet. Aus Schmerz über diese Vorgänge fügte sich Julia selbst eine Brustverletzung zu. Macrinus behandelte sie zunächst großzügig. Er sandte ihr ein freundliches Schreiben und beließ ihr ihren Hofstaat und ihre Leibgarde. Daraufhin soll sie Hoffnung auf eine Schicksalswende geschöpft haben. Macrinus hatte im Heer wenig Rückhalt, Caracalla hingegen hatte sich bei den Soldaten größter Beliebtheit erfreut. Daher schätzte Julia den neuen Kaiser als schwach ein und beantwortete seinen Brief nicht. Sie plante ihn zu beseitigen und dann wieder eine Rolle im Zentrum der Macht zu spielen. Als Macrinus bemerkte, dass sie gegen ihn tätig war, befahl er ihr, Antiocheia zu verlassen. Darauf nahm sie keine Nahrung mehr zu sich, bis sie – offenbar noch im Frühjahr 217 – starb. Angeblich wählte sie den Tod wegen des endgültigen Verlustes ihrer Nähe zur Macht; auch eine Verschlimmerung ihrer Erkrankung an Brustkrebs soll eine Rolle gespielt haben. Ikonographie Ikonographisch ist das Ausmaß der Verehrung der Kaiserin daran erkennbar, dass ihre Darstellung schon zu ihren Lebzeiten der einer Gottheit angeglichen wurde. „Theomorphe“ (gottförmige) Bildnisse zeigen Julia u. a. als Ceres oder Juno, Victoria, Tyche oder als die Mondgöttin Luna. Das bedeutet, dass die Auftraggeber solcher Darstellungen sie mit der Göttin identifiziert oder als deren Vergegenwärtigung aufgefasst haben. Theomorphe Bildnisse sind aber keine Beweise für eine offizielle Vergöttlichung zu Lebzeiten. Eine Gleichsetzung Julias mit der Himmelsgöttin (Dea Caelestis) ist nur auf einer privaten Weihinschrift eindeutig bezeugt. Die Anfänge der Vergöttlichung und kultischen Verehrung des lebenden Kaisers reichen in die frühe Kaiserzeit zurück, Einbeziehung der Kaiserfamilie ist schon im 1. Jahrhundert bezeugt. Es handelt sich also nicht um eine Neuerung der Severer. Für die Zeit des Severus lässt sich eine verbreitete Götterangleichung beobachten, die sich auf die Gesamtheit der Kaiserfamilie, die domus divina, erstreckte. Allerdings handelte es sich meist nur um eine vage Zuordnung zu einem göttlichen Bereich. Nur in einer Minderzahl der Fälle wurde eine lebende Person direkt vergöttlicht, indem sie ausdrücklich und konkret mit einer Gottheit gleichgesetzt wurde. Die inschriftlichen Belege für kultische Verehrung stammen nur aus den Provinzen, nicht aus Rom oder Italien. Für die Kaiserin war die Götterangleichung verbreiteter als für den Kaiser. Die Darstellung Julia Domnas als Gottheit schon zu ihren Lebzeiten geschah meist auf lokale Initiative. Eine planmäßige Steuerung der lokalen Aktivitäten seitens des Kaiserhauses ist nicht erkennbar. Rezeption Drittes Jahrhundert Julia Domnas Vorhaben, Macrinus zu entmachten, war schon in der Anfangsphase gescheitert. Erfolgreicher war ihre energische und machtbewusste Schwester Julia Maesa, die Großmutter der künftigen Kaiser Elagabal und Severus Alexander. Sie fand sich mit den neuen Verhältnissen nicht ab, sondern agitierte gegen Macrinus. Elagabal wurde als unehelicher Sohn Caracallas ausgegeben. So gelang es schon im Frühjahr 218, Truppen, die der Severerdynastie ergeben waren, zur Rebellion zu bewegen, Macrinus zu stürzen und den erst vierzehnjährigen Elagabal zum neuen Kaiser zu machen. Damit fiel Julia Maesa eine politische Schlüsselrolle zu. Der Leichnam Julia Domnas wurde nach Rom gebracht und dort zunächst im Augustusmausoleum beigesetzt, später jedoch auf Veranlassung von Julia Maesa ins Hadriansmausoleum überführt, wo Septimius Severus bestattet war. Sie wurde im Rahmen des Kaiserkults zur Gottheit erhoben; dies geschah vielleicht schon unter Macrinus, spätestens unter Elagabal. Die zeitgenössischen Geschichtsschreiber Cassius Dio und Herodian zeichnen ein gesamthaft positives Bild von Julia. Cassius Dio, der als Senator gut informiert war, stellt sie als kluge Ratgeberin dar, die sich der Philosophie widmete; bei Herodian tritt sie beherzt für die Einheit des Reichs ein und verhindert dessen Teilung. Schon zu Caracallas Lebzeiten kursierten anscheinend Gerüchte, denen zufolge er nach dem Tod seines Vaters eine sexuelle Beziehung zu seiner Mutter hatte. Die als spottlustig bekannten Einwohner der Stadt Alexandria in Ägypten verglichen Julia Domna mit Iokaste, der Mutter des mythischen Königs Ödipus, der seinen Vater erschlagen und dann seine Mutter geheiratet hatte. Dabei handelte es sich um eine von Gegnern Caracallas verbreitete Verleumdung. In Wirklichkeit war das Verhältnis zwischen Mutter und Sohn nach dem Tod Getas schwer belastet, und nach Cassius Dios Bericht hat sie Caracalla sogar gehasst. Inzest war ein Topos der Tyrannendarstellung und wurde schon Nero unterstellt. Spätantike Ab dem 4. Jahrhundert fand der Klatsch über Julias angebliche sexuelle Beziehung zu ihrem Sohn in weiten Kreisen Glauben, er wurde von vielen Autoren übernommen und verbreitet und dabei phantasievoll umgewandelt, erweitert und ausgeschmückt. Die meisten spätantiken Geschichtsschreiber, darunter Aurelius Victor, Eutropius und der unbekannte Verfasser der Epitome de Caesaribus, machten aus Julia Domna die Stiefmutter Caracallas und behaupteten, er habe sie geheiratet. Nach dieser Überlieferung war er ein Sohn der Paccia Marciana, der ersten Gattin des Severus, nur Geta entstammte der Ehe des Kaisers mit Julia. Die Heiratslegende übernahm auch der Verfasser der Historia Augusta, einer Sammlung von Kaiserbiographien, wobei er sie in unterschiedlichen Varianten wiedergab. In der Lebensbeschreibung des Severus behauptete er, Julia sei nicht Stiefmutter gewesen, sondern Caracalla habe seine leibliche Mutter geheiratet. In der Biographie Caracallas hingegen bezeichnete er sie als Stiefmutter, die Caracalla geheiratet habe, nachdem er kurz zuvor ihren leiblichen Sohn Geta ermordet hatte. Die Legende von der Heirat mit der Stiefmutter fand auch bei christlichen Autoren der patristischen Zeit Glauben; Orosius und Hieronymus haben sie übernommen. Sie prägte dauerhaft das Bild Caracallas als eines hemmungslosen Unholds. Bei Aurelius Victor und in der Caracalla-Biographie der Historia Augusta erscheint Julia als schamloses Weib, das den Stiefsohn verführt. Solche Schilderungen entsprachen offenbar den Erwartungen des Lesepublikums. Als Rechtfertigung wurde ihr in den Mund gelegt, dass ihm das, was er begehre, erlaubt sei. Dies war eine Anspielung auf den juristischen Grundsatz, dass der Kaiser an bestimmte gesetzliche Vorschriften nicht gebunden ist oder – verallgemeinert – über dem Gesetz steht. Der berühmte Jurist Ulpian, ein Zeitgenosse Caracallas, hatte diesen Gedanken mit den später berühmten Worten „Der Kaiser ist von den Gesetzen entbunden“ (Princeps legibus solutus est) ausgedrückt. In der Frühzeit des Prinzipats war es bei der rechtlichen Sonderstellung des Kaisers speziell um seine Dispensation von einzelnen zivilrechtlichen Bestimmungen gegangen, doch zu Caracallas Zeit hatte das Prinzip einer übergesetzlichen Stellung des Herrschers allgemeine Geltung erlangt. Ferner wurde Julia Domna von spätantiken Autoren des Ehebruchs und der Verschwörung bezichtigt. Bei diesen Unterstellungen dürfte es sich um freie Erfindungen handeln. Der Ausgangspunkt der Legendenbildung war möglicherweise die von Cassius Dio überlieferte Nachricht, Plautian habe als erbitterter Feind Julias Nachforschungen über ihren Lebenswandel angestellt, um sie bei ihrem Mann anzuschwärzen. In der Historia Augusta wird behauptet, die Entscheidung des Severus, den Bürgerkrieg mit seinem Rivalen Clodius Albinus zu beginnen, sei vor allem auf Julias Einfluss zurückzuführen. Albinus hatte sich im Jahr 193 Hoffnungen auf die Kaiserwürde gemacht, war aber von Severus mit dem Caesartitel und der Aussicht auf die Nachfolge abgefunden worden. Diese Regelung wurde hinfällig, als Severus 195/196 klar zu erkennen gab, dass er die Nachfolge seinen Söhnen vorbehielt. Daher brach der 193 noch vermiedene Bürgerkrieg zwischen Severus und Albinus aus. Frühe Neuzeit Um die Wende vom 16. zum 17. Jahrhundert verfasste ein unbekannter englischer Dichter das lateinische Universitätsdrama Antoninus Bassianus Caracalla in jambischen Senaren. Er ließ Caracalla und Julia Domna die Ehe schließen. Da in diesem Drama Julia die leibliche Mutter Caracallas ist, handelt es sich um einen Inzest. Ein sehr vorteilhaftes Bild von Julia zeichnete im 18. Jahrhundert Edward Gibbon. Er meinte, sie habe über eine außergewöhnliche Festigkeit des Geistes und Urteilskraft verfügt, habe in den Staatsangelegenheiten mit Klugheit und Mäßigung eine Lenkungsfunktion wahrgenommen und sich durch Kulturförderung hervorgetan. Moderne Bei modernen Historikern war bis ins 20. Jahrhundert die heute überholte Auffassung verbreitet, mit dem Auftreten Julia Domnas habe im Zentrum des Römischen Reichs eine verhängnisvolle Orientalisierung eingesetzt, die sich in der späteren Severerzeit verstärkt habe. Ein solches Bild zeichnete beispielsweise Franz Altheim (1952), der Julias Einfluss und ihre orientalische Mentalität betonte. Er meinte, ohne Julia sei die Herrschaft des Severus und Caracallas „nicht zu denken“. Auch Ernst Kornemann (1958) ging von einer mit Julias Rolle zusammenhängenden Orientalisierung aus; charakteristisch sei die „ins Göttliche erhobene dynastische Stellung des Kaiserhauses“, die „echt hellenistisch-orientalisch die Frau in den Vordergrund schiebt“. Julia habe die Entwicklung des Reiches „aufs nachhaltigste mitbestimmt“. Sehr hoch veranschlagte auch Alfred Heuß (1960) die Bedeutung der Kaiserin. Er wertete sie aber positiv, denn er sah in Julia Domna und den weiblichen Mitgliedern ihrer Familie einen gewichtigen stabilisierenden Faktor. Ihnen sei es gelungen „zu verhindern, daß bereits nach dem Tod des Severus das Kaisertum zu dem Spielball disparater Kräfte wurde, den es während des folgenden halben Jahrhunderts mit geringen Unterbrechungen abgeben sollte“. Erich Kettenhofen (1979) betonte die Kontinuität der Entwicklung des kaiserzeitlichen Herrscherbegriffs; er stellte fest, ein „Einbruch orientalischer Herrschaftsbegriffe und Kultformen“ unter dem Einfluss der syrischen Frauen sei „nur schwer nachweisbar“. Karl Christ (1988) war der Ansicht, Julia Domna sei „bereits stark romanisiert“ gewesen; erst mit ihrer Schwester Julia Maesa und deren Nachkommen sei der Einfluss orientalischer Mentalität in Rom „zu weltgeschichtlicher Wirkung“ gekommen. Julia Domnas Biographin Barbara Levick (2007) kommt zum Ergebnis, die historische Bedeutung der Kaiserin basiere nicht auf ihrer persönlichen Initiative und ihren einzelnen Entscheidungen. Wichtig war vielmehr nach Levicks Ansicht in erster Linie, dass Julia die prominente Rolle, die sie in der öffentlichen Selbstdarstellung der Dynastie zu spielen hatte, zuverlässig ausfüllte und mit ihrer Loyalität einen wichtigen Beitrag zur Stabilisierung der prekären Herrschaft der Severer leistete. Literatur Annelise Freisenbruch: Caesars’ Wives. Sex, Power, and Politics in the Roman Empire. Free Press, New York 2010, ISBN 978-1-4165-8303-5, S. 179–201. Erich Kettenhofen: Die syrischen Augustae in der historischen Überlieferung. Ein Beitrag zum Problem der Orientalisierung. Habelt, Bonn 1979, ISBN 3-7749-1466-4. Julie Langford: Maternal Megalomania. Julia Domna and the Imperial Politics of Motherhood. Johns Hopkins University Press, Baltimore 2013, ISBN 978-1-4214-0847-7. Barbara Levick: Julia Domna. Syrian Empress. Routledge, London 2007, ISBN 978-0-415-33143-2. Sonja Nadolny: Die severischen Kaiserfrauen. Franz Steiner, Stuttgart 2016, ISBN 978-3-515-11311-3 Arthur Stein, Leiva Petersen (Hrsg.): Prosopographia Imperii Romani. 2. Auflage. Teil 4, de Gruyter, Berlin 1952–1966, S. 312–315 (I 663). Ikonographie Klaus Fittschen, Paul Zanker: Katalog der römischen Porträts in den Capitolinischen Museen und den anderen kommunalen Sammlungen der Stadt Rom. Band 3. Philipp von Zabern, Mainz 1983, ISBN 3-8053-0582-6, Textband S. 27–30, Tafelband Tafeln 38–40 (Nr. 28–31) Weblinks Anmerkungen Kaiserin (Römisches Reich) Severer Person (Homs) Geboren im 2. Jahrhundert Gestorben 217 Frau
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https://de.wikipedia.org/wiki/Baumpieper
Baumpieper
Der Baumpieper (Anthus trivialis) ist eine Vogelart aus der Familie der Stelzen und Pieper (Motacillidae). Der im Sommer in Mitteleuropa früher häufige, optisch unauffällige Vogel ist vor allem an Waldrändern und -lichtungen zu beobachten, da er neben einem Bestand an hohen Bäumen und Sträuchern auch offene, mit hoher Vegetation bestandene Flächen benötigt. Er fällt dort vor allem durch seinen Gesang auf. Der Baumpieper ist ein Weitstreckenzieher, der in der Vegetationszone der Hochgras-Savannen West- und Ostafrikas überwintert. In Deutschland und der Schweiz steht der Baumpieper auf der Liste der bedrohten Singvögel und gilt auch in Kulturlandschaften als vom Aussterbens bedroht. Name Trotz seines unscheinbaren Erscheinungsbildes fällt der Baumpieper auf, da er von exponierten Singwarten aus oder im Singflug seine für den Menschen hell und heiter wirkenden Rufe erklingen lässt. Entsprechend trägt diese Vogelart im Volksmund eine Reihe unterschiedlicher Trivialnamen. Einige wie Baum-, Holz-, Kraut-, Spitz- oder Spießlerche spielen auf das lerchenähnliche Verhalten des Baumpiepers hin. In Österreich wird der Vogel im Volksmund auch Ziepe oder Schmelchen genannt. Grienvögelchen oder Greinerlein sind weitere alte und mittlerweile ungebräuchliche Bezeichnungen. Die Bezeichnung Baumpieper, die heute im deutschen Sprachgebrauch fast durchgängig verwendet wird, ordnet die Art der richtigen Gattung zu und weist ähnlich wie bei Brachpieper und Wiesenpieper auf den bevorzugten Lebensraum dieses Vogels hin. Die wissenschaftliche Artbezeichnung trivialis „häufig, gemein“ dagegen bringt zum Ausdruck, dass der Baumpieper bei der Einführung der Nomenklatur 1758 häufig gewesen war. Erscheinungsbild Körpergröße und -gewicht Der Baumpieper ist mit einer Körperlänge von durchschnittlich 15 Zentimetern etwa so groß wie ein Haussperling. Er ist jedoch graziler und schlanker als dieser und wirkt dadurch optisch größer. Die Flügellänge beträgt bei männlichen Vögeln im Durchschnitt knapp 90 Millimeter, bei Weibchen sind die Flügel etwa vier bis fünf Millimeter kürzer. Das Körpergewicht des Baumpiepers liegt während der Fortpflanzungsperiode bei etwa 22 bis 24 Gramm. Zu Beginn des Herbstzuges sind die Vögel regelmäßig schwerer; besonders gut genährte Vögel können dann über 30 Gramm wiegen. Bei Baumpiepern, die sich auf dem Rückflug von ihren Überwinterungsquartieren in Afrika befinden, hat man vereinzelt auch schon ein Gewicht von nur 16 Gramm festgestellt. Weitere Merkmale Das Gefieder weist keine geschlechtsspezifischen Unterschiede auf. Die Körperoberseite ist gelb- bis olivbraun mit diffusen schwärzlichen Längsstreifen, die auf dem Oberkopf deutlicher ausgeprägt sind. Bürzel und Oberschwanzdecken sind etwas grünlicher gefärbt als die übrige Körperoberseite und sind nur bei einzelnen Individuen schwach gestreift. Die Körperunterseite ist rahmfarben bis gelblich mit kräftig gestreifter Brust und Kropfseiten. Einen stärker ausgeprägten Gelbton weisen Kehle, Brust sowie die Halsseiten auf. An den Flanken sind die Streifen deutlich weniger breit als auf der Brust. Die äußeren Steuerfedern sind partiell weiß. Die Flügeldecken sind hell gesäumt, wodurch sich zwei helle, rahmfarbene Flügelbinden bilden. Die von den Spitzensäumen der mittleren Armdecken gebildeten Säume sind dabei am deutlichsten zu erkennen. Der Schwanz überragt die Flügelspitzen um etwa 3,5 Zentimeter. Über dem Auge befindet sich ein heller, nicht immer deutlich zu erkennender Augenstreif. Die Iris ist dunkelbraun, der durch zwei Federreihen gebildete Augenring ist rahmfarben. Die Nasenlöcher liegen frei. Die Schnabeloberseite sowie die Spitze des Unterschnabels sind schwarzbraun. Der übrige Unterschnabel wird in Richtung Wurzel und Unterkinnlade heller und ist gelblich bis fleischfarben gefärbt. Die Beine sind rötlich-fleischfarben, während die Füße rosa bis gelblich-fleischfarben sind. Die Krallen sind hell hornfarben. Jungvögel ähneln den adulten Vögeln sehr. Ihr Gefieder ist an der Körperoberseite etwas gelblicher, die schwarzbraune Längsstreifung etwas ausgeprägter. Charakteristisch für das Federkleid der Jungvögel ist eine schwarzbraune Fleckung des Bürzels. Diese fehlt bei adulten Vögeln. Artspezifisch für den Baumpieper ist eine stark gekrümmte Hinterkralle, die zwischen 6,6 und 8,6 Millimeter lang sein kann. Sie ist im Längenvergleich mit der Hinterzehe entweder kürzer als diese oder maximal gleich lang. Sowohl bei Lerchen als auch bei den anderen Vertretern der Pieper ist diese Hinterzehe dagegen länger und weniger stark gekrümmt. Lediglich der im Norden und Osten Asiens vorkommende Waldpieper weist eine in Form und Länge ähnliche Hinterzehe auf. Von den Handschwingen ist die sechste um ein bis sechs Millimeter kürzer als die siebte bis neunte. Beim Wiesenpieper dagegen sind diese Handschwingen gleich lang. Flug- und Bewegungsweise Wenn Baumpieper erregt sind oder auf einer Singwarte sitzen, ist bei ihnen ein regelmäßiges, flaches Schwanzwippen zu beobachten. Auf dem Boden laufen sie in geduckter Haltung. Aufgescheuchte Baumpieper suchen sofort Deckung in Sträuchern oder im Geäst von Bäumen. Ähnlich wie Bachstelzen – allerdings ohne deren intensives Schwanzwippen – sucht der Baumpieper krautige oder grasige Flächen schreitend nach Nahrung ab. Die Flügel sind dabei angelegt und der Schwanz bildet mit dem Rücken eine Linie, die Beine sind im Kniegelenk so stark eingeknickt, dass die Körperunterseite sich nur knapp über dem Boden befindet. Der aufrecht getragene Kopf und der Hals nicken im Rhythmus mit den Trippelschritten. Seine Beutetiere pickt er entweder vom Boden auf oder von Pflanzen ab. Erblickt er eine weiter entfernte Beute, beschleunigt sich seine Schrittfolge, der Kopf wird dann leicht nach vorne geschoben, der Vogel wirkt dann „geduckter“. Auf Ästen läuft der Baumpieper in Längsrichtung schrittweise trippelnd. Er bewegt sich dabei bevorzugt von innen nach außen. Beim Streckenflug wechseln sich eine Serie kräftiger und rascher Flügelschläge mit kurzen Gleitphasen ab. Während dieser Gleitphasen werden die Flügel an den Körper angelegt. Der Verlust an Flughöhe und -geschwindigkeit ist dabei jedoch so gering, dass der Flug insgesamt nicht so stark wellenförmig ausgeprägt ist wie etwa beim Wiesenpieper. Verwechslungsmöglichkeiten mit anderen Vogelarten Der Wiesenpieper ist dem Baumpieper so ähnlich, dass man Flug- und Lebensweise sowie den Gesang zur Identifizierung heranziehen muss – neben einigen geringfügigen Unterscheidungsmerkmalen im Körperbau und der Gefiederfärbung. Die charakteristischen Artkennzeichen des Baumpiepers, die weiter oben beschrieben sind, lassen sich im Freiland nur bei sehr guten Beobachtungsbedingungen zur Identifizierung heranziehen. Im Unterschied zum zierlicheren Wiesenpieper hat der Baumpieper einen etwas kräftigeren Schnabel, einen stärkeren Überaugenstreif und schwach ausgeprägten dunkeln Augenstreif. Die beige Brust, die mehr ins Gelbliche tendieren kann, und der weiße Bauch sind deutlich unterschieden, ebenso wie die breite Brust- und dünne Flankenstrichelung. Sowohl Baum- als auch Wiesenpieper können bei der Nahrungssuche im hohen Gras beobachtet werden. Wiesenpieper haben einen „hüpfenden“, kurzen Flug. Der Baumpieper fliegt dagegen ruckweise in flachen Wellen und zeichnet sich zudem durch seinen Singflug aus. Die Heidelerche, die im Lebensraum des Baumpiepers ebenfalls zu beobachten ist und eine dem Baumpieper ähnliche Gefiederfärbung aufweist, kann anhand ihres wesentlich kürzeren Schwanzes sowie ihres markanteren und heller rahmfarbenen Augenstreifs vom Baumpieper unterschieden werden. Stimme Der Gesang des Baumpiepers ist nur bei gutem Wetter zu vernehmen. Dann lässt er ein leises Zwitschern bereits vor Sonnenaufgang hören, das er entweder von einer niedrigen Sitzwarte oder sogar direkt vom Boden aus vorträgt. Bei Regen, Sturm oder Kälteeinbrüchen hält er sich stumm in dichter Bodenvegetation auf. Der Singflug des Baumpiepers erfolgt vom frühen Morgen bis zum Mittag und dann wieder am späten Nachmittag. Er dient vornehmlich der Reviermarkierung, ist laut und melodisch und wird auf eine charakteristische Weise vorgetragen. Ausgangspunkt des Singfluges ist meist die Spitze eines Baumes, gelegentlich startet der Vogel aber auch vom Boden aus. Der Vogel sitzt für ein bis zwei Sekunden in geduckter Haltung, stößt sich mit beiden Füßen schräg aufwärts in die Luft, steigt schweigend 10 bis 30 Meter hoch und lässt kurz vor dem höchsten Punkt des Fluges ein leise beginnendes und zunehmend lauteres „ziziziwiswiswis“ ertönen, dann folgt häufig ein kanarienähnlicher Roller, und in einem sechs bis zwölf Sekunden währenden Gleitflug kehrt der Vogel mit steif gespreizten Flügeln unter lauten, für den Menschen wohlklingenden „zia zia zia zia“ entweder auf den Ausgangspunkt oder eine andere Singwarte zurück. Wegen der hohen Geschwindigkeit, die der Baumpieper im abwärts gerichteten Gleitflug erreicht, steuert er seinen Landeplatz nicht direkt an. Er zielt auf eine Stelle, die sich unterhalb der Warte befindet, und schwingt sich mit einigen Flügelschlägen zu ihr nach oben. Wie häufig der Singflug wiederholt wird, ist abhängig von der Jahreszeit, von der vorherrschenden Witterung, vom Verpaarungs-Status des Vogels und von der Gesangsaktivität der Reviernachbarn. In Mitteleuropa sind Singflüge, bei denen der Gesang vollständig vorgetragen wird, für den Zeitraum von Ende April bis Ende Juli typisch. Verpaarte Revierinhaber erheben sich mitunter alle zwei bis sechs Minuten zum Fluggesang. Innerhalb des oben beschriebenen Grundmusters ist der Gesang dabei intra- und interindividuell sehr variabel. Ein einzelner Vogel hält zwar die Anfangs- und Schlussteile seines Gesangs genau ein. Die Länge der einzelnen Gesangsstrophen ist aber beispielsweise von der Länge der Flugstrecke bestimmt, wobei einzelne Phrasen und Gesangselemente in unterschiedlicher Reihenfolge kombiniert werden. Das Repertoire an Phrasen und Elementen ist dabei je nach Männchen unterschiedlich. Für den Baumpieper ist außerdem eine deutliche Dialektbildung nachgewiesen worden: Populationen einzelner Regionen können anhand der Elementtypen der Anfangs- und Schlussteile des Gesangs unterschieden werden. Der Reviergesang kann auch von einer Singwarte aus vorgetragen werden. In diesem Fall ist er aber meist kürzer und wird nur unvollständig vorgetragen. Der Baumpieper verfügt darüber hinaus noch über eine Reihe unterschiedlicher Laute. Das metallisch klingende „siiit siiit“ ist ein Warn- oder Kontaktruf, der häufig mit Rufabständen von einer halben Sekunde zu hören ist. Auch das hastig gerufene und in der Tonhöhe ansteigende „sip-sip-sip“ ist ein Alarmruf, der zu hören ist, wenn ein Feind sich dem Revier nähert. „Tsieb“ dient vor allem als Kontaktruf. Im Winterquartier sind nur diese Kontakt- und Warnlaute zu hören. Verbreitung Brutareal Der Baumpieper ist ein Brutvogel der gemäßigten und borealen Zonen Eurasiens. Die östliche Verbreitungsgrenze ist nicht hinreichend gesichert und strittig. Nach Ansicht einiger Autoren reicht das Verbreitungsgebiet des Baumpiepers bis ins südliche Werchojansker Gebirge, das zum ostsibirischen Bergland gehört. Sein nördlichstes Verbreitungsgebiet erreicht er in Europa etwa beim 70. und in Asien beim 65. nördlichen Breitengrad. In westlicher Ausbreitungsrichtung fehlt der Baumpieper auf Island und Irland, den Shetlandinseln, Orkneys und den äußeren Hebriden, während er in Großbritannien noch vorkommt. Südlich reicht sein Verbreitungsgebiet bis Nordspanien. In Portugal sowie Zentral- und Südspanien fehlt der Baumpieper ebenso wie auf den meisten Mittelmeerinseln und im südlichen Griechenland. Die Nordtürkei sowie die Gebirgsregionen des Kaukasus, des Nordirans und der nordwestlichen Mongolei gehören zu den Brutgebieten des Baumpiepers. Die südliche Verbreitungsgrenze verläuft sehr uneinheitlich. In den Steppenregionen West- und Zentralasiens kommen Baumpieper bereits ab 50° nördlicher Breite nicht mehr vor. In den zentralasiatischen Gebirgsregionen erstreckt sich das Verbreitungsgebiet in Richtung Süden bis zum Pamir und von dort in südwestlicher Richtung bis in den Nordwesten des Himalaya-Gebiets. Daneben gibt es im Nordwesten Indiens vom übrigen Verbreitungsgebiet isolierte Brutvorkommen. Insgesamt umfasst das Brutareal des Baumpiepers etwa 14 Millionen Quadratkilometer. Zug und Überwinterungsquartiere Der Baumpieper ist ein Langstreckenzieher, der in breiter Front in die Winterquartiere zieht. Die Abwanderung beginnt vereinzelt bereits im Juni und ist am stärksten im August und Anfang September. In der Regel verbleiben Brutvögel nach Abschluss des Brutgeschäftes noch einige Wochen in der Nähe ihres Revieres und bauen in dieser Zeit Fettreserven auf. Die europäischen Populationen bis etwa zum 40. östlichen Längengrad ziehen bei ihrer Wanderung über die iberische Halbinsel oder Oberitalien. Hochgebirge werden auf diesem Zug überflogen, wobei Baumpieper bevorzugt schönes Wetter nutzen. Auf dem Weg in die Überwinterungsquartiere überqueren die Brutvögel Europas und vermutlich auch des westlichen Sibiriens in der Regel die Sahara. Die Überwinterungsquartiere ziehen sich südlich der Sahara bandförmig über den gesamten afrikanischen Kontinent, wobei die südlichsten Überwinterungsquartiere im nördlichen Südafrika liegen. Sie sind dort vor allem im Transvaal zu finden. Südmauretanien, Senegal, Gambia, Guinea, Sierra Leone, Liberia, das südwestliche Mali, die Elfenbeinküste, Burkina Faso, Ghana, Togo, Benin, der Südwesten von Niger sowie Zentral- und Südnigeria zählen zu den Überwinterungsgebieten in Westafrika. In Ostafrika ziehen sich die Überwinterungsquartiere vom Süden Sudans, Äthiopiens und Somalia bis nach Transvaal und in den Süden Mozambiques. Die Baumpieper, deren Brutareal in Asien liegt, überwintern dagegen im Süden Asiens und sind dann beispielsweise in Indien und Bangladesch, Pakistan, Afghanistan und der arabischen Halbinsel über den Südiran bis in die Türkei zu beobachten. Regelmäßig überwintern Baumpieper des asiatischen Brutareals auch auf den Seychellen. Vereinzelt kommt es zudem zu Überwinterungspopulationen auf den Malediven sowie im Osten von Japan. Die europäischen Brutvögel beginnen mit dem Rückzug aus ihren Winterquartieren etwa ab Februar. Der Rückzugsbeginn kann sich jedoch bis Anfang April verschieben. Bei ausgedehnten Hochdruckzonen erfolgt die Rückkehr sehr rasch, während Kaltluftzonen die Rückkehr deutlich verlangsamen. Vereinzelt sind Baumpieper in Mitteleuropa bereits wieder ab der zweiten Märzhälfte zu beobachten. Die Hauptrückkehrzeit ist jedoch April, wobei Nachzügler gelegentlich erst in der zweiten Maihälfte in ihren Brutgebieten wieder eintreffen. Der überwiegende Teil der Population trifft in der Regel zwischen fünf und fünfzehn Tagen nach den ersten Vögeln ein, wobei die Männchen eher in den Brutarealen eintreffen als die Weibchen. Lebensraum Brutgebiete Als Bodenbrüter benötigt der Baumpieper während seiner Fortpflanzungsperiode ein Habitat, das neben einem Bestand an hohen Bäumen oder Sträuchern genügend lichte Stellen mit einer hohen Vegetation aufweist. Entsprechend fehlen Baumpieper in ausgedehnten Ackerlandschaften oder Grünlandgebieten, wie sie für Friesland oder Nordholland charakteristisch sind, und in intensiv genutzten Wiesen. Eine Bindung an eine bestimmte Baumart weist der Baumpieper nicht auf. Er kommt sowohl in Nadelwäldern als auch Laub- oder Laubmischwäldern vor. Die früher gelegentlich geäußerte Vermutung, Baumpieper wiesen ähnlich wie das Wintergoldhähnchen eine Bindung an Nadelbäume auf, gilt in manchen Regionen als widerlegt. Neben aufgelockerten, sonnigen Waldrändern, Kahlschlägen oder locker mit Nadelbäumen bestandenen, extensiv genutzten oder vergandenden Weiden und Wiesen (Schweiz) als wichtigsten Bruthabitaten kommen Bruten ausnahmsweise auch in Heiden, Weinbergen und Mooren, Obstgärten, Rebbergen, Auenwäldern und Feldgehölzen vor, wenn diese ausreichend Baumbestand und eine hohe Vegetation aufweisen. Sonnenexponierte Stellen werden dabei bevorzugt. Dabei kommt der Baumpieper regelmäßig bis zur Baumgrenze vor. In den Alpen wurden Brutnachweise bis auf eine Höhe von erbracht, und in Österreich liegt der Verbreitungsschwerpunkt des Baumpiepers sogar in der Montanstufe der Alpen. Im Himalaya gibt es Brutnachweise für den Baumpieper noch auf einer Höhe von 4.200 Metern. Zug- und Überwinterungsquartiere Baumpieper, die sich auf dem Weg in ihre Überwinterungsquartiere befinden, nutzen landwirtschaftliche Flächen stärker als während der Fortpflanzungsperiode. Während ihrer Nahrungssuche sind sie dann auch auf Wiesen und Weiden sowie auf Ackerflächen zu sehen, auf denen Hackfrüchte oder Klee und Luzerne angebaut werden. Hier bietet ihnen der Bewuchs ausreichend Deckung. Ackerflächen wie beispielsweise abgeerntete Getreidefelder werden nur in der Nähe von Gebüschen aufgesucht. Im Überwinterungsgebiet hält sich der Baumpieper ähnlich wie in seinen Brutarealen bevorzugt in halboffenem bis offenem Gelände in Gehölznähe auf. Entsprechend findet man ihn auch hier an Waldrändern oder auf Lichtungen von Akazienwäldern. Er ist zudem häufig am Rande von Kaffee-, Bananen- oder Ölpalmenplantagen und regelmäßig in Gärten zu beobachten. Nahrung und Nahrungserwerb Die Nahrung besteht nahezu ausschließlich aus kleinen, weichhäutigen Insekten. Sämereien oder andere Pflanzenteile hat man vereinzelt in den Mägen von Baumpiepern gefunden, sie stellen jedoch nur einen sehr geringen Anteil der Nahrung dar. Den Hauptbestandteil der Nahrung machen die Raupen von Schmetterlingen sowie Heuschrecken aus. Zur Beute zählen außerdem Wanzen, Käfer, Blattläuse, Schlupfwespen, Ameisen und Köcherfliegen. Die Nahrungszusammensetzung kann sich verschieben, wenn beispielsweise aufgrund einer Massenentwicklung die Raupen des Eichenwicklers überreichlich zur Verfügung stehen. Auch in den Überwinterungsquartieren stellen Käfer, Schmetterlingsraupen und Wanzen die bevorzugten Nahrungsbestandteile dar. Hier fressen Baumpieper jedoch außerdem Termiten. Zur Deckung ihres Flüssigkeitsbedarfes nutzen Baumpieper überwiegend die Wassertropfen, die an Pflanzen hängen. An offenen Wasserstellen sieht man den Baumpieper selten. Er findet seine Nahrung sowohl auf Flächen mit niedriger Vegetation als auch auf Bäumen. Umstritten ist noch, welchen Anteil an der Gesamtnahrung die auf Bäumen gefundene Beute hat und ob es dabei jahreszeitlich bedingte Schwankungen gibt. Generell wird davon ausgegangen, dass der Baumpieper den größten Anteil seiner Nahrung am Boden findet. Er streift sie von Gräsern ab und pickt sie vom Boden auf. Für den Nahrungserwerb nutzt der Baumpieper nicht nur sein Brutrevier, sondern regelmäßig auch ein zusätzliches Nahrungsgebiet, das nicht notwendigerweise an das Brutrevier angrenzt. Es kann bis zu einem halben Kilometer entfernt liegen und wird häufig von mehr als einem Baumpieperpaar genutzt. Selbständig gewordene Jungvögel bilden häufig locker zusammenhaltende Trupps, die gemeinsam im Gebiet in der Nähe des Brutortes umherstreifen. Die Größe dieser Trupps nimmt bis zum Wegzug zu. Brutbiologie Das Brutrevier Baumpieper sind bei ihrer Rückkehr in die Brutgebiete noch nicht verpaart, und die ersten Rückkehrer sind meist mehrjährige Männchen. Ihnen folgen mehrjährige Weibchen und dann erst die einjährigen Männchen. Rückkehrende Männchen beginnen sofort, Reviere zu besetzen. Die Rückkehrer sind brutorttreu; auch Jungvögel kehren an ihren Geburtsort zurück. Wegen der Instabilität der von ihnen als Brutareale genutzten Lebensräume wie Kahlschläge und Lichtungen verlagern sich die Brutplätze jedoch regelmäßig. Baumpieper führen eine monogame Saisonehe, wobei es durch die Reviertreue dazu kommen kann, dass sich frühere Partner erneut verpaaren. Das Brutrevier umfasst das Gebiet, in dem sich das Nest befindet, und das Männchen wie Weibchen gegenüber Artgenossen verteidigen. In Abhängigkeit von der Qualität des Habitats und der Populationsdichte schwankt die Größe des Brutreviers zwischen 0,3 und 2,5 Hektar. Die zuerst zurückkehrenden Männchen, die noch keinem so großen Konkurrenzdruck ausgesetzt sind, besetzen zunächst ein sehr viel größeres Areal. Unter dem Druck später rückkehrender Artgenossen reduziert sich dieses dann allmählich. Die Reviergrenzen werden durch den Gesang des Männchens markiert und – nachdem die Reviergrenzen festgelegt sind – von den Artgenossen respektiert. Benachbarte Paare vermeiden eine direkte Revierdurchquerung, indem sie die Reviere anderer Baumpieperpaare in großer Höhe überfliegen. Dringt ein Baumpiepermännchen in ein bereits besetztes Revier ein, wird der Gesang des Revierbesitzers lauter und erregter. Reagiert der Reviereindringling darauf nicht mit Rückzug, fliegt der Revierbesitzer ihm singend entgegen. Meist ist dies ausreichend, um einen Eindringling zum Rückzug zu bewegen. Echte Angriffe auf Artgenossen sind selten. Die Vögel attackieren sich dabei mit Flügel- und Schnabelhieben sowie den Krallen. Auch fremde Weibchen werden vom Männchen aus dem Revier vertrieben, wenn auch mit einer geringeren Intensität. Weibchen unterstützen die Männchen gelegentlich bei der Revierbehauptung und verteidigen das Revier in Abwesenheit des Männchens auch allein. Anders als das Männchen lassen sie dabei keine Gesänge hören. Das Nest und die Aufzucht der Jungvögel Das Nest befindet sich am Boden unter Grasbüscheln, Zwergsträuchern, Farnen oder unter niedrigem Gebüsch versteckt. Grundsätzlich sind die Nester so angelegt, dass ein Sichtschutz nach oben besteht. Stellen mit einem Bewuchs mit Wald-Zwenke (Brachypodium silvaticum), Drahtschmiele (Deschampsia flexuosa) und Reitgras (Calamagrostis epigeios) werden zur Anlage des Nestes besonders häufig genutzt. Zum Nestbau verwendet der Baumpieper trockenes Gras, viel Moos sowie dürres Laub. Die halbkugelige Nestmulde ist mit Fasern, Wurzeln und dünnen Grashalmen gepolstert. Der Nestbau erfolgt nur durch das Weibchen. Das Gelege besteht meist aus fünf Eiern, die zwei bis drei Gramm wiegen und sehr variabel gefärbt sind. Die Eier eines Geleges gleichen einander in der Grundfarbe, vom Weibchen abhängig sind sie jedoch grau, violett, grün, rostbraun oder rosa. Sie sind in der Regel dunkelbraun gefleckt, wobei auch die Fleckung sehr variabel ist. Sie reicht von dünnen, kleinen Pünktchen bis zu großflächigen groben Flecken, die so ineinander laufen, dass die Eier fast vollständig dunkelbraun oder schwarzgrau wirken. Der Brutbeginn liegt in Mitteleuropa in der Regel im Mai. Nur das Weibchen brütet. Es verlässt pro Tag zwischen zwölf und fünfzehn Mal das Nest, um nach Nahrung zu suchen. Die Brutdauer beträgt zwölf bis vierzehn Tage. Die Jungvögel verbleiben zehn bis zwölf Tage im Nest. Sie sind zu diesem Zeitpunkt noch nicht flügge und halten sich in der Krautschicht des Bodens versteckt. Beide Elternvögel versorgen die Jungvögel auch noch, wenn diese sich vom Nest entfernt haben. Gefüttert werden die Jungvögel etwa bis zum 25. Lebenstag. Die Zahl der Fütterungen nimmt mit ansteigendem Alter der Jungvögel jedoch ab. Ihre Flugfähigkeit erreichen die Jungvögel zwischen ihrem fünfzehnten und zwanzigsten Lebenstag. Schlägt die erste Brut fehl, beginnen die meisten Baumpieperpaare mit einer Ersatzbrut. Ein hoher Anteil von Baumpiepern, die erfolgreich ihre erste Brut hochgezogen haben, beginnt mit einer Zweitbrut. In Ausnahmefällen folgt sogar ein dritter Brutversuch, wenn die Jungen der Zweitbrut erfolgreich ausgeflogen sind. In der Regel nimmt die Gelegegröße mit fortgeschrittener Brutzeit ab. Im Durchschnitt zieht ein Paar pro Jahr drei bis vier Jungvögel erfolgreich groß. Lebenserwartung, Bestand und Gefährdung Das Durchschnittsalter von Baumpieperpopulationen wird auf unter zwei Jahre geschätzt. In einer Studie, bei der in Kalmthout, Belgien, eine Baumpieperpopulation über fünf Jahre beobachtet wurde, betrug die Anzahl der einjährigen Vögel durchschnittlich knapp fünfzig Prozent. Unter wiedergefangenen, beringten Vögeln waren vier Prozent älter als fünf Jahre. Der älteste bislang wiedergefangene Ringvogel war sieben Jahre und acht Monate alt. Welchen Einfluss Raubtiere, Greifvögel, Rabenvögel, Würger sowie Parasiten auf die Mortalität von Nestlingen, Jungvögeln und adulten Baumpiepern haben, ist bislang nicht hinreichend untersucht. Bei den Vögeln, die auf der Vogelwarte Helgoland untersucht wurden, zählen Baumpieper zu den Vogelarten, die am häufigsten durch die Zeckenart Ixodes ricinus befallen sind. Einen großen Einfluss auf die Überlebensrate von Baumpiepern haben jedoch Wetterbedingungen. Während des Zuges ist die Sterblichkeit vor allem bei nasskaltem Wetter hoch. Im Winterquartier wirkt sich vor allem Dürre auf die Überlebensrate aus. Der Herbstbestand des Baumpiepers wird für das gesamte Artareal von etwa 14 Millionen Quadratkilometern auf etwa 370 Millionen Individuen geschätzt. In Deutschland wird der Brutbestand für die Jahre 2005 bis 2009 auf 250.000 bis 355.000 Brutpaare geschätzt, Stand 2022 mit einem Bestandestrend von −58 % (je nach Region −80 % oder ganz erloschen). In der deutschen roten Liste steht die Art auf der Vorwarnstufe. Für Schweden werden dagegen 4 Millionen und für Finnland 1,6 Millionen Brutpaare angenommen. In der Schweiz, wo sich die Situation der Singvögel im europaweiten Vergleich weiterhin besonders stark verschärft hat, wurden 2013 bis 2016 noch 50'000–70'000 Baumpieper-Paare angenommen. Im Schweizer Mittelland gilt die Art heute als ausgestorben, nur Lagen von 1300 bis 1800 m werden noch besiedelt: Im Kanton Zürich ging der Bestand 1988 bis 2008 um über 90 % zurück, am Bodensee zwischen 1980 und 2010 um über 95 %. Im Baselbieter Jura fehlt der Baumpieper ab 1985 fast vollständig, im Kanton Aargau gilt der Baumpieper als faktisch ausgestorben. Der Bestand fluktuiert in Abhängigkeit geeigneter Lebensräume: So steigt er an, wenn nach Sturmschäden und Schädlingsbefall offene Waldflächen entstehen. In Finnland profitierte der Baumpieperbestand von großflächigen Abholzungsmaßnahmen und konnte sein Verbreitungsgebiet auch in Regionen ausdehnen, die bis dahin dicht mit Wald bestanden waren. Der Rückgang der Populationen führt sich zurück auf die großflächige Umwandlung naturnaher Mischwälder in Nadelholzkulturen, Aufforstung ertragsarmer Heide- und Moorflächen, den fortschreitenden Verlust von Kulturland sowie die zunehmend intensive Mähwiesennutzung (frühere Schnitt-Termine). In den Bergen wirkt sich die zunehmende Freizeitnutzung auf die Situation der Brutvögel aus. Gesamteuropäisch betrachtet gehen die Bestände deutlich zurück. Systematik Trotz des sehr großen Verbreitungsgebietes werden bislang nur zwei Unterarten beschrieben. Die Populationen, die im Gebiet des Himalayas brüten, werden in der Unterart Anthus trivialis haringtoni zusammengefasst. Diese unterscheiden sich von der Nominatform Anthus trivialis trivialis vor allem durch einen an der Basis etwas breiteren Schnabel. Innerhalb der Nominatform gibt es zwar durchaus Unterschiede in der Gefiederfärbung – so haben beispielsweise die in Schottland beheimateten Populationen eine rötlich-gelb angehauchte Kinnpartie – die Unterschiede sind jedoch geringfügig und weisen keine konstanten regionalen Unterschiede auf, so dass bislang keine weitere Differenzierung in Unterarten vorgenommen wurde. Quellen und Literatur Literatur Per Alström und Krister Mild: Pipits & Wagtails of Europe, Asia and Northamerica. Christopher Helm Ltd., London 2003, ISBN 0-7136-5834-7. Urs Glutz von Blotzheim: Handbuch der Vögel Mitteleuropas. Band 10/II: Passeriformes (1. Teil). Aula Verlag, Wiesbaden 1985. Faansie Peacock: Pipits of Southern Africa – The complete guide to Africa’s ultimate LBJ’s. Pretoria 2006, ISBN 0-620-35967-6. Rudolf Pätzold: Der Baumpieper. Verlag Ziemsen, Lutherstadt Wittenberg, 1990, ISBN 3-7403-0235-6. Weblinks Baumpieper bei der Schweizerischen Vogelwarte Sempach Javier Blasco-Zumeta, Gerd-Michael Heinze: Geschlechts- und Altersbestimmung (PDF-Datei, englisch) Federn des Baumpiepers Baumpieper bei www.reuber-norwegen.de Fußnoten Stelzen und Pieper Sommervogel
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Bette Davis
Ruth Elizabeth „Bette“ Davis (* 5. April 1908 in Lowell, Massachusetts, Vereinigte Staaten; † 6. Oktober 1989 in Neuilly-sur-Seine, Frankreich) war eine US-amerikanische Bühnen- und Filmschauspielerin. Bette Davis begann ihre Karriere am Theater, bevor sie 1930 nach Hollywood zog und bis 1989 in über einhundert Filmen mitspielte. Bekannt war sie vor allem für die Darstellung komplexer Charaktere. Auf dem Höhepunkt ihrer Karriere spielte Davis überwiegend in Filmdramen mit, deren Handlung sich zumeist um das tragische Schicksal der weiblichen Hauptfigur dreht. Sie war jedoch auch in Historienfilmen und in der Spätphase ihrer Karriere in Filmproduktionen, deren starke Grand-Guignol-Elemente mitunter die Grenze zum Horrorfilm streiften, zu sehen. Davis’ Markenzeichen waren die großen, ausdrucksstarken Augen, ihre direkte Art und ihre allgegenwärtigen Zigaretten. Bette Davis gewann zweimal den Oscar als Beste Hauptdarstellerin und wurde acht weitere Male für den Preis in dieser Kategorie nominiert. Sie kämpfte stets mit Vehemenz gegen die Restriktionen des Studiosystems und um gute Rollen und mehr Mitspracherechte bei der Auswahl der Filmrollen. 1936 verklagte sie, wenn auch vergeblich, in einem aufsehenerregenden Prozess ihr Filmstudio Warner Brothers. Als erste Frau stand Bette Davis der Academy of Motion Picture Arts and Sciences als Präsidentin vor. Während des Zweiten Weltkriegs gründete sie mit anderen Schauspielern die Hollywood Canteen. Als erste Filmschauspielerin wurde Bette Davis 1977 mit dem Lifetime Achievement Award des American Film Institutes (AFI) geehrt. Bei einer Umfrage des AFI aus dem Jahr 1999 wurde sie auf Platz zwei der größten amerikanischen weiblichen Filmstars gewählt. Sie war trotz diverser Krankheiten bis zu ihrem Tod eine Person des öffentlichen Lebens und trat aufgrund ihrer Beliebtheit beim Publikum häufig in amerikanischen Talkshows auf. 1983 schrieb Davis’ Tochter B. D. Hyman in dem stark umstrittenen Enthüllungsbuch My Mother’s Keeper über ihre negativen Kindheitserinnerungen. Leben und Werk Kindheit und frühe Karriere Ruth Elizabeth Davis wurde in Lowell, Massachusetts, als Tochter von Ruth („Ruthie“) Favor und dem Rechtsanwalt Harlow Morrell Davis geboren. Ihre Schwester Barbara („Bobby“) wurde am 25. Oktober 1909 geboren. Die Familie war protestantischer Konfession und hatte englische, französische sowie walisische Wurzeln. 1915 trennten sich Davis’ Eltern. Im selben Jahr begann für die beiden Kinder die Schule an der Crestalban School in Lanesborough, Massachusetts. Im Jahr 1921 zog Ruth Favor mit ihren Töchtern nach New York City, wo sie als professionelle Porträtfotografin arbeitete, um die Familie zu ernähren. Zu dieser Zeit äußerte Davis zum ersten Mal den Wunsch, Schauspielerin zu werden. Inspiriert wurde sie vor allem durch Rudolph Valentino in Die vier Reiter der Apokalypse (1921) und Mary Pickford in Little Lord Fauntleroy (1921), auch änderte sie ihren Namen in „Bette“ in Anlehnung an Honoré de Balzacs La Cousine Bette. 1924 schickte Ruth Favor Davis ihre Töchter auf das Northfield Seminary for Young Ladies, ein konfessionelles Mädchenpensionat. Ein Semester später wechselten die Mädchen auf die Cushing Academy, eine Internatsschule in Ashburnham in Massachusetts. 1926 sah Davis am Repertory Theatre in Boston eine Theaterproduktion von Henrik Ibsens Die Wildente mit Peg Entwistle in der Hauptrolle. Jahre danach sagte sie über die Aufführung: „Vor der Vorstellung wollte ich Schauspielerin werden. Danach musste ich Schauspielerin werden… genau wie Peg Entwistle.“ Davis nahm an einem Vorsprechen für die Aufnahme in Eva Le Galliennes Manhattan Civic Repertory teil. Le Gallienne befand jedoch, dass Davis’ Einstellung zum Theater nicht ernsthaft genug sei, und lehnte die Aufnahme ab. Später wurde Davis, auch durch den Einsatz ihrer Mutter, an der John Murray Anderson School of Theatre angenommen. So durfte Davis die Schule zunächst ohne Bezahlung besuchen, unter dem Versprechen, das Geld zu einem späteren Zeitpunkt zurückzuzahlen. Davis erhielt an der Schule unter anderem Tanzunterricht von Martha Graham. Später verließ Davis die Murray Anderson School vorzeitig, obwohl sie ein Stipendium für das Studium erhalten hatte, um am Provincetown Playhouse für den Regisseur James Light zu arbeiten. Die Inszenierung wurde allerdings immer wieder verschoben und sie musste sich vorübergehend nach einem neuen Engagement umsehen. Sie sprach für George Cukors Repertoire-Theatergesellschaft vor. Obwohl er nicht begeistert war, gab er Davis ihre erste bezahlte Theaterrolle als Revuetänzerin in dem Stück Broadway. Kurze Zeit darauf verletzte sich die weibliche Hauptdarstellerin Rose Lerner bei einer Aufführung und Davis durfte den Part übernehmen. Cukor und Davis hatten während ihrer Zusammenarbeit ein angespanntes Verhältnis. Seine Kritik und Ratschläge bezüglich ihrer Arbeit ließ Davis selten unkommentiert. Schließlich feuerte er sie. Nach dem darauffolgenden Sommer begannen die Arbeiten am Provincetown Playhouse Theatre in New York City für das Stück The Earth Between von Eugene O’Neill. Gegen Ende der Spielzeit wurde Bette Davis ausgewählt, die Hedwig in Ibsens Die Wildente zu spielen. Die Washington Post lobte sie für ihre „exzellente“ Darstellung und widmete ihr als Theater-„Neuentdeckung“ ein kurzes Porträt. Anschließend an ihr Engagement dort gab Davis 1929 ihr Broadway-Debüt als rebellische Tochter von Donald Meek in der Komödie Broken Dishes, gefolgt von der Satire Solid South. Während einer Aufführung war ein Talentsucher der Universal Studios anwesend und lud sie zu Probeaufnahmen für die geplante Verfilmung des Bühnenstücks Strictly Dishonorable nach Hollywood ein. Von der Bühne zum Film 1931 Davis erhielt die Rolle in Strictly Dishonorable (1931) nicht und auch für den Film A House Divided (1931) konnte sie sich nicht empfehlen. Davis wurde allerdings zum Testen weiterer Bewerber eingesetzt. In einem 1971 geführten Interview mit Dick Cavett erinnerte sie sich: „Ich war die […] schamhafteste Jungfrau, die jemals auf der Erde lebte. Sie legten mich auf eine Couch und ich testete fünfzehn Männer […] Sie mussten sich alle auf mich legen und mir einen leidenschaftlichen Kuss geben. Oh, ich dachte, ich muss sterben.“ Ihr Filmdebüt gab Davis schließlich in dem Remake The Bad Sister (1931), welches keinen großen Erfolg darstellte. Carl Laemmle, der damalige Chef der Universal Studios, wollte ihren Vertrag daraufhin nicht verlängern, doch der Kameramann Karl Freund bescheinigte ihm, dass Davis „reizende Augen“ habe, und so erhielt sie doch noch eine Vertragsverlängerung. Davis’ nächste Rolle in Meine Kinder – mein Glück (1931) war allerdings zu klein, um damit Aufmerksamkeit zu erregen, und auch kleine Nebenrollen in Waterloo Bridge (1931) und Way Back Home (1932) verhalfen ihr nicht zum Durchbruch im Filmgeschäft. Anschließend arbeitete sie im Rahmen eines Loan-Outs bei Columbia Pictures für den Film The Menace (1932) und bei Capital Films für Hell’s House (1932). Nach neun Monaten und sechs eher wenig erfolgreichen Filmen entschied Laemmle, ihren Vertrag nicht weiter zu verlängern. Davis’ Hollywood-Karriere schien beendet, doch der einflussreiche Schauspieler George Arliss wählte sie für die weibliche Hauptrolle in The Man Who Played God (1932) aus. Der Film brachte Davis ihre erste ernstzunehmende Anerkennung in Hollywood ein. Die Saturday Evening Post schrieb über ihren Auftritt, sie sei nicht nur schön, sondern sprudele förmlich vor Anmut, und verglich sie mit Constance Bennett und Olive Borden. Die Warner-Brothers-Studios gaben ihr anschließend einen Vertrag mit einer Laufzeit von 26 Wochen mit der Option auf eine Verlängerung auf fünf Jahre. 1932 heiratete Davis in erster Ehe den Bandleader Harmon Nelson. Durch ein erneutes Loan-Out erhielt Davis 1934 die Möglichkeit, die Rolle der Antiheldin Mildred Rogers in der RKO-Radio-Produktion Of Human Bondage zu übernehmen. Mildred, eine Kellnerin aus der Unterschicht, nutzt ihren verkrüppelten Liebhaber, gespielt von Leslie Howard, finanziell und sexuell aus und verlässt ihn mehrfach wegen anderer Männer. Das Studio hatte Schwierigkeiten, eine geeignete Schauspielerin für die Rolle zu finden, nachdem unter anderem die vorgesehene Ann Harding die Mitwirkung verweigert hatte. Davis bekam die Rolle und schaffte es, den Regisseur zu überzeugen, sie den Charakter möglichst realistisch spielen zu lassen. Am Ende erhielt Bette Davis teilweise hymnische Kritiken. So urteilte das Life-Magazin über ihren Auftritt: „Wahrscheinlich die beste Darstellung, die jemals von einer US-Schauspielerin auf der Leinwand gezeigt wurde.“ Davis erwartete, dass die positiven Rezensionen Warner Brothers ermutigen würden, ihr bessere Rollen anzubieten. Die Hoffnung zerschlug sich jedoch und Jack Warner weigerte sich unter anderem, sie für den Film Es geschah in einer Nacht (1934) auszuleihen. Für Bette Davis waren weiterhin nur Rollen in kostengünstig produzierten Standardfilmen wie Housewife oder Nebenrollen neben etablierten männlichen Stars wie Paul Muni in Stadt an der Grenze vorgesehen. Als Davis für ihre Leistung in Of Human Bondage nicht für den Oscar nominiert wurde, löste dies breite Proteste aus. Aufgrund des Aufruhrs im Vorfeld der Verleihung konnte zum einzigen Mal in der Geschichte des Academy Awards ein Kandidat gewählt werden, der ursprünglich nicht offiziell nominiert war. Am Ende gewann Claudette Colbert den Preis für Es geschah in einer Nacht. Nach der Preisverleihung wurde eine Änderung des Abstimmungsverfahrens festgelegt. Die Nominierungen werden seitdem nicht mehr durch ein kleines Komitee festgelegt, sondern durch alle in Frage kommenden Vertreter der Branche ausgewählt. 1935 spielte Davis im Film Dangerous eine gescheiterte Schauspielerin und erhielt wieder sehr gute Rezensionen. Die New York Times bezeichnete sie sogar als „eine unserer interessantesten Filmschauspielerinnen“. Für ihre Darstellung gewann Davis den Academy Award als beste Hauptdarstellerin, sie kommentierte dies aber als eine verspätete Anerkennung für ihre Leistung in Of Human Bondage. Seit dieser Zeit gab sie stets an, sie habe dem Academy Award den Spitznamen „Oscar“ gegeben. Die Statue sehe ihrer Meinung nach genauso aus wie ihr Ehemann, dessen zweiter Vorname Oscar lautete. Diese Behauptung wies die Academy of Motion Picture Arts and Sciences wiederholt zurück. Zu den wenigen anspruchsvollen Filmen dieser Zeit gehörte die Rolle einer idealistischen Kellnerin in Der versteinerte Wald, der Filmadaption des gleichnamigen Theaterstücks von Robert E. Sherwood. Davis gab an der Seite von Leslie Howard eine hochgelobte Darstellung. Den größten Eindruck hinterließ jedoch Humphrey Bogart als Gangster ohne Moralvorstellungen. Bette Davis war zunehmend frustriert über die geringe Qualität der angebotenen Rollen. Nachdem ihre nachfolgenden Filme The Golden Arrow und Der Satan und die Lady weder einen finanziellen noch einen künstlerischen Erfolg darstellten, entschloss sich die Schauspielerin zu einem weitreichenden Schritt, um ihrer Karriere eine neue Richtung zu geben. Rechtsstreit mit Warner Brothers Davis war davon überzeugt, dass ihre Karriere durch eine Aufeinanderfolge mittelmäßiger Filme zerstört werden würde. Daher akzeptierte sie 1936 ein Angebot, in zwei Filmen des britischen Filmemachers Ludovico Toeplitz mitzuwirken, obwohl sie wusste, dass sie damit gegen ihren mit Warner Brothers geschlossenen Studiovertrag verstieß. Jack Warner stoppte ihr Mitwirken per einstweiliger Verfügung. Anschließend versuchte das Studio, die Angelegenheit außergerichtlich zu klären, doch das Vorhaben scheiterte an Davis’ Weigerung. Die Gerichtsverhandlung begann am 14. Oktober 1936 in London. Davis’ wesentliche Anklagepunkte waren, dass ihr kein Mitspracherecht bei der Auswahl und Umsetzung ihrer Rollen gewährt wurde und sie zu viele Filme in kurzer Zeit drehen musste. Sie kritisierte ferner die schlechten Arbeitsbedingungen bei Warner Brothers, so wurden Arbeitszeiten nicht eingehalten und die kostengünstig produzierten Filme mussten zum Teil parallel und in kürzester Zeit gedreht werden. Des Weiteren beanstandete Davis die Tatsache, dass bei einer Suspendierung eine automatische Verlängerung des Vertrags um den Zeitraum der Freistellung erfolgte. Außerdem durfte sie ohne Genehmigung des Studios keine Auftritte in der Öffentlichkeit wahrnehmen und besaß nicht das Recht, vom Studio vorgeschriebene Termine abzusagen. Bei Prozessbeginn verlas der Warner Brothers vertretende Rechtsanwalt in seinem Eröffnungsplädoyer, das Gericht müsse zu der Schlussfolgerung kommen, dass es sich bei Davis um eine ungehorsame junge Frau handle, die lediglich mehr Geld begehre. Von der britischen Presse erhielt Davis, die nach einer Aussage des Anwalts von Warner Brothers ein Wochengehalt von 1.350 US-Dollar bezog, kaum Unterstützung. Sie porträtierte sie als überbezahlte und undankbare Schauspielerin. Der zuständige Richter am High Court of Justice sprach das Urteil letztlich zugunsten von Warner. Davis kehrte anschließend, durch die Gerichtskosten hoch verschuldet, nach Hollywood zurück, um ihre Karriere wieder aufzunehmen. Erfolg mit Warner Brothers ab 1937 Davis nahm ihre Arbeit mit dem Film Mord im Nachtclub wieder auf, der 1937 in den Verleih kam. In dem Gangsterdrama, das durch die Geschichte von Lucky Luciano inspiriert wurde, verkörperte sie eine Prostituierte, die sich aktiv für die Zerschlagung eines Kriminellenrings einsetzt. Der Film bekam aufgrund seiner offenen Darstellung von Prostitution und organisiertem Verbrechen erhebliche Probleme mit der Zensurbehörde. Bette Davis wurde für ihre Darstellung von den Kritikern erneut sehr gelobt. Nachdem der bisherige weibliche Topstar des Studios, Kay Francis, nach einem erbitterten Rechtsstreit keine guten Rollen mehr bekam, gingen viele ursprünglich für Francis vorgesehene Projekte jetzt an Bette Davis, wie Drei Schwestern aus Montana oder Opfer einer großen Liebe. Während der Dreharbeiten zum Filmdrama Jezebel – Die boshafte Lady (1938) begann Davis eine Affäre mit dem Regisseur William Wyler. Später beschrieb sie ihn mehrfach als die Liebe ihres Lebens. Der Film war sehr erfolgreich und die Darstellung der verwöhnten Südstaatenschönheit brachte Davis ihren zweiten Academy Award ein. Der Presse ließ dies Raum für Spekulationen, dass sie möglicherweise für die Rolle der Scarlett O’Hara in der Verfilmung von Vom Winde verweht vorgesehen sei. Der Produzent David O. Selznick wollte jedoch eine weniger bekannte Schauspielerin verpflichten und gab Vivien Leigh den Vorzug. Jezebel markierte den Beginn von Davis’ erfolgreichster Karrierephase. In den folgenden Jahren war sie mehrfach auf der Quigley-Liste der zehn kommerziell erfolgreichsten Stars der Vereinigten Staaten vertreten. Der geringe Erfolg ihres Ehemanns hingegen führte zu einer Ehekrise. Als er 1938 die Gewissheit erhielt, dass seine Frau ihn mehrfach betrogen hatte, ließ er sich scheiden. Davis war dementsprechend während ihres nächsten Films Opfer einer großen Liebe, der Anfang 1939 in den Verleih kam und das Schicksal einer Frau erzählt, die nur noch ein Jahr zu leben hat und noch ein paar glückliche Tage erlebt, emotional sehr aufgewühlt und überlegte auszusteigen. Der Produzent Hal B. Wallis konnte sie schließlich überzeugen, ihre emotionale Verzweiflung auf ihr Spiel vor der Kamera zu lenken. Der Film war eine der erfolgreichsten Produktionen des Jahres und Davis erhielt eine weitere Academy-Award-Nominierung. Den Preis gewann jedoch Vivien Leigh für die Rolle der Scarlett O’Hara. In späteren Jahren bekannte Davis, dass sie in Opfer einer großen Liebe ihre Lieblingsrolle gespielt habe. Im Verlauf des Jahres 1939 trat Bette Davis noch in drei weiteren kommerziell erfolgreichen Filmen auf. In Die alte Jungfer spielte sie an der Seite von Miriam Hopkins eine junge Frau, die ihr Kind von ihrer Cousine aufziehen lassen muss. Der Historienfilm Juarez präsentierte sie als die tragische Charlotte von Belgien. In ihrem ersten Farbfilm Günstling einer Königin war sie als Elisabeth I. neben Errol Flynn zu sehen. Der Film Hölle, wo ist dein Sieg (1940) wurde zu ihrem bis dato finanziell erfolgreichsten Film, während Das Geheimnis von Malampur (1940) vom Fachmagazin The Hollywood Reporter als „einer der besten Filme des Jahres“ bezeichnet wurde. Privat lernte Davis den aus Neuengland stammenden Gastwirt Arthur „Farney“ Farnsworth kennen. Die beiden heirateten am 31. Dezember 1940. Im Januar 1941 wurde Davis die erste weibliche Vorsitzende der Academy of Motion Picture Arts and Sciences. Sie verärgerte die Komiteemitglieder jedoch durch ihr forsches Auftreten und durch ihre radikalen Änderungsvorschläge. Bereits nach wenigen Monaten trat sie resigniert von ihrem Amt zurück. Ihr Nachfolger Jean Hersholt erwies sich als durchsetzungsstärker und setzte viele Ideen, die sie während ihrer Amtszeit angeregt hatte, in die Tat um. Zu dieser Zeit war Davis der erfolgreichste weibliche Star von Warner Brothers und hatte ein Erstzugriffsrecht auf alle Hauptrollen. 1941 nahm Davis das Angebot des Produzenten Samuel Goldwyn an, im Rahmen eines Loan-Out in der William Wyler Verfilmung von Lillian Hellmans Stück Die kleinen Füchse mitzuspielen. Davis erhielt für ihre Darstellung einer skrupellosen Ehefrau eine weitere Nominierung für den Academy Award, verlor jedoch gegen Joan Fontaine in Verdacht. Zweiter Weltkrieg Nach dem Angriff auf Pearl Harbor verbrachte Davis die ersten Monate des Jahres 1942 damit, Kriegsanleihen zu verkaufen. Innerhalb von zwei Tagen verkaufte sie Anleihen im Wert von zwei Millionen US-Dollar, ebenso ein Bild von sich selbst aus Jezebel für 250.000 US-Dollar. Davis versuchte sich zu Kriegszeiten vielfältig zu engagieren. So trat sie unter anderem als einziges weißes Ensemblemitglied in einer Schauspielgruppe neben Hattie McDaniel, Lena Horne und Ethel Waters auf, um die afro-amerikanischen Soldaten der US-amerikanischen Armee zu unterhalten. Auf John Garfields Vorschlag hin, in Hollywood einen Soldatenclub zu eröffnen, baute Davis mit Hilfe von Kollegen einen alten Nachtclub in die Hollywood Canteen um. Hollywoods größte Stars traten dort auf, um die amerikanischen Soldaten zu unterhalten. Später sagte sie über ihr Engagement: „Es gibt nur ein paar Leistungen in meinem Leben, auf die ich aufrichtig stolz bin. Die Hollywood Canteen ist eine davon.“ Einen ihrer größten finanziellen und künstlerischen Erfolge hatte Bette Davis mit Reise aus der Vergangenheit aus dem Jahr 1942. Warner Brothers hatten für die Rolle der unterdrückten Tochter aus bester Familie, die durch die Liebe zu einem verheirateten Mann ein neues Leben beginnt, ursprünglich die ohne festen Studiovertrag arbeitende Schauspielerin Irene Dunne vorgesehen. Doch Davis überzeugte Jack Warner letztlich davon, ihr die Rolle zu geben. Zum fünften Mal hintereinander wurde Davis für ihre Leistung für den Oscar nominiert, verlor aber gegen Greer Garson in Mrs. Miniver. Auf eigenen Wunsch spielte Bette Davis 1943 die Ehefrau von Paul Lukas in Die Wacht am Rhein, der Verfilmung eines Propagandastücks von Lillian Hellman, in dem sie sehr deutlich auf die schwierigen Verhältnisse im zeitgenössischen Deutschland hinweist. Der Drehbuchautor Dashiell Hammett erweiterte den im Stück lediglich als Nebenrolle angelegten Part der Ehefrau, doch war die Schauspielerin am Ende trotzdem unzufrieden mit dem Ergebnis und die Dreharbeiten verliefen wenig erfreulich. Daneben war Davis auch in zwei zeitgenössischen Revuefilmen zu sehen, deren Erlöse für karitative Zwecke verwandt wurden. In Thank Your Lucky Stars aus dem Jahr 1943 singt und tanzt Davis während ihrer Solonummer They’re Either Too Young or Too Old. Die Schauspielerin besingt darin den Männermangel in der Gesellschaft, da die wehrfähigen Männer im Zuge des Zweiten Weltkriegs eingezogen wurden. In Hollywood Canteen trat Bette Davis ebenfalls als sie selbst auf und erklärte im Verlauf der Handlung die Aufgabe der von ihr mitgegründeten Einrichtung im Rahmen der Truppenbetreuung. Nachdem es unter anderem Norma Shearer und Margaret Sullavan ablehnten, neben Bette Davis lediglich die zweite weibliche Hauptrolle zu spielen, kam es bei In Freundschaft verbunden zu einem erneuten Aufeinandertreffen von Davis und Miriam Hopkins. Das Melodrama erzählt die spannungsreiche Freundschaft zweier Frauen, die einer harten Probe unterworfen wird, nachdem eine von beiden zur erfolgreichen Buchautorin wird und auch noch Konflikte um die Liebe eines Mannes aufkommen. Die tatsächliche Rivalität zwischen Davis und Hopkins war so stark, dass der ursprünglich verpflichtete Regisseur Edmund Goulding nach Beginn der Dreharbeiten auf eigenen Wunsch ausschied und Vincent Sherman die Produktion zu Ende brachte. Am 23. August 1943 brach Davis’ zweiter Ehemann, Arthur Farnsworth, auf offener Straße zusammen und starb zwei Tage später im Krankenhaus. Davis wurde daraufhin angeboten, den Drehstart für ihren nächsten Film Das Leben der Mrs. Skeffington (1943) zu verschieben, doch sie bat lediglich um eine Woche Aufschub. Während der Dreharbeiten waren ihre Launen nicht vorhersehbar und sie lag in einem ständigen Disput mit dem Regisseur Vincent Sherman und dem Texter Julius J. Epstein. So erhielt sie für ihr exzentrisch überzogenes Auftreten in dem Film sehr gemischte Kritiken, allerdings auch eine weitere Academy-Award-Nominierung. Langsam nachlassender Erfolg ab 1945 Seit Mitte der Dekade bekam Bette Davis zunehmend Konkurrenz um gute Rollen durch andere Schauspielerinnen, nachdem das Studio neben Joan Crawford auch mit Barbara Stanwyck und Rosalind Russell Verträge über eine bestimmte Anzahl von Filmen vereinbart hatte. Crawford gewann schließlich für ihre Darstellung in Solange ein Herz schlägt aus dem Jahr 1945 den Oscar als beste Hauptdarstellerin, während Davis für Das grüne Korn bei den Nominierungen leer ausging. Die Rolle einer idealistischen älteren Lehrerin, die aufopferungsvoll gegen den Bildungsnotstand in einem walisischen Bergwerksort ankämpft, wurde von Ethel Barrymore mit Erfolg auf der Bühne gespielt. Bette Davis musste sich unter anderem von dem renommierten Filmkritiker James Agee den Vorwurf gefallen lassen, eine Fehlbesetzung zu sein und schauspielerisch unter ihren Möglichkeiten zu bleiben. Das grüne Korn war 1945 der einzige Film, den Davis drehte. Im selben Jahr heiratete Davis den Künstler William Grant Sherry. Die große Lüge (1946) war Davis’ nächster Film und der erste, den sie mit ihrer eigenen Produktionsfirma B. D. Productions drehte. Das Drehbuch dafür ließ sich Davis von Catherine Turney schreiben, ihre Co-Stars wählte sie selbst aus. Bei den Kritikern fand der Film wenig Anklang, in den Kinos kam Die große Lüge hingegen trotzdem gut an. Ihr darauf folgender Film Trügerische Leidenschaft (1946) war ihr erster Film seit Günstling einer Königin aus dem Jahr 1939, der einen Verlust aufwies. Die schwangere Davis zog sich bis zur Geburt ihrer Tochter Barbara Davis Sherry (später bekannt als B. D. Hyman) ins Privatleben zurück. Nach ihrer Rückkehr bot man ihr die weibliche Hauptrolle in African Queen (1951) an. Als sie erfuhr, dass der Film in Afrika gedreht werden sollte, lehnte sie ab. Die Rolle übernahm später Katharine Hepburn. Davis weigerte sich ebenfalls, neben Joan Crawford in Women Without Men mitzuspielen. Das Projekt wurde 1950 mit Eleanor Parker unter dem Titel Frauengefängnis realisiert. Auch die Pläne, an der Seite von Joan Crawford und Gary Cooper in der Verfilmung von Edith Whartons Ethan Frome mitzuwirken, scheiterten an Davis’ Weigerung. Sie schlug Studiochef Jack Warner im Gegenzug erfolglos eine Filmbiografie von Mary Todd Lincoln vor. 1947 war Davis mit einem Einkommen von 328.000 US-Dollar die bestbezahlte Frau des Landes. Ihr erster Film nach der Geburt ihrer Tochter war Winter Meeting, der 1948 in den Verleih kam. Davis bereute anschließend ihr Mitwirken an dem Film. Sie zweifelte an dem schauspielerischen Talent ihres Kollegen Jim Davis und ihr missfiel, dass einige mit ihr geplante Szenen nicht verwirklicht wurden. Ein Kritiker urteilte: „von allen schrecklichen Dilemmas, in denen Frau Davis steckte […] ist dies wahrscheinlich das schlimmste.“ Der Film bescherte Warner Brothers am Ende über eine Million US-Dollar Verlust. Auch die Komödie Die Braut des Monats, die sie neben Robert Montgomery präsentierte, war kein Erfolg an der Kinokasse. Die Kritiken waren durchwachsen und Davis wurde bescheinigt, schauspielerisch nicht über die notwendige Leichtigkeit zu verfügen, um glaubhaft Komödien spielen zu können. Neben dem finanziellen Misserfolg ihrer beiden letzten Filme musste Bette Davis auch erkennen, dass Jane Wyman und Doris Day zu den populärsten weiblichen Stars des Studios aufstiegen. Die Gründe für den rapiden Niedergang ihrer Karriere waren vielfältig und trafen auch andere Schauspielerinnen ihrer Generation wie Barbara Stanwyck und Katharine Hepburn. Galt Bette Davis zu Beginn des Jahrzehnts neben Greer Garson als die „Doyenne des romantischen Melodramas“, übernahmen in den Folgejahren Olivia de Havilland und Ingrid Bergman diese Position. Auch Joan Fontaine und Susan Hayward spielten jetzt erfolgreich in Filmen über dramatische Frauenschicksale, die bislang Bette Davis vorbehalten waren. Das Studio hatte nichtsdestotrotz weiterhin Vertrauen in Bette Davis’ Zugkraft an der Kinokasse und 1949 einigten sich beide Seiten auf einen lukrativen Vertrag für vier weitere Filme. Der erste war Der Stachel des Bösen (1949). Die Schauspielerin war jedoch mit dem Drehbuch und dem Regisseur King Vidor sehr unzufrieden und spielte erst weiter, nachdem Warner ihr zugesichert hatte, sie nach Beendigung der Produktion aus ihrem Vertrag zu entlassen. Ihre Karriere schien beendet, und so schrieb der Los Angeles Examiner über ihren letzten Warner-Film: „Ein unwürdiges Finale einer brillanten Karriere.“ Beginn einer unabhängigen Karriere 1949 zerstritten sich Davis und ihr damaliger Ehemann Sherry. Sie erhielt zu dieser Zeit kaum Filmangebote, bis Darryl F. Zanuck dringend einen Ersatz für die Rolle der Margo Channing in Alles über Eva (1950) brauchte, da sich Claudette Colbert verletzt hatte. Die Tragikomödie war mit 14 Nominierungen und sechs Auszeichnungen der erfolgreichste Film bei der Oscarverleihung 1951 und bescherte Davis ein unerwartetes Comeback. Sie gewann für ihre Darstellung die Auszeichnung als beste Schauspielerin beim Filmfestival von Cannes und den New York Film Critics Circle Award. Der Regisseur Joseph L. Mankiewicz sagte später über die Arbeit mit Davis: „Sie war weit mehr als großartig. Sie war fantastisch“. Aus dem Film Alles über Eva stammt auch ihr berühmtestes Filmzitat: „Fasten your seatbelts, it’s going to be a bumpy night.“ (dt.: Bitte anschnallen, meine Herrschaften. Ich glaube, es wird eine stürmische Nacht.) Am 3. Juli 1950 war die Scheidung von William Sherry vollzogen. 25 Tage später heiratete Davis ihren Schauspielkollegen Gary Merrill aus Alles über Eva. Mit Sherrys Erlaubnis konnte Merrill anschließend Davis’ Tochter B. D. adoptieren. Auch ein Mädchen namens Margot adoptierten die beiden. 1952 folgte die Adoption eines Jungen namens Michael. In Großbritannien standen Merrill und Davis für den Film Gift für den Anderen (1951) erneut gemeinsam vor der Kamera. Die Kritiker bewerteten den Film negativ und die amerikanische Presse prophezeite Davis bereits ihr nächstes Karriereende – trotz ihrer erneuten Academy-Award-Nominierung für The Star (1952). So ließ sie sich für die Broadway-Revue Two’s Company von Jules Dassin engagieren. Mangels Ausbildung und Erfahrung überzeugte sie auf der Bühne jedoch nicht. Hinzu kam, dass Davis schwer erkrankte. Im Verlauf der 1950er Jahre drehte sie deshalb nur wenige Filme, die dazu noch wenig erfolgreich waren. Der Londoner Kritiker Richard Winninger urteilte über sie: „Frau Davis, die mehr Mitspracherecht hat als die meisten anderen Stars, scheint dem Egoismus verfallen zu sein […] Nur schlechte Filme sind gut genug für sie.“ Bei ihrer Tochter Margot wurde indes eine Schädigung des Gehirns festgestellt, die sie sich wahrscheinlich während oder kurz nach ihrer Geburt zugezogen hatte. Davis und Merrill gaben Margot in eine Spezialanstalt. Das Familienleben war damals von Streit, Gewalt und Alkohol geprägt. 1960 kam es zur Scheidung. 1961 akzeptierte Davis das Angebot, die Obdachlose Apple Annie in Frank Capras Film Die unteren Zehntausend (ein Remake von Lady für einen Tag aus dem Jahr 1933) zu spielen. Eine Broadway-Rolle neben Margaret Leighton und Patrick O’Neal in Die Nacht des Leguan spielte sie anschließend nur kurze Zeit, denn erneut gab es Streitigkeiten mit anderen Darstellern. In der späteren Verfilmung des Stoffes durfte sie nicht mehr mitwirken. Erneuter Erfolg ab 1962 Einen erneuten großen kommerziellen und auch künstlerischen Erfolg erlangte Davis durch ihr Mitwirken in Was geschah wirklich mit Baby Jane? (1962). Es war ihr einziger Film, den sie mit ihrer Konkurrentin Joan Crawford drehte. Damit das Projekt überhaupt realisiert werden konnte, verzichteten beide Hauptdarstellerinnen zunächst auf einen Teil ihrer Gage, handelten im Gegenzug aber eine prozentuale Gewinnbeteiligung aus. Davis erhielt für ihre Darstellung des ehemaligen Kinderstars Baby Jane Hudson, die ihre auf einen Rollstuhl angewiesene Schwester Blanche quält, ihre zehnte und letzte Nominierung für den Academy Award als beste Hauptdarstellerin sowie ihre einzige Nominierung für den Preis der Britischen Filmakademie. Im Kriminalfilm Der schwarze Kreis (1964) verkörperte Davis Zwillingsschwestern. Für die damalige Zeit war der Film aufwändig und erforderte eine spezielle Kameratechnik. Ihr nächstes Engagement fand sie in dem Drama Wohin die Liebe führt (1964). Abermals erschwerten Wortgefechte mit ihrer Filmpartnerin, diesmal Susan Hayward, die Dreharbeiten. Davis’ letzten großen Erfolg in den 1960er Jahren markierte Robert Aldrichs Baby-Jane-Fortsetzung Wiegenlied für eine Leiche (1964). Aldrich begann die Produktion erneut mit Joan Crawford als Davis’ Gegenspielerin. Crawford erkrankte jedoch und wurde auf Davis’ Vorschlag hin durch Olivia de Havilland ersetzt. Der Film war ein beachtlicher Erfolg, der zahlreiche Oscar-Nominierungen erhielt. 1964 wirkte Bette Davis auch in einer Pilotfolge für Aaron Spellings neue Sitcom The Decorator mit. Der Film wurde jedoch nie ausgestrahlt und das Projekt beendet. Im weiteren Verlauf der 1960er Jahre war sie in einigen britischen Produktionen zu sehen: War es wirklich Mord? (1965), Die Giftspritze (1968) und Das Durchgangszimmer (1970). Der Erfolg hielt sich in Grenzen und ihre Karriere kam erneut ins Stocken. Späte Karriere seit den 1970er Jahren 1972 übernahm Davis Hauptrollen in zwei Pilotfilmen für mögliche Fernsehserien, zunächst in In den Fängen der Madame Sin mit Robert Wagner und anschließend in The Judge and Jake Wyler mit Joan Van Ark. Aus beiden Filmen entstanden allerdings keine Serien. Zwei Jahre danach gab Davis in einer modernisierten Fassung von Das Korn ist grün ihr Comeback am Broadway. Das Stück war trotz schlechter Kritiken sehr gut besucht. Für die zu diesem Zeitpunkt 66-jährige Davis waren die Strapazen ständiger Bühnenauftritte allerdings zu hoch. Aufgrund einer Rückenverletzung schied sie aus der Produktion aus. Nach einem Jahr Drehpause kehrte Davis 1976 wieder auf die Leinwand zurück. Sie übernahm Nebenrollen in den Filmen Landhaus der toten Seelen mit Karen Black und The Disappearance of Aimee mit Faye Dunaway. Abermals kam es zu Streit mit den Mitwirkenden. Davis kritisierte vor allem den mangelnden Respekt gegenüber ihrer Person und das fehlende professionelle Benehmen am Set. Für das Fernsehen bekam Davis zu dieser Zeit viele Rollenangebote, sodass sie selbst entscheiden konnte, welche sie annahm und welche nicht. Zu sehen war sie unter anderem in der Fernsehserie The Dark Secret of Harvest Home (1978) und in dem Agatha-Christie-Film Tod auf dem Nil (1978). Einen Emmy Award erhielt sie für ihre Darstellung in Heimkehr einer Fremden (1979) sowie weitere Nominierungen für ihre Leistungen in White Mama (1980) und Kleine Gloria – Armes reiches Mädchen (1982). Auch wirkte Davis in zwei Disney-Filmen mit. Weitere Fernsehfilme mit ihr waren Die Lady (1981) zusammen mit ihrem Enkel J. Ashley Hyman, Ein Piano für Mrs. Cimino (1982) und Am Ende des Weges (1983) mit James Stewart. Letzte Lebensjahre Nachdem Davis 1983 die Pilotepisode zu der Fernsehserie Hotel gedreht hatte, wurde bei ihr Brustkrebs diagnostiziert. Später im Krankenhaus lähmte ein Schlaganfall ihre rechte Gesichtshälfte und ihren linken Arm, außerdem wurde ihr Sprachvermögen stark eingeschränkt. Sie begann anschließend eine langwierige Physiotherapie. Nach einer gewissen Besserung der Lähmungen kehrte sie nach Hause zurück, brach sich aber bei einem Sturz die Hüfte. Das Verhältnis zwischen Davis und ihrer Tochter B. D. Hyman verschlechterte sich in dieser Zeit, denn Hyman wollte ihre Mutter der christlichen Erweckungsbewegung zuführen. Davis reiste nach ihrer Genesung nach Großbritannien, um in dem Agatha-Christie-Film Mord mit doppeltem Boden (1985) mitzuspielen, und erfuhr bei ihrer Rückkehr, dass Hyman plante, eine Biografie zu veröffentlichen. Das Buch trug später den Titel My Mother’s Keeper und schildert in chronologischer Reihenfolge Ereignisse einer schwierigen Mutter-Tochter-Beziehung, geschrieben von einer Tochter, die unter der herrischen Art und Trunksucht der Mutter zu leiden hatte. Mehrere Freunde und Anhänger von Bette Davis bezeichneten die beschriebenen Erlebnisse als inkorrekt und Mike Wallace veranlasste die Wiederholung eines 60-Minutes-Interviews mit B. D. Hyman, das einige Jahre zuvor aufgezeichnet worden war. Dort sagt diese aus, dass sie viele Mutterfähigkeiten von Davis für sich angenommen habe und sie auch bei der Erziehung ihrer eigenen Kinder anwende. Sogar Davis’ Ex-Ehemann Merrill ließ in einem CNN-Interview verlauten, dass die Motive von Hyman „Grausamkeit und Habgier“ seien. Davis’ zweite Autobiografie mit dem Titel This ’N That schließt mit einem offenen Brief an ihre Tochter. Darin unterstellt sie Hyman „einen großen Mangel an Loyalität und Dankbarkeit für das äußerst privilegierte Leben, was ich meine, dir gegeben zu haben“. Der Brief endet mit einer Anspielung auf das Buch ihrer Tochter: „Wenn es um Geld geht und meine Erinnerungen richtig sind, war ich die ganzen Jahre dein Beschützer. Und ich ergänze, dass mein Name dein Buch über mich zu einem Erfolg gemacht hat.“ Davis sprach für den Rest ihres Lebens nie mehr mit ihrer Tochter und enterbte sie umgehend. Anschließend spielte Davis noch in dem Fernsehfilm All Summers Die (1986) mit sowie in Lindsay Andersons Wale im August (1987), wo sie die blinde Schwester von Lillian Gish verkörperte. Der Film brachte überwiegend anerkennende Kritiken ein. Ihre letzte Rolle war die der Miranda Pierpoint in Larry Cohens Tanz der Hexen (1989). Ihr Gesundheitszustand ließ es jedoch nicht zu, den Film zu Ende zu drehen, stattdessen wurde der Rolle von Barbara Carrera mehr Raum im Film gewährt. Tanz der Hexen wurde erst nach Davis’ Tod veröffentlicht. Während der American Cinema Awards von 1989 brach Davis zusammen. Sie musste erkennen, dass der Krebs zurückgekommen war. Trotzdem reiste sie nach Spanien, um eine Ehrung beim Festival Internacional de Cine de Donostia-San Sebastián entgegenzunehmen. Während des Aufenthalts verschlechterte sich ihr Gesundheitszustand rapide. Da sie körperlich nicht in der Lage war, die Heimreise in die Vereinigten Staaten anzutreten, ging sie nach Frankreich, wo sie am 6. Oktober 1989 im Amerikanischen Krankenhaus in Neuilly-sur-Seine starb. Sie wurde im Forest Lawn Memorial Park neben ihrer Mutter Ruth und ihrer Schwester Bobby beerdigt. Ihre Grabinschrift lautet „She did it the hard way“ (dt.: Sie nahm den harten Weg). Diesen Ausspruch hatte ihr Joseph L. Mankiewicz kurz nach Beendigung der Dreharbeiten zu Alles über Eva vorgeschlagen. Bette Davis Foundation Im Jahr 1997 gründeten Davis’ Testamentsvollstrecker Michael Merrill, ihr Sohn und ihre ehemalige Assistentin Kathryn Sermak die Bette Davis Foundation, die mit Collegestipendien junge Schauspieler und Schauspielerinnen fördert. Seit 1999 zeichnet die Foundation jedes Jahr einen Schauspielstudenten des Boston University College of Fine Arts mit dem Bette Davis Preis und einem Stipendium aus. Die bis dato berühmteste Preisträgerin ist Ginnifer Goodwin, die 2001 die Auszeichnung erhielt und 2005 in dem sechsfach für den Oscar-nominierten Film Walk the Line mitwirkte. In unregelmäßigen Abständen verleiht die Bette Davis Foundation den Bette Davis Lifetime Achievement Award. 1999 erhielt Meryl Streep die Auszeichnung, 2002 Prinz Edward und 2008 Susan Sarandon. Anlässlich Davis’ 100. Geburtstages erhielt Lauren Bacall die Bette Davis Medal of Honor. Im Jahr 2014 wurde Geena Davis mit dem Lifetime Achievement Award ausgezeichnet. Wirkung und Rezeption Äußeres Erscheinungsbild Davis entsprach äußerlich nicht dem Bild einer klassischen Filmschauspielerin ihrer Zeit. Alles in ihrem Gesicht schien ein wenig zu groß geraten. Vor allem ihre Augen hatten einen hohen Wiedererkennungswert. So hob sie sich deutlich von damaligen populären Schönheitsidealen ab, die von Stars wie Greta Garbo oder Marlene Dietrich personifiziert wurden. Bei ihrer Anreise in Hollywood 1930 erkannte ein Studiomitarbeiter sie am Bahnhof nicht als Schauspielerin und fuhr, ohne sie abgeholt zu haben, zurück zum Studio. Auch während der Dreharbeiten zu ihrem ersten Film wurde Davis nicht ernst genommen. So soll Produktionschef Carl Laemmle junior gesagt haben, sie hätte „in etwa so viel Sexappeal wie Slim Summerville“. Davis war es wichtig, durch ihre schauspielerischen Fähigkeiten aufzufallen und weniger durch ihr Aussehen, und so sagte sie einmal: „Mir war es immer egal, wie ich aussah, solange ich nur wie meine Figur aussah.“ Sie bewies bei der Darstellung einiger ihrer Filmcharaktere wiederholt Mut zur Hässlichkeit. Für ihre Darstellung der Baby Jane Hudson schminkte sie sich zum Beispiel selbst, weil sie überzeugt war, dass niemand sich trauen würde, sie ausreichend hässlich zu schminken. Für den Film Günstling einer Königin ließ sie sich Haare und Augenbrauen abrasieren, als das Drehbuch dies erforderte, und ihre Todesszene in Of Human Bondage kommentierte sie einmal mit den Worten: „Die letzten Phasen von Tuberkulose, Armut und Vernachlässigung sind nicht schön und ich beabsichtige, überzeugend auszusehen.“ Rollenwahl Noch mehr als durch ihr Erscheinungsbild fiel Davis durch ihre unkonventionelle Rollenwahl auf. Spielte sie zu Beginn ihrer Karriere noch typische naive Mädchen, erkannte man nach ihrer Darstellung der Mildred in Of Human Bondage ihr Talent als Charakterdarstellerin. Damit hatte sie ein Alleinstellungsmerkmal inne, denn die meisten Schauspielerinnen schlugen damals Rollen von unsympathischen, moralisch fragwürdigen Charakteren aus, weil sie einen Imageschaden befürchteten. Davis spielte in der Folgezeit willensstarke, ehrgeizige, zum Teil neurotische und bisweilen macht- und geldhungrige Charaktere. Sie verkörperte unter anderem eine Prostituierte in Mord im Nachtclub, eine verlogene Mörderin in Das Geheimnis von Malampur und eine berechnende Erpresserin und Mörderin in Die kleinen Füchse. Auf einem Filmplakat, für Der Stachel des Bösen wurde sie einmal mit den Worten beworben: „Niemand ist so gut wie Bette Davis, wenn sie böse ist.“ Kennzeichnend war ferner, dass Davis häufig Persönlichkeiten spielte, die älter waren als sie selbst, wie zum Beispiel in Das grüne Korn oder Günstling einer Königin. In letzterem spielte sie die sechzigjährige Elisabeth I., obwohl sie zu Beginn der Dreharbeiten selbst erst 31 Jahre alt war. Als in den 1960er Jahren die Rollenangebote ausblieben, wagte sie den Schritt zum Horrorgenre und wurde damit zur Vorreiterin für viele weitere alternde Hollywoodstars. Wieder waren es die Darstellungen besonders bösartiger beziehungsweise psychisch kranker Figuren, die ihr neue Anerkennung in Hollywood einbrachten. Davis muss sich rückblickend auf ihre Karriere allerdings auch den Vorwurf gefallen lassen, manche ihrer Rollen nicht optimal ausgesucht zu haben. So lehnte sie Angebote für später erfolgreiche Filme ab, etwa Solange ein Herz schlägt und African Queen. Stattdessen wirkte sie in von Kritikern verrissenen beziehungsweise vom Publikum missachteten Filmen mit – etwa Trügerische Leidenschaft und Winter Meeting – obwohl sie als eine der zu diesem Zeitpunkt einflussreichsten Schauspielerinnen Hollywoods durchaus hätte ablehnen können. Ausdrucksmittel Davis’ stärkstes Ausdrucksmittel waren ihre großen, herausstechenden Augen, die in vielen Filmen durch Make-up und Kameraeinstellungen besonders betont wurden. Für viele Filmkenner gilt sie noch heute als „Königin des bösen Blicks“. Außerdem spielten Zigaretten in ihren Filmen eine große Rolle, sodass sie häufig rauchende Charaktere darstellte. In Filmen wie Alles über Eva oder Vertauschtes Glück zelebriert sie das Rauchen geradezu. Ihre wohl bekannteste Raucherszene, welche in der Folgezeit auch häufig nachgespielt und parodiert wurde, stammt aus dem Film Reise aus der Vergangenheit. Paul Henreid zündet sich darin zwei Zigaretten gleichzeitig an, für eine kurze Zeit hält er beide zwischen den Lippen, bevor er eine an Davis weitergibt. Gegenüber ihrer Biografin Charlotte Chandler gab Davis an: „Zigaretten waren für meine Charaktere sehr wichtig […] die Zigarette war meine Charaktere-Stütze. […] Ich setzte sie ein, um Zorn zu demonstrieren, um ein Argument anzubringen oder eine Reaktion zu unterstreichen, um Nervosität auszudrücken.“ Davis war stets bemüht, ihre Charaktere besonders authentisch wirken zu lassen. 1935 schrieb E. Annot Robertson in der Picture Post dazu: „Ich denke, Bette Davis wäre wahrscheinlich als Hexe verbrannt worden, wenn sie zwei- oder dreihundert Jahre früher gelebt hätte. Sie gibt einem das seltsame Gefühl, mit einer Kraft aufgeladen zu sein, die keinen gewöhnlichen Ausgang findet.“ Ihr Spiel bestach vor allem durch Körperlichkeit; hysterische Anfälle und starke Gefühlsausbrüche stellten keine Seltenheit dar. Der Filmhistoriker Gene Ringgold sagte über ihr Schauspiel: „Zwei Arten von Schauspielern gibt es, solche, die durch handwerkliches Können ideale Projektionsflächen für das Publikum schaffen. Und andere, die den Zuschauer durch die schiere Macht ihrer Persönlichkeit überwältigen. Bette Davis gehörte zu den Letzteren, verließ sich aber nicht allein auf ihr Charisma; das Handwerk erlernte sie nach und nach. Intelligenz, harte Arbeit, Disziplin, Unerschrockenheit, Ehrgeiz – das sind die Botschaften ihrer langen Karriere.“ Publikum und Anhängerschaft Der Großteil von Davis’ über einhundert Filmen wurde für ein vorwiegend weibliches Publikum produziert. Gerade während der 1930er Jahre und im Krieg waren Melodramen gefragt, die das Publikum den Alltag vergessen ließen. Davis entwickelte sich dabei durch ihr selbstbewusstes Auftreten in ihren Filmen zu einem Vorbild für viele Frauen. Eine Ausnahme bildete zum Beispiel der zeitgenössische Boxfilm Kid Galahad – mit harten Fäusten, hier konnte sie sich auch beim männlichen Publikum einen Namen machen. Mit ihren Auftritten in Horrorfilmen in den 1960er und 1970er Jahren erregte Davis vor allem bei Genreliebhabern Aufmerksamkeit. Sie war auch eine Ikone in der amerikanischen Schwulenszene. Häufig wurde sie von in den Vereinigten Staaten bekannten Travestiekünstlern wie Charles Pierce oder Tracey Lee imitiert. Neue Bekanntheit gerade bei der jüngeren Generation erlangte sie ohne eigenes Zutun durch Kim Carnes’ Welthit Bette Davis Eyes. Der Titel wurde 1981 in insgesamt 31 Ländern zur Nummer eins in den Charts. Große Beachtung fanden ab den 1970er Jahren auch Talkshows und Bühnenpräsentationen, in denen Davis auftrat, um eines ihrer Bücher vorzustellen oder über ihr Leben zu erzählen. So war unter anderem ihr Auftritt bei der New Yorker Bühnenpräsentation Great Ladies of the American Cinema so erfolgreich, dass sie anschließend mit dem Programm Bette Davis in Person und Film auf Tour nach Australien und Europa ging. Das Publikum schätzte ihre direkte und ehrliche Art. Durch ihre vielen Reisen ins Ausland besaß Davis auch außerhalb der Vereinigten Staaten eine beachtliche Fangemeinde. Auch das Buch My Mother’s Keeper ihrer Tochter tat ihrer Beliebtheit keinen Abbruch. Image, Ruf und Eskapaden Spätestens nach ihrem Rechtsstreit mit Warner Brothers im Jahr 1936 hatte Davis in Hollywood den Ruf, anspruchsvoll in Bezug auf die Produktionsbedingungen ihrer Filme zu sein. Häufig befand sie Drehbücher für schlecht und Regisseure sowie andere Darsteller für untalentiert. Bekannt sind ihre Auseinandersetzungen mit Miriam Hopkins, Susan Hayward, Jim Davis, Faye Dunaway und weiteren. Sogar mit William Wyler, dem Mann, den sie am meisten verehrte, stritt sie sich bei den Dreharbeiten zu Die kleinen Füchse so heftig, dass es anschließend zu keiner weiteren Zusammenarbeit zwischen den beiden kam. Bei den Dreharbeiten zu Die Giftspritze ließ Davis sogar den Regisseur Alvin Rakoff nach einigen Drehtagen austauschen. Die Medien spekulierten über die Jahre immer wieder über Rivalitäten zwischen Bette Davis und Joan Crawford. Gemäß Davis soll es zumindest während der gemeinsamen Dreharbeiten zu Was geschah wirklich mit Baby Jane? zu keinen offenen Konflikten gekommen sein. In ihrem Buch This ’N That äußerte sie sich: „Fehde ist ein Hollywood-Wort. Haben Bette Davis und Joan Crawford jemals gestritten während der Dreharbeiten zu Was geschah wirklich mit Baby Jane? Nein!“. Bette Davis konnte jedoch auch sehr zuvorkommend und selbstlos gegenüber ihren Co-Stars sein. Während der Arbeiten zu Vertauschtes Glück aus dem Jahr 1941 sorgte Davis persönlich dafür, dass die Rolle von Mary Astor, die zunächst nur als stereotype andere Frau das Glück zwischen Bette Davis und George Brent stören sollte, ausgebaut und interessanter gestaltet wurde. Am Ende gewann Mary Astor den Oscar als beste Nebendarstellerin und dankte während der Zeremonie explizit zwei Menschen – Bette Davis und Pjotr Iljitsch Tschaikowski. Bette Davis war mit etlichen Kollegen aus der Filmbranche zeitlebens eng befreundet, so mit Olivia de Havilland, Geraldine Fitzgerald, George Brent, Anne Baxter und Natalie Wood. Filmografie Kinofilme Fernsehauftritte (Auswahl) Theaterauftritte (Auswahl) Auftritte von Bette Davis am New Yorker Broadway: 1929: The Earth Between (Provincetown Playhouse; Rolle: Floy Jennings) 1929: Ritz Theatre (Ritz Theatre; Rolle: Elaine Bumpsted) 1930: Solid South (Lyceum Theatre; Rolle: Bam) 1952: Two’s Company (Alvin Theatre; Musical-Revue) 1960: The World of Carl Sandburg (Henry Miller’s Theatre) 1961: The Night of the Iguana (Royale Theatre; Rolle: Maxine Faulk) Radioauftritte (Auswahl) Ab Mitte der 1930er Jahre wirkte Bette Davis, wie viele andere Hollywood-Schauspieler auch, in Radiosendungen als Sprecherin diverser Hörspielproduktionen mit, mitunter handelte es sich dabei um Adaptionen ihrer zuvor gedrehten Filme. 30. März 1936: Bought And Paid For (Lux Radio Theatre) 17. Mai 1937: Another Language (Lux Radio Theatre; gemeinsam mit Fred MacMurray) 28. Februar 1938: Forsaking All Others (Lux Radio Theatre; gemeinsam mit Joel McCrea) 8. Januar 1940: Dark Victory (Lux Radio Theatre; gemeinsam mit Spencer Tracy) 14. Januar 1940: This Lonely Heart (Screen Guild Theatre) 10. März 1940: Ballerina, Slightly with Accent (Screen Guild Theatre; gemeinsam mit William Powell) 21. April 1941: The Letter (Lux Radio Theatre; gemeinsam mit Herbert Marshall und James Stephenson) 15. Dezember 1941: All This and Heaven Too (Lux Radio Theatre; gemeinsam mit Charles Boyer) 6. März 1944: The Letter (Lux Radio Theatre; gemeinsam mit Vincent Price und Herbert Marshall) 10. Januar 1944: Watch on the Rhine (Screen Guild Theatre; gemeinsam mit Paul Lukas) 6. August 1945: The Little Foxes (Screen Guild Theatre) 1. Oktober 1945: Mr. Skeffington (Lux Radio Theatre) 11. Februar 1946: Now. Voyager (Lux Radio Theatre; gemeinsam mit Gregory Peck) 25. August 1947: A Stolen Life (Lux Radio Theatre; gemeinsam mit Glenn Ford) 29. August 1949: June Bride (Lux Radio Theatre; gemeinsam mit James Stewart) 3. September 1951: Payment on Demand (Lux Radio Theatre; gemeinsam mit Barry Sullivan) 1. Oktober 1951: All About Eve (Lux Radio Theatre; gemeinsam mit Gary Merrill und Anne Baxter) Auszeichnungen Schauspielerische Auszeichnungen Oscar 1962 war Davis die erste Person, die zehn Oscar-Nominierungen als beste Schauspielerin oder bester Schauspieler auf sich vereinigen konnte. Lediglich Meryl Streep, Katharine Hepburn, Jack Nicholson und Laurence Olivier konnten dies zu einem späteren Zeitpunkt ebenfalls erreichen oder übertreffen. Als erste Schauspielerin wurde sie fünf Jahre hintereinander für den Oscar nominiert (1939–1943), was nach ihr lediglich Greer Garson in der Zeit von 1942 bis 1946 schaffte. Nach Bette Davis Tod kaufte Steven Spielberg ihre beiden Trophäen für 207.000 US-Dollar bzw. 578.000 US-Dollar und gab sie anschließend der Academy of Motion Picture Arts and Sciences zurück. 1935 – sog. Write-In Nominierung für Of Human Bondage als beste Schauspielerin (Die Academy of Motion Picture Arts and Sciences zählt Davis lediglich als write-in Kandidatin und somit nicht zu den offiziellen drei Nominierungen für die Beste Darstellerin des Jahres) 1936 – Gewonnen für Dangerous als beste Schauspielerin 1939 – Gewonnen für Jezebel – Die boshafte Lady als beste Schauspielerin in einer Hauptrolle 1940 – Nominierung für Opfer einer großen Liebe als beste Schauspielerin in einer Hauptrolle 1941 – Nominierung für Das Geheimnis von Malampur als beste Schauspielerin in einer Hauptrolle 1942 – Nominierung für Die kleinen Füchse als beste Schauspielerin in einer Hauptrolle 1943 – Nominierung für Reise aus der Vergangenheit als beste Schauspielerin in einer Hauptrolle 1945 – Nominierung für Das Leben der Mrs. Skeffington als beste Schauspielerin in einer Hauptrolle 1951 – Nominierung für Alles über Eva als beste Schauspielerin in einer Hauptrolle 1953 – Nominierung für The Star als beste Schauspielerin in einer Hauptrolle 1963 – Nominierung für Was geschah wirklich mit Baby Jane? als Schauspielerin in einer Hauptrolle Emmy Award 1979 – Gewonnen für Heimkehr einer Fremden als beste Hauptdarstellerin in einer Miniserie oder einem Fernsehfilm 1980 – Nominierung für White Mama als beste Hauptdarstellerin in einer Miniserie oder einem Fernsehfilm 1983 – Nominierung für Kleine Gloria – Armes reiches Mädchen als beste Nebendarstellerin in einer Miniserie oder einem Fernsehfilm Golden Globe Award 1951 – Nominierung für Alles über Eva als beste Hauptdarstellerin – Drama 1962 – Nominierung für Die unteren Zehntausend als beste Hauptdarstellerin – Komödie oder Musical 1963 – Nominierung für Was geschah wirklich mit Baby Jane? als beste Hauptdarstellerin – Drama British Film Academy Award 1964 – Nominierung für Was geschah wirklich mit Baby Jane? als beste ausländische Schauspielerin CableACE Award 1984 – Nominierung für Am Ende des Weges als beste Schauspielerin in einer Miniserie oder einem Fernsehfilm 1987 – Nominierung für As Summers Die als beste Schauspielerin in einer Miniserie oder einem Fernsehfilm Internationale Filmfestspiele von Cannes 1950 – Gewonnen für Alles über Eva als beste Darstellerin Laurel Award 1963 – 3. Platz für Was geschah wirklich mit Baby Jane? als beste Hauptdarstellerin in einem Drama 1965 – Gewonnen für Wiegenlied für eine Leiche als beste Hauptdarstellerin in einem Drama New York Film Critics Circle Award 1950 – Gewonnen für Alles über Eva als beste Schauspielerin Nymphe d’Or 1983 – Gewonnen für Ein Piano für Mrs. Cimino als beste Schauspielerin Saturn Award 1976 – Gewonnen für Landhaus der toten Seelen als beste Nebendarstellerin Internationale Filmfestspiele von Venedig 1937 – Gewonnen für Mord im Nachtclub als beste Darstellerin Ehrenauszeichnungen Bette Davis wurde im Laufe ihrer Karriere vielfach für ihre besonderen Leistungen ausgezeichnet. Ihre erste Auszeichnung als Schauspielerin überhaupt erhielt sie 1932 als Star of Tomorrow als einer der vielversprechendsten zukünftigen Stars zusammen mit Joan Blondell und Ginger Rogers. 1941 und 1963 wurde Davis mit dem Golden Apple Award ausgezeichnet, einem Preis, der an Schauspieler verliehen wird, die sich in Zusammenarbeit mit der Presse besonders kooperativ gezeigt haben. Am 6. November 1950 durfte sich Davis mit ihren Hand- und Fußabdrücken im Vorhof von Grauman’s Chinese Theatre verewigen. Für ihr Lebenswerk wurde Davis erstmals 1974 mit dem Cecil B. deMille Award geehrt. 1977 bekam Davis als erste Frau den Life Achievement Award des American Film Institutes verliehen. Im Jahr 1982 wurde Davis die Ehre zuteil, mit der Distinguished Civilian Service Medal die höchste zivile Auszeichnung des Verteidigungsministeriums der Vereinigten Staaten zu erhalten. Die Medaille würdigte ihre umfangreiche Mitarbeit am Projekt Hollywood Canteen während des Zweiten Weltkriegs. In der Folgezeit häuften sich die Preise für Davis’ Werk. So erhielt sie unter anderem den Award of Excellence des Film Advisory Boards (1982), den Crystal Award (1983), den Life Achievement Award der American Theater Arts (1983) und den César d’honneur (1986). 1987 wurde Davis von der französischen Regierung zum Mitglied der Ehrenlegion für ihre Verdienste für den Film ernannt, im gleichen Jahr erhielt sie auch den Kennedy-Preis. In Davis’ letztem Lebensjahr folgten die Verleihung des Life Achievement Award der American Cinema Awards und des Donostia Lifetime Achievement Award auf dem San Sebastián International Film Festival. Bette Davis hat zwei Sterne auf dem Hollywood Walk of Fame inne (6225 Hollywood Blvd. und 6233 Hollywood Blvd.). 1999 wählte sie das American Film Institute auf Platz zwei der 25 größten Hollywood-Schauspielerinnen des 20. Jahrhunderts, hinter Katharine Hepburn. Der United States Postal Service ehrte Davis 2008, anlässlich ihres 100. Geburtstags mit einer Sondermarke. Die Marke zeigt ein Bild von Davis in ihrer Rolle als Margo Channing aus Alles über Eva. Literatur Autobiografien Bette Davis: The Lonely Life: An Autobiography, G. P. Putnam’s Sons, New York 1962 Bette Davis und Michael Herskowitz: This ’N That, G. P. Putnam’s Sons, New York 1987, ISBN 978-0-399-13246-9. Biografien Roger Baker: Bette Davis. A Tribute 1908–1989. (Gebundene Ausgabe) Gallery Books 1990, ISBN 978-0-8317-0800-9. Charlotte Chandler: Bette Davis. Die persönliche Biografie. LangenMüller, München 2008, ISBN 978-3-7844-3137-6. Charlotte Chandler: The Girl Who Walked Home Alone. Bette Davis, a Personal Biography. (Gebundene Ausgabe) Simon & Schuster 2006, ISBN 978-0-7432-6208-8. Shaun Considine: Bette and Joan: The Divine Feud. (Gebundene Ausgabe) E P Dutton 1989 / Taschenbuch iUniverse.com Oktober 2000 und Time Warner Paperbacks 2004, ISBN 978-0-7515-4187-8. Boze Hadleigh: Bette Davis Speaks. (Taschenbuch) Barricade Books Inc., U.S. 2005, ISBN 978-0-7862-0835-7. B. D. Hyman: My Mother’s Keeper. (Gebundene Ausgabe) William Morrow & Co 1987, ISBN 978-0-688-04798-6. Barbara Leaming: Bette Davis. A Biography. (Taschenbuch) Cooper Square Press 2003, ISBN 978-0-8154-1286-1. Roy Moseley: Bette Davis: An Intimate Memoir. (Gebundene Ausgabe) Donald I Fine 1990, ISBN 978-1-55611-218-8. Laura Moser: Bette Davis (Life & Times). (Taschenbuch) Haus Publishing Limited 2005, ISBN 978-1-904341-48-2. Christopher Nickens: Bette Davis. (Taschenbuch) Columbus Books Ltd 1985, ISBN 978-0-86287-256-4. Lawrence J. Quirk: The Passionate Life of Bette Davis. (Gebundene Ausgabe) Robson Books Ltd 1990, ISBN 978-0-688-08427-1. Randall Riese: All About Bette. Her Life from A–Z. (Gebundene Ausgabe) Contemporary Books Inc 1993, ISBN 978-0-8092-4111-8. Jeffrey Robinson: Bette Davis. Her Film and Stage Career. The Definitive Study of Her Film Career. 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https://de.wikipedia.org/wiki/Beutelteufel
Beutelteufel
Der Beutelteufel (Sarcophilus harrisii), auch Tasmanischer Teufel genannt, ist eine Tierart aus der Familie der Raubbeutler (Dasyuridae) und deren größter lebender Vertreter. In der rekonstruierten Sprache Palawa Kani der tasmanischen Aborigines wird er als Purinina bezeichnet. Mit Ausnahme von wenigen dutzend Tieren als Teil eines Wiederansiedlungsprojekts auf dem australischen Festland, wo die Tierart wahrscheinlich schon im 14. Jahrhundert ausgestorben war, sind Beutelteufel heute hauptsächlich auf der Insel Tasmanien beheimatet. Zum erhofften Schutz des Viehbestands wurde er auf Tasmanien bis in die 1930er Jahre intensiv bejagt. Seitdem der Beutelteufel 1941 unter Schutz gestellt worden ist, hat sich der Bestand erholt. Allerdings ist die Art seit den späten 1990er Jahren durch die Krankheit Devil Facial Tumour Disease (DFTD) bedroht. Namen Seinen Namen erhielt der Beutelteufel wegen seines schwarzen Felles, seiner Ohren, die sich bei Aufregung rot färben, seines besonders bei Erregung sehr unangenehmen Körpergeruches, seines lauten Kreischens, das über sehr weite Entfernungen noch zu hören ist, und seines aggressiven und neugierigen Verhaltens gegenüber einer geschlagenen Beute und überhaupt allem, was ihm begegnet. Sein wissenschaftlicher Name hat sich in den letzten zweihundert Jahren mehrfach geändert. Der Naturwissenschaftler George Harris (1775–1810) beschrieb den Beutelteufel 1808 und gab ihm die wissenschaftliche Bezeichnung Didelphis ursina. Dieser Name war allerdings schon 1800 für ein anderes Tier, den Nacktnasenwombat (heute Vombatus ursinus) vergeben worden und darum ungültig. 1837 stellte Frédéric Cuvier die neue Gattung Sarcophilus auf, allerdings noch immer mit dem ungültigen Artepitheton ursinus. 1838 beschrieb Richard Owen fossiles Material, das dem Beutelteufel stark ähnelte, als Dasyurus laniarius. 1841 nannte Pierre Boitard die lebende Art Sarcophilus harrisii. Anschließend war lange umstritten, ob die ausgestorbene Art S. laniarius mit der lebenden S. harrisii identisch wäre oder nicht – wenn sie identisch wären, wäre S. laniarius der gültige Name des Beutelteufels. In jüngerer Zeit mehren sich die Stimmen, die die Fossilfunde als eigene Art betrachten und deshalb Sarcophilus harrisii als gültigen wissenschaftlichen Namen des Beutelteufels betrachten. Neueste phylogenetische Untersuchungen zeigen, dass die Beutelteufel eng mit den Beutelmardern verwandt sind, wie diese werden sie in die Familie der Raubbeutler eingeordnet. Zum ausgestorbenen Beutelwolf besteht dagegen nur eine entfernte Verwandtschaft. Merkmale Der Beutelteufel ist der größte noch lebende Raubbeutler. Die Männchen haben eine durchschnittliche Kopfrumpflänge von 65 Zentimetern, der Schwanz hat im Mittel eine Länge von knapp 26 Zentimetern und sie wiegen etwa acht Kilogramm. Weibchen sind etwas kleiner und leichter: Ihre Kopfrumpflänge beträgt durchschnittlich 57 Zentimeter, der Schwanz bei ihnen ist 24 Zentimeter lang, und sie wiegen etwa sechs Kilogramm. Der Körperbau des Beutelteufels ist gedrungen und kräftig. Die Vorderbeine sind etwas länger als die Hinterbeine. Der Kopf ist kurz und breit, die Zähne sehr kräftig und ideal dafür geeignet, Knochen zu zerbrechen. Das Fell ist schwarz oder dunkelbraun, abgesehen von einem weißen Kehlstreifen und gelegentlich auftretenden weißen Flecken auf dem Rumpf. Beutelteufel lagern Körperfett in ihren Schwänzen ein. Ein kranker Beutelteufel ist daher meist an einem dünnen Schwanz zu erkennen. Wenn er erregt ist, strömt der Beutelteufel einen beißenden Geruch aus, der in seiner unangenehmen Intensität dem des Stinktieres nicht nachsteht. Gehör- und Geruchssinn sind sehr gut, er sieht jedoch relativ schlecht. Eine Untersuchung der Bisskraft in Relation zur Körpergröße hat gezeigt, dass der Tasmanische Teufel den stärksten Biss unter den Säugetieren hat. Es ist vor allem der im Verhältnis zu seiner Körpergröße große Kopf, der seine Kiefer so kräftig macht. Verbreitung Beutelteufel leben heute nur noch auf Tasmanien, weshalb sie gelegentlich auch als Tasmanischer Teufel oder Tasmanischer Beutelteufel bezeichnet werden. Aufgrund von Fossilfunden wird angenommen, dass der Beutelteufel erst im 14. Jahrhundert auf dem australischen Festland ausgestorben ist. Sein Aussterben wird auf den Konkurrenzdruck durch Dingos und die Bejagung durch Aborigines zurückgeführt. Überlebt haben Beutelteufel – wie einige andere Raubbeutler auch – auf der dingofreien Insel Tasmanien. Die Art hat dort auch die Verfolgungen durch Europäer überstanden, die bei anderen Raubbeutlern wie beispielsweise dem Beutelwolf zum Aussterben geführt hat. Im Pleistozän kam eine andere Beutelteufelart (Sarcophilus laniarius) in Australien vor, die etwa um 25 % größer war als der heutige Beutelteufel (Sarcophilus harrisii). Lebensraum und Lebensweise Beutelteufel sind auf fast ganz Tasmanien zu finden und können als verhältnismäßig häufig angesehen werden. Sie nutzen nahezu alle Lebensräume der Insel und kommen auch in den Außenbezirken von Städten vor. Ihre bevorzugten Aufenthaltsräume sind jedoch trockene Wälder und die Waldgebiete entlang der Küste. Sie jagen bevorzugt während der Nacht und der Dämmerung und verbringen den Tag entweder in dichtem Gebüsch oder einem unterirdischen Bau. Beutelteufel können schwimmen. Junge Beutelteufel können auch auf Bäume klettern, mit zunehmendem Lebensalter fällt das den Tieren immer schwerer. Abgesehen von der Paarungszeit sind sie Einzelgänger. Die von ihnen genutzten Aktionsräume haben Größen zwischen acht und zwanzig Quadratkilometern. Die Aktionsräume mehrerer Tiere können sich dabei erheblich überschneiden. Nahrung und Nahrungserwerb Beutelteufel sind zwar in der Lage, Tiere bis zu der Größe eines kleinen Wallabys zu reißen, den größten Teil ihrer Beute machen jedoch verendende Tiere oder Aas aus. Ihr Nahrungsspektrum umfasst kleinere Säugetiere, bevorzugt Wombats, sowie Vögel, Insekten, Frösche und Reptilien, aber auch Haustiere wie beispielsweise Schafe. Die Ernährung des Beutelteufels ist damit variabel und abhängig davon, welche Nahrungsquellen ihm zur Verfügung stehen. Im Schnitt nimmt er pro Mahlzeit etwa 15 % seines Körpergewichts an Nahrung zu sich. Wenn sich ihm die Möglichkeit bietet, ist er allerdings auch in der Lage, innerhalb von 30 Minuten Mengen zu fressen, die etwa 40 % seines Körpergewichts entsprechen. Beutelteufel verschlingen ihre Beutetiere vollständig – das heißt, sie verzehren neben dem Fleisch und den inneren Organen auch die Knochen und das Fell eines Beutetiers. Einige tasmanische Farmer schätzen deshalb Beutelteufel wegen ihrer ökologischen Rolle. Die Geschwindigkeit, mit der sie Kadaver beseitigen, verhindert die Vermehrung von Insekten, die sich ansonsten nachteilig auf den übrigen Viehbestand auswirken könnten. Obwohl der Beutelteufel ein Einzelgänger ist, können sich mehrere an einem großen Kadaver einfinden. Beutelteufel liefern sich dabei heftige Kämpfe untereinander und die kreischenden Laute, die sie bei diesen rauen Gemeinschaftsmahlzeiten äußern, sind über mehrere Kilometer wahrnehmbar. Untersuchungen über das Fressverhalten der Beutelteufel haben gezeigt, dass sich zwanzig verschiedene Körperhaltungen identifizieren lassen. Auch das charakteristische aggressiv-drohende Gähnen gehört zu den typischen Verhaltensmerkmalen. Elf unterschiedliche Lautäußerungen wurden erkannt. Die Rangfolge unter den Tieren wird gewöhnlich durch Lautäußerungen und Drohhaltungen festgelegt. Es kommt jedoch auch sehr häufig zu Kämpfen. Ausgewachsene männliche Tiere sind meist aggressiver und tragen fast immer Narben, die sie sich bei Kämpfen um Nahrung und Geschlechtspartnerinnen zuziehen. Fortpflanzung Weibliche Beutelteufel sind in ihrem zweiten Lebensjahr geschlechtsreif und beginnen ab diesem Zeitpunkt, sich zu vermehren. Die Paarung findet meistens im März statt. Die Männchen kämpfen um die brünstigen Weibchen, die sich vom jeweils dominanten Männchen begatten lassen. Zur Paarung kommt es sowohl nachts als auch tagsüber. Beutelteufel sind nicht monogam und ein Weibchen lässt sich von mehreren Männchen begatten, wenn nicht sein letzter Geschlechtspartner dies aktiv verhindert. Die Entwicklung der Embryonen dauert 31 Tage. Beutelteufelweibchen bringen zwischen zwanzig und dreißig völlig nackte und nur eingeschränkt bewegungsfähige Junge zur Welt. Jedes Jungtier wiegt nur zwischen 0,18 und 0,24 Gramm. Sofort nach der Geburt kriechen sie von der Vagina zu dem nach hinten geöffneten Beutel des Muttertiers. Befinden sie sich im Beutel, heften sie sich an eine der Milchdrüsen, wo sie für die nächsten 100 Tage verbleiben. Trotz der großen Anzahl an Jungen, die ein Beutelteufelweibchen normalerweise zur Welt bringt, hat es nur vier Milchdrüsen, so dass von einem Wurf maximal vier Jungtiere heranwachsen können. Im Schnitt schaffen es mehr Weibchen als Männchen, sich an eine der Milchdrüsen zu heften. Die Jungtiere eines Wurfes, denen es nicht gelingt, eine Milchdrüse zu finden, werden normalerweise von ihrer Mutter gefressen. Ähnlich wie beim Wombat kann die Mutter nicht mit den Jungen interagieren, da der Beutel nach hinten geöffnet ist. Die Jungtiere im Beutel entwickeln sich sehr schnell. Vom 15. Tag an werden die Ohren sichtbar, Augenlider sind am 16. Tag erkennbar und die Tasthaare erscheinen am 17. Tag. Die Lippen sind am 20. Tag erkennbar. Ihr Fell entwickeln die Jungtiere mit 49 Tagen. Am 90. Lebenstag ist die Fellentwicklung abgeschlossen. Ihre Augen öffnen sich zwischen dem 87. und 93. Lebenstag und etwa am 100. Lebenstag lockern sie ihren Halt an der Milchdrüse. Durchschnittlich 105 Tage, nachdem sie den Weg von der Vagina zum Beutel geschafft haben, verlassen die dann 200 Gramm schweren Jungtiere diesen. Anders als bei Kängurus kehren junge Beutelteufel nicht wieder in den Beutel zurück. Während der nächsten drei Monate verbleiben sie im Bau der Mutter. Diesen verlassen sie erstmals zwischen Oktober und Dezember. Im Januar sind sie dann vollständig unabhängig. Bis auf die etwa sechs Wochen zwischen dem Zeitpunkt, wo ihr Nachwuchs unabhängig wird, und der erneuten Paarung im März sind Beutelteufelweibchen nahezu ausschließlich mit Fortpflanzungsaktivitäten beschäftigt. Bestand Bestandsentwicklung nach der Besiedlung Tasmaniens durch europäische Siedler Europäer besiedelten Australien ab 1788 und ließen sich auch bald auf Tasmanien nieder. Ähnlich wie die Aborigines aßen sie auch Beutelteufel, deren Geschmack sie mit dem von Kalb verglichen. Da die europäischen Siedler davon überzeugt waren, dass Beutelteufel eine Bedrohung für ihren Viehbestand darstellten, wurde bereits ab 1830 ein Prämiensystem etabliert, das den Abschuss von Beutelteufeln belohnte. Über die nächsten einhundert Jahre wurde durch Fallenjagd und Vergiftungsaktionen die Anzahl der Beutelteufel so stark reduziert, dass sie kurz vor dem Aussterben standen. Zu ihrer Unterschutzstellung trug bei, dass der letzte Tasmanische Tiger 1936 starb. Seit 1941 stehen Beutelteufel unter Schutz, und ihr Bestand erholte sich. Aktueller Bestand Neben der Bejagung haben mindestens zwei Krankheitsepidemien die Anzahl der Beutelteufel auf Tasmanien signifikant reduziert. Die erste fand 1909 und die zweite 1950 statt. Nach einem Höhepunkt mit etwa 53.000 wildlebenden Individuen im Jahr 1996 verringerte sich die Population infolge der raschen Verbreitung der Devil Facial Tumour Disease auf nur noch 16.900 Beutelteufel in 2020. Tasmanien und Australien reglementieren den Export von Beutelteufeln sehr streng; außerhalb Australiens leben Beutelteufel in Zoos in Neuseeland, in einigen US-amerikanischen Zoos, wie z. B. seit 2013 im San Diego Zoo, und in Europa beispielsweise im Zoo Kopenhagen, seit Ende März 2017 im Zoo Duisburg oder seit Mitte 2020 in Prag. Seit November 2022 leben Beutelteufel auch im Zoo Singapur. Die Bedrohung durch DFTD Der Ausbruch von DFTD Die Krankheit, die Beutelteufel befällt, wird im Englischen als Devil Facial Tumour Disease (DFTD) bezeichnet, was etwa mit Beutelteufeltypische Gesichtskrebserkrankung übersetzt werden kann. Der Erreger der Devil Facial Tumor Disease ist ein infektiöser Tumor. Im Folgenden wird dafür die im Englischen übliche Abkürzung DFTD verwendet. DFTD wurde erstmals 1996 im Nordosten Tasmaniens entdeckt. Seither grassiert diese Erkrankung unter dem tasmanischen Beutelteufelbestand. Bis 2005 war die Hälfte des Ausbreitungsgebietes des Beutelteufels betroffen und die Bestandseinbrüche werden auf bis zu 85 % geschätzt. In Regionen, die dicht mit Beutelteufeln besiedelt waren, starben innerhalb eines Zeitraums von zwölf bis achtzehn Monaten sämtliche Beutelteufel. Zunächst konzentrierte sich der Ausbruch der Krankheit auf den Osten Tasmaniens. Anfang 2005 vermeldete man jedoch auch drei Fälle im Süden der Insel. Sollte sich DFTD weiter mit dieser Geschwindigkeit ausbreiten, könnte dies dazu führen, dass der Beutelteufel innerhalb der nächsten 20 bis 30 Jahre ausstirbt. Ursächlich für die schnelle Ausbreitung der Erkrankung ist nach neueren Erkenntnissen die geringe genetische Vielfalt in der Gesamtpopulation der Beutelteufel und damit das Fehlen variabler Immunreaktionen. Auch Maßnahmen, die eigentlich zur Eindämmung der Krankheit führen sollten, waren nach Forschungsergebnissen australischer Wissenschaftler kontraproduktiv und begünstigten eine Evolution der Erkrankung aufgrund des Vorhandenseins zweier unterschiedlicher Tumorstämme. Krankheitsverlauf Als erstes Krankheitsbild von DFTD lassen sich Schwellungen und Knoten rund um das Maul feststellen. Diese Knoten entwickeln sich zu Tumoren, die sich vom Kopf aus über den gesamten Körper ausbreiten. Die Tumoren stören die Tiere beim Fressen und betroffene Tiere verhungern schließlich, weil sie nicht mehr in der Lage sind, Nahrung aufzunehmen. Untersuchungen an befallenem Gewebe haben gezeigt, dass der Krebs neuroendokrine (Hormone produzierende) Eigenschaften hat, und dass sich bei allen Krebszellen eine identische Chromosomenveränderung feststellen lässt. Anfänglich war man davon überzeugt, dass ein Virus die Ursache für DFTD sei. In den Krebszellen konnten jedoch keine Viren nachgewiesen werden. Zurzeit wird untersucht, ob die Krebszellen direkt für die Übertragung verantwortlich sind. Da sich die Beutelteufel gelegentlich heftige Kämpfe um Nahrung liefern und sich dabei auch beißen, wird vermutet, dass sich die Krebszellen durch den Speichel der Artgenossen ausbreiten. Tatsächlich weisen sie Ähnlichkeit zu einer als Sticker-Sarkom bezeichneten Krebserkrankung der Geschlechtsteile bei Hunden auf, die bei diesen durch Körperkontakt übertragen wird. Ein Hauptproblem der Erkrankung ist, dass sich die MHC-Proteine der Tumorzellen kaum von denjenigen gesunder Zellen unterscheiden, weshalb das Immunsystem der Tiere sie nicht als Tumorzellen erkennt und bekämpft. Wissenschaftler der Universität Sydney berichteten im Februar 2010 von der Entdeckung einer MHC-Gengruppe in einer Population gesunder Beutelteufel, in der deutliche Unterschiede gegenüber der sonst üblichen MHC-Gengruppe festgestellt wurden. Die Forscher hoffen, dass diese Genvariabilität eine Resistenz gegenüber DFTD hervorruft. Im März 2013 haben Forscher der Universität Cambridge einen Ansatzpunkt für einen Impfstoff gefunden: „Wenn man Tumorzellen mit Interferon behandelt und sie dann in deaktivierter Form den Tasmanischen Teufeln spritzt, erkennt ihr Immunsystem sie als fremd – und merkt sich neben dem ‚Etikett‘ des MHC-Komplexes auch andere verräterische Eiweiße auf der Zelloberfläche. Gelangen dann durch einen Biss nicht manipulierte DFTD-Zellen in den Körper des Beutlers, hat die Abwehr eine Chance, diese trotz fehlendem MHC-Etikett an diesen Eiweißen zu erkennen und zu bekämpfen. Das Schöne daran: Ist dies einmal passiert, produziert das Immunsystem von selbst Interferon-Gamma und zwingt damit auch die frisch eingedrungenen Tumorzellen dazu, sich zu verraten, wie die Forscher berichten. Noch sind weitere Tests und Forschungen nötig, doch die neuen Erkenntnisse könnten erstmals eine Möglichkeit eröffnen, die letzten großen Raubbeutler unseres Planeten vor dem endgültigen Aus zu schützen.“ Gegenmaßnahmen Die Bestände der Beutelteufel werden derzeit genau beobachtet, um die Ausbreitung der Krankheit sowie Veränderungen im Krankheitsbild festzustellen. Zu den wissenschaftlichen Untersuchungen gehört das wiederholte Einfangen aller Beutelteufel in einem abgesteckten Gebiet. Auf diese Weise soll festgestellt werden, wie sich die Krankheit im Verlauf der Zeit ausbreitet. Sicher ist, dass die Krankheit alle Tiere in einem Gebiet sterben lassen kann. Noch sind die Beobachtungszeiträume zu kurz, um sagen zu können, ob diese Regionen durch andere Beutelteufel wieder besiedelt werden. Erprobt wird auch, ob das Einfangen und Entfernen erkrankter Tiere die Ausbreitung der Krankheit verlangsamen kann. Große Hoffnung wurde in die sogenannte Keulung gesetzt, also das vorsorgliche Töten von infizierten oder sogar allen Tieren einer betroffenen Population. Neuere Untersuchungen zeigen jedoch, dass diese Methode keine geeignete Maßnahme ist, um die Weiterverbreitung der Seuche zu verhindern. Im Norden von Tasmanien befinden sich zwei Wildlife Parks, Trowunna Wildlife Park und Devils at Cradle Wildlife Park, die sich der Aufzucht von gesunden Tieren widmen und bereits etliche Erfolge mit der Auswilderung an einigen Stellen vorweisen (Maria Island, Peninsula Devil Conservation Project und Wild Devil Recovery in Narawntapu). Dies geschieht im Rahmen des Programms zur Rettung des Tasmanischen Teufels, Save the Tasmanian Devil Program (STDP), das unter der Obhut der tasmanischen und australischen Regierungen steht. Allerdings wurde durch die Beuteltiere auf Maria Island, wo man 2012/13 eine geographisch geschützte Reservepopulation aufbaute, eine Population von rund 6000 Zwergpinguinen vollständig ausgerottet. Auch die Sturmtaucherpopulation auf Maria Island wurde durch sie vollständig ausgelöscht. Die Population war bereits zuvor von Katzen und Fuchskusus dezimiert worden. Man hatte die Hoffnung, dass der Druck auf die Sturmtaucher durch die Beutelteufel reduziert werden könne, da diese Katzen und Fuchskusus erfolgreich jagen. Die Beutelteufel erwiesen sich aber als noch gefährlicher für die Sturmtaucher. Auf der Tasman-Halbinsel befindet sich der Tasmanian Devil Conservation Park, in dem eine isolierte Population lebt, und da die Halbinsel nur mit einer Landbrücke mit dem Festland verbunden ist, bestehen gute Chancen, dass diese Tiere nicht infiziert werden. Auch durch die Zuchtprogramme von Zoos, die sich auf dem australischen Festland befinden, ließe sich gegebenenfalls ein Aussterben dieser Tierart verhindern, wenn die wildlebende Population aufgrund von DFTD zusammenbricht. In Zusammenarbeit mit Aussie Ark / Wildark und anderen Naturschutzgruppen erfolgte Anfang Oktober 2020 erstmals die Auswilderung von 26 Beutelteufeln am Festland Australiens, in einem Schutzgebiet in Barrington Tops, nördlich von Sydney. Der Beutelteufel ist ein natürlicher Gegenspieler von Füchsen und Wildkatzen, die bis heute etwa 40 Tierarten in Australien zum Aussterben gebracht haben. Ein Impfstoff auf Basis von Adenoviren soll den Tasmanischen Teufel gegen die ansteckende Krebskrankheit DFTD1 immun machen. Rotfuchs und Beutelteufel Die Abnahme der Anzahl der Beutelteufel wird auf Tasmanien auch aus einem anderen Grund mit Besorgnis verfolgt. Anders als Australien war Tasmanien bis zur Jahrtausendwende frei von Rotfüchsen. Rotfüchse haben sich in Australien als aggressive invasive Neozoen erwiesen, deren Anwesenheit sich auf die einheimische Tierwelt dramatisch auswirken kann. 2001 wurde der Rotfuchs illegal auf Tasmanien ausgesetzt. Dass er anders als in Australien nicht sofort in der Lage war, sich in diesem neuen Lebensraum zu etablieren, wurde unter anderem auf die Anwesenheit der aggressiven Beutelteufel zurückgeführt. Es wird allerdings nicht ausgeschlossen, dass es Beutelteufeln schwerfällt, sich in einem Revier wieder zu etablieren, wenn Füchse sich ein von Beutelteufeln freies Territorium erobert haben. Beutelteufel und Mensch Der Beutelteufel ist das Symboltier des tasmanischen National Parks and Wildlife Services und das tasmanische Football-Team nennt sich in Anlehnung an dieses Tier The Devils. Der Beutelteufel ist außerdem eines von sechs in Australien und Tasmanien beheimateten Tieren, die auf den Zweihundert-Dollar-Münzen abgebildet waren, die zwischen 1989 und 1994 herausgegeben wurden. Beutelteufel sind wegen ihrer Lebensweise mehrfach Thema von Dokumentarfilmen und Sachbüchern für Kinder gewesen. Ein australischer Dokumentarfilm mit dem Titel Terror of Tasmania wurde von David Parer und Elizabeth Parer-Cook im Jahre 2005 herausgebracht. Die Dokumentation folgt einem Beutelteufelweibchen namens Manganinnie durch die Paarungszeit, die Geburt und die Aufzucht der Jungen und beschäftigt sich auch mit der Auswirkung von DFTD und den Schutzmaßnahmen, die den Fortbestand der Art sicherstellen sollen. Die Dokumentation war sowohl in Nordamerika als auch in Australien auf dem National Geographic Channel zu sehen. Auch die beiden deutschen Tierfilmer Hans Schweiger und Ernst Arendt (Tiere vor der Kamera) haben einen Film über den Tasmanischen Teufel gedreht. Die Beschränkungen bezüglich des Exports von Beutelteufeln bewirken, dass Beutelteufel derzeit, abgesehen von wenigen Ausnahmen, nur noch in Australien und Tasmanien in Gefangenschaft zu sehen sind. Die tasmanische Regierung hat dem Zoo Kopenhagen vier Tiere übergeben, als Geschenk zur Geburt des dänischen Prinzen Christian, da Christians Mutter, Prinzessin Mary, aus Tasmanien stammt. Nachzuchten dieser Tiere sind in den Zoos von Mechelen, Brugelette und Duisburg zu sehen. Der zuvor letzte außerhalb Australiens lebende Beutelteufel starb 2004 im Zoo von Fort Wayne im US-Bundesstaat Indiana, ebenfalls an DFTD. Der wahrscheinlich berühmteste Beutelteufel ist die Figur des Tasmanischen Teufels Taz in der Zeichentrickserie Looney Tunes. Die einzige Ähnlichkeit zwischen der Zeichentrickfigur und dem tatsächlichen Beutelteufel ist allerdings der Appetit der beiden. Beutelteufel greifen Menschen normalerweise nicht an, verteidigen sich aber mit kräftigen Bissen, wenn sie selbst angegriffen oder gefangen werden, und können für kleine Kinder eine Gefahr darstellen. Das Maskottchen Tux des Linux-Projektes wurde 2009 in der Kernel-Version 2.6.29 für 3 Monate durch Tuz, einen Tasmanischen Teufel mit aufgesetztem gelbem Pappschnabel, ersetzt. Linus Torvalds wollte damit auf die Situation des Beutelteufels aufmerksam machen. Literatur Diana O. Fisher, Ian P. F. Owens, Christopher N. Johnson: The ecological basis of life history variation in marsupials. In: Ecology. Bd. 82, 2001, S. 3531–3540, . Colin Groves: Antechinus subtropicus. In: Don E. Wilson, DeeAnn M. Reeder (Hrsg.): Mammal Species of the World. A Taxonomic and Geographic Reference. Band 1. 3rd edition. Johns Hopkins University Press, Baltimore MD 2005, ISBN 0-801-88221-4. Robert K. Rose, David A. Pemberton, Nick J. Mooney, Menna E. Jones: Sarcophilus harrisii (Dasyuromorphia: Dasyuridae). Mammalian Species 49 (942), 1. Mai 2017; S. 1–17. Eric R. Guiler: Observations on the Tasmanian Devil, Sarcophilus harrisii (Marsupialia: Dasyuridae). II. Reproduction, Breeding and Growth of Pouch Young. 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https://de.wikipedia.org/wiki/Hennes%20Weisweiler
Hennes Weisweiler
Hans „Hennes“ Weisweiler (* 5. Dezember 1919 in Lechenich, heute zu Erftstadt; † 5. Juli 1983 in Aesch bei Birmensdorf, Schweiz) war ein deutscher Fußballspieler und -trainer. Unter der Ausbildungsleitung von Sepp Herberger erwarb er als Spieler des 1. FC Köln im Winter 1947/48 die Trainerlizenz. Von 1957 bis 1970 leitete er Lehrgänge an der Deutschen Sporthochschule Köln zur Ausbildung von Fußballlehrern. Sein 1959 veröffentlichtes Lehrbuch Der Fußball. Taktik, Training, Mannschaft galt als Standardwerk für die Ausbildung von Fußballtrainern aller Leistungsklassen und als Orientierungshilfe für die Gestaltung des Trainings. Durch seine Arbeit mit der Mannschaft von Borussia Mönchengladbach, die er mit einem offensiven Spielsystem bei konsequentem Einbau junger Spieler innerhalb weniger Jahre vom Regionalligisten zu einem europäischen Spitzenteam formte, galt Weisweiler in den 1970er Jahren als einer der besten Vereinstrainer weltweit. Er übernahm die Borussia 1964, führte die Mannschaft im Jahr darauf in die Bundesliga und gewann mit der „Fohlen-Elf“ in den Jahren 1970, 1971 und 1975 dreimal die deutsche Meisterschaft, 1973 den DFB-Pokal und 1975 den UEFA-Cup. Mit dem 1. FC Köln, dessen Maskottchen und Wappentier, der Geißbock Hennes, seit 1950 nach Weisweiler benannt ist, feierte er 1977 den Gewinn des DFB-Pokals und im Jahr darauf mit dem Double den bislang größten Erfolg der Vereinsgeschichte. Nachdem beim FC Barcelona ein erstes internationales Engagement in der Spielzeit 1975/76 nach nur neun Monaten Tätigkeit durch vorzeitige Vertragsauflösung geendet hatte, wurde er mit New York Cosmos 1980 Meister der North American Soccer League. In der Schweiz feierte er im Juni 1983 mit dem Grasshopper Club Zürich einen weiteren Double-Erfolg. Drei Wochen später, am 5. Juli, erlag Weisweiler einem Herzinfarkt. Werdegang zum Fußballtrainer und -lehrer 1936–1947 Hennes Weisweiler wuchs in Erftstadt-Lechenich in der Nähe von Köln auf. Das Fußballspielen begann er beim VfB Lechenich (seit 1974 VfB Erftstadt). Nach der Mittleren Reife wechselte er nach Köln in die Höhere Handelsschule. Ab 1935 war der Sohn eines Prokuristen Mitglied der Leichtathletikabteilung des Kölner BC 01 im Stadtteil Klettenberg. Mit 17 Jahren gab er beim Lokalderby gegen den VfL Köln 1899 seinen Einstand in der Seniorenmannschaft der Fußballabteilung des KBC. Unter Spielertrainer Jupp Bleser debütierte er in der Gauliga Mittelrhein. Nach dem Abitur begann Weisweiler 1938 ein Volontariat als Lebensmittelgroßhändler. In den Kriegsjahren war er der Flugabwehr zugeteilt, in Greifswald ausgebildet und in Quakenbrück stationiert. Als die Wehrmacht ihn nach München versetzte, spielte er dort zeitweise für Wacker München Fußball. In Danzig geriet er in Gefangenschaft, von wo er 1945 wieder in die linksrheinische Heimat kam. Nach der Rückkehr in seine Heimatstadt – es war die Zeit der großen Tauschgeschäfte, woran sich Weisweiler mit „organisierten“ Briketts, Fleischpaketen und selbst Delikatessen wie Sekt und Cognac beteiligte –, widmete er sich dem Wiederaufbau des VfB Lechenich, bei dem er auch als Trainer tätig war. Im benachbarten Köln meldete sich der 27-Jährige an der zum 1. Juni 1947 eröffneten Sporthochschule für den ersten Ausbildungslehrgang zum Fußballtrainer an, den er als Klassenbester abschloss. Mit dem 1. FC Köln in die Oberliga 1948–1952 Beim Kölner Ballspiel-Club 01 bemühte sich Franz Kremer, ab Februar 1947 Vorsitzender des Vereins, um den Wiederaufbau. Neben anderen ehemaligen Spielern überzeugte er Hennes Weisweiler zur Rückkehr nach Köln-Klettenberg. Der Mann aus Lechenich war ein auf nahezu allen Positionen verwendbarer, vornehmlich von Kampf- und Einsatzwillen lebender Kraftfußballer, der mehrfach in die Kölner sowie während des Krieges in die Münchner Stadtauswahl berufen worden war. Nach der Fusion mit der SpVgg Sülz 07 zum 1. Fußball-Club Köln 01/07 qualifizierte sich die von Karl Flink trainierte Mannschaft in der Saison 1947/48 für die Aufstiegsspiele in die Oberliga West, verlor diese aber gegen Rhenania Würselen. Weisweiler verletzte sich während des Rückspiels schwer und musste ins Krankenhaus gebracht werden. Am Tag darauf ging in der Stadt das Gerücht um, er sei an den Folgen der Verletzung gestorben. Zutreffend war, dass Weisweiler einen Schädelbasisbruch erlitten hatte. Der 1. FC Köln wurde 1948/49 in seiner Gruppe der Rheinbezirksliga Meister. Neben dem wiedergenesenen Weisweiler stand der junge Hans Schäfer beim 1. FC Köln auf dem Platz. In den Relegationsspielen setzte sich die Mannschaft des zwischenzeitlich als Spielertrainer agierenden Weisweiler gegen Bayer 04 Leverkusen durch und stieg in die Oberliga West auf. In der ersten Oberliga-Spielzeit 1949/50 belegte der Aufsteiger am Saisonende den fünften Platz. Die Stammbesetzung hatte sich gegenüber der Vorsaison kaum verändert. Weisweiler, der inzwischen auf die linke Abwehrseite gerückt war, nachdem er als Stürmer begonnen hatte, spielte zu jener Zeit in der Repräsentativ-Auswahl des Westdeutschen Fußball-Verbandes. In der Spielzeit 1951/52 verfehlte der Spielertrainer mit seiner Mannschaft den erhofften Einzug in die Endrunde um die deutsche Meisterschaft. Im Verein mehrten sich die Stimmen, die seine Ablösung forderten. Im Sommer 1952, nach Ablauf der Saison, trennte sich der Verein schließlich von Weisweiler. Er bestritt in den Jahren 1949 bis 1952 insgesamt 62 Oberligaspiele für den 1. FC Köln. Zu seinen Fähigkeiten als Spieler meinte er später: Als Trainer etablierte er die Mannschaft mit den zwei fünften Rängen in den Jahren 1950 beziehungsweise 1952 und dem vierten Platz 1951 im oberen Drittel der Oberliga West. Das von Vereinsvorstand Kremer angestrebte Ziel, auf nationaler Ebene eine wichtige Rolle zu spielen, erreichte der 1. FC Köln mit dem erstmaligen Einzug in die deutsche Meisterschaftsendrunde im Jahr nach Weisweilers Abschied unter dessen Nachfolger Helmut Schneider. Das Geschenk der Zirkuschefin Carola Williams zur Karnevalsfeier im Jahr 1950, ein Ziegenbock, wurde zum Maskottchen und späteren Wappentier des 1. FC Köln. Das Tier wurde auf den Namen Hennes getauft, in Anlehnung an den damaligen Trainer Hennes Weisweiler. Rheydter Spielverein 1952–1954 Zur Spielzeit 1952/53 engagierte der Rheydter Spielverein Weisweiler als Trainer. Der Verein, von seinen Anhängern „Spö“ genannt, erhoffte sich mit der Verpflichtung Weisweilers den sofortigen Wiederaufstieg. Tatsächlich erreichte der Spielverein mit seinem neuen Trainer hinter dem VfL Bochum die Vizemeisterschaft in der II. Division West 1952/53. Rheydt sicherte sich damit zum zweiten Mal den Aufstieg in die Oberliga. Die Etablierung in der Liga gelang in den beiden Trainerjahren von Weisweiler nicht. Der Rheydter Spielverein belegte am Ende der Saison 1953/54 nur den vorletzten Platz und stieg erneut in die Zweitklassigkeit ab. Vom Herberger-Assistenten zum Hochschuldozenten 1954–1955 Nach dem Weltmeisterschafts-Triumph 1954 nutzte Bundestrainer Sepp Herberger die Gelegenheit, beim Deutschen Fußball-Bund (DFB) eine Assistenztrainerstelle für die Nationalmannschaft durchzusetzen. Er wählte hierfür den besten Schüler seines ersten Trainerlehrganges an der Deutschen Sporthochschule (DSHS) aus. Hennes Weisweiler nahm diese neue Aufgabe dankend an. Die anfängliche Begeisterung wich bald der Erkenntnis, dass sich Weisweiler mit seinen Ideen gegenüber dem früheren Lehrmeister nicht durchsetzen konnte. Weisweiler gab die wenig fruchtbare Zusammenarbeit mit Herberger bei der Nationalmannschaft zugunsten einer Rückkehr zum 1. FC Köln auf. Neben seiner Trainertätigkeit arbeitete Weisweiler bereits seit 1953 für den Deutschen Fußball-Bund. Die Trainerausbildung wurde nach den ersten drei von Herberger durchgeführten Lehrgängen seit 1950 dezentral durch die Landesverbände des DFB durchgeführt. Als zentraler Prüfungsleiter übte Weisweiler ein wichtiges Amt im Lehrgangswesen des Verbandes aus. 1955 nahm er eine Anstellung als Dozent an der DSHS in Köln an. Der DFB bot die Ausbildung zum Fußballlehrer ab 1957 wieder zentral an der DSHS an und übertrug Weisweiler die Leitung. In den 13 Lehrgängen, die unter seiner Führung bis 1970 stattfanden, wobei Weisweiler großteils selbst unterrichtete, erlangten insgesamt 255 Teilnehmer ihren Abschluss. Der DFB benannte die heute noch bestehende Trainerausbildungsstätte an der DSHS im Jahr 2005 in „Hennes-Weisweiler-Akademie“ um. Einer von Weisweilers ersten Schülern, Gero Bisanz, übernahm dessen Nachfolge an der DSHS. Viele andere, wie etwa Zlatko Čajkovski, der später Bayern München und den 1. FC Köln trainierte, sah er wenige Jahre darauf in der Bundesliga auf der gegnerischen Trainerbank wieder. 1. FC Köln 1955–1958 Als Weisweiler im Sommer 1955 zum 1. FC Köln zurückkehrte, fand er eine personell veränderte Mannschaft vor. Das Team zeigte im Saisonverlauf große Formschwankungen. Deutlichen Siegen wie dem 5:1 gegen Fortuna Düsseldorf sowie Erfolgen über die Mitfavoriten aus Dortmund, Schalke und Essen (der amtierende Deutsche Meister hieß Rot-Weiss Essen) standen Niederlagen in Hamborn und Herne gegenüber. Die Mannschaft schloss die Runde 1955/56 auf dem siebten Platz ab. Weisweiler verzichtete trotz zahlungskräftiger Unterstützer des Vereins, insbesondere des in Köln ansässigen Kaufhof-Konzerns, und eines anhaltend hohen Zuschauerzuspruchs auf kostspielige Neuverpflichtungen. Stattdessen machte er die Kölner Nachwuchsspieler Hansi Sturm, Rudi Eder und Hennes Pfeiffer zu Vertragsspielern. Die Chance auf den zweiten Platz, der zur Endrundenteilnahme berechtigte, blieb bis zum letzten Spieltag offen. Der Weisweiler-Elf fehlte beim 3:3 auf dem Aachener Tivoli ein Tor, um am Duisburger SpV vorbeizuziehen. Mit zwei Punkten Rückstand hinter Titelverteidiger Dortmund, punktgleich mit dem Vizemeister aus Duisburg, erreichte Weisweiler mit Köln den dritten Platz. Zur Saison 1957/58 führte Weisweiler seinem Kader wiederum ausschließlich Spieler aus dem eigenen Jugend- und Amateurbereich sowie aus dem Rheinland zu. Von den Neuzugängen spielte sich nur Günter Mühlenbock vom Bonner FV mit 27 Einsätzen in die Stammformation, der von TuRa Düsseldorf gekommene Jugendnationaltorwart Fritz Ewert kam auf neun Saisonspiele. Die Mischung aus erfahrenen Spielern wie Nordmann, Stollenwerk, Schäfer oder Röhrig und Nachwuchskräften wie Fendel, Mühlenbock, Sturm und Pfeiffer funktionierte in der Vorrunde (15:15 Punkte) noch nicht. Zudem entstanden vereinsintern Probleme; Weisweiler zerstritt sich mit Präsident Franz Kremer, der mit einem gewissen Hang zur Selbstherrlichkeit und Unfehlbarkeit ausgestattet war und gelegentlich bei der Aufstellung der Mannschaft mitreden wollte. Daneben war ihm im Mittelfeld das mangelhafte Defensivverhalten des 34-jährigen Čajkovski ein Dorn im Auge, was in Weisweilers berühmtem Ausruf „Tschik, decken! Arschloch!“ gipfelte. Mit 25:5 Punkten in der Rückrunde erspielte sich Weisweilers Mannschaft zum Rundenschluss hinter Schalke 04 die Vizemeisterschaft in der Oberliga West und setzte sich anschließend in der Qualifikation zur deutschen Endrunde gegen den 1. FC Kaiserslautern durch. In ihrer Endrundengruppe blieb die von Weisweiler trainierte Elf jedoch chancenlos. SC Viktoria Köln 1958–1964 Zur Saison 1958/59 wechselte Weisweiler auf die „schäl Sick“, die andere Rheinseite, zum SC Viktoria 04. Dieser Verein war im Jahr zuvor durch Fusion der beiden spielstärksten rechtsrheinischen Kölner Vereine Preußen Dellbrück und SC Rapid entstanden. Preußen Dellbrück spielte zwar wie der 1. FC Köln schon seit 1949 in der Oberliga, verlor im Lauf der Jahre aber an Boden und kämpfte zuletzt gegen den Abstieg. Der Start in die Runde missglückte. Nach sieben Punktspielen zierte die Viktoria mit 0:14 Punkten das Tabellenende. Laut Ludger Schulze, dem Autor des Trainerbuchs Die großen Fußballstrategen, soll in der Domstadt deswegen das Gerücht entstanden sein, Weisweiler sei vom 1. FC Köln geschickt worden, um den Lokalrivalen zu schädigen. Nach und nach etablierte er die Viktoria mit Spielern wie Günter Habig, Jean Löring, Carl-Heinz Rühl und Gero Bisanz im Mittelfeld der Oberliga. Unter seiner Leitung erzielte die Mannschaft des SC Viktoria 04 1962/63 mit 81 Toren die meisten Treffer aller West-Vereine. Die Spiele gegen die ungarische Spitzenmannschaft Ferencváros Budapest in der ersten Runde des europäischen Messepokals waren Saisonhöhepunkte. SC Viktoria 04 siegte zwar im Heimspiel mit 4:3, verlor aber in Budapest mit 1:4. Das Ziel, zum FC aufzuschließen, rückte in weite Ferne. Der 1. FC Köln war inzwischen nicht nur eine Spitzenmannschaft im Westen, er gewann 1962 auch erstmals die deutsche Fußballmeisterschaft. Der DFB führte in der folgenden Spielzeit als neue höchste Spielklasse die Bundesliga ein. Die Viktoria war nach der zugrunde gelegten Zwölfjahreswertung nicht qualifiziert und spielte fortan in der Regionalliga West. In deren Debütsaison 1963/64 verfehlten Weisweiler und die Viktoria mit einem fünften Platz das Ziel Bundesligaaufstiegsrunde. Borussia Mönchengladbach 1964–1975 Mit der „Fohlen-Elf“ in die Bundesliga 1964–1967 Auf Empfehlung von Bundestrainer Sepp Herberger verpflichtete der damalige Regionalligist Borussia Mönchengladbach am 27. April 1964 Hennes Weisweiler als Nachfolger des vorzeitig zum Bundesligisten FC Schalke 04 wechselnden Fritz Langner als neuen Trainer. Borussias Vizepräsident und Manager Helmut Grashoff begründete den Trainerwechsel mit dem Argument: Im Rheinland galt Weisweiler schon zuvor als Größe in der Trainer-Branche. Mit der Erfahrung aus zwölf Trainerjahren Oberliga West, der Ausbildung durch Herberger, einem Jahr als Assistent des Bundestrainers und seiner Lehrtätigkeit an der Sporthochschule Köln kam Weisweiler dann Ende April 1964 nach Mönchengladbach, wo er die Borussia bereits in den letzten beiden Spielen der Saison 1963/64 betreute. Personell hatte er die Abgänge der vorherigen Leistungsträger Horst-Dieter Höttges, Karl-Heinz Mülhausen, Heinz Crawatzo und des Rekordtorschützen Uli Kohn zu verkraften. Gleich mit seinen ersten Neuzugängen gab er die Richtung für seine Vorgehensweise in Mönchengladbach vor. In der Bundesliga-Chronik Die Elf vom Niederrhein wird das von Jenrich und Aretz in die Worte gefasst: „Sein Personal suchte er unter jungen, aufstrebenden, wenn auch unbekannten Talenten.“ Es kamen Bernd Rupp vom SV Wiesbaden aus dem hessischen Amateurlager, Jugendnationalspieler Werner Waddey vom Lokalrivalen 1. FC Mönchengladbach und aus der vereinseigenen Reserve zog er den 19-jährigen Stürmer Jupp Heynckes in das Regionalligateam hoch. Immer wieder vertraute er auf Nachwuchsspieler und versuchte sie zu Leistungsträgern zu entwickeln. Von Beginn an setzte er auf die Spielmacherqualitäten des 20-jährigen Günter Netzer und seine Mannschaft führte die Hinrundentabelle mit 27:7 Punkten an. Er stellte den Angriff mit Herbert Laumen, Jupp Heynckes, Bernd Rupp, Günter Netzer und Werner Waddey zusammen. Rupp war mit 22 Jahren der älteste Stürmer im Angriff. Zusammen erzielten diese fünf Spieler 87 der 92 Tore der Borussia in der Regionalliga West 1964/65. Es war die Geburtsstunde der „Fohlen-Elf“. Der Beiname, vom Sportjournalisten Wilhelm August Hurtmanns kreiert, der sich national wie international schnell durchsetzte, bezog sich auf das geringe Durchschnittsalter der Weisweiler-Elf und auf ihre leichtfüßige wie ungestüme Art, Fußball zu spielen. Matthias Weinrich beschrieb den Stil des Gladbacher Trainers so: Mit 92:39 Toren gewann die Weisweiler-Elf die Meisterschaft 1964/65 in der Regionalliga West. In der Aufstiegsrunde setzte sich der Westmeister gegen den SSV Reutlingen, Holstein Kiel und Wormatia Worms durch und stieg in die Bundesliga auf. Für das erste Bundesligajahr 1965/66 setzte Weisweiler die personelle Ergänzung der Aufstiegself so fort, wie er es schon in seinem ersten Gladbacher Jahr praktiziert hatte. Er verpflichtete mit Gerhard Elfert, Heinz Wittmann und dem 18-jährigen Jugendnationalspieler Berti Vogts entwicklungsfähige Talente. Seine Mannschaft bezahlte im Fußball-Oberhaus Lehrgeld, mit 29:39 Punkten und 68 Gegentreffern belegte Gladbach den 13. Rang. Für das zweite Bundesligajahr, 1966/67, stand beim „Offensivtrainer“ der Versuch der Abwehrverstärkung durch den Zugang eines neuen Torhüters sowie eines internationalen Verteidigers im Vordergrund. Mit Herbert Wimmer kam zudem noch ein Flügelstürmertalent aus dem mittelrheinischen Amateurlager an den Bökelberg. Weisweiler setzte, wie im Vorjahr bei Berti Vogts, auf das Talent des Ex-Amateurfußballers von Borussia Brand und formte Wimmer auf Anhieb zu einem Stammspieler (34-2) in der Bundesliga. Da jetzt Herbert Laumen mit 18 Treffern seine Torgefährlichkeit unter Beweis stellte, brachte die Angriffsleistung die Weisweiler-Schüler mit 70:49 Toren auf den achten Tabellenrang. Am 7. Januar 1967 hatte die Gladbacher „Torfabrik“ mit einem 11:0-Heimsieg gegen den FC Schalke 04 das erste zweistellige Resultat der noch jungen Ligageschichte erzielt. Die Fähigkeit von Weisweiler, Spieler individuell zu verbessern, sowohl technisch, taktisch als auch konditionell, führte dazu, dass nach Netzer mit Bernd Rupp, Jupp Heynckes und Berti Vogts drei weitere Gladbacher Spieler in der zweiten Bundesligasaison der Borussia zu Nationalmannschaftseinsätzen kamen. Die Begegnung mit Hennes Weisweiler war von wesentlicher Bedeutung für die Entwicklung von Berti Vogts. Bitter hält in seinem Lexikon der Nationalspieler dazu fest: Auch nach Jenrich und Aretz „erahnte Weisweiler die Fähigkeiten des bei seinem Einstand in der Bundesliga als ein eher unbedarfter, technisch hölzerner Kicker eingestuften Verteidigers und nahm sich des Knaben, der schon früh seine Eltern verloren hatte, wie ein Vater an“. Vogts kam im Laufe seiner Karriere zu 419 Bundesligaeinsätzen und ist damit Borussias Rekordspieler (Stand: 2012). Etablierung in der Liga 1967–1969 Die positive sportliche Entwicklung in Mönchengladbach weckte Begehrlichkeiten bei der Konkurrenz. Andere Vereine lockten „Fohlen“ mit Gehältern, die sie am Niederrhein in zwei, drei Jahren nicht verdient hätten. Im Sommer 1967 unterschrieben Heynckes bei Hannover 96, Rupp bei Werder Bremen und Elfert bei Eintracht Braunschweig besser dotierte Verträge. Der Borussen-Trainer entschied sich im Gegenzug dazu, von den zwei Bundesligaabsteigern Düsseldorf und RW Essen den Mittelstürmer Peter Meyer sowie Mittelfeldspieler Peter Dietrich an den Bökelberg zu holen. Aus der Regionalliga West verpflichtete der Verein von Münster den schnellen Flügelstürmer Klaus Ackermann. Aus der Borussen-Jugend wurden das Zwillingspaar Erwin und Helmut Kremers sowie Klaus Winkler in den Lizenzspielerkader übernommen. Mit der Mittelfeldbesetzung Dietrich, Netzer und Laumen und den drei Angreifern Wimmer, Meyer und Ackermann konnte Weisweiler in seinem dritten Bundesligajahr 1967/68 erstmals unter Beweis stellen, dass mit Schnelligkeit, Technik und Kombinationsvermögen erfolgreicher Offensivfußball den Weg zur Tabellenspitze ermöglichte. Das Mittelfeld war überwiegend spielerisch geprägt, der Sturm basierte auf zwei schnellen Flügelspielern und im Angriffszentrum agierte mit dem Ex-Düsseldorfer Meyer ein neuer Torjäger. Die Borussen erzielten mit 77 Treffern die meisten Tore, noch vor dem neuen Meister 1. FC Nürnberg, und belegten am Saisonende den dritten Rang. Die Leistungsentwicklung des Angreifers Peter Meyer – er hatte in der Saison 1966/67 für Fortuna Düsseldorf in 25 Ligaspielen acht Tore erzielt, unter der Trainingsleitung und im offensiven System von Weisweiler führte er nach den ersten 18 Rundenspielen mit 19 Treffern die Torschützenliste in der Bundesliga an und hatte im Dezember 1967 in der Nationalmannschaft debütiert – sprach für das außergewöhnliche Können des Trainers. Am 9. Januar 1968 brach sich Meyer im Training bei einem Zusammenprall mit Torwart Volker Danner Schien- und Wadenbein und absolvierte nach dem 18. Spieltag durch die Verletzungsfolgen bis zum 23. August 1969 kein Spiel mehr. Neben „Pitter“ Meyer streifte sich mit Herbert Laumen noch ein weiterer Schützling des Fußballlehrers Weisweiler das Nationaltrikot über. Mönchengladbach wiederholte in der Saison 1968/69 den dritten Platz des Vorjahres. Der vom Soester SV gekommene Olympia-Amateur Hartwig Bleidick spielte auf Anhieb alle 34 Partien – auch da zeichnete sich die Gabe des Talenterkenners und -förderers Weisweiler aus – und verbesserte die Stabilität der Gladbacher Abwehr. Da sein Blick für Talente gleichfalls beim Jugendnationalspieler Winfried Schäfer richtig gelegen hatte, vertrat der Neuzugang den durch diverse Krankheiten fehlenden Peter Dietrich im Mittelfeld. Dazu kam, dass der Nachwuchstorhüter vom VfL Schwerte, Wolfgang Kleff, in bereits neun Bundesligaeinsätzen sein Talent unter Beweis stellte. Mit Herbert Wimmer debütierte ein weiterer Weisweiler-Schützling in der Fußballnationalmannschaft. Das Profil der von Weisweiler geformten Gladbacher Mannschaft wurde mit den folgenden Worten beschrieben: Erste Meisterschaft und Titelverteidigung 1970–1971 In der Bundesligavorschau 1969/70 führte der damalige Chefredakteur des Kicker-Sportmagazins an: Vor allem die personelle Verstärkung in der Defensive durch Vorstopper Ludwig Müller und Libero Klaus-Dieter Sieloff führte zu dieser auch von sportlicher, journalistischer und politischer Prominenz vertretenen Ansicht. Im Lauf der Runde kam hinzu, dass der dänische Linksaußen Ulrik le Fevre sich zu einem der gefährlichsten Flügelstürmer der Liga entwickelte. 1970 gewann Weisweiler mit der Borussia erstmals die deutsche Meisterschaft. Die Meistermannschaft des Jahres 1970 kam der Aussage in seinem Lehrbuch Der Fußball, wo er über die Erkenntnisse aus der Weltmeisterschaft sprach und dabei anführte, „sind wir am Ball, spielen wir alle auf Angriff; umgekehrt spielen alle für die Abwehr, ist der Gegner in Ballbesitz“, sehr nahe. Die Weisweiler-Elf des Jahres 1969/70 stellte eine Einheit dar, die beide Pole des modernen Fußballspiels, Defensive und Offensive, im richtigen Wechsel praktizieren konnte. Borussia war nicht zuletzt durch ihre konsequente Defensivleistung Meister geworden. Sie stellte mit 29 Gegentoren erstmals die beste Verteidigung der Liga. Sieloff und Müller, die beide in nur je einem Meisterschaftsspiel zusehen mussten, hatten sich als Glücksgriffe für die Schwarz-Weißen erwiesen. Der Aufstieg der „Fohlen“, die Entwicklung zu einer offensiv-technisch orientierten und in hohem Spieltempo agierenden Spitzenmannschaft mit großen Sympathiewerten, gekrönt durch die deutsche Meisterschaft 1969/70, war das Werk der Trainerpersönlichkeit Hennes Weisweiler. Die Chronik der 60er Jahre führt auf: Mit methodisch ausgewogener Trainingsarbeit verbesserte Weisweiler die Leistung der Einzelspieler und dadurch die Mannschaftsleistung in technischer, taktischer und konditioneller Hinsicht – auch durch seinen Blick für Talente und deren Hinführung zum Könner. Grundlage der kontinuierlichen Entwicklung der Gladbacher Elf war Weisweilers Fähigkeit, eine Mannschaft über Jahre formen zu können. Nur Herbert Laumen und Günter Netzer hatten vor seinem Amtsantritt 1964 bereits Meisterschaftsspiele für Borussia Mönchengladbach im Seniorenbereich ausgetragen. Viele Spieler begannen unter Weisweiler ihre höherklassige Laufbahn. Auffallend dabei ist der Umstand, dass Weisweiler Spieler aus dem Jugendbereich wie Vogts, Schäfer und Zimmermann und dem Amateurlager wie Heynckes, Rupp, Wittmann, Wimmer, Kleff oder Bleidick zu etablierten Bundesliga- und Nationalspielern entwickelte. Dass er zusätzlich ein Fachmann bei der Verpflichtung von Könnern war, hatte er bei der Auswahl diverser Neuzugänge bewiesen. Der Regionalligaspieler Volker Danner übernahm auf Anhieb die Torhüterposition, Peter Meyer bewies seine Torjägerqualitäten bis zu seiner karrierebeendenden Verletzung. Peter Dietrich entwickelte sich vom unbekannten Mittelfeldakteur zum WM-Teilnehmer in Mexiko. Die Entwicklung von Ludwig Müller, Klaus-Dieter Sieloff, Horst Köppel sowie die des dänischen Stürmers Ulrik le Fevre reihte sich nahtlos in die Erfolgsgeschichte ein. Alle diese Spieler profitierten von der fachlichen und menschlichen Kompetenz des Kölner Fußballlehrers. Laumen, der ab der D-Jugend in Gladbach spielte, schilderte die Arbeitsweise von Weisweiler mit den folgenden Worten: Vor der Runde 1970/71 überzeugte Weisweiler die Mannschaft und das Präsidium von der Notwendigkeit der Rückkehr von Jupp Heynckes aus Hannover. Daneben sorgte er dafür, dass mit Rainer Bonhof und Hans-Jürgen Wloka zwei talentierte Nachwuchsspieler den Weg an den Bökelberg fanden. Erstmals in der Geschichte der Bundesliga gelang einem Deutschen Meister die Titelverteidigung. Am letzten Spieltag fiel durch die 0:2-Niederlage von Bayern München beim MSV Duisburg und den 4:1-Erfolg der Gladbacher bei Eintracht Frankfurt die Entscheidung. Mit zwei Punkten Vorsprung vor den Münchnern holte die Mannschaft von Hennes Weisweiler die zweite deutsche Meisterschaft mit einer mitreißenden Rückserie nach Mönchengladbach. Heimkehrer Heynckes zeichnete sich im offensiven Weisweiler-System 1970/71 in 33 Spielen als 19-maliger Torschütze aus und forcierte ab dem 17. Oktober 1970 seine Karriere in der Fußballnationalmannschaft. Auf Initiative des israelischen Nationaltrainers Emanuel Schaffer, der seine Ausbildung in der Sporthochschule Köln bei Hennes Weisweiler absolviert hatte, lud der israelische Fußballverband IFA diesen mit der Borussia als erste deutsche Mannschaft im Februar 1970 zu Freundschaftsspielen nach Israel ein. Im Bloomfield-Stadion gewann Weisweiler mit der Borussia mit 6:0 gegen die israelische Nationalmannschaft, was zu Diskussionen im israelischen Parlament führte, was die Regierung zu tun gedenke, dass sich derartige Demütigungen nicht wiederholten. Der „Büchsenwurf“ und die Neuaufstellung 1971–1972 Nach der erfolgreichen Titelverteidigung verlor Mönchengladbach im Sommer 1971 aus finanziellen Gründen mit Dietrich, Köppel und Laumen drei Stammspieler. Unter den Neuzugängen wies nur Hans-Jürgen Wittkamp von Schalke 04 Bundesligaerfahrung vor. Dietmar Danner, Christian Kulik, Ulrich Surau, Gregor Quasten, Peter Wloka und Heinz Michallik kamen aus der Regionalliga beziehungsweise dem Amateur- oder Jugendbereich. In der Bundesligatabelle rangierte die Borussia nach dem elften Spieltag mit 14:8 Punkten auf dem vierten Rang, als im Europapokal am 20. Oktober vor 27.500 Zuschauern im Bökelbergstadion das „Büchsenwurfspiel“ im Achtelfinalhinspiel gegen den italienischen Meister Inter Mailand stattfand. Der italienische Stürmer Roberto Boninsegna wurde von einer aus den Zuschauerrängen geworfenen Limonadendose getroffen, ging zu Boden und wurde als nicht mehr spielfähig ausgewechselt. Das Spiel wurde später durch die UEFA annulliert. Im Europapokal-Buch von Weinrich wird notiert: Ein Jahr nach dem Zweitrunden-Aus im Elfmeterschießen gegen den FC Everton fertigten die „Fohlen“ Inter in einer „rauschenden Ballnacht“ sensationell mit 7:1 Toren ab und spielten sich in die Herzen aller deutschen Fußballfans. Die Augenzeugen sprachen davon, „nie zuvor und nie danach ein großartigeres, denkwürdigeres Fußballspiel mit eigenen Augen erlebt zu haben“. Der damalige Spielmacher meinte mehr als 20 Jahre später: Drei Tage nach dem Mailand-Spiel kam der Tabellenführer Schalke 04 mit 19:3 Punkten und 27:5 Toren nach Gladbach. Noch im „Inter-Spielrausch“ überfuhren die Weisweiler-Schüler die Schalker am 23. Oktober mit 7:0 Toren. „Gegen eine Elf in dieser Form kann keine deutsche Mannschaft zurzeit gewinnen“, bemerkte nach dem Spiel Schalke-Präsident Siebert. Die von Weisweiler trainierte Mannschaft erfreute sich der Sympathiekundgebungen nicht nur am Niederrhein. Gerade auf fremden Plätzen ließ der attraktive Angriffsfußball der überwiegend sympathisch-bescheidenen Spieler die Borussen als Imageträger zum FC Bayern-Gegenpart werden. Gladbach stand für Ästhetik und Tragik, Schwung und Leidenschaft, Spielwitz und Schnelligkeit, Jugend und verzeihbare Fehler, und der „Vater des Teams“ war Hennes Weisweiler. Helmut Böttiger sah es später so: Monatelange Verletzungspausen von Berti Vogts (Meniskusoperation) und Ludwig Müller (Beinbruch) machten in der Runde 1971/72 mehr als den dritten Rang in der Bundesliga nicht möglich. Die Runde 1972/73 stand im Zeichen der verletzungsbedingten Ausfälle in der Defensive von Libero Sieloff (6 BL-Spiele) und Verteidiger Bleidick (9 BL-Spiele) sowie des Wechsels von Vorstopper Ludwig Müller zu Hertha BSC. Der Verlust der Defensivzentrale durch Vorstopper und Libero wog schwer. Da der Dirigent im Mittelfeld, Günter Netzer, nur zu 18 Einsätzen mit drei Toren kam und der exzellente Flügelstürmer Ulrik le Fevre beim FC Brügge unterschrieben hatte, war für den Trainer eine Umgestaltung der Mannschaft nötig. In der Offensive klappte das mit 82 Treffern, davon schoss Heynckes 28, Jensen elf und Rupp neun, gut. Der Verein hatte mit der Verpflichtung von Henning Jensen und dem Rückkehrer Bernd Rupp vor Rundenbeginn adäquat reagiert. In der Defensive konnten die Lücken dagegen nicht kompensiert werden. Prompt gab es mit 61 Gegentreffern die schlechteste Bilanz seit dem Bundesligadebütjahr 1965/66. Gladbach landete damit auf dem fünften Rang. Im UEFA-Pokal und dem DFB-Pokal agierten die „Fohlen“ erfolgreich. Im Halbfinale des UEFA-Cup konnte Weisweiler auf seinen Abwehrchef Sieloff zurückgreifen, der in der Bundesliga nur sechs Spiele bestritt. Dieser dirigierte erfolgreich in den zwei Spielen gegen Twente Enschede im April 1973 die Defensive und die Borussia zog in die Finalspiele gegen den FC Liverpool ein. Im Mai fehlte er in den zwei Endspielen gegen die „Reds“. Insbesondere im mit 0:3 verlorenen Hinspiel an der Anfield Road machte sich das Fehlen des Abwehrorganisators mit ausgezeichnetem Kopfballspiel und Zweikampfstärke spielentscheidend bemerkbar. Das Experiment mit Günter Netzer auf der Liberoposition ging nicht auf. Vor dem Rückspiel am heimischen Bökelberg stellte Weisweiler die Defensive um. Am 23. Mai agierte Berti Vogts als Libero, Dietmar Danner spielte gegen Keegan und Netzer führte wieder im Mittelfeld Regie. Der 2:0-Heimspielsieg durch zwei Heynckes-Treffer konnte den Cuperfolg der Mannschaft um Superstar Kevin Keegan nicht mehr verhindern. Das Pokalfinale und Netzers Selbsteinwechslung 1973 Im legendären Pokalfinale vom 23. Juni 1973 in Düsseldorf gegen den rheinischen Rivalen 1. FC Köln spielte Sieloff wieder auf der Position des Abwehrchefs und die Borussen-Defensive begegnete deshalb der Offensivabteilung des Vizemeisters mit Wolfgang Overath, Heinz Flohe, Herbert Neumann, Jürgen Glowacz und Hennes Löhr mit Erfolg. Das Spiel endete 2:1 nach Verlängerung. In der Berichterstattung der Medien spielte dies eine untergeordnete Rolle. Weisweiler verbannte den zu Real Madrid wechselnden Günter Netzer zu Beginn des Finales wegen mangelnder Kondition auf die Ersatzbank. Der Spielmacher hatte in der Bundesliga, bedingt durch mehrere Verletzungen, nur 18 Spiele für die Borussia bestreiten können und war nicht in bester Verfassung gewesen. Der Trainer wollte seinen langjährigen Spielgestalter in der Halbzeit einwechseln, Netzer lehnte dies ab. Kurz vor dem Beginn der Verlängerung lag Christian Kulik erschöpft auf dem Platz, als Netzer zu ihm ging und ihn fragte, ob er noch weiterspielen könne. Kulik verneinte, worauf sich Netzer ohne Absprache mit Weisweiler selbst einwechselte und drei Minuten später in der 94. Spielminute das entscheidende Tor erzielte. Netzers Selbsteinwechslung war die Topmeldung nach dem Spiel und bestimmte zahllose Kommentare dazu. Netzer selbst geht in seiner Autobiografie ausführlich auf das Pokalendspiel und die Begleitumstände ein. Er erklärte, dass seine schwankende Form aus mehreren Verletzungen in dieser Saison resultierte, durch seine in dieser Zeit vorhandenen Beziehungsprobleme und sein nicht leistungsförderliches Freizeitverhalten. Auch den unerwarteten Tod seiner Mutter führte er an, des Weiteren, dass er danach einige Tage mit dem Training ausgesetzt hatte, und fasste zusammen: Abschließend brach er eine Lanze für den „mit Kritik, mit Spott und Häme überkübelten“ Trainer, indem er klarstellte, dass Weisweiler solches nicht verdient habe, und resümierte: Vizemeisterschaft und UEFA-Pokalsieg 1974–1975 Die Persönlichkeit und fachliche Kompetenz von Weisweiler zeigte sich in aller Deutlichkeit nach dem Weggang des Spielmachers Netzer im Sommer 1973 zu Real Madrid. Für das Jahr eins nach Netzer erwartete die Fachwelt einen Absturz der Borussia und wurde von Hennes Weisweiler einmal mehr eines Besseren belehrt. Die vorausgesagte Findungsphase mit sportlichem Rückschritt durch den schwierigen Umbruch nach der Ära Netzer fand nicht statt. Mit einem Punkt Rückstand zu Meister Bayern München landete die Mannschaft von Weisweiler mit sieben Punkten Vorsprung auf den Dritten auf dem Vizemeisterrang der Saison 1973/74. Der „Mann für Talente“ hatte Ulrich Stielike in die Stammbesetzung geführt und mit Hans Klinkhammer, Lorenz-Günther Köstner und Allan Simonsen weitere Nachwuchshoffnungen zu ersten Bundesligaeinsätzen verholfen. Von einem sportlichen Rückschritt konnte in Gladbach keine Rede sein. Im Gegenteil, mit den neuen Talenten hielt neuer Schwung Einzug am Bökelberg und mit 93 Treffern in 34 Begegnungen stellte die Borussia am Ende der Saison einen neuen vereinsinternen Torrekord auf. 1973 erläuterte der Trainer in der Rundenvorschau: Vor seinem elften Trainerjahr 1974/75 hatte Weisweiler die Abgänge von Bernd Rupp, Klaus-Dieter Sieloff und Heinz Michallik zu verkraften. Er blieb seiner Linie treu und setzte auf junge und entwicklungsfähige Spieler. Er holte mit Karl Del’Haye einen 19-jährigen Jugendnationalspieler nach Gladbach. Aus der 1. Amateurliga Nordwürttemberg kam Frank Schäffer, aus Limburg kam Roger Roebben und dazu übernahm er aus dem Nachwuchs Norbert Kox. Allan Simonsen, der 1974/75 als Angreifer in 34 Ligaspielen mit 18 Treffern den Durchbruch schaffte, bildete zusammen mit Henning Jensen und Jupp Heynckes das beste Sturmtrio der Bundesliga. Im zweiten Jahr ohne Netzer gewann Weisweiler mit seiner Borussia mit sechs Punkten Vorsprung vor Vizemeister Hertha BSC 1975 die dritte Bundesligameisterschaft. Erst am 28. Spieltag fügte Hertha BSC nach 17 ungeschlagenen Spielen Mönchengladbach wieder eine Niederlage zu. Genau in diesem Leistungshoch trug die Mannschaft die zwei Finalspiele im UEFA-Cup gegen FC Twente Enschede aus. Nachdem das Hinspiel am 7. Mai im Düsseldorfer Rheinstadion torlos gegen die von Antoine Kohn trainierten Niederländer geendet hatte, triumphierte die Weisweiler-Elf am 21. Mai mit einem überzeugenden 5:1-Erfolg in Enschede und holte 1975 den UEFA-Cup. Rückblick auf Weisweilers Jahre in Mönchengladbach 1964–1975 Nach dem Gewinn der deutschen Meisterschaft und dem UEFA-Cup 1975, auf dem sportlichen Höhepunkt, verkündete Hennes Weisweiler seinen Abschied nach Barcelona. Seine Tätigkeit in Mönchengladbach lässt sich nicht alleine am Bundesligaaufstieg 1965, den Meisterschaften 1970, 1971 und 1975, dem DFB-Pokal 1973 sowie dem Gewinn des UEFA-Cup 1975 messen. Die Grundlagen des Gladbacher Spiels mit Technik, Schnelligkeit, Kombinationsfußball, dessen Ziel es immer war, Tore zu erzielen, vermittelten die Handschrift ihres Trainers. Hardy Grüne umschreibt Weisweilers Gladbacher Wirken mit den Attributen „Übervater, Meistermacher, Talentespäher und Trainer in einer Person“. Die Erfolge waren für die „Fohlen-Elf“ und Weisweiler wichtig, beileibe jedoch nicht alles. Mit der offensiven Grundausrichtung ihres Spieles mobilisierte die Mannschaft und ihr gestaltender Trainer schon lange vor dem ersten deutschen Meistertitel 1970 im deutschen Fußball eine große Anhängerschaft, die weit über die regionalen Grenzen des Niederrheins reichte. Die denkwürdigen Auftritte mit negativem Ausgang im Europapokal 1970/71 beim FC Everton, das „Büchsenwurf-Spiel“ 1971/72 gegen Inter Mailand sowie die Endspiele 1973 im UEFA-Cup gegen den FC Liverpool trugen dazu bei, dass die Weisweiler-Elf zum Sympathieträger wurde. Dabei stand den Gladbachern ein vergleichsweise bescheidener Finanzrahmen zur Verfügung, die Hälfte der Bundesligamitglieder war der Niederrheinelf diesbezüglich überlegen. Die Talenteentwicklung war ein weiterer Mosaikstein, das finanzielle „Nichthaltenkönnen“ von Stars und trotzdem der Weiterführung von erfolgreichem Offensivfußball zeichneten die Verantwortlichen am Bökelberg aus und brachten ihnen in ganz Deutschland Anerkennung und Anhängerschaft ein. Hennes Weisweiler entwickelte die Akteure Hartwig Bleidick, Rainer Bonhof, Dietmar Danner, Peter Dietrich, Josef Heynckes, Wolfgang Kleff, Herbert Laumen, Peter Meyer, Günter Netzer, Bernd Rupp, Ulrich Stielike, Hans-Hubert Vogts und Herbert Wimmer zu deutschen Fußballnationalspielern. Die Entdeckung und Formung der dänischen Offensivspieler Ulrik le Fevre, Henning Jensen und Allan Simonsen zählt ebenso zu den besonderen Leistungen des Trainers. Torhüter Kleff erinnerte an die Arbeit und die Persönlichkeit seines Trainers einmal so: Der langjährige Lehrgangsleiter in der Trainerausbildung an der Sporthochschule in Köln demonstrierte, dass sich Fußballpraxis und fundierte theoretische Grundlagen, sowie der ständige Blick für internationale Entwicklungen in Taktik und Technik, auf höchstem Leistungsniveau in der Bundesliga und im Europacup über ein Jahrzehnt ergänzen und erfolgreich umgesetzt werden konnten. Und dass trotz Erfolg- und Gewinnstreben die Ideale des schönen und begeisternden Fußballs nicht verloren gehen müssen. Das 7:1 gegen Inter Mailand hatte Weisweilers Mannschaft auf einen Schlag unsterblich gemacht; die Annullierung desselben hingegen machte aus ihr erst einen wirklichen Mythos. Helmut Böttiger sah es ähnlich: Thomas Hardt beschrieb Grundsätze der Arbeitsweise und Charakterzüge von Weisweiler mit den Worten: In der Einbeziehung von Fachleuten wie Helmut Bantz, Erich Ribbeck, Rudi Schlott und Karl-Heinz Drygalsky in die Trainingsarbeit als Assistenz- oder Konditionstrainer, auch der seit 1962 begonnenen und bis zum Jahr 1990 fortgeführten Arbeit von Masseur Charly Stock, setzte er Maßstäbe. In diesem Gesamtpaket lief die Arbeit von Weisweiler in Mönchengladbach ab und das machte ihn in seiner Aktivität zu einem der ganz Großen der Trainergilde. Im Rahmen der Feierlichkeiten zum 100-jährigen Vereinsjubiläum von Borussia Mönchengladbach wählten die Anhänger des Vereins Hennes Weisweiler zum Trainer der sogenannten Jahrhundertelf. FC Barcelona 1975–1976 Nach elf Jahren auf dem Bökelberg wechselte Weisweiler im Sommer 1975 zum spanischen Spitzenverein FC Barcelona. Sein Vorgänger Rinus Michels kehrte nach vier Jahren bei den Katalanen nach Amsterdam zurück und Barça lockte den deutschen Startrainer mit einem Monatsgehalt von umgerechnet 40.000 DM ans Mittelmeer. Das für damalige Verhältnisse üppige Salär war für Weisweiler nicht allein ausschlaggebend. Auf die Frage, warum er Mönchengladbach auf dem Höhepunkt seines Einflusses und Erfolges verlassen würde, antwortete er in einem Interview: Mit dem FC Barcelona und seinen niederländischen Stars Johan Cruyff und Johan Neeskens wollte er sein großes Ziel erreichen, den Europapokal der Landesmeister zu gewinnen. Bereits vom ersten Tag an befanden sich Cruyff und Weisweiler jedoch im „Kriegszustand“: „Weisweiler ist nicht der Trainer meiner Wahl“, verkündete der niederländische Spielmacher, der offenbar ahnte, unter Weisweiler nicht die Freiheiten zu bekommen, die er sich bei Rinus Michels hatte nehmen können. Als Weisweiler am 8. Februar 1976 in Sevilla den Niederländer, nachdem er das zweite Gegentor verschuldet hatte, vom Platz holte, kam es zum offenen Zerwürfnis. „Auswärts ist er nie über die Mittellinie gekommen“, begründete Weisweiler später seine Maßnahme. Er brachte damit nicht nur den niederländischen Star, sondern auch die Fans gegen sich auf. Cruyff monierte, er möge es nicht, wenn man ihn autoritär behandele, und lehnte sich offen gegen den Trainer auf. Die Vereinsführung um Präsident Agostin Montal beendete den Konflikt schließlich damit, dass sie sich durch eine Vertragsverlängerung mit Cruyff auf dessen Seite schlug und Weisweilers darauf folgender Bitte um vorzeitige Auflösung des Zweijahresvertrages nachkam. Bitter schrieb zum Abstecher nach Barcelona: Die spanische Sportzeitung Don Balón stellte im Januar 1978 in einem Vergleich der Aktivitäten der beiden Trainer Rinus Michels und Hennes Weisweiler heraus, dass Michels in seiner sechsjährigen Amtszeit beim FC Barcelona nur einen einzigen Spieler herausgebracht und in die erste Mannschaft integriert habe. Dafür verpflichtete der Club in diesem Zeitraum nicht weniger als 23 neue Spieler für insgesamt zehn Millionen Mark. Dagegen sei es Weisweiler in dem knappen Jahr in Barcelona gelungen, sieben Nachwuchs- beziehungsweise Reservespieler in die Erstligamannschaft zu integrieren. Von ihnen gehöre Antonio Olmo inzwischen zum festen Stamm der spanischen Nationalelf. 1. FC Köln 1976–1980 Zweimaliger Gewinn des DFB-Pokals und deutsche Meisterschaft 1976–1978 Nach der Demission bei den Katalanen warben aus der Fußball-Bundesliga sofort der 1. FC Köln, Fortuna Düsseldorf und der MSV Duisburg um die Dienste von „Don Hennes“ zur Runde 1976/77. Die Vereinsbosse Peter Weiand, Bruno Recht und Paul Märzheuser flogen unverzüglich nach Barcelona und verhandelten mit dem begehrten Fußballtrainer. Schließlich entschied sich Weisweiler, seine dritte Trainerperiode beim 1. FC Köln in Angriff zu nehmen. Karl-Heinz Heimann beschrieb im Kicker die Situation vor dem Rundenstart mit folgenden Worten: Wie der im Sommer 1977 verpflichtete Stürmerstar Kevin Keegan in Hamburg, so löste Weisweiler in Köln eine regelrechte Euphorie aus. Der Dauerkartenverkauf stieg und auf den Favoritenlisten für den Titel 1977 stand der 1. FC Köln oben. Tatsächlich gelang der „Geißbock-Elf“ mit dem Spanien-Heimkehrer ein Traumstart. Nach fünf Erfolgen stand der 1. FC Köln mit 14:2 Toren und 10:0 Punkten an der Tabellenspitze. Die Harmonie ging bereits nach den zwei verlorenen Spielen gegen Tennis Borussia Berlin und Bayern München verloren. Vor allem die Auswärtsschwäche sorgte für Spannungen. 61 Gegentore, Titelverteidiger Mönchengladbach kassierte nur 34 Treffer, waren für Weisweiler ein weiteres Indiz dafür, dass die Zeit eines Wolfgang Overath als Führungsspieler im Kölner Mittelfeld abgelaufen war. Weisweiler traute dem fast 34-jährigen Spielmacher nach 14 Bundesliga-Spielzeiten mit insgesamt 543 Pflichtspielen für Köln sowie 81 Länderspielen nicht mehr zu, sein Spiel auf fremden Plätzen zu ändern, in die Spitze zu gehen und sein Defensivverhalten zu verbessern. Beim Pokalfinale am 28. Mai 1977 in Hannover gegen Hertha BSC eskalierten die Spannungen zwischen Overath und dem Trainer. In der 91. Minute nahm Weisweiler Overath aus dem Spiel und strich ihn aus der Anfangsformation für das Wiederholungsspiel zwei Tage später an gleicher Stelle. Durch ein Tor von Torschützenkönig Dieter Müller holten die Weisweiler-Mannen am 30. Mai den Pokal nach Köln. Overaths Karriere war damit gleichzeitig beendet. Das Jahr nach Overath (1977/78) ging Weisweiler ohne spektakuläre Neuverpflichtungen an. Nur die Nachwuchsspieler Gerald Ehrmann, Heinz Pape, Norbert Schmitz und Holger Willmer bekamen neue Verträge und während der Hinrunde kam noch der 42-malige japanische Nationalspieler Yasuhiko Okudera an den Rhein. Weisweiler setzte auf den vorhandenen Kader und insbesondere auf seinen Spielmacher Heinz Flohe im Mittelfeld. Weisweiler reiste mit seiner Mannschaft am Schlusstag punktgleich mit Gladbach und mit zehn Toren Vorsprung zum Absteiger St. Pauli. Es wurde noch einmal spannend, denn der Titelverteidiger führte nach der ersten Spielhälfte gegen Dortmund mit 6:0, während Köln in Hamburg durch einen Treffer von Flohe nur mit 1:0 führte. In der zweiten Halbzeit ging das Toreschießen im Düsseldorfer Rheinstadion weiter, die Bökelberg-Elf gewann mit 12:0, dennoch sicherte sich Köln mit weiteren vier Treffern die Meisterschaft. Mit 48:20 Punkten und einer um drei Treffer besseren Tordifferenz gewann der 1. FC Köln 1978 nach dem DFB-Pokal zum bislang letzten Mal die Meisterschaft. Die 86 erzielten Tore sind für die „Geißböcke“ in der Bundesliga Vereinsrekord und 20 Gegentore weniger als im Vorjahr stellten der Defensive ein gutes Zeugnis aus. Taktisch zeichnete sich Weisweilers Trainingsarbeit durch die Flankenläufe der Außenverteidiger Konopka und Zimmermann mit Vorlagen auf Mittelstürmer Dieter Müller sowie der von Laufbereitschaft, Spielwitz und Torgefährlichkeit geprägten Spielmacherrolle von Heinz Flohe und die torgefährlichen Eckballvarianten auf den kurzen Pfosten mit überraschender Ablage vor das Tor aus. Weisweiler hatte dem 30-jährigen Flohe die Schlüsselposition als Spielmacher übertragen und die Mannschaft hatte den Mann aus Euskirchen zum neuen Kapitän gewählt. Flohe war sich Weisweilers Vertrauen sicher und kämpfte mit einer Hingabe, die andere Trainer bei ihm vermisst hatten. Er bemerkte dazu: Wie in den Jahren zuvor war Weisweilers Mannschaft technisch gut ausgebildet, demonstrierte Laufvermögen und taktische Disziplin. Durch die Altersverteilung hatte die Meistermannschaft Zukunft und war auf keinen Fall an ihrem Zenit angelangt. Mit Bernd Cullmann, Heinz Flohe, Harald Konopka, Dieter Müller und Herbert Zimmermann gehörten fünf Kölner Spieler dem WM-Aufgebot für Argentinien an und mit Schumacher, Gerber, Strack und Neumann waren weitere Nationalmannschafts-Aspiranten vorhanden. Gescheiterte Titelverteidigung und Abflug nach New York 1978–1980 Vor der Runde 1978/79 beendeten die Routiniers Johannes Löhr, Heinz Simmet und Wolfgang Weber ihre Spielerkarriere. Das Präsidium war zu Investitionen bereit und so stießen die Jugendnationalspieler Pierre Littbarski, Bernd Schuster und Thomas Kroth, aus der FC-Jugend Jürgen Willkomm sowie aus dem mittelrheinischen Amateurbereich Jürgen Mohr zum Verein. Entscheidende Bedeutung hatte im Verlauf der unbefriedigenden Runde die deutlich verminderte Offensivstärke mit 55:47 Toren. Der bisherige Torjäger Dieter Müller wies mit acht Toren seine schwächste Rundenbilanz seiner Kölner Zeit auf. Spielmacher Flohe absolvierte nur 13 Spiele für den Vorjahresmeister. Eine nicht enden wollende Verletzungs- und Krankheitssträhne ließ die Kölner in dieser Spielzeit fast ins Mittelmaß absinken. Trotz der Enttäuschung über den sechsten Rang in der Bundesliga brachte es der Trainer fertig, dass sich mit Schuster und Littbarski zwei der talentiertesten Nachwuchsspieler Deutschlands in der Liga etablierten. Dass Weisweiler daneben den A-Junior Stephan Engels zum Zuge kommen ließ, stellt einen weiteren Beweis für seine ungebrochene Gabe der Heranführung neuer Talente dar. Im Europapokal der Landesmeister setzte sich Köln gegen ÍA Akranes, Lokomotive Sofia und Glasgow Rangers durch, scheiterte im Halbfinal-Rückspiel durch eine 0:1-Heimniederlage jedoch an Nottingham Forest. Vor Weisweilers viertem Jahr in Köln, 1979/80, sorgte die Personalie Heinz Flohe für Diskussionen. Am 15. Juli 1979, unmittelbar vor dem Saisoneröffnungstraining, gab der 1. FC Köln den 39-fachen Nationalspieler, der 13 Jahre lang das Geißbock-Trikot trug, aus seinem noch bis 1980 laufenden Vertrag für den Bundesligaaufsteiger 1860 München frei. Der Nationalspieler stellte fest, dass alleine sein Verhältnis zu Weisweiler der Grund für den Wechsel an die Isar sei. Heinz Flohe und Herbert Neumann waren nach ihren Platzverweisen am 9. Mai 1979 im Spiel beim Hamburger SV mit sofortiger Wirkung vereinsintern vom Training suspendiert und mit Geldstrafen in Höhe von je 1000 Mark belegt worden. Danach soll Weisweiler weder mit Flohe noch mit Neumann ein Wort gesprochen haben. Der Kicker notierte dagegen noch Anfang Dezember 1978, „dass Weisweiler besonders im „Fall Heinz Flohe“ besonders viel Verständnis und subtiles Einfühlungsvermögen gezeigt habe“. Zum Startspiel empfing die Mannschaft am 11. August 1979 in Müngersdorf die Münchner „Löwen“ mit Flohe. Die erste Bewährungsprobe bestand die Weisweiler-Elf mit einem 2:1-Heimsieg. Bis zum Ende der Hinrunde fing sich die Mannschaft, Köln belegte nach dem 17. Spieltag mit 22:12 Punkten den vierten Rang. Dazu trug die Nachverpflichtung von Tony Woodcock bei, der am 30. November sein Bundesligadebüt feierte. Da Präsident Peter Weiand bisweilen Zweifel an der Arbeit des Trainers äußerte und die Kölner Vereinsführung sich bezüglich seiner Vertragsverlängerung zögerlich verhielt, nahm Weisweiler im Februar 1980 verärgert ein Angebot von Cosmos New York an. Er wollte die Saison 1979/80 zunächst beim FC, der zu diesem Zeitpunkt sowohl im Meisterschafts- als auch im Pokalwettbewerb gut im Rennen lag, beenden. Nach einer Serie von fünf sieglosen Begegnungen, darunter die beiden Spitzenspiele gegen den Hamburger SV und Bayern München, war der Meistertitel jedoch außer Reichweite. Weisweiler einigte sich daher Mitte April mit dem Verein über eine vorzeitige Vertragsauflösung beziehungsweise Freigabe und reiste in die USA, wo die Spielzeit 1980 bereits begonnen hatte. Beim Abgang von Weisweiler stand der FC auf dem vierten Tabellenplatz und nach dem 4:1-Erfolg beim FC Homburg im Halbfinale des DFB-Pokals. Der Kader war überdurchschnittlich gut besetzt. Mit Littbarski und Schuster besaß Köln zwei hoffnungsvolle deutsche Talente. Das unter Weisweiler gewonnene nationale „Double“ aus Pokal und Meisterschaft 1978 sowie der Einzug ins Halbfinale des europäischen Landesmeisterwettbewerbs im Jahr darauf zählen für den 1. FC Köln neben dem Erreichen des UEFA-Cup-Finales 1986 bis heute zu den größten Erfolgen der Vereinsgeschichte. Cosmos New York 1980–1982 Die nordamerikanische Profiliga NASL lockte seit Mitte der 1970er Jahre mit hohen Gehältern europäische und südamerikanische Stars in die USA und Kanada, um den Bekanntheitsgrad und die Popularität des Fußballs zu steigern. Die europäische Fußballwelt verspottete die Liga aufgrund ihrer Showelemente und der meist jenseits ihres sportlichen Zenits agierenden Spieler als „Operettenliga“. Weisweiler war trotzdem davon überzeugt, Aufbauarbeit leisten zu können: Eine wichtige Rolle bei seinem Vorhaben spielte Franz Beckenbauer, der bereits 1977 nach New York gekommen war und um den Weisweiler eine neue Mannschaft formen wollte. Weisweiler erreichte mit Cosmos, das neben Beckenbauer so prominente Stars wie den Niederländer Johan Neeskens, den italienischen Stürmer Giorgio Chinaglia sowie den Brasilianer Carlos Alberto aufbot, auf Anhieb den „Soccer Bowl“. Durch einen 3:0-Sieg über die Fort Lauderdale Strikers, die Mannschaft von Gerd Müller, sicherte sich sein Team den Titel. Im Jahr darauf zog Cosmos erneut in das Liga-Endspiel ein, unterlag jedoch den Chicago Sting. Privat fühlte sich Weisweiler wohl in New York. Kurz vor der Übersiedlung in die USA heiratete er am 3. März 1980 in Neuss seine langjährige, 23 Jahre jüngere Freundin Gisela Heizmann; im Sommer 1981 wurde er im Alter von 62 Jahren Vater eines Sohnes. Er eckte trotz der sportlichen Erfolge bei Cosmos an, sowohl bei den Starspielern als auch bei der Vereinsführung. Als er beim „Soccer Bowl '80“ Beckenbauer in der Abwehr aufbot und Carlos Alberto auf die Bank verbannte, brachte er den Brasilianer gegen sich auf, der den Verein daraufhin verließ. Sein größter Gegner bei Cosmos war Torjäger Chinaglia. Dieser warf Weisweiler unter anderem vor, dass Cosmos unter ihm der öffentlichkeitswirksame Charakter verloren gegangen sei und dass er diesen einem konservativen und zurückhaltenden Stil geopfert habe. Diese Bemerkung spielt auf Weisweilers wenig publikums- und medienwirksame Art an. Sein Konzept, eine Mannschaft nicht mit prominenten internationalen Altstars, sondern vorrangig mit jungen Amerikanern zu formen, stieß bei den Cosmos-Verantwortlichen auf wenig Gegenliebe. Sie waren der Meinung, dass in erster Linie zugkräftige Namen für genügend Bekanntheit und damit wirtschaftlichen Erfolg sorgten. Der unerwartet frühzeitige Abgang von Beckenbauer, der im Herbst 1980 in die Bundesliga zurückgekehrt war, trug mit dazu bei, dass Weisweiler bereits vor der 1982er Runde nach Gesprächen mit Nesuhi Ertegün, dem Jazz-Produzenten und damaligen Aufsichtsratsvorsitzenden von Cosmos New York, seinen Abschied verkündete. Grasshopper Club Zürich 1982–1983 Im Februar 1982 deutete zunächst vieles auf Weisweilers Rückkehr in die Bundesliga hin. Eintracht Frankfurt suchte einen Nachfolger für Trainer Lothar Buchmann, der zum Saisonende gekündigt hatte. Präsident Axel Schander nannte Weisweiler einen „Wunschtrainer“ und war nach ersten Gesprächen wenige Tage später zuversichtlich, dass dieser an den Main kommen würde. Der wies in einem Interview Anfang März darauf hin, dass es mit dem Grasshopper Club Zürich noch einen zweiten ernsthaften Interessenten gäbe und er sich noch nicht entschieden habe: Wenige Tage später unterschrieb Weisweiler in Zürich einen Zweijahresvertrag. Er wechselte zu einem Verein, bei dem Präsident Karl Oberholzer für eine langjährige und souveräne Clubführung stand und der über hinreichende finanzielle Mittel für eventuelle Verstärkungen verfügte. Weisweiler fand diesbezüglich günstigere Rahmenbedingungen vor als in Frankfurt. Zudem überzeugte er sich bei einem Ligaspiel auf dem Hardturm vom spielerischen Potenzial des Kaders und attestierte ihm „absolutes Bundesligaformat“. Die Grasshoppers hatten zwar unter dem deutschen Trainer Timo Konietzka 1982 die Schweizer Meisterschaft gewonnen, der Club lag aber in der Zuschauergunst weit hinter Luzern, Servette, Aarau und dem Stadtrivalen FC Zürich. Der „Startrainer“ Weisweiler sollte den Erfolg auf nationaler und internationaler Ebene festigen. In der Spielzeit 1982/83 erfüllten sich die hohen Erwartungen teilweise. Grasshoppers scheiterte zwar im europäischen Landesmeister-Cup in der ersten Runde an Dynamo Kiew, verteidigte jedoch nicht nur den Meistertitel, sondern gewann auch nach 27 Jahren die Sandoz-Trophäe im Cup-Finale. Für Weisweiler war dieser Doppelerfolg nach 1978 das zweite „Double“. Tod und Gedenken 1983 Am 5. Juli 1983, nur drei Wochen nach dem Pokalsieg mit GC Zürich, starb Hennes Weisweiler im Alter von 63 Jahren an einem Herzinfarkt in seinem Haus in Aesch bei Birmensdorf, einer Ortschaft in der Nähe von Zürich. Er hatte vorgehabt, hier seine Karriere langsam ausklingen zu lassen und sich ausschließlich seiner Familie und dem Schreiben seiner Memoiren zu widmen. Sein ebenso plötzlicher wie unerwarteter Tod löste große Betroffenheit und Anteilnahme aus. Sein Leichnam wurde vor dem Kölner Dom aufgebahrt. Dies war eine Ehre, die außer ihm lediglich dem früheren Bundeskanzler Konrad Adenauer sowie dem Erzbischof Joseph Kardinal Höffner zuteilwurde. 6000 Menschen, darunter zahlreiche Persönlichkeiten aus Sport und Politik, kamen zum letzten Geleit. Beigesetzt wurde er im heimischen Lechenich; sein Grabstein trägt die Inschrift „Ein Leben dem Fußball“. Weisweilers Tod fand in der nationalen und internationalen Presse große Resonanz. Einen ausführlichen Nachruf widmete ihm die spanische Sportzeitung El Mundo Deportivo, die dem Leben und Wirken von Hennes Weisweiler in ihrer Ausgabe vom 6. Juli 1983 sieben Seiten widmete. Im deutschen Kicker-Sportmagazin charakterisierte Harald Landefeld Weisweiler mit den Worten: Der damalige Kicker-Chefredakteur Karl-Heinz Heimann fügte hinzu: Hennes Weisweiler war verheiratet. Aus der Ehe ging ein Sohn hervor, der als Historiker tätig ist. Hennes-Weisweiler-Sportpark Am 22. Mai 2015 wurde in Erftstadt-Lechenich die 2011 erbaute Sportanlage mit Kunstrasenplatz im Gedenken an einen der bekanntesten Bürger dieser Stadt in Hennes-Weisweiler-Sportpark umbenannt. Erfolge International UEFA-Pokalsieger: 1975 UEFA-Pokalfinalist: 1973 Bundesliga Deutscher Meister: 1970, 1971, 1975, 1978 Deutscher Vize-Meister: 1974 Bundesliga-Aufstieg: 1965 DFB-Pokal DFB-Pokalsieger: 1973, 1977, 1978 North American Soccer League North American Soccer League Meister: 1980 Schweizer Nationalliga A Schweizer Meister: 1983 Schweizer Cup Schweizer Cup Sieger: 1983 Ehrungen 1977: Kicker-Trainer des Jahres 1980: Verdienstkreuz am Bande der Bundesrepublik Deutschland 2018: Aufnahme in die Hall of Fame des 1. FC Köln Veröffentlichungen Fußball-Lehrbücher Hennes Weisweiler: Der Fußball. Taktik, Training, Mannschaft. 1. Auflage. Hofmann, Schorndorf bei Stuttgart 1959 (8. Aufl. = ISBN 3-7780-3028-0). Helmut Bantz, Hennes Weisweiler, Karlheinz Grindler: Spiel und Gymnastik für den Fußballer. 1. Auflage. Hofmann, Schorndorf bei Stuttgart 1965 (7. Aufl. = ISBN 3-7780-3197-X). Hennes Weisweiler: Technik, Taktik, Tore. Reiff Verlag, Offenburg 1980, . Weitere Fachbücher Hennes Weisweiler, Roland Gööck: IX. Fußball-Weltmeisterschaft Mexico 1970. Bertelsmann-Sachbuchverlag, Gütersloh 1970. Hennes Weisweiler (Hrsg.): X. Fußball Weltmeisterschaft. Deutschland 1974. Bertelsmann, München/Gütersloh/Wien 1974, ISBN 3-570-00036-2. Hennes Weisweiler: Meine geheimen Fußball-Tricks. F. Schneider, München/Wien 1978, ISBN 3-505-07094-7. Literatur Biografie Günter Giersberg (Hrsg.), Hermann Josef Weskamp, Kurt Röttgen: Hennes Weisweiler. Verlag Die Werkstatt, Göttingen 2014, ISBN 978-3-7307-0100-3. Kurzbiografien Jürgen Bitter: Hennes Weisweiler. In: Die Meistermacher. Verlag wero press, Pfaffenweiler 2004, ISBN 3-937588-02-7, S. 96–98. Gladbacher Bank (Hrsg.): Hennes. Aus der Buchreihe: Zeugen Städtischer Vergangenheit. Band 18. Mönchengladbach 2000. Ludger Schulze: Hennes Weisweiler. In: Trainer. Die großen Fußballstrategen. Copress Verlag, München 1989, ISBN 3-7679-0292-3, S. 83–88. Dietrich Schulze-Marmeling: Hennes Weisweiler. In: Strategen des Spiels. Die legendären Fußballtrainer. Verlag Die Werkstatt, Göttingen 2005, ISBN 3-89533-475-8, S. 408–410. Dieter Ueberjahn: Hennes Weisweiler. In: Die größten Spiele großer Trainer. Engelbert-Verlag, Balve 1977, ISBN 3-536-00444-X, S. 96–111. Vereinschroniken Borussia Mönchengladbach Werner Jakobs: 100 Jahre Borussia Mönchengladbach. Rheinsport networking, Kaarst 1999, ISBN 3-934702-00-7. Holger Jenrich, Markus Aretz: Die Elf vom Niederrhein. 40 Jahre Borussia Mönchengladbach in der Bundesliga. Verlag Die Werkstatt, Göttingen 2005, ISBN 3-89533-503-7. Ulrich Merk, André Schulin, Maik Großmann: Mein Verein: Borussia Mönchengladbach. Chronik der 1960er Jahre. AGON Sportverlag, Kassel 2007, ISBN 978-3-89784-293-9. Ulrich Merk, André Schulin, Maik Großmann: Mein Verein: Borussia Mönchengladbach. Chronik der 1970er Jahre. AGON Sportverlag, Kassel 2008, ISBN 978-3-89784-301-1. Markus Aretz, Elmar Kreuels, Stephan Giebeler: Borussia Mönchengladbach: Die Chronik. Verlag Die Werkstatt, Göttingen 2011, ISBN 978-3-89533-748-2. Vereinschroniken 1. FC Köln Thomas Hardt, Thomas Hohndorf, Bruno Morbitzer, Hubert Dahlkamp, Hardy Grüne: Hennes & Co. Die Geschichte des 1. FC Köln. Verlag Die Werkstatt, Göttingen 2004, ISBN 3-89533-470-7. Dirk Unschuld, Thomas Hardt, Frederic Latz: Im Zeichen des Geißbocks. Die Geschichte des 1. FC Köln. 3. Auflage, Verlag Die Werkstatt, Göttingen 2014, ISBN 978-3-89533-582-2. Weblinks Hennes Weisweiler: Monument und Mensch – Artikel auf kicker.de vom 5. Juli 2023 Einzelnachweise Fußballspieler (FC Wacker München) Fußballspieler (1. FC Köln) Fußballtrainer (1. FC Köln) Fußballtrainer (SC Viktoria Köln) Fußballtrainer (Borussia Mönchengladbach) Fußballtrainer (FC Barcelona) Fußballtrainer (Vereinigte Staaten) Fußballtrainer (Grasshopper Club Zürich) Sachbuchautor (Fußball) Träger des Bundesverdienstkreuzes am Bande Person (Erftstadt) Sportler (Köln) Deutscher Geboren 1919 Gestorben 1983 Mann
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Toplitzsee
Der Toplitzsee ist ein kleiner Bergsee im steirischen Teil des Salzkammergutes im Gemeindegebiet von Grundlsee, am Südfuß des Toten Gebirges und liegt auf Der Ablauf des Toplitzsees ist die Toplitz, die über die Traun in die Donau entwässert. Der Toplitzsee ist ein meromiktischer See mit einer deutlich ausgeprägten Schichtung. Das Wasser enthält unterhalb von etwa 20 m keinen Sauerstoff mehr und mit größerer Tiefe nimmt der Salzgehalt deutlich zu (0,75 %). Um den See rankt sich der Mythos, dass zu Ende des Zweiten Weltkriegs Gold und Kunstschätze im See versenkt wurden. Bis heute wurden jedoch nur Kisten mit Falschgeld und Kriegsrelikte gefunden. Der See bietet mit seinen unverbauten Ufern mit angrenzenden Wäldern Lebensräume für viele Tier- und Pflanzenarten und steht seit 1991 unter Naturschutz. Der Toplitzsee im Besitz der Österreichischen Bundesforste ist wegen seiner schönen Lage ein beliebtes Ausflugsziel. Geographie Der Toplitzsee ist fjordartig in die Berge des Toten Gebirges eingeschnitten. Im Norden befinden sich die Gößler Wand und der Beerenkogel (), im Süden erheben sich die steilen Flanken des Schwarzwalds. Die Ufer sind steil abfallend, nur westseitig nahe dem Ausrinn und an der Nordostseite beim Übergang zum Kammersee sind sie flacher, sonst dominieren Felsen. Der von Südwest nach Nordost langgestreckte See hat eine Länge von 1,9 km und eine maximale Breite von 400 m. Die Oberfläche beträgt etwa 54 ha, die durchschnittliche Tiefe 62 m. Die Seewanne zeigt bis auf den nordöstlichen Bereich steil abfallende Hänge. Erst ab etwa 80 Metern Tiefe nimmt das Gefälle allmählich ab und eine relativ großflächige Bodenzone mit einer maximalen Tiefe von 103 m breitet sich aus. Das Wasservolumen beträgt 33,7 Millionen Kubikmeter. Das westliche Ende des Sees ist über mehrere Wege vom Ortsteil Gößl am Ostufer des Grundlsees aus erreichbar. Die Toplitzseestraße verläuft entlang der Gößler Wand durch den Ort. Die anfangs asphaltierte, später als Schotterpiste ausgeführte Straße ist für den öffentlichen Verkehr gesperrt, ein Befahren mit Fahrrädern ist jedoch gestattet. Für die rund 2 Kilometer benötigt man etwa 20 Gehminuten. Entlang der Toplitz verläuft ein Wanderweg durch den Wald zum See. Südlich des Bachs führt der sogenannte Reithweg zum Ostufer. Die Ufer sind unverbaut, nur am Westufer befinden sich zwei Bootshäuser. Aufgrund der Steilheit des Geländes führt entlang des Ufers kein Fußweg zum Ostende des Sees, wo sich der Zugang zum Kammersee befindet. Das Unternehmen Schifffahrt Grundlsee betreibt eine Bootsverbindung zwischen West- und Ostufer. Hydrologie Das hydrologische Einzugsgebiet des Toplitzsees hat eine Gesamtfläche von 70,7 km² und liegt zur Gänze im Toten Gebirge. Die Speisung des Sees erfolgt überwiegend unterirdisch durch ein Karstsystem, das von den Lahngangseen gespeist wird. Einen weiteren Zulauf erhält der Toplitzsee durch den unmittelbar östlich gelegenen Kammersee, der über einen künstlichen Felskanal verbunden ist. Dieser führt jedoch nur in sehr regenreichen Jahren und während der Schneeschmelze Wasser. Der Abfluss des Kammersees zum Toplitzsee erfolgt jedoch auch unterirdisch. Zusätzlich wird der See durch die beiden Bäche Vorderbach und Hinterbach, die von Norden in den See hinabstürzen, gespeist. Die Toplitz, die nach 1,6 km in den Grundlsee mündet, verlässt im Westen bei der Seeklause den See, wo eine Brücke über den Ausfluss führt. Der mittlere Abfluss des Sees beträgt 5,94 m³/s. Geologie Tektonik Der Toplitzsee liegt am Südwestrand der Totengebirgsdecke (Tirolikum) und ist somit ein Teil der Nördlichen Kalkalpen. Diese Deckeneinheit besteht überwiegend aus mesozoischen Kalken und Dolomiten der Trias und des Jura. Die Seewanne des Toplitzsees befindet sich entlang einer von Westsüdwest nach Ostnordost verlaufenden geologischen Störung. Diese als Toplitzsee-Störung bezeichnete Linie zieht über den Grundlsee und den Kammersee ins Tote Gebirge hinein. Rund um den See bestehen die Berge aus lagunärem Dachsteinkalk. Nur am Ausfluss befinden sich Kalke aus dem Jura und Moränenreste. Ehemalige Vergletscherung und Entstehung Während der Eiszeiten folgte der mächtige Grundlsee-Lokalgletscher, der vom Hochplateau des Toten Gebirge ins Ausseer Becken floss, ebenfalls dieser störungsbedingten Schwächezone und erweiterte hierbei das Tal und schürfte das Zungenbecken des Toplitzsees aus. In der späten Eiszeit waren Toplitzsee und Kammersee noch Teil des Grundlsees. An der Basis des Sees wurde salzführendes Haselgebirge im Seewasser gelöst. Limnologie Zirkulation Der Toplitzsee ist ein meromiktischer See mit einer deutlich ausgeprägten Schichtung. Das Wasser enthält unterhalb von etwa 20 m keinen Sauerstoff mehr und mit größerer Tiefe nimmt der Salzgehalt deutlich zu (0,75 %). Der Seegrund wird von schwefelwasserstoff-reichem Faulschlamm gebildet. Während der Frühjahrs- und Herbstzirkulationen wird der See nur bis in etwa 20 Metern Tiefe durchmischt. Das etwa 80 Meter mächtige Monimolimnion bleibt von den Zirkulationen unbeeinflusst. Ursachen hierfür sind eine im Verhältnis zur Tiefe kleine Wasseroberfläche als Angriffsfläche für den Wind, eine besonders windgeschützte Lage und ein besonders salzreiches Tiefenwasser mit größerer Dichte. Während der sommerlichen Stagnationsphasen beträgt die Wassertemperatur an der Oberfläche im Mittel 16,8 °C. Der Höchstwert wurde im August 2003 mit 20,2 °C gemessen. Das Epilimnion des Toplitzsees weist nur eine sehr geringe Mächtigkeit auf. Bereits kurz unterhalb der Oberfläche fallen die Temperaturen bis auf etwa 5° C in 15 Metern Tiefe rapide ab. Von 15 Metern abwärts beginnen die Temperaturen wieder zu steigen. Die Ursache für dieses metalimnische Temperaturminimum liegt an den Zirkulationsverhältnissen im Toplitzsee. Im Zuge der Frühjahrszirkulation gelangt kälteres Oberflächenwasser bis in etwa 15 bis 20 Meter Tiefe, während das Monimolimnion mit durchschnittlichen 5,8 °C davon unberührt bleibt. Trotz der anschließenden Erwärmung an der Oberfläche bleiben die geringen Temperaturen im Metalimnion noch lange erhalten. Die hohe Temperatur des Monolimnions ist ebenfalls eine Besonderheit im Toplitzsee. Aufgrund der Dichteanomalie des Wassers liegt die Temperatur über Grund bei vielen Seen um 4 °C. Bei höherem Druck und auch bei einer Salzgehaltszunahme sinkt jedoch die Temperatur für das Dichtemaximum. Die hypolimnischen Temperaturen könnten demnach im Toplitzsee sogar unterhalb von 4 °C liegen. Bei Messungen, die 2006 durchgeführt wurden, war in 100 Metern Tiefe eine Maximaltemperatur von 6 °C nachweisbar. Ob diese Temperaturanstiege jedoch für die allgemein hohen Tiefentemperaturen im Toplitzsee verantwortlich sind, kann nicht mit Sicherheit beantwortet werden. Die Temperaturmessreihen können jedoch als Indiz für die Existenz von Quellen in großer Tiefe (sublacustrisch) eingeschätzt werden. Trophie Der See weist eine geringe Konzentration an Nährstoffen auf und ist somit oligotroph. Für die Jahre 2003 bis 2006 wurde im Epilimnion ein mittlerer Phosphorgehalt von 6,3 µg/l berechnet. Über Grund lagen die Werte im Mittel bei 52 µg/l. Durch die niedrigen Phytoplanktonkonzentrationen und das geringe Algenwachstum beträgt die mittlere sommerliche Sichttiefe 8,8 Meter. Plankton Das aerobe Plankton ist im Toplitzsee auf den Raum von der Oberfläche bis in 20 Meter Tiefe zusammengedrängt. Die nahezu sauerstofffreie Tiefenschicht wird hingegen von einer anaeroben bzw. oligoaeroben Biozönose bevölkert, in der eisen- und schwefeloxidierende Mikroorganismen die Hauptrolle spielen. Cryptophyceae und Kieselalgen, vor allem Arten der Gattung Asterionella, Stephanodiscus und Synedra, bilden den Hauptbestandteil des Phytoplanktons. Das Zooplankton ist mit deutlich mehr Biomasse vertreten. Von den Rotatorien wurden Kellicottia longispina, Keratella cochlearis und Keratella hiemalis häufig festgestellt. Das Crustaceenplankton des Toplitzsees setzt sich größtenteils aus den Arten Eudiaptomus gracilis, Cyclops abyssorum, Daphnia hyalina und Eubosmina longispina zusammen. Flora und Vegetation In den moorigen Bereichen am Nordwest‐ und Westufer wachsen unter anderem Steife Segge (Carex elata), Blasen-Segge (Carex vesicaria), Brennender Hahnenfuß (Ranunculus flammula) und Sumpffarn (Thelypteris palustris). Nahe dem Ausrinn in den flacheren Uferbereichen setzt sich die submerse Vegetation aus Armleuchteralgen (Chara sp.), Alpen-Laichkraut (Potamogeton alpinus), Ähriges Tausendblatt (Myriophyllum spicatum) und der Gebirgssippe des Haarblättrigen Wasserhahnenfußes zusammen. Beim Bootssteg am Nordostufer wächst zusätzlich das Langblättrige Laichkraut (Potamogeton praelongus). Die steilen Nord- und Südflanken sowie das Ostufer sind von einem Hangmischwald bedeckt, der in großen Teilbereichen naturnahe ist. Als dominierende Baumarten wachsen dort Rot-Buche (Fagus sylvatica), Berg-Ahorn (Acer pseudoplatanus), Weiß-Tanne (Abies alba) und die Fichte (Picea abies). Seltener sind die Bergulme (Ulmus glabra) und die Gemeine Esche (Fraxinus excelsior). Im Wald befindet sich viel stehendes und liegendes Totholz, das durch Lawinen und während der Schneeschmelze in den See verfrachtet wird. Fauna Über den ursprünglichen Fischbestand des Toplitzsees ist nur wenig bekannt. Während des Zweiten Weltkriegs befand sich am See eine Versuchsstation der Kriegsmarine. Durch Unterwassersprengungen wurde nahezu der gesamte Fischbestand des Sees vernichtet. Heute sind durch Besatzmaßnahmen wieder Fische im See vorhanden. Der Fischbestand des Toplitzsees ist auf die oberen, sauerstoffreichen Wasserschichten beschränkt und setzt sich heute aus folgenden Arten zusammen: Aalrutte (Lota lota), Aitel (Squalius cephalus), Elritze (Phoxinus phoxinus), Flussbarsch (Perca fluviatilis), Hecht (Esox lucius), Koppe (Cottus gobio), Bachschmerle (Barbatula barbatula), Seeforelle (Salmo trutta), Seelaube (Alburnus chalcoides) und Seesaibling (Salvelinus alpinus). Die alten Buchenmischwälder um den Toplitzsee sind Lebensraum für den in Europa seltenen Zwergschnäpper (Ficedula parva). Der Kormoran (Phalacrocorax carbo) ist am Grundlsee heimisch und ernährt sich vom Fischbestand im See und auch von den Fischen der umliegenden Zuchtanlagen, weshalb er dort auch gejagt wird. Durch das Jagdverbot im Naturschutzgebiet finden die Vögel am Toplitzsee einen Rückzugsort und sind häufig zu sehen. Bevorzugte Rastplätze sind hierbei abgestorbene Fichten am Südwestufer. Im Sommer 2002 wurde am Südufer des Sees ein Initialbesatz mit Edelkrebsen (Astacus astacus) durchgeführt. Der Steinkrebs (Austropotamobius torrentium) lebt ebenfalls im See. Am Toplitzsee ist ein Vorkommen der Salzkammergut-Turmdeckelschnecke (Cochlostoma henricae huettneri) belegt. Die Unterart ist in Oberösterreich und der Steiermark auf den weiteren Bereich der Salzkammergutseen beschränkt. Naturschutz Der See bietet mit seinen unverbauten Ufern mit angrenzenden Feuchtgebieten und bewaldeten Steilhängen, Lebensräume für viele Tier- und Pflanzenarten. Der Toplitzsee liegt im Naturschutzgebiet NSG-a16 Totes Gebirge West das 1991 verordnet wurde. Er ist ebenfalls Teil des Europaschutzgebiets Totes Gebirge mit Altausseer See Europaschutzgebiet Nr. 35, das gemäß FFH- und Vogelschutzrichtlinie als Teil des Netzwerks Natura 2000 im Jahr 2006 verordnet wurde. Die dort verbreitete Seelaube (syn. Mairenke) ist ein Schutzgut gemäß des Anhangs II der FFH-Richtlinie und gilt somit als streng zu schützende Art von gemeinschaftlichem Interesse, für deren Erhalt besondere Schutzgebiete ausgewiesen werden müssen. Der Fisch wandert während der Laichzeit vom Toplitz- und vom Grundlsee in die Toplitz. Um die Durchgängigkeit der Fischwanderung zu ermöglichen, wurde 2004 der Auslauf des Toplitzsees um 40 Meter vorgezogen und die Klausanlage eingestaut, um die Schwelle der Klause zu entschärfen. Bei einem Monitoring 2016 konnten an die 5.000 Seelauben bei ihrem Laichzug gezählt werden. Namenkunde Das Ennstal war Siedlungsraum der Alpenslawen und viele Flurnamen sind slawischen Ursprungs. Toplitz geht auf das slawische toplica zurück, was „warmes Quell- oder Bachgewässer“ bedeutet. Ursprünglich hieß nur der Abfluss des Toplitzsees so, der Name ging später auf den See über. Es gibt identische, aber umgelautete Namen wie Töplitz bei Radenthein oder Töplitsch bei Weißenstein. Daraus kann geschlossen werden, dass zur Zeit des deutschen Umlauts (etwa bis zum 13. Jahrhundert) die überwiegende Bevölkerung von Aussee-Grundlsee noch nicht deutsch sprach. Am Nordufer führt ein alter, verfallener Weg zur Vordernbachalm. 1819 stieg Erzherzog Johann mit Jagdbegleitung von der Alm zum Toplitzsee ab, wo er erstmals seine zukünftige Frau traf. Der Weg wird heute noch als Prinzensteig bezeichnet. Geschichte Holztrift Mit der Errichtung der nahe gelegenen Saline in Unterkainisch im 13. Jahrhundert wurde die gesamte Holzwirtschaft des Gebietes auf die Brennholz-Erzeugung für das Sudhaus ausgerichtet. Mitte des 16. Jahrhunderts waren die Holzvorräte rund um die Saline beinahe erschöpft und es mussten neue, bis dahin unzugängliche Wälder erschlossen werden. Um das Holz hinter dem Kammersee nutzbar zu machen und unter vertretbarem Aufwand zum Toplitzsee zu bringen, wurde von 1547 bis 1549 ein künstlicher Triftkanal in den kleinen Felsrücken des sogenannten Rotecks, zwischen Toplitz- und Kammersee, geschlagen. Der westliche kurze Abschnitt des Schwemmkanals fällt zum Toplitzsee hin ab. Dort wurde das natürliche Gelände zu einer Rinne überarbeitet, um das Holz in den See zu triften. Der gesamte Kanal ist etwa 140 Meter lang. Das aus dem Felsrücken geschlagene prägnante Teilstück hat eine Länge von 97 Metern, eine Breite von zwei Metern und die Kanalsohle liegt im Durchschnitt sechs Meter, an einigen Stellen sogar bis zu neun Meter tief. Schon um 1730 mangelte es dem Kammersee allerdings an Wasser und die Trift wurde eingestellt. Der Schwemmkanal zählt zu den ältesten technischen Denkmälern Österreichs und steht unter Denkmalschutz. Wie an allen Seen des inneren Salzkammerguts war auch am Ausfluss des Toplitzsees eine Klause zur Holztrift vorhanden, da dort mit relativ geringen Mitteln sehr große Wassermengen gespeichert werden konnten. Die Lebensdauer einer hölzernen Klause betrug im Durchschnitt 30 Jahre. Um den großen Holzverbrauch infolge der häufigen Neubauten zu vermindern, wurde die Toplitzseeklause 1865 mit Steinquadern neu gebaut. Nach Einstellung der Trift verfiel die Klause und die Holzteile wurden 1977 rekonstruiert. Sie ist neben der Seeklause am Hallstätter See die einzige noch funktionstüchtige Seeklause im Salzkammergut und steht unter Denkmalschutz. Marineversuchsstation Von 1943 bis 1945 befand sich am Toplitzsee eine Versuchsstation der Chemisch-Physikalischen Versuchsanstalt der Marine (CPVA). Die Arbeit der CPVA am Toplitzsee bestand vor allem aus der Erprobung von Sprengstoffen und Waffen. Hierbei wurden die physikalischen Vorgänge beim Einsatz gemessen und zum Teil theoretisch untermauert. Die hierfür notwendigen ungestörten Verhältnisse konnten am Meer nicht gewährleistet werden und es wurde ein tiefer See als Standort gesucht. Bei ersten Versuchen am Pulvermaar und am Attersee entstand durch die Unterwassersprengungen großer Schaden am Fischbestand und die CPVA geriet in Konflikt mit den lokalen Fischern und dem Reichsministerium für Ernährung und Landwirtschaft. Diese Standorte kamen daher nicht mehr in Frage. Da der Fischbestand des Toplitzsees damals nicht genutzt wurde und der See sehr tief und abgeschieden ist, wurde im Frühjahr 1943 eine Versuchsstation am Nordwestufer errichtet. Offizielle Dienststelle der CPVA war die Villa Roth in Gößl. Um die Nah- und Fernwirkung von Sprengstoffen bei Unterwasserexplosionen zu untersuchen, wurde im September 1943 mit den ersten Versuchsreihen begonnen. Der Sprengstoff wurde über den Bahnhof in Bad Aussee geliefert und in einem Munitionsbunker am Ufer gelagert. Für die Messungen befand sich im See ein Floß mit Oszillographen und anderen Messgeräten. Die ersten Versuche wurden mit Trinitrotoluol mit weniger als 10 kg durchgeführt. Später kamen auch Torpedoköpfe von 300 kg Gewicht zum Einsatz. Die größte Ladung von 4000 kg Schießwolle 18 wurde am 30. Juni 1944 gezündet. Die Sprengung einer derart großen Ladung zu Versuchszwecken war auch während der Kriegszeiten eine Seltenheit. Daher kamen Gauleiter August Eigruber und hochrangige Marineoffiziere an den Toplitzsee, darunter Friedrich Brandes, Chef der CPVA, und Konteradmiral Wilhelm Rhein. Am 31. Juli 1944 waren die Sprengstoffuntersuchungen am Toplitzsee abgeschlossen. Nach dem Abschluss der Sprengstoffuntersuchungen begannen im Sommer 1944 die Arbeiten am Projekt Ursel. Es handelte sich hierbei um eine geplante Unterwasserrakete für den Defensiveinsatz. Im Falle eines Angriffs mit Unterwasserbomben sollten die Raketen dem getauchten U-Boot die Flucht ermöglichen. Die Ladung sollte ein Loch von etwa 5 m² im Rumpf eines Zerstörers erzeugen und wurde mit 15 kg Sprengstoff festgelegt. Als Ausmaße wurden eine Länge von 1,8 m, ein Kaliber von 15 cm und ein Gewicht von 80 kg festgelegt. Die Raketenteile wurden von der Firma WASAG gefertigt und über Bad Aussee nach Gößl geliefert. Vermutlich wurden weniger als 50 Abschüsse im Toplitzsee durchgeführt. Kriegsende am Toplitzsee Anfang April 1945 erging der Befehl, die Dienststelle der CPVA aufzulösen. In der Villa Roth und am See wurden Gerätschaften, Unterlagen und Sprengstoff vernichtet. Hierbei wurden auch Messgeräte der Versuchsstation im See versenkt. Der verbliebene Sprengstoff wurde am Ufer gezündet. Die restlichen Gerätschaften wie die Treibsätze der Unterwasserraketen wurden verbrannt. Ende April/Anfang Mai fuhr ein Transport der Aktion Bernhard vom KZ-Nebenlager Redl-Zipf ins Salzkammergut. Der Transport beförderte Kisten mit gefälschten britischen Pfund-Banknoten, die im See versenkt wurden. Warum der Toplitzsee als Ort der Versenkung gewählt wurde, lässt sich heute nicht mehr feststellen. Vermutlich wurde die Weiterfahrt nach Bad Aussee befohlen, wo man von der einzigen militärischen Dienststelle der Umgebung, der Marineversuchsstation am Toplitzsee, erfuhr. Aufgrund der großen Menge an Falschgeld kam ein Verbrennen nicht in Frage und man entschloss sich, die Kisten zu versenken. Da der Weg wegen der Schneelage für Lkw nicht befahrbar war, beförderten einige Einwohner von Gößl mit ihren Pferdegespannen die Kisten zum See. Über den eigentlichen Versenkungsvorgang liegen derart widersprüchliche Aussagen vor, dass dieser nicht mehr rekonstruiert werden kann. Der Schatz im Toplitzsee Obwohl die Versenkung von Kisten im See der Bevölkerung bekannt war, wurde der Aktion nur wenig Bedeutung beigemessen. Mit dem Aufkommen von Gerüchten über die Verlagerung von großen Reichtümern ins Ausseerland stieg wieder das Interesse am Toplitzsee. Es wurde spekuliert, dass sich Sachwerte, Schmuck, Gold, Devisen, Platin usw. in den Kisten befanden und die Zeitungen griffen dieses Thema wieder auf. So soll sich im See etwa Gold aus dem Rommel-Schatz befinden, den SS-Obersturmbannführer Otto Skorzeny von Italien geholt haben soll. Es wurde spekuliert, im See würden Akten des Reichssicherheitshauptamtes oder die Tagebücher Heinrich Himmlers liegen. Auch entstanden Gerüchte, verschiedene Todesfälle in den Nachkriegsjahren bis 1950 stünden im Zusammenhang mit der Suche nach verborgenen Schätzen. Die meisten Berichte sind übertrieben oder völlig frei erfunden. Es lassen sich jedoch einige Anhaltspunkte für deren Entstehung belegen. So wurde bei der Villa Kerry in Altaussee eine Kassette mit Gold gefunden, die in den letzten Kriegstagen vergraben wurde. Das Personal der Marineversuchsstation erhielt als letzten Sold Silberplättchen und Platindraht. Einige Seeleute versteckten die Silberplättchen in den Dachsparren des Gasthauses Veit und holten sie nach Kriegsende wieder ab. Bergungen Stern-Bergung 1959 Nach eineinhalbjährigen Recherchen des Stern-Journalisten Wolfgang Löhde veröffentlichte der Stern im Jahre 1959 eine Serie über die Aktion Bernhard. Die in 15 Folgen erschienene Serie wurde zwischen 25. Juli 1959 und 31. Oktober 1959 in den Heften 30 bis 44 abgedruckt und trug den Titel Geld wie Heu. Die Geschichte des größten Geldfälscherunternehmens, das es jemals gegeben hat. Zeitgleich initiierte Löhde eine erste Bergung im Toplitzsee, bei der am 26. Juli 1959 die erste Kiste mit gefälschten Fünf-Pfund-Noten geborgen werden konnte. In den nächsten Wochen konnten weitere Kisten mit Pfundnoten, Druckerplatten und Kriegsmaterial der Marine geborgen werden. Die gefundenen Pfundnoten sollen einen Pseudowert von etwa 12 Millionen DM entsprochen haben. Obwohl ein echter Schatz nicht gefunden wurde, erregte die Bergung ein breites öffentliches Interesse in Deutschland und Österreich und wurde ein großes Medienereignis. Die Aktion wurde am 28. August 1959 ohne nähere Angabe von Gründen eingestellt, was weitere Spekulationen verursachte, da sich am Grund des Sees noch mehrere bereits geortete Kisten befanden. Bergung des Innenministeriums 1963 Die bislang aufwendigste Bergungsaktion am Toplitzsee fand 1963 durch das Bundesministerium für Inneres statt. Am 6. Oktober 1963 ertrank der 19-jährige Taucher Alfred Egner aus München im See. Die Initiatoren dieses Tauchgangs waren Georg Freiberger aus Starnberg und Karl-Heinz Schmidt aus Bonn. Während des Kriegs war Freiberger bei der Amtsgruppe Abwehr in der Abteilung II (Sabotage und subversive Aktionen) tätig. Dies gab Anlass für weitere Spekulationen. Die genauen Hintergründe dieses Tauchgangs konnten jedoch bis heute nicht geklärt werden. Nach der Auffindung und Bergung der Leiche am 31. Oktober 1963 wurde die Bergungsaktion auf Weisung des Bundesministeriums für Inneres bis Anfang Dezember fortgesetzt. Es wurden Kisten mit Falschgeld und Kriegsrelikte gefunden. Die Bergung wurde aus Kostengründen nach der Winterpause nicht wieder aufgenommen. Von den zuständigen Behörden wurde der Toplitzsee für jegliche Unterwasseraktivität gesperrt. Weitere Bergungen / Tauchgänge 1978 und zwischen den Jahren 1983 und 1986 unternahm der Entminungsdienst des Bundesheers mehrere Tauchgänge, bei denen zum ersten Mal ein U-Boot eingesetzt wurde. Dabei kamen mehrere Seeminen und andere Kriegsrelikte ans Tageslicht. 1983 wurden Tauchgänge durch Hans Fricke und Mitarbeiter mit dem GEO-Tauchboot unternommen. Sie fanden ebenfalls nur Kisten mit Falschgeld und Kriegsrelikte. Im Jahr 2000 untersuchte ein Team der amerikanischen Tauchfirma Oceaneering International Services den Seegrund drei Wochen lang. Neben Falschgeld wurde auch eine Kiste mit Kronenkorken gefunden, die eine Stammtischrunde 1984 im See versenkt hatte. Die Expedition wurde von CBS und dem Jüdischen Weltkongress finanziert. Das aufgenommene Filmmaterial wurde im Beitrag Hitler's Lake im Format 60 Minutes verarbeitet. 2007 kam Hans Fricke erneut an den Toplitzsee, um mit dem Forschungstauchboot Jago Proben für mikrobiologische Untersuchungen zu nehmen. Wirtschaft Fischerei Der Toplitzsee und die umliegenden Wälder sind im Eigentum der Österreichischen Bundesforste und werden im Forstrevier Grundlsee verwaltet. Da die Wälder im Natura-2000-Gebieten liegen, werden sie nicht forstwirtschaftlich genutzt. Als Eigentümer betreiben die Bundesforste die Fischerei und Bewirtschaftung des Sees. Die Hauptfischart ist der Seesaibling (Salvelinus alpinus), der als Ausseer Seesaibling vermarktet wird. Tourismus Der Toplitzsee ist wegen seiner schönen Lage ein beliebtes Ausflugsziel und wird im Rahmen der 3-Seen-Tour zur Besichtigung des Kammersees mit dem Traunursprung überquert. Das Ostufer erreicht man mit einer Plätte, dem typischen Schiff des inneren Salzkammerguts. Die Fischerhütte am Westufer wird als Bewirtungsbetrieb geführt. Fundstücke und Schaukästen mit Zeitungsausschnitten informieren bei der Fischerhütte über die Geschichte des Sees. Tauchen und die Ausübung sonstiger Wassersportarten sowie die Verwendung von Wasserfahrzeugen sind am Toplitzsee verboten. Ausgenommen ist die Nutzung von Booten für die Fischerei sowie die gewerbliche Schifffahrt. Wegen der niedrigen Wassertemperatur ist der Badebetrieb gering. Der Toplitzsee ist auch zum Eislaufen oder Eisstockschießen geeignet, da er im Winter oft vollständig zufriert. Am 22. August 1819 traf Erzherzog Johann von Österreich nach einer Bootsfahrt zum Kammersee erstmals die Postmeisterstochter Anna Plochl, die er zehn Jahre später heiratete. Ein Gedenkstein am Westufer erinnert an diese Begegnung, jedoch mit dem falschen Datum (19. July 1819). Der Toplitzsee in der Kunst 1959 wurde am See der Film Der Schatz vom Toplitzsee mit Gert Fröbe gedreht. Der Film behandelt die Stern-Bergung aus dem Jahr 1959. Im James-Bond-Film Goldfinger aus dem Jahr 1964 ködert der Agent James Bond den Bösewicht Auric Goldfinger, ebenfalls gespielt von Gert Fröbe, mit einem Goldbarren aus dem Toplitzsee. In dem Film Top Secret aus dem Jahre 1971 ist der Toplitzsee einer der beiden Haupthandlungsorte, heißt im Film jedoch Finstersee. Der See ist Handlungsort des Romans Letzter Saibling von Herbert Dutzler. Literatur Werner Kopacka: Enthülltes Geheimnis Toplitzsee. Steirische Verlagsgesellschaft, Graz 2001, ISBN 3-85489-041-9. Hans W. Fricke: Der Toplitzsee. Meine Zeitreise. Mythos Toplitzsee, Tauchfahrt in die Vergangenheit. Amalthea Signum, Wien 2009, ISBN 978-3-85002-676-5. Weblinks Portal toplitzsee.at Archivaufnahmen vom und über den Toplitzsee im Onlinearchiv der Österreichischen Mediathek (Interviews, Radiobeiträge) Einzelnachweise See im Salzkammergut See in der Steiermark See in Europa SToplitzsee Totes Gebirge Geographie (Grundlsee, Gemeinde) Gewässer im Bezirk Liezen Gewässer in den Alpen Meromiktisches Gewässer
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Ulrich von Wilamowitz-Moellendorff
Enno Friedrich Wichard Ulrich von Wilamowitz-Moellendorff, auch Emmo Friedrich Wichard Ulrich von Wilamowitz-Moellendorff (* 22. Dezember 1848 auf Gut Markowitz, Kujawien, Provinz Posen; † 25. September 1931 in Berlin) war ein deutscher klassischer Philologe. Er lehrte und forschte als Professor in Greifswald (1876–1883), Göttingen (1883–1897) und Berlin (1897–1921). Mit seinen Editionsprojekten, seiner Erneuerung der Textkritik und Textinterpretation, seiner Einflussnahme auf die preußische Berufungspolitik und seiner Tätigkeit als Wissenschaftsorganisator war er einer der führenden Vertreter seines Faches und prägte die Klassische Philologie des 20. Jahrhunderts im internationalen Raum nachhaltig. Durch seine Arbeiten zu vielen Bereichen der griechischen Literatur, seine Neudefinition des Faches und nicht zuletzt durch seine zahlreichen Schüler übte er großen Einfluss auf die Klassische Philologie aus. Als Mitglied der Preußischen Akademie der Wissenschaften brachte er mehrere Forschungsprojekte auf den Weg, besonders die Inscriptiones Graecae, die bis heute alle in Griechenland entdeckten antiken Inschriften verzeichnen und herausgeben. Familie Die Wilamowitz-Moellendorffs haben den zweiten Bestandteil ihres Doppelnamens von Generalfeldmarschall Wichard von Möllendorff (1724–1816), der selbst kinderlos war und im hohen Alter den preußischen Major Theodor von Wilamowitz (1768–1837) und damit indirekt dessen drei Söhne adoptierte. Hugo, Ottokar und Arnold trugen ab 1815 mit königlicher Erlaubnis den Doppelnamen von Wilamowitz-Moellendorff. Ulrich von Wilamowitz-Moellendorff war das dritte von fünf Kindern und der zweite Sohn des Gutsbesitzers Arnold von Wilamowitz-Moellendorff (1813–1888) und dessen Ehefrau Ulrike, geborene von Calbo (1820–1874). Seine Geschwister waren der spätere Oberpräsident der Provinz Posen und Kommendator des Johanniterordens, Hugo von Wilamowitz-Moellendorff (1840–1905), der Husar Tello von Wilamowitz-Moellendorff (1843–1903) und der spätere Major Georg Wichard von Wilamowitz-Moellendorff (1852–1910). Er hatte noch eine Schwester Maria, die jedoch früh verstorben ist (16.–24. November 1847). Leben Wilamowitz (vollständiger Name Enno [auch: Emmo] Friedrich Wichard Ulrich von Wilamowitz-Moellendorff) verbrachte seine Kindheit auf dem väterlichen Gut Markowitz in Kujawien. Zunächst von einem Hauslehrer unterrichtet, bezog er 1862 als Tertianer die traditionsreiche Landesschule Pforta. Dort traf Wilamowitz auch den älteren Friedrich Nietzsche und wurde wie dieser ein Spitzenschüler. Am 28. Februar 1864 wurde Wilamowitz konfirmiert, war aber zeit seines Lebens eher Agnostiker. Der Direktor der Landesschule, Karl Ludwig Peter, bei dem Wilamowitz als Extraneer (Externer) wohnte, und der Lehrer Wilhelm Paul Corssen weckten in dem Schüler Begeisterung für die Altertumswissenschaften. Wilamowitz las lateinische und griechische Autoren, besonders die griechischen Tragiker zogen ihn an. Carl Ludwig Peter empfahl seinem Schüler auch die Lektüre der Römischen Geschichte von Theodor Mommsen, obwohl er sie selbst mit einer kritischen Replik bedacht hatte. Studium in Bonn und Berlin Im September 1867 verließ Wilamowitz Schulpforta mit dem Reifezeugnis und bezog die Universität Bonn, um Klassische Altertumswissenschaften zu studieren. Hier wurde er stark von den Vertretern der sogenannten Bonner Schule der Klassischen Philologie Otto Jahn und Hermann Usener geprägt. Daneben besuchte Wilamowitz die Lehrveranstaltungen des Kunsthistorikers Anton Springer und beschäftigte sich drei Semester lang bei dem Privatdozenten Johannes Schmidt mit Sanskrit. Zu Schmidt äußerte er in seinen 1928 verfassten Erinnerungen 1848–1914 anerkennende Worte. Auch die Veranstaltungen bei den Philologen Jacob Bernays und Friedrich Gottlieb Welcker besuchte er. Er äußerte sich auch mit lobenden Worten über den Althistoriker Heinrich Nissen, damals gerade Privatdozent, nach dem Besuch eines einzigen seiner Seminare. In seiner Bonner Studienzeit freundete sich Wilamowitz mit dem gleichaltrigen Hermann Diels an und lernte die jüngeren Kommilitonen Georg Kaibel und Carl Robert kennen, mit denen ihn später eine feste Freundschaft verband. Mit Diels, Robert und den späteren Gymnasiallehrern Walther Engel und August Fritzsche traf sich Wilamowitz regelmäßig in seiner Bonner Wohnung, wo die Studenten ein sogenanntes contubernium („Zeltgemeinschaft“) abhielten. Die zunehmende Polarisierung zwischen den Bonner Professoren Otto Jahn und Friedrich Ritschl, die im sogenannten Bonner Philologenkrieg (1865) gipfelte, hatte einen großen Teil der Bonner Philologiestudenten in zwei Lager gespalten. Viele Bonner Studenten waren mit Ritschl an die Universität Leipzig gezogen, darunter auch Nietzsche und Erwin Rohde. Nach Jahns Tod im September 1869 wechselte Wilamowitz zum Wintersemester 1869/1870 gemeinsam mit Diels an die ebenfalls traditionsreiche Berliner Friedrich-Wilhelms-Universität, wo ihn der Philologe Moriz Haupt, ein Pionier der modernen Textkritik, anzog. Hier wurde Wilamowitz im folgenden Semester mit der Dissertation Observationes criticae in comoediam Graecam selectae („Ausgewählte textkritische Beobachtungen zur griechischen Komödie“) promoviert (20. Juli 1870), deren Hauptgutachter Haupt war; sein Rigorosum hatte er am 14. Juli abgelegt. Kriegseinsatz, Reisen und Streit mit Nietzsche Noch im selben Monat trat Wilamowitz als Einjährig-Freiwilliger den Dienst im preußischen Militär an. Im wenige Tage zuvor ausgebrochenen Deutsch-Französischen Krieg wurde er als Gardegrenadier des Ersatzbataillons des 2. Garderegiments eingesetzt. Zu seiner großen Enttäuschung bekam er keine Gelegenheit, sich im Gefecht zu beweisen. Am 20. Juli 1871, wenige Monate nach Kriegsschluss, endete Wilamowitz’ einjähriger Militärdienst und er kehrte nach Berlin zurück. Zu dieser Zeit kam er zum ersten Mal persönlich mit dem berühmten Historiker Theodor Mommsen in Kontakt, der Gefallen an Wilamowitz’ Arbeit fand und ihn einige Jahre später mit der Herausgabe der Kleinen Schriften des verstorbenen Moriz Haupt beauftragte. Ab August 1872 unternahm Wilamowitz, begleitet von Georg Kaibel, eine eineinhalbjährige Studienreise durch Italien und Griechenland, während der er zahlreiche Handschriften kopierte. Im Jahr 1872 kam es auch zum Konflikt mit Friedrich Nietzsche. Nietzsche, seit 1869 Professor in Basel, hatte im Mai 1872 die Schrift Die Geburt der Tragödie aus dem Geiste der Musik veröffentlicht und damit eine öffentliche Kontroverse ausgelöst. Dabei ging es um die Abwertung des Euripides, dem Nietzsche die Zerstörung der Tragödie vorwarf. Er setzte gegen den klassizistischen oder historistischen Ansatz der damaligen philologischen Wissenschaft ein intuitives, irrationales Element. Die etablierten Philologen Deutschlands ignorierten Nietzsches Angriff, weil sie seine Arbeit nicht ernst nahmen; auch der von Nietzsche verehrte Professor Ritschl distanzierte sich von der Schrift. Der einzige öffentliche Tadel aus den Reihen der Philologen kam vom jungen Wilamowitz, der im Mai 1872 in der von Rudolf Schöll angeregten Streitschrift Zukunftsphilologie! äußerte: „herr Nietzsche tritt ja nicht als wissenschaftlicher forscher auf: auf dem wege der intuition erlangte weisheit wird teils im kanzelstil, teils in einem raisonnement dargeboten, welches dem journalisten […] nur zu verwandt ist.“ Auf die Polemik, mit der Wilamowitz Nietzsches aus Sicht der Philologie unsaubere wissenschaftliche Arbeitsweise kritisierte, ohne inhaltlich auf dessen Thesen einzugehen, reagierte Nietzsche nicht. Sein Freund Erwin Rohde jedoch verfasste eine Gegenschrift mit dem Titel Afterphilologie, in der er ebenfalls gegen Wilamowitz nur polemisierte, und Richard Wagner schrieb einen offenen Brief. Im Februar 1873 reagierte Wilamowitz mit einer Replik: Zukunftsphilologie!, zweites Stück. Eine erwidrung auf die rettungsversuche für Fr. Nietzsches ‚Geburt der Tragoedie‘. Damit endete der Streit ohne Einigung. Die Fachwelt hatte die Kontroverse mit Schweigen und Kopfschütteln verfolgt. Die eifernden gegenseitigen Anschuldigungen, größtenteils von Seiten Wilamowitz’ und Rohdes, waren von Aneinander-vorbei-Reden und Vermeidung der Kernthemen durch Polemik geprägt. Nietzsche wandte sich seiner Neigung folgend endgültig von der Klassischen Philologie ab, was Wilamowitz begrüßte. Erst Jahrzehnte später sollte sich Nietzsches Wirkung fachübergreifend manifestieren, während Wilamowitz’ antiklassizistische Sicht seit den 1920er-Jahren durch den „Dritten Humanismus“ verdrängt wurde. In seinen 50 Jahre später verfassten Erinnerungen motiviert Wilamowitz die Abfassung seiner Gegenschrift besonders mit dem Bedürfnis, die aus Sicht der Philologie unlautere Herangehensweise Nietzsches darzustellen, sowie unter anderem mit der scharfen Polemik Nietzsches gegen den von Wilamowitz verehrten Otto Jahn wegen seiner kritischen Besprechung Richard Wagners. Im April 1873 wurde Wilamowitz in Rom korrespondierendes Mitglied des Deutschen Archäologischen Instituts. Hier festigte er seine Kontakte zu Kaibel und Robert und schloss Freundschaft mit seinem späteren Göttinger Kollegen Friedrich Leo. Außerdem begann hier sein regelmäßiger Kontakt mit Theodor Mommsen, mit dem er zeitlebens ein vertrautes, wenn auch spannungsreiches Verhältnis pflegte. Die Aufregung, welche der Laie Heinrich Schliemann zu dieser Zeit durch die Entdeckung des von ihm so genannten „Schatzes des Priamos“ verursachte, fand auch in Rom Widerhall. Besonders die Geschichte von Schliemanns Frau, die den Schatz in ihrem Umschlagtuch an den Wachen vorbeigeschmuggelt haben soll, beflügelte die Phantasie und den Spott der Fachwelt. Zur Weihnachtsfeier des Deutschen Archäologischen Instituts verkleidete sich Wilamowitz als Schliemanns Frau und stellte die Szene zur allgemeinen Erheiterung nach. In späteren Jahren bereute er diese „würdelose Travestie“. Akademische Lehre Nach den Reisen widmete sich Wilamowitz in Berlin seiner Habilitation, die er am 30. Juli 1875 mit den Theodor Mommsen gewidmeten Analecta Euripidea erreichte. Am 7. August hielt er seine Antrittsvorlesung. Greifswald Einen Ruf an die Universität Breslau als außerordentlicher Professor lehnte Wilamowitz ab. Stattdessen ging er zu Ostern 1876 als Nachfolger Eduard Hillers an die Universität Greifswald auf eine Stelle, die eigentlich für Friedrich Nietzsche vorgesehen war. In Greifswald blieb er bis 1883. Am 20. September 1878 heiratete Wilamowitz in Charlottenburg die 23-jährige Marie Mommsen (1855–1936), die älteste Tochter von Theodor Mommsen. Wilamowitz schrieb später, dass mit der Heirat „ein neues besseres Leben begann“. Das Paar bekam drei Söhne und vier Töchter: Dorothea (1879–1972), Adelheid (1881–1954), Gottfried Hermann (*/† 1882), Tycho (1885–1914), Hermann (1887–1938) und Hildegard (1892–1989). Tychos Zwillingsschwester starb eine Woche nach der Geburt. In Greifswald fühlte sich Wilamowitz aus zwei Gründen unbehaglich: Stadt und Universität waren klein und nach seinen Begriffen verschlafen, und im Kollegium war er wegen seines scharfen Tones und seiner schonungslosen Kritik isoliert, zumal er sich etwa mit dem Althistoriker Otto Seeck, den Mommsen empfohlen hatte, nicht verstand. Seine ersten größeren Publikationen erhielten nicht die erwünschte Aufmerksamkeit. Daneben beschäftigte sich Wilamowitz gemeinsam mit seinem Fachkollegen Adolph Kießling mit der Herausgabe der Reihe Philologische Untersuchungen, die von 1880 bis 1925 in dreißig Bänden erschienen, und half Mommsen bei der Bearbeitung des fünften Bandes der Römischen Geschichte. Er verfasste auch Beiträge für die Zeitschriften Philologus und Hermes; die Ausrichtung der Letzteren bestimmten Mommsen und er. Nach einem Streit mit dem Herausgeber Emil Hübner (1881) bestellte Wilamowitz seine Studienfreunde Carl Robert und Georg Kaibel zu den neuen Herausgebern des Hermes. Göttingen Den Weggang aus Greifswald ermöglichte ein Ruf an die Universität Göttingen, der durch Wirkung des mit Wilamowitz befreundeten Ministerialdirektors Friedrich Althoff im Juli 1883 an ihn erging. Zum Wintersemester 1883 zog Wilamowitz als Nachfolger des emeritierten Ernst von Leutsch nach Göttingen. Wilamowitz erwirkte, dass Georg Kaibel als sein Nachfolger nach Greifswald berufen wurde. Bereits 1877, als der Göttinger Lehrstuhl für Klassische Philologie vakant war, war Wilamowitz neben Erwin Rohde und Karl Dilthey von der Universitätsleitung als Kandidat gehandelt worden. Wegen des Widerstandes von Seiten Ernst von Leutschs gegen die Berufung Wilamowitz’ wurde jedoch damals Dilthey auf den Lehrstuhl berufen. Da Leutsch und Sauppe altersbedingt nur wenig zur Lehre beitragen konnten und Dilthey häufig krank war, bemühte sich Wilamowitz um die Berufung kompetenter Kollegen. 1889 kamen Friedrich Leo und Wilhelm Meyer an die Universität. Die Unzulänglichkeit des Althistorikers Christian August Volquardsen zwang Wilamowitz, auch die Alte Geschichte in der Lehre zu vertreten. Nach langen Bemühungen um eine Versetzung wurde Volquardsen 1897 bewogen, die Stelle mit dem Kieler Althistoriker Georg Busolt zu tauschen, der bis zu seinem Tode (1920) in Göttingen lehrte und forschte. Die Göttinger Zeit schätzte Wilamowitz später oft als „die glücklichste Zeit meines Lebens“ ein. Mit den Kollegen, vor allem mit Hermann Sauppe und Friedrich Leo, und mit dem auf Althoffs Wirken 1892 eingestellten Alttestamentler Julius Wellhausen verstand er sich bestens. Dem Letzteren, der in Greifswald sein Kollege gewesen war, hatte er 1884 seine Homerischen Untersuchungen gewidmet. In Göttingen ergingen mehrere Rufe anderer Universitäten an Wilamowitz, die er alle ablehnte: 1885 aus Straßburg, 1886 aus Heidelberg und 1889 aus Bonn (als Nachfolger des verstorbenen Eduard Lübbert). Schon 1880 war in der Bonner Philosophischen Fakultät Wilamowitz als Nachfolger für den 1877 verstorbenen Friedrich Heimsoeth gehandelt worden, aber aus finanziellen Gründen entschied man sich für Lübbert. Im akademischen Jahr 1891/1892 war Wilamowitz Prorektor der Universität Göttingen. Januar 1892 wurde er als ordentliches Mitglied in die Königliche Gesellschaft der Wissenschaften zu Göttingen gewählt, und nach Hermann Sauppes Tod im September 1893 wurde er 1894 Sekretär der Gesellschaft. Ebenfalls 1894 wurde er vom Deutschen Archäologischen Institut zum ordentlichen Mitglied erklärt. Berlin Schon seit 1895 betrieb Friedrich Althoff in Berlin die Berufung Wilamowitz’ zum Professor an die Berliner Universität. Sein Studienfreund Hermann Diels, der seit 1882 außerordentlicher, seit 1886 ordentlicher Professor an der Universität war, unterstützte diese Bemühungen. Neben Skrupeln Wilamowitz’, Göttingen zu verlassen, stand vor allem die entschiedene Opposition der Berliner Professoren Ernst Curtius, Adolf Kirchhoff und Johannes Vahlen im Weg. Erst nach Curtius’ Tod im Juli 1896 konnte sich Wilamowitz entschließen, dem Ruf als Nachfolger von Curtius nach Berlin Folge zu leisten und seine Professur im Sommersemester 1897 anzutreten. Auf seinen Göttinger Lehrstuhl empfahl er Georg Kaibel – wie 1883 in Greifswald. In Berlin entfaltete Wilamowitz eine rege wissenschaftliche Tätigkeit. Er wirkte nach Mommsens Vorbild als Wissenschaftsorganisator und Vermittler zwischen den Staaten. Zu den von Althoff erhandelten Konditionen seines Lehrstuhls zählte die Befreiung von Examina, aber auch die Gründung des Instituts für Altertumskunde, dem Wilamowitz und Diels vorstanden, sowie regelmäßige öffentliche Vorträge, die Wilamowitz an jedem Montag und Donnerstag hielt und die stets gut besucht waren. Außerdem fand in seiner Westender Wohnung (Eichenallee 12 – hier ein Nachbar der Eltern des Philosophen Leonard Nelson) alle zwei Wochen ein Treffen statt, bei dem kursorisch griechische Quellentexte gelesen wurden und das als „Graeca“ bekannt war. 1899 trat Wilamowitz in den Vorstand des Deutschen Archäologischen Instituts ein. Die Preußische Akademie der Wissenschaften, die Wilamowitz 1891 als korrespondierendes Mitglied aufgenommen hatte, wählte ihn 1899 nach dem Tode Heinrich Kieperts zum ordentlichen Mitglied. Einen Schicksalsschlag stellte der Tod seines engen Freundes Kaibel 1901 dar. Nur zwei Jahre später starb Mommsen hochbetagt. Wilamowitz trieb seine Arbeit trotz dieser Verluste unablässig voran. Gastvorträge im Ausland hielt er in Oxford (1908) und Uppsala (1912). Eine gleichzeitige Einladung an die University of Chicago lehnte er ab. Im April 1913 nahm er am Dritten Internationalen Historikerkongress in London teil, im akademischen Jahr 1915/1916 übte er das Amt des Rektors der Berliner Universität aus. Späte Jahre Ein einschneidendes Ereignis war für Wilamowitz der Erste Weltkrieg. Der streng konservative Sohn eines Großgrundbesitzers trat mit glühendem Patriotismus für sein preußisches Vaterland ein. Er hielt patriotische Vorträge, die er 1915 auch drucken ließ, initiierte 1914 die Erklärung der Hochschullehrer des Deutschen Reiches und unterzeichnete das Manifest der 93. Zur gleichen Zeit fiel sein Sohn Tycho an der Ostfront. Seine Einstellung und Aktivitäten kosteten ihn teilweise sein Ansehen im Ausland. 1915 wurde ihm die Mitgliedschaft in der Pariser Académie des Inscriptions et Belles-Lettres aberkannt. Wilamowitz’ Einstellung zum Krieg änderte sich, als er die Dimensionen des modernen Vernichtungskrieges erkannte. Im Jahr 1917/1918 gehörte Wilamowitz dem Preußischen Herrenhaus an. Der Zusammenbruch des wilhelminischen Kaiserreichs 1918 und der Tod seiner Freunde Diels und Robert (beide 1922) verbitterten ihn. Seine Vorlesungen hatten zu dieser Zeit aus Enttäuschung das früher typische Pathos verloren, öffentliche Vorträge und Reden hielt er kaum noch. Seine Emeritierung im Jahr 1921 empfand er als verfrüht und ungerecht; er hielt auch weiterhin Vorlesungen und Seminare ab. Nachfolger auf dem Lehrstuhl wurde sein Schüler Werner Jaeger (1888–1961), der sich schon in vielerlei Hinsicht von Wilamowitz abgewandt hatte. Trotzdem hielt Wilamowitz weiterhin Vorlesungen an der Universität, bis seine Gesundheit es nicht mehr ermöglichte. 1925 hielt Wilamowitz Vorträge in Kopenhagen. 1928 gratulierten ihm die Zeitschriften Philologus, Hermes, Die Antike und Gnomon zum achtzigsten Geburtstag, und die Berliner Studenten veranstalteten einen Fackelzug zu seinen Ehren. Um 1927 begann Wilamowitz’ Gesundheit sich rapide zu verschlechtern. Im September hielt er seinen letzten Vortrag auf der Göttinger Philologenversammlung. Sein letztes großes Werk ist der Glaube der Hellenen, ein Gegenentwurf zu Hermann Useners Götternamen (Bonn 1896). Eine Nierenerkrankung fesselte Wilamowitz ans Bett, so dass er das Werk unter Einfluss von Schmerzmitteln seiner Tochter Dorothea diktierte, die seit 1905 mit dem Epigraphiker Friedrich Hiller von Gaertringen verheiratet war. 1929 musste Wilamowitz die Arbeit abbrechen; das Werk wurde von dem Epigraphiker Günther Klaffenbach herausgegeben. Am 17. und 18. Juli 1931 nahm er zum letzten Mal an den Sitzungen des Deutschen Archäologischen Instituts teil. Am 25. September starb Ulrich von Wilamowitz-Moellendorff im 83. Lebensjahr, nachdem er mehrere Wochen in komatösem Zustand gelegen hatte. Er wurde auf seinen Wunsch hin im Familiengrab der Freiherren von Wilamowitz-Moellendorff in Möllendorf (heute Wymysłowice, Woiwodschaft Kujawien-Pommern) bestattet, wohin sein Sohn Hermann die Urne mit der Asche seines Vaters brachte, die zusammen mit der seiner Frau noch neben dem für Sohn Tycho errichteten Kenotaph ruht. Die Grabstätte wurde bis vor einigen Jahren regelmäßig von Schülern und Studenten der Umgebung gepflegt. Leistungen und Bedeutung Ulrich von Wilamowitz-Moellendorff hat die Klassische Philologie in vielerlei Hinsicht beeinflusst und bestimmt. Seine Verdienste können kaum überschätzt werden: Er hat die Gedanken Friedrich August Wolfs zur Textgeschichte auf die griechische Tragödie und die Bukolik angewandt; von ihm stammen zahlreiche Editionen, Kommentare und Übersetzungen auf den Gebieten Tragödie, Komödie, Platon, frühgriechische Lyrik und hellenistische Dichtung. Seine Griechische Verskunst stellte die Forschung in diesem Gebiet auf neue, heute noch gültige Grundlagen. Insgesamt verdankt die Klassische Philologie Wilamowitz die „Entdeckung“ der vor- und nachklassischen Autoren als Gegenstand der Forschung sowie die Einbindung von Erkenntnissen und Methoden der Archäologie, Papyrologie, Vergleichenden Sprachwissenschaft, Epigraphik und Alten Geschichte in die philologische Arbeit. Wissenschaftspolitik und Wissenschaftsorganisation Als Berater des Ministerialdirektors Friedrich Althoff hatte er großen Einfluss darauf, wer im preußischen Hochschuldienst auf welche Stelle berufen wurde. So lenkte er die Karriere seines Freundes Kaibel und verhinderte mit einer vernichtenden Rezension die akademische Laufbahn des Philologen Paul Cauer. Seine Gutachtertätigkeit ist in der Sammlung seiner Briefe an Althoff unter dem Titel Berufungspolitik innerhalb der Altertumswissenschaft im wilhelminischen Preußen (Frankfurt am Main 1989) nachzulesen. Als Wissenschaftsorganisator war Wilamowitz im In- und Ausland um Zusammenarbeit bemüht. Er initiierte das von Friedrich Leo geleitete Lexikonprojekt Thesaurus Linguae Latinae, das seit 1894 ein umfassendes Lexikon der lateinischen Sprache der Antike erstellt. Bei der Preußischen Akademie der Wissenschaften setzte er die Fortsetzung der Edition des Corpus Inscriptionum Graecarum durch, das allmählich zum Großvorhaben Inscriptiones Graecae ausgebaut wurde. Auch an der Kommission zur Herausgabe des Corpus scriptorum ecclesiasticorum Latinorum beteiligte sich Wilamowitz rege, wobei er resolut den philologischen Anteil des Projektes betonte. Er war ab 1926 Mitherausgeber des philologischen Rezensionsorgans Litteris der Vetenskapssocieteten i Lund. An der Sammlung der Fragmente der Vorsokratiker wirkte er ebenfalls mit. Lehrtätigkeit In seinen Vorlesungen und Vorträgen entfaltete Wilamowitz sein Talent, mit seinem Charisma, seiner Wortgewandtheit und seiner ansteckenden Begeisterung für die Antike die Zuhörer in seinen Bann zu ziehen. Von seinen zahlreichen Schülern sind vor allem zu nennen: Werner Jaeger, Eduard Fraenkel, Hermann Fränkel, Paul Friedländer, Johannes Geffcken, Alfred Gercke, Felix Jacoby, Paul Maas, Max Pohlenz, Karl Reinhardt, Wolfgang Schadewaldt, Eduard Schwartz und Ludwig Traube. Im angelsächsischen Raum vermittelte Wilamowitz vor allem an Gilbert Murray in Großbritannien und an Basil Lanneau Gildersleeve in den Vereinigten Staaten die Idee der Klassischen Philologie als etablierter Wissenschaft und kann damit zumindest in den USA als ein Gründervater dieser Disziplin gelten. Einige seiner Schüler mussten während der Zeit des Nationalsozialismus emigrieren und stärkten die Klassische Philologie in den USA und Großbritannien, darunter Eduard Fraenkel, Hermann Fränkel, Jacoby, Jaeger und Maas. Wissenschaftsverständnis und Forschung Wilamowitz war ein international angesehener Vertreter des Historismus seines Faches. Er sah alle Altertumswissenschaften zu einer Einheit verwoben: Die Philologie betrachtete er als Geschichtswissenschaft, die Archäologie mit einem Ausdruck von Eduard Gerhard als „monumentale Philologie“. Damit identifizierte er die Philologie nicht von einer Methode, sondern von ihrem Fachgegenstand her: Ziel der Altertumswissenschaften sei die Vergegenwärtigung des gesamten griechisch-römischen Altertums auf der Grundlage von Texten und anderen urkundlichen Zeugnissen; Einzelerscheinungen seien analytisch, Gesamtentwicklungen synthetisch zu erforschen. Die Sicht auf sein Fach bestimmte auch das Literaturverständnis von Wilamowitz. Er erklärte die Werke der Antike „aus den kulturellen und sozialgeschichtlichen Bedingungen ihrer Entstehungszeit und zog im Sinne einer umfassenden Altertumswissenschaft für die Textinterpretation auch die archäologischen Sachquellen heran“. Seine Forschung zur griechischen Literatur betraf die Felder des Epos, der Tragödie und der hellenistischen Dichtung. In seiner Auseinandersetzung mit der Homerischen Frage vertrat Wilamowitz die Auffassung, die Großepen Ilias und Odyssee stammten von verschiedenen Verfassern. Er identifizierte verschiedene Redaktoren, welche nach seiner Auffassung die Odyssee in diejenige Textgestalt brachten, in der sie über die alexandrinische Philologie in die Neuzeit überliefert wurde. Einen großen Verdienst hat sich Wilamowitz mit seiner Behandlung der hellenistischen Dichtung erworben. Der Hellenismus als historische Epoche war von Droysen formuliert worden. Wilamowitz bemühte sich um das Gesamtverständnis der Epoche und ihrer Literatur. Seine Ablehnung des traditionellen Klassikverständnisses führte ihn dazu, auch die Deutung der hellenistischen Dichtung als Fortsetzung der klassischen Dichtung des 5. Jahrhunderts v. Chr. zu verwerfen. Die Besonderheit der hellenistischen Dichtung veranschaulichte er mit verschiedenen Begriffen. Besonders bemerkenswert ist in diesem Zusammenhang die Einordnung als „barocke“ Literatur. Dabei griff Wilamowitz auf Jacob Burckhardts Erweiterung des Begriffs „Barock“ zurück, den er nicht einer bestimmten Literaturepoche vorbehielt, sondern als generelle Bezeichnung für ein kulturelles und literarisches Phänomen verwendete. Ein kritisches Urteil erfuhren die gelehrten „Künsteleien“ hellenistischer Dichter, die Wilamowitz „lebensfremd“ vorkamen. Mit der griechischen Metrik beschäftigte sich Wilamowitz ab den 1870er-Jahren. Neben einigen Aufsätzen veröffentlichte er 1895 in zwei kleinen Quartbänden ein Commentariolum metricum. Seine große Monografie Griechische Verskunst aus dem Jahr 1921 ist eine Sammlung und Überarbeitung seiner älteren Aufsätze zum Thema. Darin stellte er den Stand der metrischen Forschung seiner Zeit dar, die Geschichte und Eigenschaften der Metrik sowie sämtliche Vers- und Strophenarten. Das Werk ist noch heute von grundlegender Bedeutung und wurde 1958, 1975 und 1984 unverändert nachgedruckt. Wilamowitz selbst hatte diesen Erfolg nicht erwartet. In der Vorrede zum Werk schrieb er: „…ich zweifle, ob der Erfolg das Wagnis rechtfertigen wird. Denn dies Buch ist ein harter Kuchen, und wenn man einst in der textkritischen Behandlung zahlreicher Verse so etwas wie Rosinen gefunden haben würde, heutzutage ist die Textkritik unmodern.“ Das Buch von 630 Seiten Umfang ist in drei Abschnitte gegliedert. Der erste führt in das Verhältnis des griechischen zum modernen Versbau und der Poesie zur Prosa ein, behandelt die metrischen Theorien der antiken Griechen und schließt mit einer überblicksartigen Geschichte der griechischen Metrik. Der zweite Abschnitt besteht aus Einzeluntersuchungen zu verschiedenen Versmaßen, zum Strophenbau und zu ungleich gebauten Strophen. Der dritte Abschnitt enthält metrische Analysen einzelner Lieder (darunter Pindar, Sophokles, Euripides und Aristophanes) und schließt mit einem ausführlichen Register. Bemühungen um die Stärkung und Popularisierung des Faches In den durch die preußischen Schulkonferenzen Dezember 1890 und Juni 1900 vollzogenen Reformen des Gymnasialunterrichts sah Wilamowitz eine Niederlage für die humanistische Bildung, er setzte sich weiter in Opposition zu Gottfried Friedrich Aly gegen die Senkung der altsprachlichen Anforderungen ein und wollte auch am lateinischen Schulaufsatz festhalten. Sein Griechisches Lesebuch (1902) wurde vielerorts verwendet und erfuhr mehrere Auflagen. Intensiv bemühte er sich darum, den Gegenstand der Altertumswissenschaft einem möglichst breiten Kreis von interessierten Nichtfachleuten zu vermitteln. Diesem Zweck dienten neben den öffentlichen Vorlesungen vor allem seine Übersetzungen, in denen er auch eine nationale Pflicht sah. Seine zwei Ansprüche an eine Übersetzung waren, dass sie dem modernen Leser mindestens so leicht verständlich sein sollte wie das Original dem antiken Leser und dass die poetische Form der Übersetzung derjenigen des Originals zwar nicht exakt entsprechen musste, wohl aber ihr sinnvoll nachempfunden sein sollte. Damit löste sich Wilamowitz von der klassizistischen Tradition und brachte eine ungewohnte Modernität in die Texte ein. Dieses Vorgehen stieß auch auf vereinzelte, aber heftige Kritik; ihm wurde Banalisierung und mangelnde Stilsicherheit vorgeworfen. Vor allem wandten sich Friedrich Gundolf (aus dem Kreis um den Dichter Stefan George) und Rudolf Borchardt gegen seine Übersetzung und Erläuterung der Werke Platons, die Borchardt als „Instinktlosigkeit dieses großen Technikers“ und Gundolf mit dem Prädikat „Platon für Dienstmädchen“ kritisierte. Wilamowitz’ zahlreiche, für ein breites Publikum bestimmte Tragödienübersetzungen wurden nach seinem Tod nicht mehr aufgelegt. In seiner Berliner Zeit veranlasste Wilamowitz eine Reihe von Aufführungen in Berlin (mit Gastspielen in Wien). Nach seinem Tod kamen seine Übersetzungen nur wenige Male auf die Bühne: Anlässlich der Olympischen Spiele 1936 wurde in Berlin die Orestie des Aischylos aufgeführt, 1955 in Essen die Hiketiden des Euripides, 1978, 1979 und 1981 in Köln, Düsseldorf und Mülheim an der Ruhr der Zyklop des Euripides. Im Zusammenhang mit den Bühnenaufführungen ist das Bekenntnis von Wilamowitz interessant, er selbst sei kein Theaterfreund: „Theaterbesuch hat mich wenig gereizt, selten befriedigt, verbot sich auch durch die Zeitverschwendung“. Wissenschaftshistorische Erforschung seines Wirkens Die Forschung zum Wirken, zur Persönlichkeit und Rezeption von Wilamowitz wurde in den 1970er Jahren von William M. Calder III initiiert. Er hat mehrere Briefwechsel von Wilamowitz sowie andere Schriften veröffentlicht und Kongresse zu Wilamowitz und seinen Zeitgenossen veranstaltet. Calder schöpfte dabei auch aus den Vorarbeiten der Wilamowitz-Tochter Dorothea († 1972) und ihres Ehemannes, Friedrich Freiherr Hiller von Gaertringen, die nach Wilamowitz’ Tod begannen, Briefe, Gedichte und Erinnerungen des Verstorbenen zu sammeln. Mit einer Anzeige im Gnomon riefen sie Schüler und Freunde des Verstorbenen auf, zu der Sammlung beizutragen. Calders Publikationen treffen jedoch wegen seiner Urteile über Personen, seiner Sicht auf die politischen und gesellschaftlichen Verhältnisse Deutschlands in der wilhelminischen Epoche und Weimarer Republik sowie seiner biographistischen Betrachtungsweise auch auf Kritik. In Deutschland sind als Wilamowitz-Forscher beispielsweise zu nennen: Paul Dräger, Stephan Heilen, Rudolf Kassel, Robert Kirstein und Wilt Aden Schröder. Schon bald nach Wilamowitz’ Tod begann der Klassische Philologe und Fachhistoriker Otto Kern eine Wilamowitz-Biografie, die jedoch nach seinem Tod (1942) unvollendet und unveröffentlicht blieb. Sie wurde damals von der Familie des Verstorbenen wegen ihres panegyrischen Stils abgelehnt, ist aber wegen der zitierten Dokumente wertvoll. Persönlichkeit Wie es seiner Herkunft entsprach, war Wilamowitz als Sohn eines adligen preußischen Grundbesitzers äußerst konservativ eingestellt. „Charakterlich war Wilamowitz-Moellendorff geprägt von der Spannung zwischen konservativer Starrheit und jungenhafter Unbefangenheit“, stellt Hans-Albrecht Koch in der Deutschen Biographischen Enzyklopädie fest und weist auf den bezeichnenden Umstand hin, dass die „wissenschaftlich höchst aufschlussreichen“ Erinnerungen 1848–1914 mit dem Ausbruch des Ersten Weltkriegs enden. Wilamowitz definierte sich als Bürger des wilhelminischen Reiches und konnte sich mit der Weimarer Republik nicht anfreunden, die er als „feige Ochlokratie“ empfand. Er zog häufig Parallelen zwischen dem Aufstreben Athens im 5. Jahrhundert v. Chr. und dem Deutschen Reich, und pathetische Untertöne drangen bis in seine wissenschaftlichen Monografien ein. Mit dem politisch aktiven Mommsen, der entschieden liberal eingestellt war, geriet Wilamowitz häufig in Konflikt. Ab den 1890er Jahren trat eine immer stärkere Entfremdung zwischen den beiden ein, die in der Briefsammlung Aus dem Freund ein Sohn (Briefe von 1872 bis 1903) abgebildet wird. Der Titel spielt nicht nur auf die Heirat Wilamowitz' mit der Tochter Mommsens, sondern auch auf den Wandel ihrer Beziehung an. Wilamowitz war ein entschiedener Gegner des Antisemitismus, gegen den er in der Öffentlichkeit scharfe Worte fand. Dieser Umstand brachte ihn später bei den Nationalsozialisten in Verruf, die ihm die „Verjudung“ der Altertumswissenschaften durch die unterschiedslose Förderung seiner jüdischen Schüler anlasteten. Auch sah Wilamowitz seine preußische Identität stets im Lichte seiner polnischen Herkunft. Der Name Wilamowitz bedeutet „Wilhelmssohn“, und die Vorfahren von Wilamowitz-Moellendorff standen mit der polnischen Bevölkerung ihrer Ländereien stets auf gutem Fuß. Seine Witwe schrieb nach seinem Tod (anlässlich seines 85. Geburtstags am 27. Dezember 1933) an seinen jüdischen Schüler Paul Friedländer: „Ich gönne ihm, dass er dieses Jahr nicht erlebt hat. Bis dahin hatte ich immer noch gesagt, er würde vieles ändern können, vieles für uns erträglicher machen. Aber der Wüstenei dieses Jahres, zumal erst dem Krieg gegen die Nicht-Arier, und dann diesem Morde an den Universitäten, wäre er ohnmächtig gegenüber gestanden, und beides hätte ihn sehr mitgenommen.“ Neben allem politischen Konservatismus zeigte sich Wilamowitz in jedem Lebensalter aufgeschlossen gegenüber neuen Ideen seiner Schüler. Werner Jaeger etwa wies den Alten Sprachen in seinem System der Altertumswissenschaft eine völlig neue Rolle zu. Die Reaktion von Wilamowitz auf die Dissertation seines Schülers Wolfgang Schadewaldt (1924), in der Schadewaldt die Euripides-Forschungen seines Lehrers weitgehend widerlegte, wurde zum geflügelten Wort: „umzulernen stets bereit“. Auch pflegte Wilamowitz seine nächsten Verwandten mit antiken Gestalten zu vergleichen: Die von ihm idealisierte Mutter war seine Sappho, sein Vater zuerst Theseus, später Amphitryon. Die biografischen Entsprechungen zwischen dem von Wilamowitz verehrten Philosophen und Staatstheoretiker Platon und dem Philologen stellte Margherita Isnardi Parente 1973 in einem Aufsatz heraus. Ehrungen 1873 korrespondierendes Mitglied des Deutschen Archäologischen Instituts, 1891 ordentliches Mitglied, 1902 Vorstandsmitglied 1886 Ritterkreuz des Königlichen Hausordens von Hohenzollern 1891 korrespondierendes, 1899 ordentliches Mitglied der Preußischen Akademie der Wissenschaften 1892 ordentliches Mitglied der Königlichen Gesellschaft der Wissenschaften zu Göttingen, 1894 Sekretär, 1897 auswärtiges Mitglied, 1918 Ehrenmitglied 1893 Roter Adlerorden 3. Klasse, 1904 2. Klasse 1903 auswärtiges Mitglied der Accademia Nazionale dei Lincei in Rom 1904 korrespondierendes Mitglied der Bayerischen Akademie der Wissenschaften 1905 Bayerischer Maximiliansorden für Wissenschaft und Kunst 1905 Mitglied der Académie des Inscriptions et Belles-Lettres (1915 ausgeschlossen) 1907 korrespondierendes Mitglied der Akademie der Wissenschaften zu St. Petersburg, 1929 Ehrenmitglied 1907 korrespondierendes Mitglied der British Academy 1908 Orden Pour le mérite für Wissenschaft und Künste 1909 korrespondierendes Mitglied der Norwegischen Akademie der Wissenschaften 1909 korrespondierendes Mitglied der Akademie der Wissenschaften zu Wien, 1922 Ehrenmitglied 1910 Ehrendoktorwürde der theologischen Fakultät der Friedrich-Wilhelms-Universität Berlin 1911 Ehrendoktorwürde der philosophischen Fakultät der Universität Oslo 1911 Mitglied der Königlichen Wissenschafts- und Literaturgesellschaft in Göteborg 1912 Mitglied der Königlich Schwedischen Akademie der Wissenschaften 1914 Mitglied der Königlichen Gesellschaft der Wissenschaften in Uppsala 1921 Ehrenmitglied der Vetenskapssocieteten i Lund 1924 ordentliches Mitglied der Akademie gemeinnütziger Wissenschaften zu Erfurt 1927 Ehrendoktorwürde der philosophischen Fakultät der Universität Genf 1928 Adlerschild des Deutschen Reiches 1928 Ehrendoktorwürde der medizinischen Fakultät der Universität Greifswald 1991 Gedenktafel an seinem ehemaligen Wohnhaus in der Eichenallee 12 Ehrenmitglied der Society for the Promotion of Hellenic Studies Schriften (Auswahl) Die Jahre und Zahlen der Neuauflagen zeigen an, inwiefern ein Werk seine Bedeutung bis heute bewahrt hat. Zu den online verfügbaren Volltexten siehe Wikisource. In wieweit befriedigen die Schlüsse der erhaltenen griechischen Trauerspiele? Ein ästhetischer Versuch [1867]. Edited by William M. Calder III, Leiden 1974. Observationes criticae in comoediam Graecam selectae (Dissertation Berlin 1870), Berlin: Schade 1870. Analecta Euripidea (Habilitationsschrift Berlin 1875), Berlin: Borntraeger 1875. Aus Kydathen, Berlin 1880. Antigonos von Karystos, Berlin: Weidmann 1881. 2. Auflage 1966. Homerische Untersuchungen, Berlin: Weidmann 1884. Aristoteles und Athen, Berlin: Weidmann 1893. 2 Bände. ( Bd. 1, Bd. 2) 3. Auflage 1985. Einleitung in die attische Tragödie (Euripides Herakles erklärt, Bd. 1). Berlin: Weidmann 1889.() Die Textgeschichte der griechischen Lyriker, Berlin: Weidmann 1900. 2. Auflage 1970. Reden und Vorträge, Berlin: Weidmann 1901. 4., umgearbeitete Auflage 1925–1926. Griechisches Lesebuch, Berlin: Weidmann 1902. 2 Bände. Die Textgeschichte der griechischen Bukoliker, Berlin: Weidmann 1906. Einleitung in die griechische Tragödie, Berlin: Weidmann 1907. Unveränderter Nachdruck aus Euripides Herakles, Band 1, Kapitel 1–4. 1. Auflage. Paul Hinneberg (Herausgeber): Die Kultur der Gegenwart. Folgende Bände stammen von Wilamowitz: Die griechische und lateinische Literatur und Sprache, Berlin: Teubner 1907. 2. verbesserte und vermehrte Auflage. 3. stark verbesserte und vermehrte Auflage 1912. Nachdruck 1995. Staat und Gesellschaft der Griechen und Römer, Berlin: Teubner 1910. 2. Auflage 1923. Nachdruck 1979. Sappho und Simonides: Untersuchungen über griechische Lyriker, Berlin: Weidmann 1913. Nachdruck 1966, 1985. Aischylos: Interpretationen, Berlin: Weidmann 1914. 2. Auflage Zürich/ Dublin 1967. Reden aus der Kriegszeit, Berlin: Weidmann 1915. Die Ilias und Homer, Berlin: Weidmann 1916. 3. Auflage 1966. Der griechische und der platonische Staatsgedanke, Berlin: Weidmann 1919. Mit drei anderen Schriften von Luciano Canfora ediert: Tra scienza e politica: quattro saggi (Antiqua 18) Platon. Leben und Werke/ Beilagen und Textkritik, Berlin: Weidmann 1919. 2 Bände. 2. Aufl. 1920, 3. Aufl. 1929, 4. Aufl. 1948, 5. Aufl. 1969, Nachdruck 1992. Griechische Verskunst. Berlin: Weidmann 1921. 3. Auflage 1975. Geschichte der Philologie. Berlin/Leipzig: Teubner 1921; 3. Auflage Leipzig 1927; Nachdrucke: ebenda 1959; Stuttgart/Leipzig 1998. History of Classical scholarship. Translated from the German by Alan Harris. Edited with Introduction and Notes by Hugh Lloyd-Jones, London 1982 Hellenistische Dichtung in der Zeit des Kallimachos, Berlin: Weidmann 1924. 2 Bände. 2. Auflage 1973. Die Heimkehr des Odysseus: Neue homerische Untersuchungen, Berlin: Weidmann 1927. Erinnerungen 1848–1914, Leipzig: Koehler 1928. Englische Übersetzung von George Chatterton Richards: My recollections, 1848–1914, London 1930. Kyrene. Berlin: Weidmann 1928. Der Glaube der Hellenen, 2 Bde. Berlin: Weidmann 1931–1932. 2. Auflage, Darmstadt: Wissenschaftliche Buchgesellschaft 1955, Nachdrucke 1959, 1984, 1994. Kleine Schriften, herausgegeben von Paul Maas u. a. mit Unterstützung der Preußischen Akademie der Wissenschaften. Berlin: Weidmann 1935–1972. 6 Bände. Friedrich Hiller von Gaertringen (Hrsg.): ΕΛΕΓΕΙΑ [ELEGEIA], Berlin 1938 Kritische Editionen und Übersetzungen Callimachi hymni et epigrammata, Berlin: Weidmann 1882. 2. Auflage 1897. Aischylos Agamemnon Griechischer Text und deutsche Übersetzung, Berlin: Weidmann 1885. Isyllos von Epidauros, Berlin: Weidmann 1886. Euripides Herakles, Berlin: Weidmann 1889. 3 Bände. 2. Auflage 1895. 3. Auflage 1910. 4. Auflage 1959. Euripides Hippolytos. Griechisch und deutsch, Berlin: Weidmann 1891. (mit Georg Kaibel): Aristotelis Politeia Athēnaiōn, Berlin: Weidmann 1891. 3. Auflage 1898. Orestie: Griechisch und deutsch, Berlin: Weidmann 1896. Bakchylides, Berlin: Weidmann 1898. Griechische Tragoedien, Berlin: Weidmann ab 1899. 14 Bände Die Reste des Landmannes von Menandros, Berlin: 1899. Adonis / Bion von Smyrna. Deutsch und Griechisch, Berlin: Weidmann 1900. Der Timotheos-Papyrus gefunden bei Abusir am 1. Februar 1902, Leipzig: Hinrichs 1903. Bucolici graeci, Oxford: Clarendon Press 1905. Wilhelm Schubart, Ulrich von Wilamowitz-Moellendorff (Bearbeiter): Epische und elegische Fragmente, Berlin: Weidmann 1907. Aeschyli tragoediae, Berlin: Weidmann 1914. Editio minor 1915. Pindaros, Berlin: Weidmann 1922. 2. Auflage 1966. Menander: Das Schiedsgericht, Berlin: Weidmann 1925. Nachdruck 1958. Literatur Wilamowitz-Bibliographie 1868 bis 1929. Herausgegeben von Friedrich Freiherr Hiller von Gaertringen und Günther Klaffenbach. Berlin 1929. Michael Armstrong, Wolfgang Buchwald, William M. Calder III (Hrsg.): Ulrich von Wilamowitz-Moellendorff bibliography 1867–1990. Durchgesehen und ergänzt nach Friedrich Freiherr Hiller von Gaertringen und Günther Klaffenbach. 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Die Schriften von E. Rohde, R. Wagner, U. v. Wilamowitz-Möllendorff. Zusammengestellt und eingeleitet von Karlfried Gründer, Hildesheim 1969 Joachim Latacz: Fruchtbares Ärgernis: Nietzsches ‚Geburt der Tragödie’ und die gräzistische Tragödienforschung. Basel 1998 (Basler Universitätsreden, 94. Heft) Cornelia Wegeler: „… wir sagen ab der internationalen Gelehrtenrepublik“ – Altertumswissenschaft und Nationalsozialismus. Das Göttinger Institut für Altertumskunde 1921–1962. Wien, Köln, Weimar 1996, ISBN 3-205-05212-9. Biografische Darstellungen und Studien zu einzelnen Aspekten Richard Harder: Ulrich von Wilamowitz-Moellendorff †. In: Gnomon 7, 1931, S. 557–560. Karl Ludwig Reinhardt: Ulrich von Wilamowitz-Moellendorff. In: Die Großen Deutschen. Band 5, Berlin 1952, S. 415–421. Friedrich Solmsen: Wilamowitz in his Last Ten Years. In: Greek, Roman and Byzantine Studies Band 20 (1979), S. 89–122 = Kleine Schriften III, 1982, S. 431–464. Robert L. Fowler: Ulrich von Wilamowitz-Moellendorff. 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Rezension: Edgar Pack: Ulrich von Wilamowitz-Moellendorff, Friedrich Althoff e gli studi classici in Prussia nell’epoca Guglielmina. A proposito di un libro recente. In: Quaderni di storia Band 33 (1991), S. 191–241; Band 34 (1991), S. 235–284. Vgl. außerdem Wilt Aden Schröder, Göttingische Gelehrte Anzeigen Band 242, 1990, S. 211–236. The Prussian and the poet: the letters of Ulrich von Wilamowitz-Moellendorff to Gilbert Murray. Weidmann, Hildesheim 1991, ISBN 3-615-00071-4. Further letters of Ulrich von Wilamowitz-Moellendorff. Weidmann, Hildesheim 1994, ISBN 3-615-00099-4. Usener und Wilamowitz. Ein Briefwechsel: 1870–1905. 2. Auflage. Teubner, Stuttgart, Leipzig 1994, ISBN 3-519-07250-5. „Lieber Prinz“: der Briefwechsel zwischen Hermann Diels und Ulrich von Wilamowitz-Moellendorff. Weidmann, Hildesheim 1995, ISBN 3-615-00173-7. Rezension: Wilt Aden Schröder: Bemerkungen zum Briefwechsel Diels-Wilamowitz. In: Eikasmos Band 8 (1997), S. 283–308. „Sed serviendum officio …“: the correspondence between Ulrich von Wilamowitz-Moellendorff and Eduard Norden (1892–1931). Weidmann, Hildesheim 1997, ISBN 3-615-00188-5. „Der geniale Wildling“: Briefwechsel 1874–1878, 1900–1903. Ulrich von Wilamowitz-Moellendorff und Max Fränkel. Nachrichten der Göttinger Akademie der Wissenschaften. Philologisch-historische Klasse Jahrgang 1999, Nr. 5, Göttingen 1999. William M. Calder III, Bernhard Huss: ‘The Wilamowitz in Me’: 100 letters between Ulrich von Wilamowitz-Moellendorff and Paul Friedländer (1904–1931). Los Angeles 1999 „Aus dem Freund ein Sohn“. Theodor Mommsen und Ulrich von Wilamowitz-Moellendorff, Briefwechsel 1872–1903. 2 Bände, Weidmann, Hildesheim 2003, ISBN 3-615-00285-7. Rezension: Paul Dräger in Göttinger Forum für Altertumswissenschaft Band 9 (2006), S. 1131–1144. Weblinks Ausgewählte Literaturnachweise aus dem Bestand der Bibliothek der Berlin-Brandenburgischen Akademie der Wissenschaften (PDF-Datei; 122 kB) Dokumente zu Wilamowitz im verschlagworteten Objektverzeichnis der Wissenschaftlichen Sammlungen der Humboldt-Universität zu Berlin Teile der Sammlung von Wilamowitz-Moellendorf befinden sich in den Historischen Sammlungen der Stiftung Zentral- und Landesbibliothek Berlin. Einzelnachweise Altphilologe (19. Jahrhundert) Altphilologe (20. Jahrhundert) Historiker der Klassischen Philologie Übersetzer aus dem Altgriechischen Übersetzer ins Deutsche Ehrendoktor der Universität Oslo Ehrendoktor der Humboldt-Universität zu Berlin Ehrendoktor der Universität Genf Ehrendoktor der Universität Greifswald Rektor (Humboldt-Universität zu Berlin) Rektor (Georg-August-Universität Göttingen) Hochschullehrer (Universität Greifswald) Geheimer Regierungsrat Person im Deutsch-Französischen Krieg Mitglied des Preußischen Herrenhauses Mitglied des Deutschen Archäologischen Instituts Mitglied der Archäologischen Gesellschaft zu Berlin Mitglied der Académie des Inscriptions et Belles-Lettres Mitglied der Akademie gemeinnütziger Wissenschaften zu Erfurt Mitglied der Niedersächsischen Akademie der Wissenschaften zu Göttingen Mitglied der Bayerischen Akademie der Wissenschaften Mitglied der Österreichischen Akademie der Wissenschaften Mitglied der Preußischen Akademie der Wissenschaften Ehrenmitglied der Russischen Akademie der Wissenschaften Mitglied der Königlich Niederländischen Akademie der Wissenschaften Mitglied der Accademia dei Lincei Mitglied der Ungarischen Akademie der Wissenschaften Mitglied der Norwegischen Akademie der Wissenschaften Mitglied der Kungliga Vetenskaps- och Vitterhetssamhället i Göteborg Mitglied der Königlich Schwedischen Akademie der Wissenschaften Mitglied der Society for the Promotion of Hellenic Studies Mitglied der Königlichen Gesellschaft der Wissenschaften in Uppsala Mitglied der British Academy Ritter des Königlichen Hausordens von Hohenzollern Träger des Pour le Mérite (Friedensklasse) Träger des Bayerischen Maximiliansordens für Wissenschaft und Kunst Träger des Roten Adlerordens 2. Klasse Deutscher Geboren 1848 Gestorben 1931 Mann Absolvent der Humboldt-Universität zu Berlin
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https://de.wikipedia.org/wiki/Burg%20Wildenstein%20%28Leibertingen%29
Burg Wildenstein (Leibertingen)
Die Burg Wildenstein liegt oberhalb des Donaudurchbruches durch die Schwäbische Alb auf dem Gebiet der Gemeinde Leibertingen (Landkreis Sigmaringen). Der Bauzustand der Spornburg entspricht noch heute, insbesondere in der Außenanlage, fast unverändert dem Zustand von 1554, nach Abschluss des von Gottfried Werner von Zimmern veranlassten, 1514 begonnenen Umbaus zu einer frühneuzeitlichen Festung. Sowohl Hauptburg als auch Vorburg stehen auf künstlich abgeschrofften Felsen und sind nur über Brücken zugänglich. Der über die gesamte Breite der Burg reichende, 20 Meter lange und ursprünglich auch 20 Meter tiefe Halsgraben hat bereits in der Vergangenheit Besucher der Burg sehr beeindruckt, wie es etwa der berühmte Stich Matthäus Merians zeigt. Im Innern besitzt die Burg aus den Jahren 1538 bis 1540 stammende, großflächige Renaissance-Wandmalereien mit Blumenranken und Vogelmotiven. Ein Bilderzyklus gibt die gesamte Sigenotsage wieder. Die Burg dient heute als Jugendherberge. Die Denkmalstiftung Baden-Württemberg ernannte die Burg zum Denkmal des Monats April 2016. Lage Die Spornburg, die zu den besterhaltenen und bekanntesten Burgen Deutschlands zählt, steht wenige Kilometer flussabwärts von Beuron auf einem steil abfallenden Felsen auf weithin sichtbar gut 200 Meter über der Donau. Geschichte Die urkundliche Erwähnung der Burg 1077 als Grenze der Besitztümer des Klosters Beuron beruht auf einer Fälschung des Klosterchronisten. Die Auswertung von Keramikfunden ergab, dass die Burg Wildenstein erst im 13. Jahrhundert entstanden ist. Sie folgte den ehemaligen kleineren Felsburgen Altwildenstein, Unterwildenstein, Wildensteiner Burg Hexenturm und Wildensteiner Burg Hahnenkamm in der näheren Umgebung nach. Im Zusammenhang mit einer Belagerung durch die Werdenberger wird von einem „Affenstets Turm“ berichtet, der sich in der Nähe der Burg befunden haben muss. Ob es sich dabei um einen alten Namen für eine der oben erwähnten Burgen handelt, ist ungeklärt. Der heutige Bauzustand der Burg, kaum verändert seit dem Umbau durch Gottfried Werner von Zimmern, sowie die reichhaltigen Informationen über Geschichte und Alltagsleben, die die Zimmerische Chronik auf über 1500 Seiten wiedergibt, führen zur heutigen Wahrnehmung der Burg als Burg der Herren von Zimmern. Dementsprechend breit angelegt ist die historische Darstellung des Wirkens dieses, ursprünglich aus dem oberen Neckartal stammenden Geschlechts im Rahmen der Burggeschichte. Aber auch die Vorgeschichte der Burg und die Folgezeit im Besitz des Hauses Fürstenberg sollen hier gewürdigt werden. Die Vorgeschichte der Burg Die Burg am jetzigen Standort entstand im 13. Jahrhundert als Nachfolgeburg einer von den Herren von Wildenstein erbauten Burgenkette, die aus vier Burgen bestand (alle zwischen 1100 und 1200). Der Bau stand vermutlich im Zusammenhang mit der Besitzübertragung an Anselm von Justingen nach 1263. Dieser war Sohn oder möglicherweise Enkel des Anselm von Justingen, der Friedrich II. nach dessen Königswahl aus Italien nach Deutschland begleitete. Nachdem Anselm sich mit dem König überworfen hatte und in der Auseinandersetzung zwischen Friedrich II. und dessen Sohn Heinrich VII. letzteren unterstützt hatte, fiel er in Ungnade, seine Stammburg Justingen wurde geschleift und das Geschlecht verlor an Bedeutung. Die Herren von Justingen-Wildenstein wurden im Jahr 1317 letztmals erwähnt. Im Jahr 1319 kam die Burg an Rudolf von Ramsberg. Aber auch diesem Geschlecht war keine lange Lebensdauer vergönnt. Um das Jahr 1390 wurden Burkhard von Lichtenstein und Wilhelm Schenck von Stauffenberg Mitbesitzer der Burg. Letzterer musste aber bereits 1395 dem späteren König Ruprecht von der Pfalz nach einer verlorenen kriegerischen Auseinandersetzung die Burg als Lösegeld übergeben. Die zimmerische Zeit Von König Ruprecht I. erhielt Johannes der Ältere von Zimmern, genannt der Lapp, 1397/98 eine Hälfte der Burg als Mannlehen, die andere Hälfte zur Verwaltung. 1415 bekam er die ganze Burg von Pfalzgraf Ludwig im Bart „aus besonderer Gnade“. Im Jahre 1462 wurde die gesamte Burg an Johann Werner den Älteren von Zimmern „zu freiem und ungestörtem Genuss für sich und seine Erben“ übergeben. Ab 1441 wurde die Burg unter Werner dem Jüngeren (circa 1423–1483) von den Zimmern ausgebaut. Laut Zimmerischer Chronik gab er 20.000 Gulden für den Ausbau aus. Um den jährlichen Unterhalt in Höhe von 120 Gulden zu sichern, kaufte er in der Stadt Überlingen für 3000 Gulden eine Gült. In die Zeit Werners des Jüngeren fällt auch der Bau der Zisterne im Burghof. Diese ließ sich anfangs nicht abdichten, da das Wasser im karstigen Untergrund immer wieder Spalten und Klüfte fand. Die Zimmerische Chronik berichtet, dass Werner das Problem gelöst habe, indem er ein magisches Kristall um Rat gefragt und den Werkmeistern die gefundene Lösung mitgeteilt hatte. Im Zuge der Werdenbergfehde, während der 1488 über Johannes Werner den Älteren von Zimmern die Reichsacht ausgesprochen wurde, ließ dieser zunächst bei Nacht heimlich die zimmerschen Urkunden, das Silbergeschirr, den besten Hausrat und was sonst an wertvollem beweglichem Gut vorhanden war, in Fässern und Truhen verstauen und aus seiner Residenz in Meßkirch auf den Wildenstein fahren. Als die Werdenberger immer mehr Teile des zimmerischen Besitzes an sich zogen und ein werdenbergischer Versuch fehlschlug, die Burg durch Verrat einzunehmen, wurde die Burg 1491 noch rechtzeitig für 4000 Gulden an Graf Andreas von Sonnenberg mit einem auch die Erben bindenden Rückgaberecht verkauft. Nur der Bruder Gottfried (1425–1508) mit den Besitzungen vor Wald und Burg Herrenzimmern war von diesen Entwicklungen nicht betroffen. Die Reichsacht gegen Johannes Werner dem Älteren wurde aufgehoben. Er verstarb im Jahr 1495. Der größte Teil des zimmerischen Besitzes befand sich aber noch in der Hand der Werdenberger. 1497 soll Gottfried von Zimmern auf Bitten seines Neffen Veit Werner von Zimmern, der nach dem Tod des Vaters die Rückerlangung des Familienbesitzes vorantrieb, die Burg von Andreas von Sonnenberg zurückgekauft haben. Dieser hatte die oben erwähnte Gült einbehalten, bis die Erträge hieraus seine aufgelaufenen Kosten gedeckt hatten. Um diese Zeit muss auch vor dem Hofgericht in Rottweil die Burg von Gottfried an seine Neffen vermacht worden sein. Mit der Unterstützung von Andreas von Sonnenberg, der Brüder Albrecht und Eberhart von Klingenberg sowie von vielen anderen süddeutschen Adeligen und mit der Burg Wildenstein als Basis gelang es Johannes Werner dem Jüngeren – sein älterer Bruder Veit Werner war 1499 gestorben – 1503 Meßkirch und die Herrschaft Zimmern von den Werdenbergern zurückzuerobern. Die Rückkehr der Burg in den zimmerischen Besitz war noch mit einigen legalistischen Stolpersteinen verbunden. Bei der Aufteilung des Erbes Johannes Werners des Älteren nach Wiedererlangung der Herrschaft und nach dem Tod des Onkels Gottfried fiel Burg Wildenstein im Erbvertrag von 1508 zunächst in den gemeinsamen Besitz der Brüder Johannes Werner und Gottfried Werner von Zimmern. Da erhoben die Gebrüder Klingenberg Anspruch auf die Burg, da deren Mutter und Gottfrieds Mutter Schwestern waren und sie deshalb einen Verwandtschaftsgrad näher am Erbe als die zimmerischen Brüder seien. Nach einem Schiedsverfahren unter der Leitung des Grafen Heinrich von Lupfen, Hauptmann der Gesellschaft vom Sankt Jörgenschild und Jos von Reischach zu Ach nahmen die Klingenbergbrüder Abstand von ihren Erbforderungen und wurden mit 200 Gulden und einem Pferd für ihre Unterstützung bei der Rückeroberung des zimmerischen Besitzes abgegolten. Am 12. Mai 1511 ermordete Felix von Werdenberg den oben erwähnten Andreas von Sonnenberg. Motiv für den Mord sei gewesen, dass Andreas von Sonnenberg auf der Hochzeit von Herzog Ulrich von Württemberg Felix von Werdenberg wegen seiner kleinen Statur beleidigt hatte. Die Burg Wildenstein kam dadurch ins Spiel, dass Johannes Werner von Zimmern dem Mitglied der eben noch verfeindeten Familie von Werdenberg, der für diesen Mord extra von seinen Besitzungen in Brabant angereist war, Unterschlupf auf der Burg gewährte. So musste dieser nicht in Schloss Sigmaringen, dem Stammschloss seiner Familie, Aufenthalt nehmen. Von Wildenstein aus konnte er heimlich die Bewegungen des Andreas von Sonnenberg, der ja zu den größten Unterstützern der Zimmern bei der Rückeroberung ihres Besitzes gehört hatte, auskundschaften und am Morgen des 12. Mai von dort aus zu seiner Tat aufbrechen. Ein Motiv für diesen aus heutiger Sicht irrationalen Gesinnungswandel Johannes Werners bietet die Chronik nicht. Gottfried Werner von Zimmern, der jüngere Bruder Johannes Werners brachte nun die Burg in seinen alleinigen Besitz. Der Tausch der Herrschaften Falkenstein gegen Meßkirch sowie die handstreichartige alleinige Inbesitznahme der Burg durch Gottfried Werner lassen sich mit der unsicheren Position erklären, die Johannes Werner, als Helfer und möglicher Mitwisser der Tat, im darauffolgenden Untersuchungsverfahren des Mordes einnahm. Die Chronik erklärt den Tausch mit der Rangerhöhung Gottfrieds nach dessen vorteilhafter Heirat mit Apollonia von Henneberg im selben Jahr. Nachdem im Jahr 1512 die Vorburg abgebrannt war und keine Einigung über den Wiederaufbau zwischen den Brüdern zustande kam, befahl Gottfried Werner 1513 Karlin Pfeiler, dem Burghauptmann von Wildenstein, nur noch ihm Gefolgschaft zu leisten. 1514 wurde die Herrschaftsaufteilung unter den Brüdern erneut besiegelt. Ab diesem Zeitpunkt baute Gottfried Werner, der eine Leidenschaft zum Burgenbau entwickelte, Wildenstein zur Festung um, dem Stand der frühneuzeitlichen Technik entsprechend. Obwohl Meßkirch die Residenzstadt war, hielt sich Gottfried Werner sehr gerne auf Wildenstein auf. Die Wohntrakte ließ er deshalb großflächig mit Renaissanceornamente enthaltenden Decken und Wandgemälden, aber auch mit bildlichen Nacherzählungen damals populärer Heldengeschichten schmücken. Auf der Freifläche vor der Burg plante er die Gründung einer neuen Stadt, wofür er schon Adelige geworben hatte, die er in deren Burgrecht aufnehmen wollte. Er verwarf diesen Plan wieder, als ihm keine legitimen Söhne vergönnt waren. Der Neffe und Erbe Gottfried Werners, Graf Froben Christoph von Zimmern (Verfasser der Zimmerischen Chronik, einer herausragenden Quelle zur Adels- und Volkskultur des Lebens im 16. Jahrhundert) hat dort neben seiner Residenz in Meßkirch ebenfalls gewirkt. Von kleineren Scharmützeln abgesehen, war die Burg nie Schauplatz größerer kriegerischer Auseinandersetzungen. Im Zuge der Werdenbergfehde gelang es den werdenbergischen Truppen, durch Verrat des Torwärters das erste Tor zu überwinden. Es gelang jedoch, sie zurückzuwerfen, so dass die Burg, wie erwähnt, mit Rückkaufrecht an den befreundeten Andreas von Sonnenberg übergeben werden konnte. Sie diente bei Pestepidemien, so 1519, als isolierter Schutzraum, bei dem selbst Lebensmittellieferungen nur bis vor das Burgtor erfolgten um persönliche Kontakte zu vermeiden. Auch im Bauernkrieg 1525 ebenso wie im Schmalkaldischen Krieg suchten die Zimmern zusammen mit ihren adeligen Freunden, den Grafen von Helfenstein, den Truchsessen von Waldburg, der Landkomturei von Altshausen, dem Stift Beuron sowie anderen Adeligen Zuflucht auf Wildenstein. Die bedrohlichste Situation ergab sich im Fürstenkrieg 1552, als wiederum viele Adelige aus der Umgebung Schutz auf der Burg suchten und ihre beweglichen Vermögenswerte dort in Sicherheit brachten. Es sollen sich weit über 100.000 Gulden auf Wildenstein befunden haben. Die Feinde standen in Ulm und waren im Begriff, einen Zug ins Hegau und an den Bodensee zu machen. Graf Friedrich von Castell plante, mit wenigen Mann Gottfried Werner zur Übergabe zu zwingen. Ablach und Göggingen waren bereits geplündert und die Burgbesatzung richtete sich auf das Schlimmste ein. Sie erkannte die Mängel in den Verteidigungsvorbereitungen und musste insbesondere feststellen, dass die Moral der Mannschaften sehr niedrig war, da diese sich um ihre zurückgelassenen Familien sorgten. Gottfried Werner wollte seine blinde Tochter Barbara, die als Nonne im Kloster Inzigkofen weilte, ebenfalls auf die Burg in Sicherheit bringen, diese wollte aber getreu ihrem Gelübde im Kloster bleiben. Unverhofft zogen die feindlichen Truppen dann aber ins Allgäu ab. Aufgrund ihrer Wehrhaftigkeit erregte die Burg auch in späteren Jahren immer wieder die Aufmerksamkeit der verschiedenen Kriegsgegner. Konkrete Auseinandersetzungen um die Burg gingen aber auch dann über anekdotische Episoden nicht hinaus. Nach dem Aussterben der Grafen von Zimmern 1594 mit dem Tod Wilhelms von Zimmern verkauften die überlebenden Schwestern die Burg für 400.000 Gulden an Graf Georg von Helfenstein-Gundelfingen, den Gatten der zweitältesten Schwester Apollonia (1547–1604). Die fürstenbergische Burg Nach dem Erlöschen des Geschlechts Helfenstein-Gundelfingen kam Wildenstein 1627 über den Gatten Johanna Eleonoras, Freiin zu Gundelfingen, Wildenstein und Meßkirch, den Grafen Wratislaus I. von Fürstenberg an dieses Haus. Im Jahr 1639, der Dreißigjährige Krieg hatte sich nach dem Frieden von Prag in einen offenen Krieg Frankreichs gegen die Reichsstände gewandelt, wandte sich Wratislaus von Fürstenberg an den kaiserlichen Hof mit der Bitte um 8.000–10.000 Gulden, um eine stärkere Besatzung auf der Festung zu ermöglichen. Da dieses Geld ausblieb, war Wildenstein nur mit vier Musketieren unter dem Kommando von Jacob Bürklin besetzt. Am Sonntag, dem 10. August 1642 begab sich dieser mit drei der Musketiere auf ein Fest nach Meßkirch. Der verbliebene Musketier wurde Pfeife rauchend und in der Sonne liegend vor der Burg von hohentwielschen Truppen überfallen. Einer der Frauen auf der Burg gelang es zwar noch, die Tore zu schließen, sie wurde aber von den anderen Frauen davon abgehalten, mit Waffengewalt gegen die nur einzeln über eine Schießscharte eindringenden Eroberer vorzugehen. Es scheint Verrat im Spiel gewesen zu sein, denn Bürklin und die anderen drei Musketiere ergriffen die Flucht. Bayerische Truppen rückten an, die Sturmangriffe konnten jedoch erfolgreich unter Verlusten für die Angreifenden abgewehrt werden. Als aber eine Belagerung eingeleitet wurde, und die neue Burgbesatzung sich nicht sicher war, wann Versorgung und Entsatz erwartet werden konnte, wurde eine ehrenvolle Kapitulation vereinbart. Am 4. September 1642 war die Festung in der Hand bayerischer Truppen unter Oberstleutnant von Marmont. Wildenstein blieb bis 1649 in bayerischer Hand. Im Pfälzischen Erbfolgekrieg wurde die Burg nochmals unter kaiserliche Besatzung gestellt, und auch im Spanischen Erbfolgekrieg suchten die Fürstenberger auf Wildenstein Schutz. Danach wurde die Burg vornehmlich als Gefängnis genutzt. 1744 brannte durch Leichtsinn eines Wächters, der sich seine Tabakpfeife ausgeklopft hatte, die Brücke ab. 1756 schlug der Blitz in den Giebel des Zeughauses, was zu großen Schäden an den Mauern des gesamten Westflügels führte. Als im Frühjahr 1770 Prinzessin Marie-Antoinette zu ihrer Vermählung nach Frankreich reiste und in Donaueschingen Station machte, wurden die verbliebenen Geschütze von Wildenstein abgezogen, um beim Empfang Salut schießen zu können. Man sah offensichtlich keine militärische Notwendigkeit mehr, diese anschließend wieder auf die Burg zu bringen. Die Burg verfiel immer mehr, und 1802 schlug die Oberamtsverwaltung in Meßkirch die Schleifung vor. In der Zeit der Mediatisierung aber, zwischen dem Reichsdeputationshauptschluss 1803 und der Rheinbundakte 1806, als Fürstenberg noch um seine Unabhängigkeit kämpfte, wurde die Burg von 1804 bis 1806 stattdessen renoviert und instand gesetzt. 1867 wurde durch Baurat Weinbrenner die Burgkapelle renoviert. Am 16. November 1911 nahm die Burg starken Schaden durch ein Erdbeben in der Albstadt-Scherzone. Es entstanden starke Risse in der Umfassungsmauer und am Kommandantenturm. Die Giebelspitze sowie Gesimsteile brachen ab. Bereits 1902 betrieb ein fürstlicher Hilfswaldarbeiter eine Schankwirtschaft auf der Burg. Am 11. November 1922 wurde mit der Forstwartswitwe Katharina Fecker, geborene Stehle, ein Pachtvertrag geschlossen, der neben der Landwirtschaft auch die Einrichtung einer Gastwirtschaft umfasste. Die Familie Fecker betrieb diese fast 50 Jahre bis 1971. Zur selben Zeit wurde im Zuge der Ausweitung der Wallfahrten im benachbarten Kloster Beuron in der Vorburg ein Herbergsbetrieb eingerichtet, schon damals in Zusammenarbeit mit dem Zweigausschuss Schwaben des Vereins für Deutsche Jugendherbergen. Im Zweiten Weltkrieg wurden im Rittersaal viele Bilder und Kostbarkeiten eingelagert, so auch das Tafelbild des Hauptaltars der Stiftskirche St. Martin in Meßkirch (Anbetung der Heiligen Drei Könige) vom Meister von Meßkirch. Nach dem Luftangriff auf Freiburg im November 1944 zog die Philosophische Fakultät der dortigen Universität Anfang 1945 mit zehn Professoren und 30 Studenten auf die Burg, um dort den Lehrbetrieb fortzusetzen. Initiator für diese Ortswahl dürfte der in Meßkirch geborene Martin Heidegger gewesen sein. Die Rückkehr nach Freiburg wurde am 24. Juni 1945 mit einem Abschiedsessen gefeiert. Am 21. Dezember 1971 verkaufte Prinzessin Theresa von Fürstenberg für 150.000 DM die Burg an die Sektion Schwaben des Deutschen Jugendherbergswerks. Anlage Die Burg stellt einen Übergang vom traditionellen mittelalterlichen Burgenbau zum neuzeitlichen Festungsbau dar. Der ehemals vorhandene exponierte Bergfried wurde abgerissen. Zur Hauptangriffsseite hin, die als leicht zur Burg hin geneigte breite Ebene ein ideales Aufmarschgebiet für Angreifer bot, nahmen sowohl die Vorburg, als auch die sogenannte Hauptbastion die Funktion einer Art Schildmauer ein. Beide unterschieden sich aber auch von der traditionellen Form, indem statt in die Höhe in die Breite und Tiefe gebaut wurde. Durch diese geduckte Form bot die am meisten gefährdete Seite eine geringe Angriffsfläche bei Artilleriebeschuss, gleichzeitig bestand von der Burg aus ein freies Schussfeld. Einen weiteren Schutz bildeten die künstlich herausgearbeiteten, mit Zugbrücken gesicherten tiefen Gräben, was insgesamt eine Sturmfreiheit im Sinne des alten Burgenbaus herstellte. Derartige Mischformen zwischen Burg und Festung sind in Europa nur noch selten zu finden. Diese Veränderungen gingen hauptsächlich auf Gottfried Werner von Zimmern zurück, der nochmals an die 40.000 Gulden an der Burg verbaute. Als Kostenvergleich weist Piper auf den Erwerb der Burg Falkenstein mit einer Wiese, einem Fischwasser, drei Dörfern und einer Mühle für 4880 Gulden durch Gottfried Werner hin. Vorburg Man erreicht die Vorburg über einen durchschnittlich 15 Meter breiten äußeren Halsgraben, der angriffsseitig einer Kontereskarpe gleich aufgemauert ist. Dieser Graben ist mit dem inneren Abschnittsgraben verbunden, so dass die Vorburg praktisch auf einer Felsinsel steht. Zur Angriffsseite ist die über 100 Meter breite, aber kaum 10 Meter tiefe Vorburg mit einer 74 Meter langen und drei Meter starken Schildmauer gesichert. Diese besitzt einen gedeckten Wehrgang mit einer einen Meter starken Brüstungsmauer. An den Seiten wird die Schildmauer von zwei flankierenden Rundtürmen gedeckt, aus deren Maulscharten das Vorfeld, der Graben und die Zugbrücke mit Geschützfeuer bestrichen werden konnten. Zur Burgseite hin befindet sich keine Wehrmauer, um eventuellen Eindringlingen keine Deckung vor Beschuss aus der Hauptburg zu gewähren. In der Vorburg waren die Mannschaftsunterkünfte und Stallungen untergebracht: im Westturm der Burgvogt, im Ostturm die Wächter und Mannschaften. Die Innenräume der Gebäude wurden für den Jugendherbergsbetrieb umgestaltet. Das Burgtor der Vorburg lag etwas tiefer als die Kante des äußeren Grabens. Es befindet sich etwas westlich der Mitte der Schildmauer. Die aus dem äußeren Graben hoch aufragenden Brückenpfeiler weisen auf eine Zugbrücke mit Schwungruten hin. Abschnittsgraben und Zugbrücke Zwischen Vorburg und Hauptburg befindet sich der imposante 40 Meter lange Abschnittsgraben. Vollständig von Menschenhand aus dem Fels gebrochen, hat er eine Breite von 20 Metern und eine heutige Tiefe von 13 bis maximal 16 Metern. Ursprünglich war dieser innere Graben bis zu 10 Meter tiefer als heute und lief unten spitz zu, um Angreifern nicht die Möglichkeit zu geben, den Grabengrund als Basis für Belagerungsmaschinen und Ähnliches zu nutzen. Heute führt ein bequemer Fahrweg in den Graben, um Lieferanten die Möglichkeit zu geben, die Pforte unterhalb des Ost-Wehrgangs zu erreichen. Diese wurde zusammen mit einem modernen Lastenaufzug angebracht, um die Versorgung der Jugendherberge zu erleichtern, da sonst, wie dies zu Zeiten der Nutzung als Burg der Fall war, jeder Korb mehrere hundert Meter über zwei Brücken und ein enges, abschüssiges Tor getragen werden müsste. Zusätzlich zur ohnehin beeindruckenden Tiefe des Grabens wurden die Seitenwände der Vor- und Hauptburg rundum senkrecht um durchschnittlich 25 Meter abgeschrofft, was den Außenmauern den Eindruck schier unermesslicher Höhe gibt. Welchen Eindruck dies auf die Zeitgenossen gemacht hatte, vermittelt der Stich Matthäus Merians (siehe oben), der den Graben bis zur Talsohle reichend darstellte. Auch heute ist die Brücke für Menschen mit Höhenangst ein Hindernis. Die heutige Überdachung des hinteren Teils der Brücke ist durch ihre Raumwirkung ein psychologisches Mittel, solche Höhenangst zu unterdrücken. Die Brücke ruht auf einem von der Grabensohle hochgemauerten Pfeiler. Durch die von diesem Pfeiler aus geführte Zugbrücke mit Schwungruten konnte der Zugang von der Vorburg zur Hauptburg weiter erschwert werden. Dieses Brückenwerk lag aus strategischen Gründen 10 Meter östlich des ersten Brückenwerks, dem Zugang zur Vorburg, um einen geradlinigen Vorstoß durch angreifende Truppen zu unterbinden. Für weitere Wehranlagen auf diesem Pfeiler reichte der Platz nicht aus. Auch Piper bemerkt ausdrücklich, dass diese sonst unerhörten Maßverhältnisse eher den Eindruck eines weiten natürlichen Zwischenraums zwischen zwei vereinzelt aufragenden Felsen vermitteln. Diese Bautechnik, die Felswände tief senkrecht abzuschroffen und das Mauerwerk direkt an dieser künstlich geschaffenen Felskante aufzumauern, führte bereits damals zu Kritik und Skepsis. Man konnte sich nicht vorstellen, dass infolge der häufigen und unerwarteten Bergstürze es nicht bald zu einem Einsturz kommen würde. Hauptbastion Die Hauptbastion stellte das Hauptverteidigungswerk der Burg dar. Von ihr aus konnten nicht nur die unmittelbar davorliegende Brücke und das Innere der Vorburg gesichert werden, durch die bereits erwähnte gebückte Anlage der Vorburg war es von dieser Hauptbastion außerdem möglich, über die Vorburg hinweg, auch das Vorfeld der Burg mit Artilleriefeuer zu bestreichen. Die Hauptbastion schützte wie eine weitere Schildmauer die auf dem Bergsporn hinter ihr liegenden Gebäude, Palas und Burgkapelle sowie den Burghof mit der Zisterne. Die Dimensionen gehen über die einer normalen Schildmauer weit hinaus. Im Grundriss gleicht sie einem unregelmäßigen Oval von bis zu 40 Metern Länge und 20–25 Metern Breite. Der gewachsene Fels wurde an den drei Außenseiten vertikal abgeschrofft, wo er von dieser Vertikalen nach innen zurückwich, wurde das Mauerwerk senkrecht nach oben aufgesetzt und dahinter massiv hinterfüttert. Die unteren Kasematten haben Wandstärken von fast 5½ Metern und selbst im Obergeschoss betragen sie noch 3,70 Meter. Im Ostteil, wo vermutet wird, dass der ursprüngliche Fels höher reichte, gibt es im Eingangsbereich keine Unterkellerung und keine Kasematten, die Hauptbastion stellt sich dort als eine fast 25 Meter starke solide Mauer dar. Die Bastion besteht, von der Höhe des Eingangs aufwärts gemessen, nur aus zwei Stockwerken, die mit Kanonenschießscharten versehen sind. Vom Burghof aus zugänglich befinden sich im westlichen Teil der Bastion einige wenige Lager- und Wirtschaftsräume. Mitten durch dieses Werk führt das Burgtor. Es lässt sich am Ein- und Ausgang sowie mittig durch starke Türen verriegeln. Da sich die Stallungen in der Vorburg befanden und es sicher nicht vorgesehen war, bis in den Burghof zu reiten, ist der Tordurchlass eng dimensioniert sowie mit einem Versatz versehen. Dies machte einerseits einen Kanonendurchschuss unmöglich, andererseits erschwerte es die Nutzung von Rammbalken gegen die mittlere Tür. Zusätzlich konnten durch eine große Gussöffnung oberhalb des Knickbereichs die Angreifer weiter effektiv bekämpft werden. Im sogenannten Kommandantenturm im Westteil der Hauptbastion befinden sich noch Teile eines mittelalterlichen Turmes, möglicherweise des von Gottfried Werner abgebrochenen Bergfrieds. Im Obergeschoss soll sich seine Schreibstube befunden haben, später war es die namensgebende Kommandantur. Es befinden sich hier noch einige Wand- und Deckengemälde. Ein Teil der Deckengemälde wurde nach dem Verkauf der Burg an das Jugendherbergswerk zum Schloss Werenwag gebracht. Die Räumlichkeiten werden heute als Schlaf- und Aufenthaltsräume der Jugendherberge genutzt. Den größten Teil des obersten Stockwerks nimmt der sogenannte Exerziersaal ein. Ohne Dach ist dieser Raum als offene Geschützstellung denkbar. Während alle Schießscharten auf der Burg höchstens für Hakenbüchsen und Falkonetten geeignet waren (was laut Günter Schmitt für Wildenstein auch belegt ist), konnte dort (ohne Dach) weitreichende, großkalibrige Artillerie stationiert werden. Für eine offene Stationierung spricht, dass der Pulverdampf in geschlossenen Kasematten einen dauerhaften Einsatz erschwert hätte. Die offene, auf Schlaudern gelagerte Dachkonstruktion soll im Kriegsfall leicht abzuschlagen gewesen sein. Die Fußbodenkonstruktion mit großen Kalksteinplatten, leichtem Gefälle und Wasserablaufrinne weist ebenfalls darauf hin, dass das Fehlen eines Daches in die Bauplanung einbezogen war. Piper weist aber darauf hin, dass das Abtragen eines Daches im Verteidigungsfall im Allgemeinen und bei Burg Wildenstein im Besonderen wohl wenig praktikabel war. Eine leicht abzunehmende Dachkonstruktion hätte in exponierten Burganlagen einem größeren Sturm nicht standgehalten, darüber hinaus dürfte die Vorwarnzeit in Kriegszeiten für eine ordentliche Demontage kaum ausgereicht haben. Andererseits hätte der zu erwartende Aufwand des Wiederaufbaus nach einer unnötigen Demontage eben die Inangriffnahme einer solchen im Vorfeld sicherlich verhindert. Der jetzige, seit Jahrhunderten bestehende Dachstuhl straft Piper in Bezug auf die mangelnde Sturmfestigkeit Lügen, aber die Argumente hinsichtlich des Aufwands haben sicher Gültigkeit. Auch die Chronik berichtet bei den kriegsbedingten Rückzügen auf die Burg in keinem Fall von einem Dachabriss. In der Kommandantenwohnung gab es zu Pipers Zeiten noch ein kaum erkennbares Wandgemälde, das die Bastion ohne Dach darstellte. Solche Abbildungen sind jedoch keine zuverlässigen Quellen (siehe etwa die überzogene Darstellung der Burganlage durch Merian). Die hier beschriebenen Widersprüche schiebt Piper auf die Neigung Gottfried Werners als Bauherren hin, „was er ein jar ufgericht und erbawen, so es im das nachgehendt jar nit gefallen, hat er wider abgebrochen und uf ein ander manier gemacht“. Das sogenannte Verlies In der dem Hof zugewandten Wand des sogenannten Exerziersaals befindet sich ein viereckiges Loch von 40 mal 60 cm Seitenlänge und einer Tiefe von 70 cm. Es ist das Mündungsloch eines 4–5 Meter tiefen und 2,6–3,3 Meter breiten fensterlosen Raumes, der heute Verlies genannt wird. Otto Piper räumte in seiner Burgenkunde ein, dass in Ermangelung eines Bergfrieds dies zwar der logische Ort für ein typisches Burgverlies sei, aber der Zugang über eine Leiter unnötigerweise besonderer Geschicklichkeit bedürfe. Er vermutete, dass es sich eher um einen Aufbewahrungsort für besondere Wertgegenstände handelte, ein nachzuvollziehender Gedankengang, stellt der Raum selbst heute noch den gegen gewaltsame äußere Einflüsse am besten geschützten Raum der Burg dar. Die Mauerstärken betragen dort ringsum über fünf Meter. Dennoch wurde auf der Burg auch dafür gesorgt, Gefangene unterzubringen. So ließ Gottfried Werner einen Block für Wildenstein anfertigen. Burghof und Wehrgänge Hinter der Hauptbastion, begrenzt von je einem Wehrgang (dem geraden östlichen und dem gekrümmten westlichen) befindet sich der Burghof. Dort ist besonders die 17 Meter tiefe Zisterne hervorzuheben, die bereits von Werner dem Jüngeren angelegt wurde. Nachdem anfängliche Schwierigkeiten, diese abzudichten, behoben waren, stellte sie die Wasserversorgung der Burg sicher, da auf dem Karstfelsen Quellwasser nicht zur Verfügung stand. Der geschlossene Wehrgang muss vor Gottfried Werners Umbau, wenn nicht voll umlaufend, so zumindest dreiseitig, mit einem Treppenaufgang am jeweiligen Ende gewesen sein. Burgkapelle Vom östlichen Wehrgang springt die Burgkapelle mit 3/8-Chor und spätgotischem Netzgewölbe ab. In dessen Schlusssteinen befinden sich das Wappen Gottfried Werners von Zimmern und das seiner Gattin Apollonia von Henneberg, in den Konsolen unter anderem das Wappen Oettingens für Gottfried Werners Mutter Margaretha von Oettingen († 1528). Die Kapelle wurde 1536/37 ausgebaut und mit einem Altar, möglicherweise dem sogenannten Wildensteiner Altar ausgestattet, einem Hauptwerk des Meisters von Meßkirch. Vermutlich wurde bei der Renovierung durch Baurat Weinbrenner 1867 der heutige Altar mit den Kopien der Altarbilder des Meisters von Meßkirch aufgestellt. Die Stilmerkmale des Schnitzwerks weisen auf diese Zeit hin. Die Originalgemälde kamen in die Fürstlich Fürstenbergischen Sammlungen nach Donaueschingen. Beim Ausverkauf der dortigen Kunstschätze konnten sie durch eine Aufnahme in die Sammlung Würth vor einem Verkauf ins Ausland bewahrt werden. Bei der Renovierung wurden auch neue Fenster mit Fürstenberger Wappen eingesetzt. Die Kapelle ist unterkellert. Dort kolportiert die Burgenromantik einen bis ins Tal der Donau reichenden Geheimgang. Profaner ist davon auszugehen, dass es sich um ein bautechnisch notwendiges Untergeschoss handelt, das eine verteidigungstechnische Nebenfunktion hatte, indem von dort aus eine Flankensicherung der Ostseite der Burg durchgeführt werden konnte. Piper weist in seiner Burgenkunde darauf hin, dass es ähnliche, zum Verbergen von Habe und Menschen dienende Räume auch auf anderen Burgen gab. Der Raum gründet auf gewachsenem Fels, ein Gang ist nirgendwo festzustellen. Im Dachgeschoss befindet sich eine Glocke aus dem Jahr 1525. Wohnbau (volkstümlich Palas) Den Abschluss der Burg bildet ein zweistöckiger Wohnbau mit hoher Dachkonstruktion mit Zwerchhaus und Giebelgauben, nicht ganz korrekt Palas genannt, obwohl der dafür charakteristische große durchgängige Saal fehlt. Im Untergeschoss befinden sich die heutige Burgschänke und Nebenräume, im Obergeschoss zwei große Räume, von denen der westliche als Speisesaal der Jugendherberge dient. Der rechte Raum ist heute mehrfach unterteilt in einen Vorraum der Rezeption der Jugendherberge, einen Büro- und Personalraum und die Küche der Jugendherberge. Aus dem Vorraum geht eine Treppe in die ehemalige Kemenate, der heutigen Wohnung der Herbergsleitung unter dem Dach. Das Gebäude ist teilweise unterkellert. Zur Talseite hin sind die Felsen, wie schon erwähnt, senkrecht abgeschrofft, so dass die Außenwandhöhen mehr als verdoppelt sind. Im Obergeschoss befinden sich bedeutende Wandmalereien, z. B. im Speisesaal ornamentreiche Blattranken mit Vogelmotiven. Teilweise sind mehrere Malansätze erkennbar, ein Hinweis darauf, dass Gottfried Werner bei Nichtgefallen Arbeiten öfter abbrechen und wieder neu beginnen ließ, was die Baukosten der Burg enorm in die Höhe trieb. Im östlichen Raum wird über die gesamten Außenflächen, inklusive der Fensternischen, in einer gewaltigen Bildergeschichte die Sigenotsage wiedergegeben. Gottfried Werner, so berichtet die Chronik, habe selbst gerne gedichtet. So habe er nach dem Essen oftmals seinen Schreiber bestellt „mit dem zecht er, und under der zech macht er reimen von dem Berner und dem risen, wie dann solich buch, damit er vil mühe und arbait gehapt, noch zu Wildenstain vorhanden.“ Ob Froben Christoph hier auf die Wandmalereien anspricht, oder auf ein Buch, das sich als Handschrift Donaueschingen Nr. 74 ehemals in der Fürstenbergischen Bibliothek befand und heute in der Badischen Landesbibliothek zu finden ist, ist nicht eindeutig. Studenten der Universität Tübingen haben diesen Bilderzyklus untersucht, systematisch in Bildern und Skizzen dokumentiert und im Internet zugänglich gemacht. Das Leben auf der Burg Zur Zeit Gottfried Werners und seines Neffen Froben Christoph war das Leben auf der Burg nicht mehr Alltag. Dieser hatte sich in das Schloss nach Meßkirch verlagert. War sie eine Generation vorher unter Onkel Gottfried noch Lebensmittelpunkt gewesen, wurde sie jetzt Fluchtpunkt, teilweise auch Verbannungsort. So berichtet die Chronik, dass Barbara von ihrem älteren Bruder Johannes Werner, dem sie, als dieser noch nicht verheiratet war, den Haushalt führte, auf den Wildenstein verbannt wurde. Sie hatte sich in Hans von Weitingen verliebt und sich heimlich mit diesem verloben wollen. Mehrere Freunde der Weitingens und Zimmerns und sogar Vertreter der Stadt Rottweil nahmen sich der Sache an. Auf einem Schiedstag in Fridingen, am Freitag nach Martini 1506, wurde die Heiratsabrede getroffen. Hans von Weitingen wurde später württembergischer Obervogt in Sulz unter Herzog Ulrich. Für Gottfried Werner war die Burg nicht nur Fluchtpunkt in Notzeiten, sondern auch privater Rückzugsort. Die Chronik berichtet, dass er eine besondere Liebe zur Burg hatte und sich oft ohne Ehefrau und Hofstaat für vier oder fünf Tage auf Wildenstein zurückzog, ein Ereignis, dem alle Seiten mit Freuden entgegensahen, war man doch froh, den strengen, oft jähzornigen Hausherren aus dem Haus zu haben. Die Burg wurde von einem Vogt verwaltet, einer unbedingten Vertrauensposition. So ließ Gottfried Werner einmal einen Teil der Burgmannschaft bei Abwesenheit des Burgvogts auswechseln, dem er nicht mehr vertraute. Zur regelmäßigen Besatzung der Burg, zumindest wenn der Hausherr anwesend war, gehörte ein Priester, der in der Kapelle regelmäßig die Messe lesen musste, und auch ein Barbier für den Hausherrn. Dieser musste jeden Morgen vor dem Aufstehen Gottfried Werners Kammer mit Wacholder ausräuchern und ihm aufwarten. Oft waren es aber wirkliche Notzeiten, die einen Aufenthalt in der Burg notwendig machten. Beispielsweise bei einer Epidemie wie im Jahr 1518 wurde die Nahrungsmittelversorgung durch Ablage der Waren vor dem Burgtor abgewickelt, zur besonderen Sicherheit ohne direkten persönlichen Kontakt. Die selbstgewählte Isolation ging so weit, dass bald selbst das Leder für die Schuhreparatur ausging. Andere Anlässe waren der Bauernkrieg 1525, die Landenbergische Fehde 1540, der Schmalkaldische Krieg, 1546/47 und der Fürstenkrieg 1552. Vor allem bei den beiden letzten Auseinandersetzungen fanden sich nicht nur die Zimmern ein, sondern auch der benachbarte katholische Adel suchte Schutz auf dieser, nach der protestantischen Festung Hohentwiel stärksten und modernsten Burg der Region. Es muss recht eng zugegangen sein, wenn neben den Zimmern auch die Grafen von Helfenstein, die Truchsesse von Waldburg, der Landkomtur von Altshausen und Mitglieder des Stifts Beuron mit Anhang, Gepäck und den transportablen Wertsachen auf die Burg kamen. Man muss dazu auch noch von einer nicht kleinen militärischen Besatzung ausgehen. Eine Eskorte, die den krankheitshalber in Meßkirch zurückgelassenen Sohn Froben Christophs auf die Burg begleitete, als dieser wieder transportfähig war, bestand aus 20 Hakenschützen; die Gesamtbesatzung der Burg dürfte ein Vielfaches davon betragen haben. Einige Verhaltensweisen, die Froben Christoph in der Chronik beschreibt, lassen sich als Lagerkoller bezeichnen. Wilhelm Truchsess von Waldburg spricht von einer Mausefalle, und ein Schreiber sagt von sich, er sei aus Angst mehrfach mit dem Kopf gegen die Wand gelaufen. Da niemand die Burg verlassen durfte, kam Langeweile auf, so dass entweder gegessen und getrunken wurde und man nicht mehr nüchtern werden wollte, oder es wurde geschlafen oder gesungen. Die Frau des Burgvogts soll in den düsteren Gewölben der Burg ein Techtelmechtel mit dem Organisten aus Meßkirch gehabt haben. Der Burgvogt erklärte, dass er sie nur zur Wahrung des Burgfriedens nicht erschlagen habe. Gottfried Werner gelang es, die Situation so weit zu deeskalieren, dass der Vogt eingestand, sich in der Dunkelheit wohl geirrt zu haben und so konnte die Affäre unter Erhalt der Ehre aller Beteiligten beigelegt werden. Gottfried Werner hatte große Selbstzweifel, ob es im tatsächlichen Belagerungsfall sinnvoll wäre, standzuhalten und dadurch zuzulassen, dass durch die dann erfolgenden Plünderungen der Belagerer in den zimmerschen Dörfern Not und Verderben über seine Untertanen käme, oder aber bei einer Kapitulation seine Standesgenossen zu verraten. Diese Selbstzweifel und auch die Sorgen um seine als Nonne im Kloster Inzigkofen weilende Tochter Barbara raubten ihm den Schlaf und brachten den Tagesablauf durcheinander, so dass die Mahlzeiten zu unmöglichen Zeiten eingenommen werden mussten, woran sich auch die ganze Burgbesatzung zu halten hatte. Da Gottfried Werner alle Fenster auf der Burg hatte vergittern lassen, gelang es ihm nicht einmal, in seinem Jähzorn das Essen, mit dem er unzufrieden war, zum Fenster hinauszuwerfen. Jugendherberge Leibertingen-Wildenstein Die Burg Wildenstein diente schon vor dem Verkauf durch Prinzessin Theresa zu Fürstenberg im Jahr 1971 als Jugendherberge des Landesverbands Baden-Württemberg des DJH. Bereits 1958 war die Burg gut besucht. Heute gibt es in der Burg 151 Gästebetten. Nach den 1972 begonnenen Instandsetzungs- und Renovierungsarbeiten, die 4,7 Millionen DM kosteten, fand 1977 die 900-Jahr-Feier statt. 1989 wurden die Wandfresken im Speisesaal des Palas restauriert. 2005 begannen umfassende Arbeiten am Dachstuhl des Hauptgebäudes, da dieser in die Jahre gekommen und nicht wärmeökonomisch war. Die Planung erfolgte in enger Zusammenarbeit mit dem Landesdenkmalamt Baden-Württemberg. Zuletzt wurden im Jahr 2006 die Dächer umfangreich neu eingedeckt. Die Burg ist nur teilweise öffentlich zugänglich. Die Burgschänke, der Burghof, sowie der Zugang dorthin über die Brücken, der offene Teil der Vorburg und das Burgtor sind tagsüber frei begehbar. Alle anderen Räumlichkeiten sind Jugendherbergsgästen vorbehalten oder nur dem Personal zugänglich. Im Obergeschoss des Palas befindet sich die Wohnung der Herbergsleitung. Es besteht die Möglichkeit, über einen mit der Herbergsleitung kooperierenden Fremdenführer nach Voranmeldung eine Führung durch die Burg zu organisieren. In den Wintermonaten ist die Burg Wildenstein zeitweise komplett für Besucher geschlossen. Literatur Sybille Bock: Badische Burgen aus romantischer Sicht. (Auswahl aus den Beständen des Augustinermuseums Freiburg i. Br.). Rombach Verlag, Freiburg i. Br. 1993, ISBN 3-7930-0678-6. Darin speziell zu Wildenstein S. 156/157. Jens Florian Ebert: Die Festung Wildenstein im Dreißigjährigen Krieg und ihre listenreiche Einnahme durch die Soldaten Konrad Widerholts, Meßkircher Heimathefte Nr. 18 (2013–2014), herausgegeben von der Museumsgesellschaft Meßkirch e.V. S. 118–144. Gunter Haug, Heinrich Güntner: Burg Wildenstein über dem Tal der jungen Donau. DRW-Verlag, Leinfelden-Echterdingen 2001, ISBN 3-87181-464-4 Otto Piper: Burgenkunde, Bauwesen und Geschichte der Burgen. München 1912 (Nachdruck: Weltbild Verlag, Augsburg 1993, ISBN 3-89350-554-7) Günter Schmitt: Wildenstein und Leibertinger Ortsburg. In: Ders.: Burgenführer Schwäbische Alb. Band 3: Donautal. Wandern und entdecken zwischen Sigmaringen und Tuttlingen. Biberacher Verlagsdruckerei, Biberach an der Riß 1990, ISBN 3-924489-50-5, S. 181–200 Anton Schlude, Geschichte der Burgfestung Wildenstein im Donauthale. Nach authentischen Quellen bearbeitet (Vorwort: Pfarrer Joseph Staiert). Sigmaringen: Verlag H.W. Beck (C. Tappen), 1856. Nachdruck: Leibertingen, 1977. Weitere Literatur siehe Artikel Zimmerische Chronik. Weblinks Zu den Sigenotwandmalereien im Hauptgebäude der Burg Wildenstein. Fotos, Lageskizzen, literaturgeschichtlicher Hintergrund Burg Wildenstein auf der Seite burgenwelt.de Webpräsenz der Jugendherberge auf der Festung Anmerkungen Einzelnachweise Wildenstein Bauwerk in Leibertingen Erbaut im 13. Jahrhundert Denkmal des Monats (Baden-Württemberg) Wildenstein Wildenstein
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https://de.wikipedia.org/wiki/James%20Harrington
James Harrington
James Harrington (* 3. Januar 1611 in Upton, Northamptonshire; † 11. September 1677 in Westminster) war ein englischer Philosoph. In einigen Quellen wird der 7. Januar 1611 als Geburtsdatum angegeben. Harringtons Hauptwerk The Commonwealth of Oceana erschien 1656 in der kurzen nichtmonarchischen Zeitspanne zwischen der Hinrichtung des englischen Königs Karl I. und der Restauration durch dessen Sohn Karl II. Das Werk war dem autokratisch herrschenden Lordprotektor Oliver Cromwell gewidmet und stellte den Versuch dar, das bestehende Verfassungsvakuum mit dem Modell einer idealen Republik auszufüllen. In Form von insgesamt dreißig Verfassungsgesetzen (orders) entwarf Harrington eine Republiktheorie, die sich durch das Prinzip der Repräsentation, Ämterrotation und ein Zweikammersystem mit strikter Trennung von Beratung und Entscheidung auszeichnete. Ausgehend von der Feststellung, dass politische Macht auf wirtschaftlicher Macht gründet – ein Grundsatz, der später unter der Devise „power follows property“ (‚Macht folgt Eigentum‘) bekannt wurde –, strebte Harrington eine ausgeglichene Verteilung des englischen Grundbesitzes durch Änderungen im Erbrecht und in der Agrargesetzgebung an. In England selbst beeinflussten Harringtons Ideen die politische Kultur der liberalen Whigs. Ihre größte Wirkung entfaltete die politische Theorie Harringtons mit ihrem Konzept eines gewählten Zweikammerparlaments jedoch noch im 17. Jahrhundert auf die Verfassungen der englischen Eigentümerkolonien in Nordamerika und schließlich im 18. Jahrhundert auf die amerikanische Revolution und die Verfassung der Vereinigten Staaten. Geschichtliche Rahmenbedingungen Der Zeitabschnitt zwischen James Harringtons Geburt im Jahr 1611 und seinem Tod im Jahr 1677 bedeutete für England eine Phase tiefgreifender Umwälzungen. Der absolutistische Machtanspruch Jakobs I. und seines Sohnes Karl I. hatte einen Konflikt mit dem englischen Parlament heraufbeschworen, der 1642 in die englische Revolution (Erster und Zweiter Englischer Bürgerkrieg) mündete. Durch die militärischen Erfolge der New Model Army unter Führung Oliver Cromwells wurde der Konflikt 1648 endgültig zugunsten des Parlaments entschieden. Karl I. wurde vom Parlament zum Tode verurteilt und am 30. Januar 1649 enthauptet. Für einen kurzen Moment sah es so aus, als würde der Machtkampf zwischen Monarchie und Parlament, der einer der Gründe für die Revolution war, dauerhaft in eine Republik münden. Ab 1653 regierte Cromwell jedoch als „Lordprotektor von England, Schottland und Irland“ und berief Parlamente nach seinem Belieben. Den ihm angebotenen Königstitel hatte er zwar abgelehnt, gleichzeitig war er aber mit einer diktatorischen Machtfülle ausgestattet. Die Regierungszeit seines von ihm als Nachfolger bestimmten Sohnes Richard blieb dagegen nur eine kurze Episode. Bereits ein halbes Jahr nach dem Tode Oliver Cromwells im September 1658 kam es zum Sturz der Protektoratsherrschaft und wenig später zur Restauration der Monarchie unter Karl II., dem Sohn des hingerichteten Königs. Mit der Rückkehr Karls II. aus dem niederländischen Exil im Mai 1660 ging nach elf Jahren die bislang einzige nichtmonarchische Periode in der Geschichte Englands zu Ende. James Harrington (1611–1677) Vorbemerkung zur Quellenlage Über Harringtons Lebensumstände liegen nur wenige gesicherte Informationen vor. Seinem Biografen John Toland (1670–1722), der auch die erste Werkausgabe besorgte, lagen noch Briefe und Manuskripte aus dem von Harringtons Halbschwester Dorothy Bellingham verwahrten Nachlass vor. Diese Papiere gelten heute als verschollen. Die Rekonstruktion der Lebensumstände stützt sich deshalb auf vier Quellen: die Erinnerungen von Thomas Herbert (1606–1682), der wie Harrington Kammerherr Karls I. war und einen Bericht über die Zeit der Gefangenschaft des Königs anfertigte; einen knappen Lebensabriss von dem englischen Gelehrten John Aubrey (1626–1697), einem Freund Harringtons; eine auf Aubreys Materialien gestützte Skizze des englischen Antiquars und Historikers Anthony Wood (1632–1695); und die ausführliche Lebensbeschreibung, die John Toland 1700 erstmals veröffentlichte und die heute auch in Form eines Nachdrucks zur Verfügung steht. Da bekannt ist, dass Toland die Memoiren des Parlamentsabgeordneten Edmund Ludlow (1617–1692) in weiten Zügen umschrieb, bevor er sie veröffentlichte, ist bei seiner anekdotenreichen Harrington-Biografie große Vorsicht angeraten. Die Echtheit der bekannten Porträts wurde von dem prominenten Harrington-Forscher J. G. A. Pocock bestritten. Hier hat jedoch die Arbeit von Riklin für Klarheit gesorgt. Ursache für die Verwirrung ist die Tatsache, dass es im 17. Jahrhundert drei James Harringtons gab: den Autor der Oceana; seinen Cousin Sir James Harrington of Kelston (1607–1680), Mitglied der Parlamentskommission, die Karl I. verurteilte; sowie einen James Harrington, der am Christ Church College in Oxford lehrte (1664–1693). Riklin konnte überzeugend darlegen, dass es sich zumindest bei dreien der bekannten Porträts – dem Ölgemälde eines unbekannten Künstlers aus dem Jahr 1635, dem Stich von Wenzel Hollar, der auch das Titelblatt von Hobbes’ Leviathan stach, sowie einem Kupferstich von Michael van der Gucht – mit hoher Wahrscheinlichkeit um Porträts des Philosophen handelt. Biografische Skizze Herkunft, Studium und Bildungsreise James Harrington stammte aus einer traditionsreichen Familie des englischen Landadels. Seine Vorfahren lassen sich bis in das 12. Jahrhundert zurückverfolgen, als sie durch Heirat in den Besitz von Gütern in Exton in der kleinen Grafschaft Rutland gelangten. Insbesondere um die Wende vom 16. zum 17. Jahrhundert stand die Familie in einem engen Verhältnis zum englischen Königshaus. Sein Onkel Sir John Harrington, 1603 zum Baron of Exton erhoben, unterrichtete Elisabeth, die Tochter Jakobs I., die spätere Frau des Winterkönigs Friedrich V. von der Pfalz. Der Sohn seines Onkels war einer der Begleiter des früh verstorbenen Heinrich Friedrich, Prince of Wales. Harrington wurde am 3. Januar 1611 als ältester Sohn von Sir Sapcote Harrington und Jane, der Tochter von Sir William Samwell of Upton, Northamptonshire, auf dem mütterlichen Familienbesitz in Upton geboren. Über seine Jugendjahre ist nicht viel mehr bekannt, als dass er gemeinsam mit seinen sieben Geschwistern auf den Gütern seines Vaters in Rand, Lincolnshire aufwuchs. Im Jahr 1629 begann er ein Studium am Trinity College in Oxford, wo er ein Schüler des Theologen William Chillingworth war, dessen Einfluss auf Harringtons Denken sich aber nur schwer nachweisen lässt. Zwei Jahre später verließ er – ein für den erstgeborenen Sohn einer englischen Adelsfamilie nicht ungewöhnlicher Vorgang – Oxford ohne einen Abschluss und wechselte an die Londoner Juristenschule Middle Temple. Ob er dort studierte, ist unsicher. Bemerkenswert ist in diesem Zusammenhang allein die Tatsache, dass Harrington seine Abneigung gegen Juristen später mehrfach und ungewöhnlich deutlich äußerte. Nach dem Tode seines Vaters im Jahr 1632 verließ Harrington England und begann eine fünfjährige Bildungsreise durch Europa. In den Niederlanden trat er für einige Monate in das englische Expeditionskorps ein und verkehrte anschließend in Den Haag am Hof des abgesetzten Winterkönigs Friedrich V., wohl nicht zuletzt aufgrund der engen Bindung seiner Familie zu dessen Frau Elisabeth. Harrington begleitete Friedrich V. kurzzeitig auf dessen Reise nach Dänemark und reiste dann über Flandern nach Frankreich weiter und von dort über Italien nach Venedig. Die beiden letzten Stationen hinterließen den nachhaltigsten Eindruck bei ihm. Hier las er mit großer Begeisterung Gianottis und Contarinis Schriften über die Geschichte und Verfassung der Republik Venedig und kehrte schließlich – inspiriert von den Ideen Machiavellis und von nun an mit großem Interesse für die Geschichte der antiken Republiken – über Deutschland nach England zurück. Bürgerkrieg und Tod des Königs Harringtons Lebensumstände zwischen seiner Rückkehr nach England und dem Ende des Ersten Englischen Bürgerkriegs im Jahr 1647 liegen weitgehend im Dunkeln. Die von Toland wiedergegebene Version, Harrington habe Karl I. nach der Niederlage der Royalisten in der Entscheidungsschlacht von Naseby nach Schottland begleitet, wird von Pocock angezweifelt. Er mutmaßt dagegen, Harrington habe die erste Phase des Bürgerkriegs auf seinem Landgut in Rand verbracht. Ab Mai 1647 gehörte Harrington – gemeinsam mit Thomas Herbert, in dessen Bericht über die letzten zwei Lebensjahre Karls I. sein Name später mehrfach auftaucht – zu den vier Edelleuten, die Karl I. als Kammerherren zur Seite standen. Sein offenbar enges Verhältnis zum König führte jedoch dazu, dass er 1648 entweder schon während der Inhaftierung Karls in Hurst Castle oder unmittelbar vor dessen Überführung nach Windsor Castle aus dem Umfeld des Königs entfernt wurde. Sowohl Aubrey als auch Wood und Toland – der den beiden anderen möglicherweise in seiner Darstellung folgt – berichten, Harrington habe Karl I. bei seinem Gang zum Schafott begleitet; allein Herbert, der bei der Hinrichtung des Königs als Augenzeuge anwesend war, erwähnt Harrington in seiner Schilderung der Ereignisse nicht. Aubrey berichtet, Harrington habe ihm persönlich anvertraut, der Tod des Königs habe ihn in eine schwere Melancholie gestürzt. Pocock vermutet, dieser Umstand stelle möglicherweise einen Schlüssel für die tiefere Motivation Harringtons zur Abfassung der Oceana dar. Diese sei gewissermaßen die Aufarbeitung des Schicksals Karls I. und der damit verbundenen Frage, warum die Monarchie in England diese Entwicklung nehmen musste. Fest steht, dass Harrington sich in der Zeit nach der Hinrichtung Karls zunächst als Übersetzer der Aeneis Vergils versuchte, bis ihn sein Freund, der Unterhausabgeordnete Henry Neville (1620–1694), davon überzeugte, sich der Politik zuzuwenden. Während Aubrey davon ausgeht, dass Harrington von Neville zur Niederschrift der Oceana angeregt wurde, gab Harrington selbst in einem bei Toland überlieferten Vernehmungsprotokoll aus seiner späteren Haftzeit an, eine Gruppe von „nüchternen Männern“ („sober men“) habe ihn um die Abfassung des Werkes gebeten. Die heutige Forschung folgt der Rekonstruktion Pococks, der in den „sober men“ eine Gruppe von Cromwells Offizieren ausmacht, die sich in ihrer Unzufriedenheit über die Machtzusammenballung des Lordprotektors an Harrington wandten. Veröffentlichung der Oceana In der Vorrede zur Oceana berichtet Harrington, er habe zwei Jahre für die Niederschrift seines Hauptwerks gebraucht. Während der Entstehung des Werkes will er nie auch nur die Hälfte des Manuskripts zusammen gesehen haben (Riklin merkt hierzu spöttisch an: „Das zu glauben fällt dem Leser nicht schwer“), da er die Texte aus Angst vor der Zensur offensichtlich an getrennten Orten aufbewahrte. Diese Maßnahme führte jedoch nicht zum Erfolg, denn das Manuskript wurde kurz nach der Übergabe an drei unterschiedliche Drucker beschlagnahmt. Toland zufolge – der der einzige Gewährsmann für diese Episode ist – konnte Harrington seinen Text nur durch persönliche Intervention der Tochter Cromwells freibekommen. Cromwell selbst soll bei dieser Gelegenheit geäußert haben, was er mit dem Schwert erobert habe, lasse er sich nicht durch ein kleines Papiergeschoss wieder nehmen („what he got by the Sword he would not quit for a little paper Shot“). Zwischen September und November 1656 erschien The Commonwealth of Oceana kurz nacheinander in zwei Auflagen bei L. Chapman und D. Pakeman in London. Wie seine direkten Vorgänger Thomas More (Utopia, 1516) und Francis Bacon (The New Atlantis, 1627) entwarf Harrington in der Oceana das Modell eines idealen Sozialwesens und griff dabei auf den Kunstgriff der literarischen Verfremdung zurück. Dabei stellten die in der Oceana unter Fantasienamen auftauchenden Personen und Orte einen klar erkennbaren Gegenwartsbezug zum England Mitte der 1650er Jahre her. Cromwell heißt bei Harrington „Olphaus Megelator“ (großherziger Spender des Lichts), „Oceana“ steht für England, „Emporium“ für London und „Leviathan“ für Hobbes. Wenngleich es der Form nach den Utopien zuzuordnen ist, verstand sich Harringtons Republikmodell als konkreter Verfassungsvorschlag für das Cromwellsche England. Die Fiktionalität diente Harrington alleine dazu, das Denkbare zu zeigen – oder, wie Pocock schreibt: „Oceana is not a utopia so much as an occasione, a moment of revolutionary opportunity at which old historical forms have destroyed themselves and there is a chance to construct new forms immune from the contingencies of history (known as fortuna)“. Die Veröffentlichung der Oceana brachte Harrington große Aufmerksamkeit und heftige Kritik ein. So verbrachte er die folgenden dreieinhalb Jahre fast ausschließlich mit der Verteidigung und Ergänzung seines Werks. Zwischen 1656 und 1661 erschienen allein siebzehn politische Schriften von ihm, darunter The Prerogative of Popular Government (1658), The Art of Lawgiving (1659), The Rota or a Model of a Free State (1660) und A System of Politics (1661 geschrieben, 1700 posthum von Toland veröffentlicht). Humble Petition und Rota-Klub Besonders intensiv wurden Harringtons Ideen in dem kurzen Zeitabschnitt zwischen dem Tod Oliver Cromwells im September 1658 und der Rückkehr Karls II. zwei Jahre später diskutiert. In dem von Cromwells Sohn Richard zum Januar 1659 einberufenen Parlament saß eine Gruppe von rund fünfzig republikanisch – oder zumindest gegen das Protektorat – eingestellten Abgeordneten, darunter Harringtons Freund Henry Neville, der eine kleine Gruppe von dezidierten Harrington-Anhängern um sich geschart hatte. Als sich eine immer klarere Front gegen den weitaus schwächer als sein Vater agierenden Richard abzuzeichnen begann, sah Harrington seine Chance gekommen. Im Mai publizierte er mehrere Pamphlete, in denen er erklärte, dass die Zeit nun reif sei für die konkrete Umsetzung seiner in der Oceana entwickelten Ideen. Am 6. Juli 1659 brachte die Gruppe um Neville schließlich mit der Humble Petition of divers well affected Persons ein Verfassungskonzept ein, das auf den Ideen Harringtons basierte. Diesem Papier – einem Destillat aus der Oceana – war jedoch ebenso wenig Erfolg beschieden wie allen weiteren Pamphleten, die Harrington im weiteren Verlauf des Jahres in schneller Folge veröffentlichte. Pocock sieht die Ursache für das Scheitern der nur lose verbundenen republikanischen Parlamentsfraktion in deren Unfähigkeit, sich auf eine Alternative zu der 1649 abgeschafften zweiten Kammer, dem House of Lords, zu einigen. Harringtons Idee einer nicht mehr erbaristokratisch zusammengesetzten, sondern gewählten und dem Rotationsprinzip unterliegenden zweiten Kammer konnte sich nicht durchsetzen. Im Oktober 1659 gründeten die Harringtonianer die sogenannte Rota, eine Kaffeehaus-Runde, die sich jeden Abend in Miles's coffee-house am New Palace Yard in Westminster versammelte und bis in die Nacht über Politik und die ideale Form des Staates debattierte. Neben Harrington und seinen beiden Freunden Neville und Aubrey nahm eine Reihe zum Teil hochrangiger Persönlichkeiten aus Politik und Wirtschaft an den Diskussionen teil. Aubrey berichtet, das Kaffeehaus sei bis zum Zerbersten mit Gästen vollgestopft gewesen, weil so viele Schaulustige von den hitzigen Debatten angezogen wurden. Die Diskussionen selbst liefen jedes Mal nach einem festen Schema ab: Harrington und die übrigen prominenteren Teilnehmer der Runde saßen an einem großen ovalen Tisch in der Mitte des Raumes und diskutierten eine zu Beginn des Abends vorgestellte These. Am Ende jedes Treffens wurden die Ergebnisse dieser Beratung dann unter den übrigen Anwesenden zur Abstimmung gestellt. Diese Verfahrensweise entsprach der von Harrington in der Oceana ausgearbeiteten Grundidee einer Teilung von Beratung im Expertenkreis und Entscheidung durch die Allgemeinheit. Mit Beginn der Restauration wurden alle Spekulationen über das Harringtonsche Republikmodell obsolet, und so verschwand der Rota-Klub wieder von der Bildfläche. Ihren Niederschlag fanden die Kaffeehaus-Debatten in Harringtons Schrift The Rota or a Model of a Free State or equal Commonwealth, die er im Laufe des Jahres 1660 in London veröffentlichte. Im Kerker Am 28. Dezember 1661 wurde Harrington auf Befehl Karls II. verhaftet und zum Verhör in den Tower gebracht. Die Umstände, die zu seiner Verhaftung führten, sind bis heute unklar und haben der Forschung Anlass zu zahlreichen Spekulationen gegeben. Während Toland eine von Höflingen um William Poultney gesponnene Intrige als Ursache benennt, vermutet Pocock, Harringtons Verhaftung stehe im Zusammenhang mit dem sogenannten Derwentwater Plot. Grimble dagegen glaubt, Harrington sei zu Unrecht beschuldigt worden, in das republikanische Komplott um Oberst Salmon verwickelt gewesen zu sein, was durch die Beteiligung von engen Freunden Harringtons wie John Wildman gestützt wird. Denkbar wäre auch die von Howard ins Spiel gebrachte Möglichkeit einer Verwechslung mit Harringtons Cousin Sir James Harrington of Kelston, der immerhin an der Verurteilung Karls I. beteiligt war. Was auch immer der genaue Grund für Harringtons Inhaftierung gewesen sein mag – fest steht, dass Harrington während seiner Haftzeit, die er zunächst im Tower in London, dann auf Drake’s Island vor Plymouth und schließlich in Plymouth selbst verbrachte, schweren körperlichen und seelischen Schaden nahm. Seine Skorbut-Erkrankung, die er sich auf Drake’s Island zugezogen hatte, wurde von einem Arzt in Plymouth mit einer Mischung aus Guaiacum (einem seit dem 17. Jahrhundert gebräuchlichen Allheilmittel aus dem Harz des Guajak-Baumes) und Kaffee behandelt, die Harrington offensichtlich in großen Mengen zu sich nahm und die eine fatale Wirkung auf seinen Gesundheitszustand hatte. „Transform’d of Body and mind“ Als Harrington Ende des Jahres 1662 schließlich auf Betreiben seiner Schwestern aus der Haft entlassen wurde, war er ein gebrochener Mann. Die unmenschlichen Haftbedingungen, verbunden mit der Tortur, der er sich auf Anraten des Quacksalbers in Plymouth unterzogen hatte, hatten tiefe Spuren hinterlassen. Das, was Toland beschönigend als eine „Verwandlung von Körper und Geist“ („transform’d of Body and mind“) beschrieb, war eine schwere Wahrnehmungsstörung, die sich darin äußerte, dass Harrington von der fixen Idee besessen war, Fliegen und Bienen auszuatmen. Die nächsten Jahre verbrachte Harrington in Westminster. Seine späte Heirat mit seiner Jugendfreundin, der Tochter von Sir Marmaduke Dorrel aus Buckinghamshire, kommentiert Toland spöttisch, diese hätte wohl zu anderen Zeiten eine bessere Partie abgegeben („and might have made a more seasonable match than at this time“). Offenbar hatte sie Harrington in ihrer Jugend nicht viel Beachtung geschenkt und war nun dankbar, einen finanziell abgesicherten Lebensabend verleben zu dürfen. Vor seinem Tod litt Harrington zunehmend unter Gicht, verlor Gedächtnis und Sprache und war zum Ende hin gelähmt. Er starb am 11. September 1677 und wurde südlich des Altars der Londoner St. Margaret’s Church gleich neben Sir Walter Raleigh beigesetzt. Die Inschrift auf seiner Grabplatte schloss mit dem Spruch: „Nec virtus, nec animi dotes […] corruptione eximere queant corpus“ („Weder Tugend noch die Gaben des Geistes […] können den Körper vor dem Verfall bewahren“). Wie Nachforschungen Riklins ergaben, liegt diese aus schwarzem Marmor gearbeitete Platte heute beschädigt und von der Allgemeinheit vergessen unter dem Boden der Kirchenorgel. Harringtons politische Philosophie The Commonwealth of Oceana Überblick The Commonwealth of Oceana ist die einzige Schrift Harringtons, die heute noch breitere Beachtung findet. Harringtons Ehrgeiz bei ihrer Abfassung bestand in nichts Geringerem als darin, „die erste vollkommene Republik der Menschheitsgeschichte zu entwerfen“ (Riklin). Das in der Oceana entwickelte Republikmodell beruhte auf einer intensiven Auseinandersetzung mit der englischen und der antiken Geschichte und der daraus abgeleiteten Grundannahme, dass es genau zwei Fehler waren, unter denen der englische Staat litt: der mangelnden Ausgewogenheit in der Besitzverteilung (balance of property) und der nicht zufriedenstellenden Funktionsweise des parlamentarischen Systems. Die von Harrington vorgeschlagene Alternative war eine gewaltenteilige Mischverfassung, wobei die Macht im Staat bei den männlichen Bürgern mit mittlerem und größerem Eigentum lag. Vor dem Hintergrund der Hypothese, wonach politische Macht auf wirtschaftlicher Macht gründet (ein von Harrington postulierter Grundsatz, der später unter der Devise „power follows property“ bekannt wurde), strebte Harrington eine ausgeglichene Verteilung des Bodens zur allmählichen Erreichung eines Gleichgewichts der politischen Macht an. In Form von insgesamt dreißig Verordnungen (orders) legte er einen geschriebenen Verfassungsentwurf vor, der von der Staatsgliederung bis zu den Grundrechten und -pflichten der Bürger alle Bereiche des politischen Lebens abdeckte. Die in diesen Verfassungsgesetzen abgebildete Harringtonsche Idealrepublik nennt Riklin eine „zweigliedrige, besitzständische Aristodemokratie“. Gesetzesherrschaft: „Empire of Laws“ Grundlage der Harringtonschen Republik war das Prinzip der Gesetzesherrschaft, das er in die griffige Formel fasste: Ausgerichtet an dem Vorbild antiker Staatslenker wie Solon oder Lykurg ging Harrington davon aus, dass der ideale Staat derjenige ist, der mit möglichst wenigen Gesetzen auskommt. In der Konsequenz beschränkte er die Gesetzgebung der Oceana auf dreißig sogenannte orders – ein Begriff, mit dem er laut Riklin an die ordini italienischer Renaissance-Republiken anknüpfte. Macchiavelli und Gianotti folgend war Harrington davon überzeugt, dass gute Gesetze und Ordnungen das Verhalten der Menschen positiv beeinflussen könnten. Diese Vorstellung gipfelte in dem Ausspruch: Dementsprechend sind gut zwei Drittel der Oceana der Vorstellung, Erläuterung und Diskussion der dreißig Verfassungsgesetze gewidmet. Riklin bewertet diesen Verfassungsentwurf als „einen Meilenstein in der Ideen- und Verfassungsgeschichte“ und verweist zugleich auf die erstaunliche Tatsache, dass Harringtons Ideen zwar einen „markanten Beitrag zu den Ursprüngen der geschriebenen Verfassung“ geleistet haben, er dabei aber erstaunlicherweise in seinem noch heute dem Gewohnheitsrecht, dem common-law, verpflichteten Heimatland die geringste Wirkung entfaltet habe. „Balance of property“ Der Zusammenhang zwischen politischer und wirtschaftlicher Macht war in England schon vor dem Erscheinen von Harringtons Oceana diskutiert worden. In der zwischen 1647 und 1649 geführten Debatte um den nie in Kraft getretenen demokratischen Verfassungsentwurf Agreement of the People sprach sich der Oberst des Parlamentsheeres und Unterhausabgeordnete Henry Ireton gegen das allgemeine Männerwahlrecht aus, weil seiner Ansicht nach nur diejenigen Personen ein dauerhaftes Interesse an der Zukunft des Königreiches hätten, die Privateigentum besäßen. Während Ireton dabei lediglich darlegte, weshalb nur Eigentümer Zugang zur politischen Macht haben sollten, postulierte Harrington rund ein Jahrzehnt später, dass die konkrete Ausübung politischer Macht untrennbar an Privateigentum gebunden sei. Harringtons zentrale Aussage zum Zusammenhang zwischen politischer und wirtschaftlicher Macht lautet: Auf der Grundlage dieser Prämisse entwickelte Harrington ein Klassifikationsschema für Regierungsmodelle: Wenn ein einziger Mensch Besitzer des gesamten Grundbesitzes eines Staates oder zumindest des überwiegenden Teils davon sei, dann handele es sich bei der Staatsform um eine absolute Monarchie. Besitze dazu eine kleinere Gruppe wie etwa der Adel mehr Land als das übrige Volk, so handele es sich um eine gemischte Monarchie. Wenn dagegen der Besitz so verteilt sei, dass weder ein Einzelner noch eine kleine Gruppe das Übergewicht habe, dann sei die Staatsform eine Republik (commonwealth) (163–164). Ausgehend von der Beobachtung, dass sowohl dem Bürgerkrieg in England unter Karl I. als auch demjenigen im Römischen Reich zur Zeit Caesars Verschiebungen in den Eigentumsverhältnissen an Grund und Boden vorausgegangen waren, glaubte Harrington mit der von ihm geforderten balance of property das Heilmittel für die aktuelle Misere des englischen Staates gefunden zu haben. Es lag Harrington jedoch fern, das von ihm angestrebte Gleichgewicht in der politischen Macht durch eine abrupte Neuverteilung des Grundbesitzes herzustellen. Seine Lösung bestand vielmehr in einer allmählichen, sich über mehrere Jahrzehnte hinziehenden Umverteilung durch Änderungen im Erbrecht und in der Agrargesetzgebung. Eine Obergrenze für den Ertragswert der Ländereien jedes einzelnen Eigentümers sollte eine Zusammenballung des Grundbesitzes verhindern. Gleichzeitig schlug Harrington – der selber als ältester Sohn von der seit den Tagen der Normannischen Eroberung in England geltenden Bevorzugung der Erstgeborenen profitiert hatte – eine gleichmäßige Aufteilung des Besitzes auf alle Nachkommen vor, wobei für den Ertragswert jedes einzelnen Erbteils erneut eine Obergrenze gelten sollte (231). Die von der Bewegung der Levellers („Gleichmacher“) geforderte Zerstückelung allen Landbesitzes und anschließende Neuverteilung in gleichen Teilen an alle Bürger oder gar die völlige Umgestaltung Englands in eine kommunistische Agrarrepublik christlicher Prägung, wie sie von der radikalen Splittergruppe der Diggers („Buddler“) um Gerrard Winstanley noch gegen Ende der 1640er Jahre angestrebt wurde, lehnte Harrington als Anhänger des Leistungsprinzips dagegen ab. Smith fasst Harringtons Position zur Eigentumsfrage wie folgt zusammen: „Durch seine sozialistische Besitzverteilung hoffte er, republikanische Einrichtungen zu ermöglichen. Die extreme Form der Demokratie hoffte er dadurch verhindern zu können, dass er die politische Macht in den Händen des durch die Landwirtschaft beständigeren Teils des Gemeinwesens beließ.“ Zweikammersystem; Trennung von Beratung und Entscheidung Ein zentraler Bestandteil des Harringtonschen Republikmodells war das Zweikammersystem mit strikter Trennung von Beratung und Entscheidung. Harrington glaubte zwar an die generelle Fähigkeit des Menschen, seinen privaten Nutzen hinter das Gemeinwohl zurückzustellen, mit dem Zweikammerparlament versuchte er diese Gemeinwohlorientierung aber institutionell abzusichern. Die dahinterliegende Idee kleidete er bildlich in die sogenannte Kuchen-Parabel, bei der es um die Frage geht, wie zwei Mädchen einen Kuchen gerecht untereinander aufteilen können: Ausgehend von der Vorstellung, dass sich dieses Prinzip auf die Politik übertragen ließe (dividing and choosing, in the language of the commonwealth, is debating and resolving, 174), schlug Harrington ein zweigliedriges System vor, bei dem sich die erste Kammer auf die Beratung beschränkt, während die zweite Kammer – ohne weitere Beratungsmöglichkeit – entscheidet. Zu Abgeordneten der ersten Kammer, des Senats, sollten diejenigen gewählt werden, die sich aufgrund ihrer Weisheit vor allen anderen auszeichnen. Diese natürliche Aristokratie (natural aristocracy) sei von Gott über die gesamte Menschheit verstreut worden; ihre Aufgabe bestehe nicht darin, über das Volk zu herrschen, sondern es zu beraten (not to be commanders but councellors of the people, 173). Mit diesem Konzept der aus den Reihen des Volkes gewählten Besten ersetzte Harrington die bisherige Erbaristokratie durch eine Bildungsaristokratie. Wenn dieser Senat aber – so Harrington weiter – noch irgendeine andere Befugnis außer derjenigen der Beratung habe, könne der Republik daraus nur Schaden erwachsen. Während nämlich die Weisheit des Senats im Interesse des Gemeinwesens einzusetzen sei, seien die Interessen einer kleinen aristokratischen Gruppe nicht auf den Nutzen des Staates, sondern auf den eigenen Vorteil ausgerichtet. Aus diesem Grund müsse das Volk selbst die Macht der Entscheidung in den Händen halten: Da eine gleichzeitige Versammlung aller Bürger zum Zwecke von Abstimmungen in einem großen Land allein aus praktischen Gründen nicht denkbar sei, müsse die zweite Kammer, die sogenannte Volkskammer, ebenso wie die erste auf dem Prinzip der Repräsentation beruhen. Repräsentation und Wahlen Harringtons Idealrepublik Oceana ist ein reines Repräsentativsystem. Um jeder Stimme ein annähernd gleiches Gewicht zu geben, plante Harrington eine Neugliederung Englands in etwa gleich große Wahlbezirke. Er schlug eine auf dem Dezimalsystem basierende Aufteilung des Landes in 10.000 Gemeinden (parishes), 1.000 Hundertschaften (hundreds) und 50 Stämme (tribes) vor. Wahlberechtigt sollte jeder sein, der zugleich Eigentümer und Wehrpflichtiger war und das 30. Lebensjahr vollendet hatte. Daraus ergaben sich nach Harringtons Berechnung eine halbe Million Wahlberechtigte – was im Übrigen eine starke Ausweitung des aktiven Wahlrechts in England bedeutet hätte –, die in der ersten Wahlstufe die Gemeindeabgeordneten (deputies) in direkter Wahl bestimmen. In einem zweiten Wahlgang wählen diese Abgeordneten ihre Repräsentanten für beide Kammern des Parlaments. Aus den Reihen des Senats wird schließlich das ausführende Organ, der sogenannte Magistrat, gewählt. Durch ein striktes Rotationsprinzip ist die Amtsdauer auf ein Jahr (Gemeinde- und Volkskammerabgeordnete) bis drei Jahre (Senats- und Magistratsmitglieder) limitiert und jeweils ein Drittel der Senats- und Magistratsmitglieder wird jährlich ausgetauscht. Auf diese Weise befindet sich das gesamte Volk in ständiger Rotation, was nach Harringtons Vorstellung eine gerechte Beteiligung jedes Aktivbürgers an der Politik sicherstellt. Durch eine der Amtszeit entsprechende Pause vor der Wiederwahl sollte das Aufkommen einer Klasse von Berufspolitikern verhindert werden. Die Wahlen selbst sollten nach einem komplizierten System ablaufen, das Harrington nach venezianischem Vorbild gestaltet hatte und das er in der Schrift The Manner and Use of the Ballot genauer erklärte. Der Wahlvorgang (ballot) lief – vereinfachend dargestellt – in zwei Phasen ab: In der ersten Phase wurden durch das Ziehen von Kugeln aus dem Kreis der Wahlberechtigten die sogenannten „Nominatoren“ ausgelost. Das Losen war aus dem antiken Griechenland übernommen, wo es als besonders demokratisch galt. letztlich sollte die mit dem Verfahren verbundene Unsicherheit sicherstellen, dass keine Absprachen stattfanden und sich keine Fraktionen bildeten. Die Aufgabe der auf diese Weise ermittelten Nominatoren bestand darin, die späteren Kandidaten vorzuschlagen, die dann in einer zweiten Phase durch geheime Urnenwahl mit absoluter Mehrheit ermittelt wurden. Das Verfahren selbst, bei dem silberne, goldene und leinene Kugeln sowie verschiedene Schalen und Urnen zum Einsatz kamen, war äußerst komplex und unterlag in seinem Verlauf minutiösen Regelungen. Gerade diese komplizierte Wahlordnung war es, die in der zeitgenössischen öffentlichen Diskussion zu einem beliebten Angriffspunkt für Harringtons Kritiker wurde. Rezeptionsgeschichte Das zeitgenössische Echo in England Das zeitgenössische Echo auf die Oceana war vielstimmig und nicht selten von Schärfe oder gar Spott geprägt. Viele der in diesem Zusammenhang geführten Diskussionen bezogen sich auf Randprobleme und sind aus heutiger Sicht nur noch von geringem Interesse. Das Themenspektrum reichte von der Priesterordination im Urchristentum bis zur Verfassung Spartas. Zu Harringtons prominenteren zeitgenössischen Kritikern gehörte Matthew Wren (1629–1672), der Sohn des gleichnamigen Bischofs von Ely. Wren wies nach, dass das Konzept der balance of power – anders als von Harrington behauptet – weder in den Werken von Aristoteles noch in denen von Thukydides eine Rolle spielte. Genüsslich hielt er Harrington mit Bezug auf dessen Zweikammerkonzept und in Anknüpfung an ein Anacharsis-Zitat entgegen, kluge Männer würden die Angelegenheiten beraten und Dummköpfe sie entscheiden. Der Universalgelehrte Henry Stubbe (1632–1676) bemängelte die „historical defects“, die die Oceana trotz Harringtons breiter Kenntnis von antiker Geschichte immer noch enthielt. Marchamont Nedham (1620–1678), Herausgeber der Cromwells Regierung nahestehenden Zeitschrift Mercurius Politicus, beklagte den Drang, ständig neue Staatsmodelle zu diskutieren, wo gar keine Notwendigkeit bestünde. Der puritanische Pfarrer Richard Baxter (1615–1691) nahm das häufig geäußerte Argument auf, die Übertragung antiker Vorbilder auf England sei vollkommen ungeeignet und verschärfte es durch die Aussage, Venedig, das vor Papismus und Hurerei nur so strotze, könne am allerwenigsten als Vorbild für das englische Staatssystem herhalten. Auf die Spitze getrieben wurde die Debatte durch den Vorschlag, man möge Harrington doch auf die englische Karibikinsel Jamaika verschiffen, damit er dort sein commonwealth verwirklichen könne. Allein Thomas Hobbes, von dem Harringtons Freund John Aubrey behauptete, die Oceana sei gegen ihn gerichtet gewesen, blieb stumm. Oceana in Übersee: die Eigentümerkolonien in Nordamerika Der erste Zeitabschnitt, innerhalb dessen Harringtons Ideen konkreten Einfluss auf das politische Denken in Nordamerika ausübten, fällt in die Zeit der englischen Restauration, als zwischen 1660 und 1680 die nordamerikanischen Kolonien Carolina, New Jersey und Pennsylvania gegründet wurden. Diese sogenannten „Eigentümerkolonien“ hatte Karl II. an englische Adlige vergeben, bei denen er – wie etwa im Falle General George Moncks, der eine Schlüsselrolle bei der Wiedererrichtung der Monarchie gespielt hatte oder im Falle von William, Earl of Craven, der Karl mehr als 50.000 Pfund geliehen hatte – noch Dankesschulden aus der Zeit vor 1660 abzutragen hatte. Die erste dieser in Nordamerika gegründeten Eigentümerkolonien war Carolina, die Karl II. 1663 an acht seiner Anhänger aus der Exilzeit verlieh. Nach Abschluss der Gründungsphase verabschiedeten die Eigentümer 1670 eine Verfassung, die unter dem Namen Fundamental Constitutions bekannt wurde. Die Fundamental Constitutions zeichneten sich durch eine komplizierte Hierarchie aus, die die Bewohner Carolinas nach der Menge ihres jeweiligen Landeigentums klassifizierte. Das ausdrückliche Ziel dieser Regelung bestand darin, „daß durch die Aufteilung und Kultivierung des Landes das Gleichgewicht der Kräfte gewahrt bleibe“, um auf diese Weise die „Errichtung einer […] Demokratie zu vermeiden“. Das Harringtonsche Prinzip des power follows property als Grundlage für die Fundamental Constitutions ist klar erkennbar: Die exekutive Gewalt lag alleine bei den Grundbesitzern. Verlor ein Mann sein Land, dann verlor er auch seinen Titel. Doch auch weitere Ähnlichkeiten fallen auf. Die Legislative Carolinas lag in den Händen eines Zweikammerparlaments, dessen eine Kammer Gesetze vorschlug, während die andere sie verabschiedete. Für die Wahlen zum Parlament schrieb die Verfassung ausdrücklich ein geheimes Verfahren vor. Dafür wurde der durch Harringtons Einfluss stärkere Verbreitung findende Begriff ballot gebraucht, während in den Kolonien New Englands der Ausdruck papers verwendet wurde. Selbst die fantasievolle Namensgebung (palatine, landgrave, cazique) erinnert an Harrington. Allein die Zielsetzung, nämlich die Errichtung einer Demokratie verhindern zu wollen, stand Harringtons Vorstellungen diametral entgegen. Die Anleihen, die die Fundamental Constitutions bei Harrington nahmen, sind nicht sonderlich schwer zu erklären. Smith verweist auf den Umstand, dass drei der acht Eigentümer der Kolonie in direktem Bezug zu Harrington standen. William Craven war der Kommandant des Regiments, in dem Harrington während seines Aufenthalts in den Niederlanden im Jahr 1632 kurzzeitig diente, Sir George Carteret, einer der führenden Royalisten der 1640er Jahre, spielte eine prominente Rolle in der Untersuchung des Verschwörungsvorwurfs gegen Harrington und George Monk stand laut Smith unter dem Verdacht, Harringtons Ideen anzuhängen. letztlich waren die Fundamental Constitutions Carolinas aber zum Scheitern verurteilt. Nach Erhebungen der Siedler, die einen größeren Anteil an der Verwaltung der Kolonie forderten, wurden sie 1693 suspendiert und um 1700 schließlich völlig aufgehoben. Im Jahr 1719 wurde Carolina Kronkolonie, womit sich der erste Versuch einer annähernden Realisierung der Harringtonschen Ideen in Luft auflöste. Die zweite Kolonie, deren Verfassung eindeutige Anleihen bei Harrington nahm, war Pennsylvania. Dessen Gründer William Penn hatte Karl II. im Juni 1680 um die Verleihung von Land gebeten. Durch die Unterstützung des Königsbruders Jakob, in dessen Beraterkreis Penn beträchtlichen Einfluss besaß, wurde seinen Bitten stattgegeben, und so erhielt er im Februar 1681 eine königliche Charter, die ihm die Besitzrechte eines zwischen New York und Maryland gelegenen Gebiets zusprach. Diese Charter räumte Penn nicht nur bei der Verwirklichung seiner religiösen, sondern auch seiner politischen Vorstellungen weiten Spielraum ein. Die um 1681 von Penn geschaffene Verfassung für Pennsylvania mit dem Titel Frame of Government nennt Smith den „interessantesten und umfassendsten aller Versuche, Oceana in den Kolonien zu verwirklichen“. Die Verfassung sah mit Gouverneur, Rat und Abgeordnetenhaus drei Regierungsorgane vor. Die Mitglieder des Rates wurden durch geheime Wahlen ermittelt und unterlagen dem Rotationsprinzip. Jährlich sollten 24 der insgesamt 72 Ratsmitglieder ausscheiden und durch Neuwahlen ersetzt werden. Eine Wiederwahl sollte frühestens nach einer einjährigen Pause möglich sein. Das passive Wahlrecht war an den Besitz von Eigentum gebunden, wobei der Gesamtbesitz eines einzelnen Grundbesitzers – ganz im Sinne der Harringtonschen balance of property – durch eine quotierte Höchstgrenze nach oben begrenzt war. Da nicht bekannt ist, ob Penn selbst ein Exemplar der Oceana besaß, lässt sich nicht abschließend klären, ob Harringtons Ideen auf direkte Weise oder durch die Vermittlung Dritter auf den Schöpfer der Verfassung Pennsylvanias wirkten. Dessen ungeachtet treten die Übereinstimmungen der politischen Ideen Penns und Harringtons so deutlich hervor, dass eine Vorbildfunktion der Oceana für die Verfassung Pennsylvanias von 1682 nicht bestritten werden kann. In der Praxis bewährten sich die Regelungen allerdings nicht. Schon bald nach dem Inkrafttreten der Verfassung kam es zu zahlreichen Änderungen, wobei die meisten der bei Harrington entlehnten Regelungen zu den ersten gehörten, die aus dem Verfassungstext getilgt wurden. Alle im 17. Jahrhundert unternommenen Versuche, die Harringtonschen Ideen in den nordamerikanischen Kolonien in die Praxis umzusetzen, waren damit gescheitert. Adams’ Harrington-Rezeption und die Verfassungsdiskussion in den USA Zum zweiten Mal wurde Harringtons Einfluss in Nordamerika während der Revolution im 18. Jahrhundert spürbar. Die wichtigste Rolle bei der Verbreitung der Harringtonschen Ideen spielte dabei der spätere zweite Präsident der Vereinigten Staaten John Adams, der von 1774 bis 1778 Mitglied des Kontinentalkongresses war und die amerikanische Unabhängigkeit in jenen Jahren entscheidend mitgestaltete. Im Mai 1776 fasste der Kontinentalkongress den Beschluss, dass die Dreizehn Kolonien neue Verfassungen ausarbeiten sollten, und richtete eine Bitte an Adams, er möge zu diesem Zweck eine Empfehlung ausarbeiten. Daraufhin verfasste Adams seine Schrift Thoughts on Government applicable to the Present State of the American Colonies, in der er ein in weiten Zügen eng an die Oceana angelehntes Republikmodell entwarf. Adams' Verfassung basierte auf der Grundidee einer Herrschaft der Gesetze („Empire of Laws“), was durch eine Trennung der Legislative in zwei Kammern, Gewaltentrennung, Rotation und indirekte Wahlen zur Besetzung der zweiten Kammer sichergestellt werden sollte. Als Vorbild für dieses System taucht in den Thoughts on Government neben anderen Namen auch derjenige Harringtons auf. Im September 1779 beauftragten die Abgeordneten von Massachusetts Adams mit der Ausarbeitung eines Verfassungsentwurfs. Adams wich dabei von der indirekten Wahl der zweiten Kammer ab, blieb seinem System der Checks and Balances – der gegenseitigen Kontrolle der Verfassungsorgane – aber treu. Das aktive und passive Wahlrecht war an eine Qualifikation durch Eigentum gebunden. Das Dokument schloss mit dem Satz „to the end it may be a government of laws and not of men“. Adams’ Entwurf erinnerte die Abgeordneten dabei offensichtlich so stark an Harrington, dass sie sich im Verlauf der Diskussion über den endgültigen Text sogar zu dem Vorschlag verstiegen, den Begriff „Commonwealth of Massachusetts“ durch „Commonwealth of Oceana“ zu ersetzen. Diese Idee einer Umbenennung von Massachusetts in Oceana fand letztlich jedoch keine Mehrheit. Smith wirft in diesem Zusammenhang die berechtigte Frage auf, ob die Initiative überhaupt ernst gemeint war und Adams nicht vielleicht eher mit dem Vorwurf konfrontiert werden sollte, bei Harrington abgeschrieben zu haben. Weitere Belege für Harringtons Einfluss auf Adams finden sich in dessen 1787 erschienener Schrift Defence of the Constitutions of the United States, in der Adams sein Konzept des amerikanischen Zweikammersystems gegen wachsende Angriffe aus Europa verteidigte. In einem Einkammersystem, so Adams, würde die zum Führen geborene Elite eines Landes schnell zur Tyrannei neigen. Die große Kunst bei der Gesetzgebung bestehe darin, dies durch ein System des Gleichgewichts zwischen Armen und Reichen zu verhindern. In seiner Argumentation griff er dabei auf Harringtons Idee einer natürlichen Aristokratie zurück und folgte damit einer der Grundannahmen, auf denen auch das Zweikammersystem Oceanas basierte. Montesquieu, die Whigs und Jaucourts Encyclopédie-Artikel Erste Belege für die Harrington-Rezeption in Frankreich werden zu Beginn des 18. Jahrhunderts fassbar. John Tolands 1700 in England veröffentlichte Ausgabe der Werke Harringtons wurde sofort nach ihrem Erscheinen interessiert zur Kenntnis genommen und in Literaturjournalen wie Les Nouvelles de la République des Lettres besprochen. Dies wiederholte sich, als Harringtons Werke 1737 in England neu aufgelegt wurden; im selben Jahr erschien in Frankreich eine Übersetzung des Commonwealth of Oceana unter dem Titel Les Oceana. Harringtons Einfluss auf das politische Denken in Frankreich geschah jedoch nicht allein auf direktem Wege. Der wahrscheinlich wichtigste Übermittler der Harringtonschen Ideen war Thomas Gordon (1691?–1750), der in England zusammen mit John Trenchard (1662–1723) die zunächst wöchentlich erscheinende und später in Buchform mehrfach neu aufgelegte Reihe Independent Whig herausgab und zwischen 1720 und 1723 – wieder gemeinsam mit Trenchard, jedoch unter dem gemeinsamen Pseudonym des römischen Staatsmanns Cato – die berühmten Cato's Letters, eine Reihe von 144 Pamphleten, veröffentlichte. Gordons Schriften gehörten zu den wichtigsten englischen Quellen für Montesquieus erstmals 1748 erschienene geschichtsphilosophische und staatstheoretische Schrift De l'esprit des lois (dt. Vom Geist der Gesetze). Vieles spricht dafür, dass Montesquieu bereits während seines Aufenthalts in England gegen Ende der 1720er Jahre auf die Pamphlete der liberalen Whig-Politiker aufmerksam geworden war und von diesen beeinflusst wurde. Sein Urteil über Harrington selbst fiel jedoch eher kritisch aus. Im XI. Buch seines Esprit des lois, dem Kapitel über die englische Verfassung, bemängelt er unter Bezugnahme auf einen bei Herodot überlieferten Ausspruch des persischen Feldherren Megabazos, Harrington habe die politische Freiheit in England vor Augen gehabt und sie dennoch in einem imaginären Nirgendwo gesucht: Inwieweit dieses Urteil Montesquieus wiederum rezipiert wurde, zeigt sich an dem Eintrag in der Encyclopédie Diderots, der sich mit Harrington befasst. Untergebracht sind die vom Chevalier de Jaucourt verfassten Ausführungen unter dem Lemma „Rutland“ im 1765 erstmals erschienenen 14. Band der Encyclopédie. Rund zehn Zeilen des Textes beziehen sich auf Harringtons Heimatregion, die Grafschaft Rutlandshire in Mittelengland, während der Rest des sich über insgesamt fünf Spalten erstreckenden Artikels detaillierte Informationen über Harrington, den Publikationskontext sowie den Inhalt der Oceana enthält. Was die Bewertung des Werkes angeht, so bescheinigt Jaucourt der Oceana, sie sei „äußerst renommiert in England“, zitiert dann die genannte Passage aus dem Esprit des lois und kommt abschließend zu dem Urteil, Harrington sei weniger für seinen Schreibstil als für die „Exzellenz des Stoffes“ zu loben. Angesichts ihres Verbreitungsgrades ist davon auszugehen, dass die Encyclopédie eine nicht geringe Rolle für die Rezeption der Harringtonschen Ideen in Frankreich gespielt hat. Harrington und die Französische Revolution Der genaue Einfluss Harringtons auf die Politiker und Staatstheoretiker der Französischen Revolution lässt sich nur schwer abschätzen. Die Aufmerksamkeit, die die amerikanische Unabhängigkeitsbewegung in Frankreich auf sich zog, war groß. Somit können die Harringtonschen Ideen auch über den Umweg der Vereinigten Staaten nach Europa zurückgelangt sein. Es gibt jedoch auch eine Reihe von Indizien für einen direkten Einfluss Harringtons auf das politische Denken im revolutionären Frankreich. Im Jahr 1794 etwa veröffentlichte der Direktor der Französischen Nationalbibliothek einen Artikel im Moniteur, in dem er eine Edition der Oceana forderte. Schon ein Jahr später wurde sein Wunsch teilweise erfüllt, als eine dreibändige französischsprachige Ausgabe von Harringtons Werken und ein Band mit politischen Aphorismen erschienen. In seiner Vorrede ging deren Herausgeber explizit auf den Einfluss ein, den Harrington auf Adams als einen der Vordenker der amerikanischen Revolution gehabt hatte, und gestand, gerade dies habe seine Neugier geweckt. Ein weiterer Grund für Harringtons Popularität war eine Passage in der Oceana, in der er die zukünftige Weltherrschaft Frankreichs prophezeite: Am 13. März 1796 verwies Goupil-Prefeln, Mitglied des Ältestenrates, in einem Brief an den Moniteur auf diese Passage und rief die Zeitungsleser zur Harrington-Lektüre auf. Montesquieu, so kritisierte er dabei, habe Harrington offensichtlich einer allzu leichtfertigen Beurteilung unterzogen, denn schließlich habe Harrington Adams beeinflusst, der zu den Begründern der amerikanischen Freiheit gehöre. Die Motive für das verstärkte Interesse an Harrington lagen dabei auf der Hand. Ebenso wie zuvor in England und in Nordamerika stellte sich die konkrete Frage nach der Ausgestaltung des parlamentarischen Systems, nach dem Wahlmodus und nicht zuletzt nach Strategien, wie eine Konzentration der Macht in den Händen Weniger verhindert werden konnte. Aus diesem Grund wurde immer wieder versucht, eine Verknüpfung zwischen der englischen Revolution und der aktuellen Situation in Frankreich herzustellen. Der Übersetzer der französischen Harrington-Ausgabe schrieb in seinem Vorwort: In seinem 1799 publizierten Essai sur les causes qui, en 1649, amenèrent en Angleterre l’établissement de la république (dt. Versuch über die Gründe, die 1649 zur Errichtung der Republik in England geführt haben) schloss sich der Präsident des Rates der Fünfhundert Antoine Boulay de la Meurthe dieser Meinung an und verwies rückblickend darauf, er selbst habe sich bereits einige Jahre zuvor intensiv mit der englischen Revolution auseinandergesetzt, um die Ereignisse in seinem eigenen Land besser begreifen zu können. Die Frage nach einem konkreten Einfluss Harringtons auf Emmanuel Joseph Sieyès als dem bedeutendsten politischen Theoretiker seiner Zeit ist nur schwer zu beantworten. Ebenso wie Montesquieu war Sieyès stolz auf seine Originalität und gab nur wenig über seine Quellen preis. Immerhin ist seiner Schrift Qu’est-ce que le Tiers État? (dt. Was ist der Dritte Stand?) zu entnehmen, dass er mit dem englischen Herrschaftssystem vertraut war. Darüber hinaus finden sich im Text Ähnlichkeiten in der Argumentationsweise und in der Wortwahl, die eine Harrington-Lektüre nahelegen. Insbesondere die von Sieyès vorangetriebene Aufteilung Frankreichs in annähernd gleich große Verwaltungseinheiten, die heutigen Départements, erinnerte schon seine Zeitgenossen stark an Harringtons Idee einer Neuordnung der englischen Wahlkreise. Solange der Ende der 1960er Jahre ins französische Nationalarchiv eingelieferte Nachlass Sieyès' jedoch nicht aufgearbeitet ist, bleiben alle Versuche, einen direkten Bezug zwischen Harrington und Sieyès herzustellen, weitestgehend spekulativ. Abschließend bleibt der Hinweis auf ein Dokument, das Liljegren zu Beginn des 20. Jahrhunderts in der Sammlung französischer Revolutionspamphlete des Britischen Museums in London fand. Es handelt sich dabei um einen Verfassungsentwurf des Franzosen Théodore Lesueur (auch: Le Sueur), über dessen Lebensumstände so gut wie nichts bekannt ist. Das Dokument trägt den Titel Idée sur l’espèce de gouvernement populaire und wurde von Lesueur am 25. September 1792 bei der Französischen Nationalversammlung eingereicht. Der Text selbst weist eine evidente Übereinstimmung mit der Oceana auf, wie Liljegren in einer direkten Gegenüberstellung zeigen kann. Inwieweit dieser Versuch einer direkten Umsetzung der Harringtonschen Vorstellungen allerdings wahrgenommen wurde, bleibt offen. Eine Reaktion der Nationalversammlung auf Leseurs Vorschlag ist nicht überliefert. Schriften (Auswahl) The commonwealth of Oceana (1656) The Prerogative of Popular Government (1658) The Art of Lawgiving (1659) The Rota or a Model of a Free State or equal Commonwealth (1660) A System of Politics (1661 geschrieben, 1700 posthum von John Toland publiziert) Literatur Textausgaben The political works of James Harrington, edited with an introduction by J. G. A. Pocock, Cambridge [u. a.] 1977, ISBN 0-521-21161-1 – Ausgabe der politischen Schriften Harringtons. Auszüge daraus sind als The commonwealth of Oceana and A System of Politics in einer Neuauflage Cambridge 1992 verfügbar (ISBN 0-521-41189-0). James Harrington’s Oceana, edited with notes by Sten Bodvar Liljegren, Lund/Heidelberg 1924 – Bislang einzige kritische Ausgabe der Oceana. Quellen Louis de Jaucourt: Artikel „Rutland“, in: Encyclopédie, Band 14: Reggio–Semyda (Dezember 1765), S. 446, 447 und 448. Thomas Herbert: Memoirs of the Two last Years of the Reign of that unparallell’d Prince, of ever Blessed Memory, King Charles I, London 1702. John Toland: Exact Account of the life of James Harrington, kommentierter Nachdruck der 3. Auflage von 1747 (textgleich mit der Erstausgabe London 1700), in: Luc Borot (Hrsg.): James Harrington and the notion of Commonwealth: with a critical edition of John Toland’s Life …, Montpellier 1998, ISBN 2-84269-238-1, S. 23–80. John Aubrey: Brief lives, New edition by Richard Barber, Woodbridge [u. a.] 2004, ISBN 1-84383-112-0, S. 127–130. Anthony a Wood: Athenæ Oxonienses: An exact history of all the writers and bishops who have had their education in the university of Oxford (1813–1820), edited by Philip Bliss, Reprografischer Nachdruck der Ausgabe London 1815–, Band 3 (1817), Hildesheim 1969, S. 1115–1126. Richard Baxter: A holy commonwealth. Or, political aphorisms, opening the true principles of government, London 1659 Matthew Wren: Considerations upon Mr Harrington’s Commonwealth of Oceana, restrained to the first part of the Preliminaries, London 1657 Darstellungen Rachel Hammersley: James Harrington. An Intellectual Biography, Oxford: Oxford University Press 2019, ISBN 978-0-19-880985-2. Christian Dahlke: Die Bewegung des Herzens und des Blutes als Körpermetaphern in James Harrington „Oceana“ von 1656. In: Christian Hoffstadt u. a. (Hrsg.): Was bewegt uns? Menschen im Spannungsfeld zwischen Mobilität und Beschleunigung. Projekt, Bochum/Freiburg 2010, S. 197–213, ISBN 978-3-89733-225-6 Ulf Christoph Hayduk: Hopeful Politics: The Interregnum Utopias, PhD Thesis, University of Sydney, 2005, online abrufbar über das Australian Digital Theses Program – Hayduk stellt mit Winstanleys The Law of Freedom, Harringtons Oceana und Hobbes’ Leviathan drei während des Cromwellschen Interregnums entstandene Werke einander gegenüber. Alois Riklin: Die Republik von James Harrington 1656, Bern 1999, ISBN 3-7272-9617-8 – Äußerst kenntnisreich und zugleich verständlich geschrieben bietet der handliche Band von Riklin eine unverzichtbare Einführung in das Thema. In den Kapiteln zur politischen Philosophie erleichtern Verweise auf die Textausgabe von Pocock (Cambridge 1977) die Orientierung für diejenigen Leser, die Harringtons Werk auch im englischsprachigen Original studieren möchten. John Greville Agard Pocock: Introduction, in: The political works of James Harrington, Cambridge [u. a.] 1977, ISBN 0-521-21161-1, S. xi–xviii, 1–152 – Insbesondere Pococks Ausführungen zur Harrington-Rezeption in England selbst stellen eine wichtige Ergänzung zu den Arbeiten Smiths und Liljegrens dar. Michael Downs: James Harrington. Boston 1977. Günther Nonnenmacher: Theorie und Geschichte: Studien zu den politischen Ideen von James Harrington, Meisenheim/Glan 1977, ISBN 3-445-01461-2 Sten Bodvar Liljegren: A French draft constitution of 1792: modelled on James Harrington’s Oceana, Lund 1932. Hugh Francis Russell Smith: Harrington and his Oceana: a study of a 17th century utopia and its influence in America, Cambridge 1914 – Insbesondere zum Einfluss Harringtons auf das politische Denken in Nordamerika immer noch grundlegend. Weblinks Werke von James Harrington im Project Gutenberg Samuel Pepys erwähnt Harrington und den Rota-Kaffeehausklub mehrfach in seinem Tagebuch. Die entsprechenden Einträge sind online abrufbar in The Diary of Samuel Pepys: Tuesday 10 January 1659/60, Saturday 14 January 1659/60, Tuesday 17 January 1659/60 und Monday 20 February 1659/60. Alois Riklin: Montesquieu’s So-Called ‘Separation of Powers’ in the Context of the History of Ideas. Diskussionspapier aus der Reihe des Collegium Budapest Institute for Advanced Study (September 2000), (PDF; 97 kB). Anmerkungen Politischer Philosoph Philosoph der Frühen Neuzeit Engländer Geboren 1611 Gestorben 1677 Mann
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https://de.wikipedia.org/wiki/Rathaus%20M%C3%BCnster
Rathaus Münster
Das historische Rathaus von Münster, Prinzipalmarkt 10, ist neben dem St.-Paulus-Dom eines der Wahrzeichen der Stadt. Bekanntheit erlangte Münsters Rathaus während der Verhandlungen zum Westfälischen Frieden in Münster und Osnabrück, der den Dreißigjährigen Krieg in Europa beendete. Zugleich ist es der Geburtsort der modernen Niederlande, da mit dem Frieden von Münster während des Kongresses am 15. Mai 1648 auch der 80-jährige Spanisch-Niederländische Krieg beendet wurde. Gleichzeitig mit den Niederlanden schied auch die Schweiz aus dem Heiligen Römischen Reich aus. Bis zur weitgehenden Zerstörung des ursprünglichen Bauwerkes im Zweiten Weltkrieg galt es und gilt erneut seit dem Wiederaufbau als eines der bedeutendsten profanen Baudenkmäler der Gotik. Das Gebäude wird immer noch gelegentlich für Ratssitzungen genutzt. Der Amtssitz des Oberbürgermeisters und die Stadtverwaltung sind jedoch seit 1907 in einem Stadthaus genannten Gebäudekomplex auf angrenzenden Grundstücken an der Klemensstraße 10, der Heinrich-Brünig-Straße und der Syndikatsgasse untergebracht. Am 15. April 2015 würdigte die Europäische Kommission die Schlüsselrolle des Westfälischen Friedens für das vereinte Europa, indem sie die Rathäuser in Münster und Osnabrück als „Stätten des Westfälischen Friedens“ mit dem Europäischen Kulturerbe-Siegel auszeichnete. Das Rathaus ist eine der Hauptattraktionen für Touristen, die Münster besuchen. Im Jahr 2012 wurden beispielsweise rund 120.000 Besucher gezählt. Geschichte Da sämtliche Dokumente des Archivs der Stadt mit ihrer Geschichte während der Herrschaft der Täufer in den Jahren 1534 und 1535 vernichtet wurden, beruhen alle Informationen bis in die 1530er-Jahre auf Dokumenten, die außerhalb der Stadt beziehungsweise des Stadtarchivs aufbewahrt wurden. Dementsprechend sind die geschichtlichen Abschnitte bis in die Zeit der 1530er-Jahre nicht exakt datierbar. Entstehung Als Münster um das Jahr 1170 das Stadtrecht erhielt, benötigten die Ratsmitglieder des Stadtrates, der im Mittelalter exklusiv durch Erbmänner besetzt war, die als Richter und Schöffen fungierten, einen Ort, an dem Versammlungen und Gerichte abgehalten werden konnten. Es entstand ein erstes einfaches Gebäude direkt gegenüber dem Michaelistor zur Domburg und dem bischöflichen Dombereich in der Nähe des Prinzipalmarktes. Dieser wurde bereits einige Jahre zuvor gegen Mitte des 12. Jahrhunderts angelegt. Bei diesem ersten Bau eines Rathauses handelte es sich um einen einfachen und schnell errichteten Fachwerkbau. Es ist davon auszugehen, dass er um 1170 oder kurz danach errichtet wurde, um den Ratsmitgliedern möglichst kurzfristig ein eigenes Versammlungsgebäude zur Verfügung stellen zu können. Bereits bei der ersten Parzellierung des Prinzipalmarktes wurde vermutlich – damals im Einvernehmen mit dem Bischof als Stadt- und Landesherrn – der Platz für ein Rathaus an diesem Ort freigehalten, da auf alten Katasterkarten an der Position des Rathauses eine freie Fläche mit doppelter Parzellenbreite der übrigen Gebäude vermerkt ist. Die Wahl dieser Position zeugt von einem hohen Selbstbewusstsein der Bürger von Münster, die durch ihren ebenso exklusiven wie reichen Stadtadel, die sog. Erbmänner, vertreten wurden, da sie damit das Rathaus in direkter Sichtlinie zum St.-Paulus-Dom und dem bischöflichen Palais bauten, um ihrem Streben nach Freiheit und dem Machtanspruch auf Selbstverwaltung gegenüber dem Bischof Nachdruck zu verleihen. Für den Bischof selbst kam die später sehr prachtvolle Ausgestaltung des Rathauses an diesem Ort jedoch eher einer offenen Provokation gleich, musste er doch auf dem Weg von seinem Palais zum Dom gezwungenermaßen auf das Rathaus der Bürger schauen. Zusätzlich hervorgehoben werden sollte das Selbstbewusstsein der reichen Hansestadt gegenüber ihrem bischöflichen Landesherren gegen Ende des 14. Jahrhunderts, als das Rathaus auch noch mit einer prachtvollen Fassade geschmückt werden sollte. Dieser anfängliche Fachwerkbau stand noch mit einem Abstand von circa 12 m zur Marktstraße des Prinzipalmarkts und wurde wahrscheinlich bereits vor dem Jahr 1200 durch einen massiven Steinbau mit den Abmessungen 14,50 m × 18 m ersetzt. Für das Jahr 1250 ist dieser Bau dann das erste Mal als Versammlungsort der Schöffen bezeugt. Dessen unterer Teil, die Ratskammer, ist auch als Friedenssaal bekannt. Zu Beginn des 14. Jahrhunderts wurde vor dem bereits existierenden Bau ein weiteres Gebäude direkt bis an den Prinzipalmarkt heran gebaut, um der Bürgerschaft einen Ort für Versammlungen verfügbar zu machen. Die Erweiterung zur Vorderseite hin kann auf das weiter gestiegene Selbstbewusstsein der Bürger zurückgeführt werden, die sich mit ihrem Rathaus nicht mehr in der Häuserzeile des Prinzipalmarktes „verstecken“ wollten. Diese Bürgerhalle entstand vermutlich um das Jahr 1320, als u. a. Johann III. von Deckenbrock Bürgermeister war. Gegen Ende des 14. Jahrhunderts, vermutlich um 1395, wurde die Halle durch einen 4 m langen Vorbau erweitert, der in den Markt hineinragt. Getragen wurde und wird dieser Vorbau durch fünf Rundpfeiler direkt am Straßenrand. Er ist Teil des charakteristischen Bogengangs des Prinzipalmarktes. Seine Fassade wurde mit kostbaren Verzierungen versehen, insbesondere dem sogenannten Schaugiebel. 16. Jahrhundert bis Zweiter Weltkrieg In den Jahren 1576 und 1577 wurde das Dach des hinteren Gebäudeteils über der Ratskammer und der darüberliegenden Rüstkammer umgebaut. Das ursprüngliche Satteldach in Nord-Süd-Richtung wurde abgetragen und durch ein neues Giebeldach in Ost-West-Richtung wie das des vorderen Gebäudeteils ersetzt. Die beim Umbau beteiligten Handwerksmeister sind durch ihre Meisterzeichen in blauen Klinkersteinen im Ostgiebel zu erkennen. Zusätzlich entstand zum östlich des Rathauses errichteten „Gruthaus“ ein Anbau, der auch als „kleine Ratskammer“, „Stoveken“ („Stübchen“, ab 1602) oder „Winterratskammer“ (1773/76) bezeichnet wurde und aus zwei Etagen bestand. Die Bezeichnung als Winterratskammer verdankte es dem Problem der Beheizung der Ratskammer: Während die in der Nähe des Kamins sitzenden Ratsmitglieder schweißgebadet waren, froren die am anderen Ende des Raumes befindlichen Mitglieder. In den Wintermonaten wurden Ratssitzungen daher oft in die kleine Ratskammer verlegt. Dieser 1892 um eine dritte Etage erweiterte Anbau existiert seit der Zerstörung im Zweiten Weltkrieg und dem Wiederaufbau in den 1950er-Jahren allerdings nicht mehr. Er wurde durch einen neuen Treppenturm ersetzt. Berühmtheit erlangte das Rathaus neben dem Osnabrücker Rathaus während des Westfälischen Friedenskongresses zwischen 1643 und 1648, der den Dreißigjährigen Krieg in Europa beendete. In Vorbereitung auf den Kongress wurde die Stadt für neutral erklärt. Am 27. Mai 1643 verlas der kaiserliche Reichshofrat Johann Krane in der Ratskammer die Neutralitätserklärung des Kaisers, ein Vertreter des Fürstbischofs verlas eine entsprechende Erklärung. Sie entband die Stadt für die Zeit der Verhandlungen von ihren Pflichten dem Reich und dem Hochstift gegenüber. Den nach und nach zum Kongress angereisten über 150 Gesandten wurde in der Ratskammer jeweils ein städtischer Empfang bereitet. Dabei wurden sie mit einem Schluck aus einem Pokal, dem sogenannten „Goldenen Hahn“, begrüßt. Eigens zum Anlass der Verhandlungen erhielt der Maler und Künstler Everhard Alerdinck den Auftrag, das Rathaus zu verschönern. Dazu bemalte er den Giebel 1646 mit Ölfarbe neu und „illuminierte“ ihn mit Bleiweiß. Seit dem 18. Jahrhundert setzte sich für die Ratskammer die heute gebräuchliche Bezeichnung Friedenssaal durch. Der Westfälische Friede wurde jedoch weder im Rathaus verhandelt noch ratifiziert. Allenfalls der Friede von Münster vom 15. Mai 1648 wurde in der Ratskammer durch den Austausch der unterzeichneten Verträge beschworen. Er gilt als Geburtsstunde der Niederlande, nachdem Spanien und die sieben niederländischen Provinzen nach dem Achtzigjährigen Krieg Frieden schlossen und den Niederlanden ihre Unabhängigkeit gewährt wurde. Ansonsten diente das Rathaus den Gesandten auch zu regelmäßigen Treffen außerhalb der Verhandlungen in den einzelnen Quartieren. Gegen Ende der 1850er Jahre entstand der Wunsch nach einem städtischen Festsaal im Obergeschoss des Rathauses. Dazu sollte der Dachraum miteinbezogen werden, der bis dahin weitestgehend ungenutzt war. Am 29. April 1858 entschlossen sich die Stadtverordneten daraufhin zunächst nur eine Skizze und einen Kostenvoranschlag einzuholen. Der Umbau wurde am 12. Dezember 1858 beschlossen und Entwürfe vom Bauinspektor Hauptner sowie vom Eisenbahn-Inspektor Keil angefordert. Der Baubeginn verzögerte sich jedoch unter anderem weil der beauftragte Baumeister Julius Carl Raschdorff ablehnte und zudem vorgenommene Änderungen am Bauplan aufgrund politischer Verhältnisse vertagt wurden. Für diese Veränderungen wurden drei Entwürfe in Auftrag gegeben. Sie wurden dem verantwortlichen Regierungsbaurat Wilhelm Salzenberg am 25. Oktober 1860 vorgelegt, dem sie aber alle missfielen. In seinem Gutachten vom 21. Februar 1861 hieß es, sie ließen „Würde, Architekturstil und den kunstgerechten Anschluss an den vorderen Giebel“ vermissen. Gleichzeitig reichte er einen eigenen Alternativentwurf ein, für dessen Ausführung sich die Stadtverordnetenversammlung entschied. So entstand im Obergeschoss ein großer Saal mit Tonnengewölbe. Der Landesbaupfleger Gustav Wolf beurteilte diesen Eingriff 1949 in der Lokalpresse (Westfälische Nachrichten) negativ, da seiner Meinung nach durch den Eingriff die klare Trennung zwischen Hauskörper-Rechteck und Dach-Dreieck und somit der Einklang zwischen Innen und Außen zerstört wurde. Zerstörung und Wiederaufbau Bei den Luftangriffen auf Münster im Zweiten Weltkrieg wurde das Rathaus am 28. Oktober 1944 von mehreren Bomben getroffen und brannte vollständig aus. Als der Schaugiebel keinen Halt mehr durch das stützende Dach erfuhr, brach er gegen 18:25 Uhr zusammen und fiel laut Augenzeugen in voller Länge auf den Prinzipalmarkt. Nur die unteren Bögen und die Arkaden der beiden äußeren Maßwerkfenster blieben erhalten. Nach dem Krieg dauerte es einige Zeit, bis die finanziellen Mittel zum Wiederaufbau zur Verfügung standen. Außerdem war ein Großteil der Trümmer im Rahmen der Aufräumarbeiten und des Neuaufbaus fortgeräumt worden und somit verloren. Noch vorhandene Teile der Giebelfront wurden schließlich für den Neuaufbau abgerissen. 1948 wurde beschlossen, anlässlich des 300. Jahrestages des Westfälischen Friedens zunächst den Friedenssaal wiederherzustellen. Zwar war 1942 vorsorglich die gesamte Vertäfelung, die Decke und das Inventar des Friedenssaales auf das lippische Schloss Wöbbel ausgelagert worden, doch die kunstvoll verzierten Fenster und der prunkvolle Kamin in der Südmauer waren nicht entfernt worden und somit zerstört. Der verlorene Kamin wurde durch den des Krameramtshauses ersetzt, der in Größe und Alter in etwa dem zerstörten Kamin entsprach. Noch unter dem Eindruck der Feierlichkeiten der Friedenswoche in Münster mehrten sich bald danach in der Bürgerschaft Stimmen, die verlangten, den Wiederaufbau des Rathauses nun nicht mehr länger hinauszuzögern. So trat auch der „Verein der Kaufmannschaft zu Münster von 1835“ an die Stadt mit dem Anliegen des Wiederaufbaus heran. Kurz zuvor hatte er sich bei seiner ersten Sitzung nach Kriegsende am 23. November 1948 entschlossen, die Initiative zu ergreifen. Es wurde ein beschränkter Wettbewerb ausgelobt, zu dem drei münstersche Architekten eingeladen wurden. Für diesen Wettbewerb gab es keine klare Raumbestimmung und keine Vorgaben zur Saalfrage des Festsaals, also ob ursprüngliche flache Decke oder Salzenbergsches Tonnengewölbe. Nachdem die drei Architekten ihre Vorschläge eingereicht hatten, gab es eine zweite Wettbewerbsrunde, in der verschiedene Lösungsvarianten für einen Festsaal mit Tonnengewölbe erarbeitet werden sollten. Zwar ging der Architekt Heinrich Bartmann als Sieger aus den Wettbewerben hervor, die Pläne wurden aber aufgrund von Geldmangel nicht umgesetzt. Wichtiger als der Wiederaufbau des Rathauses erschien der Stadtverwaltung die Investition der knappen Mittel in dringend benötigte Infrastrukturobjekte, beispielsweise die Wasser- und Gasversorgung sowie Schulen und Krankenhäuser. Erst 1950 begann der Wiederaufbau, als die Stadt im Mai der Initiative der Kaufmannschaft zustimmte, den Wiederaufbau auch ohne finanzielle Unterstützung seitens der Stadt durchzuführen und einen „Ausschuss für den Wiederaufbau des Rathauses zu Münster“ ins Leben zu rufen. Die Grundsteinlegung fand am 9. Juli statt. Mehr als 30.000 Menschen waren zu den Feierlichkeiten erschienen, darunter auch der ehemalige Reichskanzler und Ehrenbürger der Stadt Münster, Heinrich Brüning. Die Finanzierung wurde zur Sache aller Bürger gemacht. Jeder war aufgerufen, Sach- und Geldspenden oder handwerkliche Arbeiten beizutragen. Die Zustimmung zu diesem Projekt des Wiederaufbaus übertraf alle Erwartungen. Durch eine eigens initiierte, insgesamt achtmal durchgeführte Rathauslotterie konnten 873.000 DM eingenommen werden, wobei jedes Los 50 Pfennig kostete. Diese Summe entsprach fast der Hälfte der Gesamtkosten. Aber nicht nur in Münster, sondern auch im Münsterland und großen Teilen Westfalens breitete sich eine Euphorie hinsichtlich des begonnenen Wiederaufbaus aus. Viele Spenden kamen daher auch von anderen Städten sowie vom Handel und der Industrie außerhalb Münsters. Für die Bauleitplanung zeichnete sich Heinrich Benteler zuständig, der auch den Wiederaufbau des St.-Paulus-Doms leitete. Er sprach sich gegen eine „originalgetreue“ Rekonstruktion aus. Stattdessen favorisierte er nachempfundene Fassadenelemente, die sich jedoch nur in Kleinigkeiten gegenüber dem Original unterscheiden. Auch die Bauweise selbst unterschied sich von der des ursprünglichen Rathauses. So besteht der Baukörper unter anderem aus Betonträgern und Backsteinwänden, die nach außen mit dünnen Sandsteinplatten versehen sind. Nur der Giebel selbst besteht aus echtem Baumberger Sandstein. Für den Innenausbau war zunächst Heinrich Bartmann, später der Stadtbaupfleger Edmund Scharf zuständig. Gegen den Wunsch der Stadt, wieder ein Deckengewölbe im Festsaal einzuziehen, intervenierte der Landesbaupfleger. So wurde eine flache Holzbalkendecke eingezogen, was der ursprünglichen Gestaltung aus dem 14. Jahrhundert entsprach. Zwei Jahre nach der Grundsteinlegung konnte bereits am 9. Juli 1952 das Richtfest gefeiert werden. 1953 war der Ostgiebel zum Syndikatsplatz hin und einige Monate später auch der Treppenturm mit dem Zugang zum Friedenssaal fertig. Im Oktober 1954 wurde die Giebelfassade am Prinzipalmarkt fertiggestellt. Am 30. Oktober 1958, also zum 310. Jubiläum des Westfälischen Friedens, war das gesamte Gebäude fertiggestellt. Das Urteil der Öffentlichkeit war überwiegend positiv. Es gab aber auch einige kritische Stimmen, so zum Beispiel in der Frankfurter Allgemeinen (11. November 1958): „Was sich der leitende Architekt hat einfallen lassen, ist eine völlig triviale Mischung aus Großbank und Grandhotel, hie und da mit schmiedeeisernem lokalen Einschlag. Münster kann seinen Dom, das Theater und den Friedenssaal zeigen, das neue Innere vom alten Rathaus scheint höchstens für den Heimgebrauch dienlich.“ Wie auch bei den Wiederaufbauten anderer historischer Gebäude am Münsteraner Prinzipalmarkt, die durch den Krieg zerstört wurden, wird sowohl von manchen Historikern als auch Architekten eine historisierende Fassadenarchitektur vorgeworfen; schließlich handele es sich technisch gesehen um Neubauten verlorener Vorbilder (Repliken). Dennoch waren und sind die Münsteraner stolz auf ihr neues „historisches“ Rathaus. Der Wiederaufbau des Rathauses, damals auch als eine „Auferstehung aus den Trümmern“ bezeichnet, wurde zu einem Symbol der Überwindung der Kriegszerstörungen in Münster und über Münster hinaus. Nach einer Restaurierung des Giebels im Jahre 1992, Umbauten des Rathauses sowie des Stadtweinhauses im Jahr 1997 sowie Restaurierungen des Giebels und weiteren Teilen in dessen unteren Bereich in den Jahren 2002 und 2004 erfolgte im Jahre 2006 eine erneute großangelegte Restaurierung. Dazu wurde der gesamte Giebel zum Prinzipalmarkt hin eingerüstet. Um den Bewohnern Münsters und den Touristen dennoch den Anblick des Rathauses zu ermöglichen, schenkten zwei in Münster ansässige Unternehmen der Stadt ein 538 m² großes Poster, auf dem die Front des Gebäudes im Maßstab 1:1 abgebildet war und mit dem das Baugerüst verkleidet wurde. Im Sommer 2011 wurde bekannt, dass von der Stadt Münster nach dem ersten Versuch 2002 erneut angestrebt wird, für das Rathaus den Status des UNESCO-Weltkulturerbes sowie das Europäische Kulturerbe-Siegel zu erhalten. Anfang Juli 2012 kam heraus, dass die angestrebte Ernennung erneut nicht erreicht werden konnte. Grund hierfür ist, dass die bauliche Substanz des Rathauses nicht original ist, sondern es nach dem Zweiten Weltkrieg wiedererrichtet wurde. Daher wurde im Anschluss der Versuch gestartet, für den Stadtkern eine Anerkennung als europäisches Kulturerbe zu erreichen. Im Dezember 2013 wurde bestätigt, dass Münster und Osnabrück als „Stätten des Westfälischen Friedens“ von der deutschen Kultusministerkonferenz bei der Europäischen Kommission zur Auszeichnung mit dem Europäischen Kulturerbe-Siegel vorgeschlagen wurden. Mit dem 2015 vergebenen Siegel wurden erstmals keine besonderen historischen Bauten, sondern deutsche Städte ausgezeichnet. Damit konnte letztlich der Wunsch der Stadt verwirklicht werden, durch die Auszeichnung dem immateriellen Wert des Westfälischen Friedens Ausdruck zu verleihen, denn das Rathaus sei „der Ort, an dem das Völkerrecht geboren wurde“. Im September 2013 wurde das 840 m² große und extrem steile Dach, das vom Dachboden bis zum Dachfirst 15 Meter misst, erstmals seit dem Wiederaufbau mit Hohlpfannen aus Ostwestfalen neu eingedeckt. Die Kosten hierfür beliefen sich auf rund 140.000 Euro. Architektur und Erscheinung Gliederung Vertikal betrachtet verfügt das Gebäude über vier Etagen: Arkaden- und Hauptgeschoss sowie einen Keller und einen Dachboden. Wird das Rathaus aus horizontaler Perspektive betrachtet, so ergeben sich im unteren Arkadengeschoss drei, im oberen Hauptgeschoss zwei Nutzungsbereiche. Im Arkadengeschoss sind dies die Bogenhalle mit dem darüber befindlichen Schaugiebel, gefolgt von der Bürgerhalle und der dahinterliegenden Ratskammer, die seit dem 18. Jahrhundert auch als Friedenssaal bekannt ist. Im Hauptgeschoss befindet sich im vorderen Bereich zum Prinzipalmarkt und hinter dem Schaugiebel gelegen der Festsaal des Rathauses. Im hinteren Teil über der Ratskammer liegt die Rüstkammer. Fassade Die reich verzierte Fassade aus Baumberger Sandstein im Stil der Gotik ragt mit einer Höhe von 31 m hoch über das eigentliche Dach des Rathauses hinaus. Fabio Chigi, päpstlicher Friedensvermittler während der Verhandlungen zum Westfälischen Frieden, schrieb über sie: „Der Giebel des prachtvollen Rathauses ragt weit über die anderen Dächer hinaus und berührt scheinbar fast den Himmel“. Durch die wertvollen und prächtigen Verzierungen, wie sie sonst nur an kirchlichen Bauwerken aufgrund der hohen Kosten zu finden waren, sollten möglicherweise zusätzlich zur Lage des Rathauses das Selbstbewusstsein und der Machtanspruch der Bürger gegenüber ihrem Bischof erhöht werden. Der Bau einer solch kostspieligen Fassade ist nur in einer Zeit wirtschaftlicher Blüte möglich gewesen und entstand somit schätzungsweise gegen Ende des 14. Jahrhunderts, als die Stadt Münster durch die Mitgliedschaft in der Hanse einen starken wirtschaftlichen Aufschwung erfuhr. Weiterhin hilfreich dürfte die Kontinuität im Stadtrat und insbesondere dem Bürgermeisteramt, das bis ins 17. Jahrhundert hinein nur durch – untereinander verwandte – Erbmänner besetzt war, mit Johann III. von Deckenbrock (8-mal zwischen 1312 und 1339), Johann von Kerckerinck (26-mal zwischen 1371 und 1399), Johann von Warendorp (31-mal zwischen 1379 und 1418), Johann IV. Droste zu Hülshoff (3-mal 1402, 1421 und 1431), Johann VII. Droste zu Hülshoff (2-mal, 1494 und 1502), Everwin II. von Droste zu Handorf (zwischen 1525 und 1534) sowie Bernhard II. von Droste zu Hülshoff (durchgehend von 1605 bis 1619) während dieser Zeit gewesen sein. Der Aufbau der Fassade gliedert sich in drei Ebenen: Arkadengeschoss, Hauptgeschoss und Giebelgeschoss. Zusätzlich lassen sie sich in zwei Gruppen aufteilen: Den Bogengang bestehend aus dem Arkadengeschoss und dem Schaugiebel bestehend aus Hauptgeschoss und Giebelgeschoss. Jede dieser Ebenen wurde im Laufe der Zeit durch Zerstörungen, Reparaturen und Restaurierungen mehrfach verändert. Während die Bedeutungen der Verzierungen auf den unteren beiden Ebenen nahezu geklärt sind, existieren für das Bildprogramm des Schaugiebels auf Höhe des Giebelgeschosses mehrere, zum Teil widersprüchliche Theorien. Arkadengeschoss Die Fassade des Arkadengeschosses besteht aus vier Spitzarkaden und wird von fünf Rundsäulen getragen. Ursprünglich zeigten die Kapitell der Säulen symbolische Tier- und Pflanzenornamente, die Sinnbilder von Tugenden und Lastern darstellen sollten. Sie waren folgendermaßen auf die Säulen verteilt: Das linke Kapitell enthielt eine Verzierung mit Eichenlaub, dem Symbol für Beständigkeit und Dauerhaftigkeit. Das Kapitell rechts daneben war mit den Fabelwesen Sirene, Basilisk, Drache und Onozentaur verziert, den Symbolen Satans für Betrug, Tod, Sünde und Falschheit. Die mittlere Säule enthielt ein Kapitell, das Sanftmut, Stärke, Mut und Erneuerung darstellte, repräsentiert durch Panther, Löwe, Adler und Phönix. Rechts daneben zeigte das Kapitell die Symbole der Verdammten im Dämonenwald, dargestellt durch vier Blattmasken. Das Kapitell der rechten und letzten Säule war mit Weinlaub verziert, dem Symbol für Mäßigkeit und Weisheit. Diese ursprünglichen Verzierungen der Kapitelle sind jedoch nicht mehr erhalten, nachdem das Rathaus im Zweiten Weltkrieg stark zerstört wurde. Im Zuge der Wiederherstellung wurden sie erst 1963/64 aus Unkenntnis der Bedeutungen der Symbole durch schlichte Verzierungen ersetzt. Dabei erhielten die Kapitelle der beiden Ecksäulen Krabbenschmuck und die mittlere eine allegorische Darstellung der vier Elemente Wasser, Luft, Wind und Feuer. Das Kapitell links von der Mittleren zeigt die Anführer der Täufer und das rechts der Mittleren die vier Lebensalter. Neben diesen Veränderungen wurden bei der Wiederherstellung die fünf Rundsäulen um 65 cm verlängert. Die Flächen zwischen den einzelnen Arkadenbögen waren bis 1824 mit Malereien geschmückt. Dann wurden sie auf Empfehlung des Bauinspektors Teuto sowie des Bürgermeisters und des Gemeinderates übermalt. Die erste Version der Bemalung lässt sich für das zweite Viertel des 15. Jahrhunderts bestimmen. Die Zwischenräume schmückten fünf Kreise mit einem Durchmesser von jeweils 1,88 m. In der Mitte war vermutlich ein schwarzer Adler wie im Wappen des Heiligen Römischen Reiches zu sehen. Eindeutig verifiziert werden konnte sie jedoch nicht. Die Zwischenräume zu beiden Seiten des Wappens schmückte jeweils das Stiftswappen des Hochstifts Münster. Diese Anbringung war jedoch mehr als ungewöhnlich, waren die Bürger der Stadt doch stets um ihre Unabhängigkeit vom fürstbischöflichen Landesherrn bemüht. Zusammen mit der Siegelkapsel und dem Wappen des damaligen Bischofs Heinrich II. von Moers jeweils in den beiden äußeren Feldern zwischen den Arkaden liegt die Vermutung nahe, dass sie um das Jahr 1447 geschaffen wurden. Zu jener Zeit war der Bruder Heinrichs II., Erzbischof Dietrich II. von Moers von Köln, auf die Restaurierung seiner Herrschaft bedacht. Aus Furcht vor einer möglichen Belagerung könnte sich die Stadt aus vorauseilendem Gehorsam Heinrich II. untergeben haben, der daraufhin die Anbringung entsprechender Wappen am Rathaus anordnete. Dietrich Moll veränderte diese ursprüngliche Bemalung im Jahre 1588. Im Zuge der Verschönerung des Rathauses für die Verhandlungen zum Westfälischen Frieden erneuerte sie der Maler Everhard Alerdinck im Jahre 1646. Die letzte Erneuerung fand 1780 durch Johann Georg Legleitner statt. In der Mitte dieser Malereien war der gekrönte Karl der Große in voller Rüstung mit Schwert und Doppeladler-Schild zu sehen. Die beiden umgebenden Flächen der Arkaden schmückten zwei Ritter, die das Wappen der Stadt Münster trugen. Außen waren zwei weitere Ritter abgebildet, die mit abgenommenem Helm dem Kaiser die Ehre erweisen. Hauptgeschoss Das Hauptgeschoss wird maßgeblich durch die vier großen Maßwerkfenster in Form von Spitzarkaden dominiert, hinter denen sich der große Festsaal befindet. Es lehnt sich damit an die Aufteilung des Arkadengeschosses an. Zwischen den Fenstern befindet sich seit dem Wiederaufbau ab 1950 kein Bildschmuck mehr, der diese Ebene jahrhundertelang geziert hat. Ob es sich hierbei um das ursprüngliche Aussehen handelt, ist nicht bekannt. Allerdings ist für das Ende des 16. Jahrhunderts überliefert, dass während der Zeit der Täufer 1535 am Ort des Rathauses Bischofsfiguren im Rahmen des Bildersturmes zerschlagen wurden. Um 1646 wurden Verschönerungen des Rathauses während des Kongresses zum Westfälischen Friedens vorgenommen, wobei der Teil der Fassade farblich neu gestaltet und die Felder zwischen den Fenstern mit Figuren versehen wurden. Der münstersche Bildhauer Johann Katmann fertigte dazu fünf lebensgroße Baldachinstatuen von Jesus Christus, Maria, Erzengel Michael und den Bischöfen Ludgerus und Lambertus an. Die Figuren erlebten bis zur Zerstörung des Rathauses im Zweiten Weltkrieg mehrfache Veränderungen. In der ursprünglichen Version von Katmann war Jesus Christus in der Mitte angebracht, umgeben von Maria rechts und Erzengel Michael links von ihm. Rechts außen befand sich die Figur des Bischofs Ludgerus und links außen die Figur des Bischofs Lambertus. Beide waren mit bischöflichen Ornat sowie Mitra und Hirtenstab ausgestattet. Zusätzlich trug Ludgerus ein Modell von St. Ludgeri und Lambertus einen Pfeil als Werkzeug seines Martyriums. Wahrscheinlich aufgrund starker Verwitterung wurden die Figuren 1865/66 durch Versionen von Bernhard Allard ersetzt. Von diesen erneuerten Figuren sind nur noch die beiden Bischofsfiguren erhalten. Da sie jeweils außen angebracht waren, überstanden sie den Einsturz des Giebels nach der Zerstörung im Oktober 1944. Sie hängen seit dem Wiederaufbau des Rathauses an der Nord- und Südseite des Gebäudes. Giebelgeschoss Das Giebelgeschoss mit dem dahinterliegenden Dachboden ist in sieben Achsen aufgeteilt, die sich stufenförmig in die Höhe erheben. Bis auf die mittlere Achse sind alle als Blendarkaden in die Höhe gezogen und mit insgesamt sechs Blendfenstern in Arkadenform versehen. Jeweils zwei von ihnen befinden sich übereinander links und rechts der Mitte und jeweils eines in der entsprechend nächsten Achse. In der mittleren Achse befinden sich drei übereinander angeordnete Nischen, ebenfalls in Arkadenform. Bis 1774 verschlossen Holztüren die Öffnungen, die das Ein- und Auslagern von Waren auf den Dachboden ermöglichten. Unterteilt werden die sieben Achsen des Giebelgeschosses durch acht schmale, in Fialen endende Pfeiler, die sich über die Achsen hinaus erheben und mit filigranen Verzierungen mit dem jeweiligen Nachbarpfeiler verbunden sind. Die vier mittleren und gleichzeitig höchsten Pfeiler wurden auf dieselbe Höhe gezogen, höchstwahrscheinlich um einer Monotonie vorzubeugen. Figuren und Bildprogramm Auf den einzelnen Spitzen der Fialen befinden sich jeweils Figuren: Vier Engel oben, zwei stehende Gestalten auf den mittleren und einem blasende sowie einem Ausschau haltenden Wächter auf den unteren Fialen. Neben den Figuren auf den Fialen befinden sich noch weitere Verzierungen an der Fassade. An der Spitze des Giebels ist ein Bildnis der fälschlicherweise häufig sogenannten „Marienkrönung“ zu sehen. Der Begriff Marienkrönung kann daher als falsch bezeichnet werden, weil Maria auf gleicher Höhe zu Jesus Christus sitzend bereits die Krone auf ihrem Haupt trägt. Nur in Verbindung mit den vier Engeln der über dem Marienschrein hinausragenden Fialen wäre eine Deutung als Krönungszeremonie denkbar, wie sie ab dem 12. Jahrhundert auf verschiedene Weisen darzustellen versucht wurde. Am ehesten würde die Version zutreffen, bei der Maria auf gleicher Höhe neben Jesus Christus sitzt und ihr die Krone durch einen von oben heranschwebenden Engel aufgesetzt wird. Vielfach wurde dieses Bild durch musizierende oder weihrauchschwenkende Engel unterstützt, die am Münsterschen Rathaus durch die Engel auf den oberen Fialen dargestellt würde. Jedoch ist die Darstellung des herabschwebenden Engel in Münster nicht vorhanden und die Krönungszeremonie daher fragwürdig. Eine Interpretation und Deutung des Bildes ist auch deshalb so schwierig, weil die Darstellung im Laufe der Zeit immer wieder durch Reparaturen verändert wurde. Da auch die ursprüngliche Darstellung nicht überliefert ist, kann über die wahren Hintergründe und Bedeutung des Bildes nur spekuliert werden. Neueren Theorien zufolge könnte es dazu gedient haben, den Bürgern der Stadt Hoffnung in einer Zeit von Pest, Kriegen und Elend zu geben. Die theologischen Bezüge des Bildprogramms des Giebels sind noch nicht ganz geklärt. Die kunstgeschichtliche Bedeutung des Giebels hingegen ist eindeutig. Denn es finden sich zwar viele vergleichbare Darstellungen an europäischen Kirchen und Kathedralen zwischen dem Ende des 12. Jahrhunderts und dem 16. Jahrhundert – an einem Profanbau ist eine solche Darstellung jedoch einzigartig. Direkt darunter befindet sich das Bildnis eines Königs mit Zepter und Reichsapfel. Unter Experten ist umstritten, ob es sich hierbei um König Salomon oder Karl dem Großen handelt. Unter seinen Füßen ist das Wappen des Heiligen Römischen Reiches zu sehen, der Doppeladler. Etwas tiefer, zu beiden Seiten des Giebels, ist zweimal das Wappen der Stadt Münster angebracht, das von zueinander zugewandten Greifen gehalten wird. Ähnlich wie die Erscheinung der übrigen Fassade war auch das Bildprogramm des Giebels im Laufe der Jahrhunderte mehreren Änderungen unterworfen. Vom ursprünglichen Schmuck des Giebels sind nur noch eine stark verwitterte Statue der Maria aus dem Bildnis der „Marienkrönung“ und die Königsfigur mit dem 1865 erneuerten Haupt vorhanden. Beide Figuren sind in der Bürgerhalle des Rathauses ausgestellt. Deutungsmodell von Josef Vennemann Einzeln betrachtet scheinen die Figuren und Bilder nicht oder im Falle des Marienschreins nur teilweise in einer Verbindung zueinander zu stehen. Der ehemalige Stadtdechant Josef Vennemann stellte bei seiner Festpredigt zum vollendeten Wiederaufbau des Rathauses am 30. Oktober 1958 zum Bildprogramm der Fassade ein brauchbares Deutungsmodell vor, nachdem sämtliche Bilder des Giebels in einem zeitlichen Zusammenhang stehen und die Ankunft des Messias beschreiben. Den ersten zeitlichen Abschnitt markieren die Figuren auf den Fialen, beginnend bei den beiden Äußeren. Der in die Ferne schauende und der blasende Wächter halten Ausschau nach dem Messias während der „Stufe der Erwartung“. Hierzu heißt es in der Liturgie des vierten Adventssonntags nach Joel 2,1 „Stoßt in die Posaune auf Zion! Denn nahe ist der Tag des Herrn!“ sowie in der Liturgie des ersten Adventssonntags „In die Ferne schaue ich aus. Siehe, die Macht Gottes kommt“. Die nächste Stufe, die „Stufe der Verheißung“, wird durch die mittlere Ebene der Fialen beschrieben. Die Figuren stellen Moses und Elias dar, die im Mittelalter als Künder von Jesus Christus galten. Auf der höchsten Stufe vollzieht sich die „Stufe der Erfüllung“ mit der Krönung von Jesus Christus im Zusammenspiel der vier huldigenden Engel auf den oberen vier Fialen und dem Bildnis der „Marienkrönung“ darunter. Direkt unter dem Bildnis des geistlichen Herrschers steht mit der Abbildung eines Königs die irdische Macht. Während durchaus umstritten ist, ob es ein Bildnis von König Salomon oder Karls des Großen ist, beschreibt das Denkmodell nach Vennemann es als das von Karl dem Großen, dem die Gründung der Stadt Münster zu verdanken sein soll. Begründet wird die Annahme durch die Darstellung der Figur mit der für ihn charakteristisch hohen Bügelkrone und dem Reichswappen des Doppeladlers direkt zu seinen Füßen, obwohl dieser erst seit der Zeit Friedrich III. gegen Ende des 15. Jahrhunderts verwendet wurde. Auch die beiden Greifen als Wappenträger des Wappens der Stadt Münster stehen in diesem Zusammenhang. Ein Greif als zusammengesetztes Tier der Mythologie aus Löwe, dem Symbol für Erde, und Adler, dem Symbol für Luft, repräsentiert zugleich Jesus Christus, da er einerseits menschlich (Erde), andererseits jedoch auch göttlich (Luft) ist. Durch die Umklammerung des Wappens erhöhen sie die Bedeutung der Stadt gegenüber ihrem Bischof, da sie bildlich gesehen in direkter Korrespondenz und unter Umgehung des Bischofs mit ihrem Gründer Karl dem Großen in Verbindung stehen. Bogenhalle Die Bogenhalle ist der vorgelagerte, offene und überdachte Teil direkt zwischen den vier Spitzarkaden der Fassade und der etwa 4 m dahinter liegenden Bürgerhalle. Sie entstand vermutlich um 1395 im Zuge der Verlängerung des im Hauptgeschoss befindlichen Festsaals. Bis zum Anfang des 17. Jahrhunderts diente sie als Wetterschutz für den vom Bischof eingesetzten Stadtrichter und seine zwei von der Stadt bestellten Beisitzern, da nach dem auch in Münster geltenden sächsischen Recht in Form des Sachsenspiegels eine Gerichtsverhandlung unter freiem Himmel stattzufinden hatte. Eine Gerichtslaube zum Schutz vor dem Wetter war daher in Münster nicht notwendig und hat es dementsprechend auch nicht gegeben. Ab dem Jahr 1586 wurde im nördlichen Teil der Bogenhalle eine kleine Gerichtsstube eingerichtet. Hintergrund dieses Einbaus war der Wunsch nach einer kürzeren Verbindung zwischen dem in der Ratskammer tagenden hohen Gericht und dem vor dem Rathaus tagenden niederen Gericht. Im Jahre 1599 folgte im südlichen Teil der Bogenhalle das sogenannte „Wachthaus“. Nach dem Konflikt mit dem fürstbischöflichen Landesherrn Christoph Bernhard von Galen und der Kapitulation der Stadt im Jahre 1661 wurde die Gerichtsstube als Sitz der militärischen Hauptwache genutzt. Da von Galen Münster sämtliche Rechte und damit auch die Gerichtsbarkeit entzog, wurde diese Stube nicht mehr benötigt. Sie erhielt seit diesem Zeitpunkt auch den Namen „Offiziersstube“. Diese Hauptwache hatte ihren Sitz fast 200 Jahre im Rathaus und verließ es erst am 29. Januar 1847, als die Stadtwache in das benachbarte Stadtweinhaus umzog. Sowohl die Gerichtsstube als auch das Wachthaus wurden jedoch bereits um das Jahr 1803 aus der Bogenhalle entfernt. Bürgerhalle Die Bürgerhalle entstand als ein Versammlungsraum für die münstersche Bürgerschaft. Er wurde um 1335 an die zum Prinzipalmarkt zeigende Seite der Ratskammer angebaut. Eine genaue Jahreszahl ist nicht überliefert. Spätestens seit dem Jahre 1337 wird jedoch eine Zweiteilung des Rathauses belegt, wonach sich die Ratsherren im hinteren Teil des Rathauses versammelten. Bei der Bürgerhalle handelt es sich im Wesentlichen um einen einzigen großen Raum, dessen Decke von vier Stützpfeilern getragen wird. Er wird daher für Veranstaltungen und kleinere Ausstellungen genutzt. Auch befindet sich die Touristeninformation in der Halle. An der hinteren Wand führt auf der linken Seite eine steinerne Treppe hinauf ins benachbarte, in den Jahren 1615 und 1616 erbaute Stadtweinhaus und in den großen Festsaal. Auf der rechten Seite befindet sich die Tür in die auch als Friedenssaal bekannte Ratskammer. Der massive Sturz über der Tür trägt die Inschrift „Pax Optima Rerum“ – „Frieden ist das höchste Gut“. Er unterscheidet sich jedoch deutlich vom ursprünglichen, im Zweiten Weltkrieg zerstörten Sturz. Jener besaß einen massiven Aufbau in Dreiecksform mit einer Breite von 2 m und einer Höhe von 1,37 m. Auf ihm war das Wappen der Stadt Münster in der Schmuckfassung zu sehen, das heißt der Wappenschild mit gefächertem Helm, gehalten von jeweils einem Löwen zu beiden Seiten. Darüber war der Sturz mit einem Frauenkopf verziert sowie links und rechts neben den beiden Löwen jeweils mit einem nackten Putte mit Füllhorn und Schild. Zur weiteren Ausstattung der Halle gehören auch Teile von Rüstungen und Waffen aus städtischem Besitz sowie die Replik des Sendschwertes, nachdem das Originalschwert von Dieben in der Nacht auf den 24. Oktober 2000 entwendet wurde und bisher nicht wieder aufzufinden war. Weitere Ausstellungsstücke sind eine stark verwitterte Skulptur aus dem Bildnis der „Marienkrönung“ sowie die Skulptur des Königs, die beide aus dem Bildprogramm des Schaugiebels stammen und im Rahmen von Restaurierungsarbeiten ersetzt wurden. Ratskammer (Friedenssaal) Die Ratskammer, seit dem 18. Jahrhundert auch als Friedenssaal bekannt, ist ein knapp 10 m × 15 m großer Saal, der rundherum in Holz im Stile der Renaissance getäfelt ist. Der Boden ist als Kontrast zum warmen Holz grau gefliest. Die Vertäfelungen an den Längsseiten des Saals, d. h. die Westwand sowie die östliche Fensterwand, entstanden im Jahre 1577, ersichtlich an einer Füllung an der Eingangstür zum Saal. Diese Tür der Westwand ist zudem geschmückt mit dem Abbild von Salvator, der Figur des auferstandenen Jesus Christus. Entworfen wurden die Täfelungen von Hermann tom Ring, einem bedeutenden westfälischen Maler des 16. Jahrhunderts. Neben der Eingangstür an der Westwand befindet sich eine Sitzbank, die zwölf Personen Platz bietet. Die Vertäfelungen oberhalb der Sitzplätze entlang der Wand zeigen Bildnisse von Jesus Christus, den zwölf Aposteln und Paulus, dem Namenspatron des St.-Paulus-Doms in Münster. Die Bilder sind in folgender Reihenfolge zu sehen: Bartholomäus, Thomas, Andreas, Jakobus der Jüngere, Matthäus, Philippus, Petrus, Jesus Christus, Johannes, Jakobus der Ältere, Simon, Judas Thaddäus, Matthias und Paulus. Getrennt voneinander werden die einzelnen Bilder durch schmale Säulen, die am oberen Ende durch einen verzierten Dreiecksgiebel miteinander verbunden sind. In die Ostwand, die Fensterwand, sind vier große Fenster eingelassen. Die ursprüngliche Rautenverglasung, die insgesamt acht allegorische Figuren der göttlichen sowie Kardinaltugenden enthielt und die mit dem Rest des Rathauses im Oktober 1944 zerstört wurde, ist durch eine schlichte getönte Verglasung ersetzt worden. Die Wandflächen sind wie die Westwand vertäfelt. Die Täfelung besteht aus drei verschiedenen Themengebieten: Die vier in den Raum zeigenden Flächen der Pfeiler zeigen die Abbildungen der vier Evangelisten in der üblichen Reihenfolge Matthäus, Markus, Lukas und Johannes. Erschaffen wurden sie nach Stichen des Künstlers Heinrich Aldegrever aus dem Jahre 1549. Die nördlichste Fensternische zeigt das Bildnis von Moses als Gesetzgeber. Die übrigen sieben Seiten der Fensternischen beschreiben die sieben freien Künste Grammatica, Dialectica, Arithmetica, Rhetorica, Musica, Geometrica sowie Astronomica, die an einer Universität gelehrt wurden. Wie auf der gegenüberliegenden Westwand sind auch diese Abbildungen durch schmale Säulen zu beiden Seiten begrenzt und über einen verzierten Dreiecksgiebel miteinander verbunden. Unterhalb der Vertäfelung befindet sich eine in den Raum gerichtete Sitzbank, die 14 Personen Platz bietet. Wie auch beim Giebel lässt sich ein Zusammenhang zwischen den einzelnen Abbildungen der Holzvertäfelung herstellen. Als sie knapp 40 Jahren nach der Herrschaft der Täufer in Münster entstanden, können sie als Mahnung angesehen werden, wie ein friedliches Zusammenleben auf christlicher Basis aussehen kann: Der Glaube an Jesus Christus und die Auferstehung, die Verbreitung des Glaubens durch die zwölf Apostel sowie die geschichtliche Überlieferung durch die vier Evangelisten. Die wichtigsten Gesetze werden durch Mose und die Zehn Gebote festgelegt. Demgegenüber steht auf der weltlichen Seite die gute Ausbildung, wie sie an einer Universität gelehrt wird. Die Nordwand wird maßgeblich durch eine große Schrankwand dominiert. Vor der Schrankwand befindet sich ein Richtertisch und die Bürgermeisterbank, auf der die beiden Bürgermeister, also der Stadtsyndikus und der Stadtschreiber saßen. In die Schrankwand sind insgesamt 22 kleine Fächer in zwei Reihen übereinander eingelassen. Diese sind aufgeteilt in zwölf Fächer auf der linken sowie zehn Fächer auf der rechten Seite und mit Abbildungen verziert. Vier von ihnen zeigen biblische Szenen, sechs zeigen Heiligenfiguren als Patrone münsterscher Pfarrkirchen, drei sind mit heraldischen Abbildungen versehen und sieben mit menschlichen Lastern verziert. Zwei weitere lassen sich keiner bestimmten Gruppe zuordnen. Die genaue Anordnung ist in der folgenden Tabelle dargestellt. Die Fächer scheinen bereits um das Jahr 1536 entstanden zu sein, einige eventuell auch schon früher, erkennbar an der Anbringung der Beschläge. Diese sind im Rahmen der Montage offensichtlich verändert worden. Offensichtlich wurden bei der Umgestaltung des Raumes frühere Einrichtungsgegenstände zusammengeführt. In der Mitte befinden sich keine Schrankfächer, sondern ein Kreuz mit Jesus Christus, dessen Körper in weiß gehalten wurde. Vor diesem für das Jahr 1540 datierte Kreuz wurden alle Ratsmitglieder sowie städtische Amtsträger vereidigt und werden es noch immer. Die Wandverkleidung oberhalb des eigentlichen Schrankes besteht aus 22 Feldern. Während die neun linken (Westseite) und sieben rechten (Ostseite) über Verzierungen durch einfache Holzfalten verfügen, sind die mittleren sechs mit Holzschnitzereien versehen. Das Linke von ihnen trägt drei miteinander verschränkte und mit Blattwerk gefüllte Kreise. Gefolgt wird es von einem Feld, in dem kunstvoll verziert in gotischen Buchstaben „ihs“ als Abkürzung für Jesus Christus eingeschnitzt wurde. Das Feld links der Mitte zeigt das Wappen des Hochstifts Münster in den Farben Gold – Rot – Gold und mit Büffelhörnern verzierten Helm, während das rechts der Mitte das Wappen der Stadt Münster in den Farben Gold – Rot – Silber und mit einem Fächer verzierten Helm zeigt. Als Gegenstück zum Jesus Christus gewidmeten Feld folgt anschließend eines, das Maria gewidmet ist und die Inschrift „ma“ trägt. Das letzte der verzierten Felder besteht aus zwei Kreisen. Der untere Kreis enthält eine Taube, der obere erinnert an die Darstellung eines Kretins aus Goethes Götz-von-Berlichingen. An der Südwand befindet sich ein mächtiger Kamin. Allerdings handelt es sich hierbei nicht um das Original aus dem Jahre 1577, da jener zusammen mit dem Rathaus im Oktober 1944 zerstört wurde. Er zeigte eine Darstellung des salomonischen Urteils aus der Bibel (1. Buch der Könige, Kapitel 3, Verse 16–28). Stattdessen befindet sich an dieser Stelle nun der Kamin des Krameramtshauses aus dem Jahre 1621. Dieser zeigt das Gleichnis des Reichen und des armen Lazaraus (Evangelium nach Lukas, Kapitel 16, Verse 19–31). Der Kamin besitzt im oberen Teil einen großen Giebel, der mit der Person der Justitia mit Schwert und Waage verziert wurde. Neben Symbolen und Emblemen des Handels und der Schifffahrt an den Seiten des Kamins erinnert eine gusseiserne Ofenplatte an den Abschluss des Westfälischen Friedens. Sie zeigt ein Kissen mit einer Krone und einem Zepter darauf, darüber drei Tauben mit einem Ölzweig im Schnabel. Zusätzlich befindet sich eine Inschrift auf der Platte: „Anno 1648. Pax optima rerum, 24. Oct.“ Frei übersetzt bedeutet diese Inschrift: „Der Friede ist das höchste Gut, 24. Oktober 1648“. Über den Sitzbänken der Westwand sowie an der Südwand hängen 37 Porträts der Souveränen und Abgesandten während der Zeit der Verhandlungen zum Westfälischen Frieden. Davon hängen 29 an der Westwand, 25 von ihnen rechts der Eingangstür mit dem großen Windfang und vier links davon. An der Südwand zwischen Westwand und dem Kamin hängen weitere sechs Bilder und zwei links neben dem Kamin. Die Reihenfolge beginnt rechts oben an der Westwand mit Kaiser Ferdinand III. und den beiden Friedensvermittlern Alvise Contarini und Fabio Chigi, gefolgt von seinen kaiserlichen Gesandten und Kurböhmen, den Abgesandten aus Frankreich, Spanien, Schweden und den Niederlanden. Danach folgen sechs kurfürstliche Abgesandte des deutschen Reiches (die sechs Porträts rechts neben dem Kamin), Johann Rudolf Wettstein als Gesandter der Stadt Basel und Vertreter der Schweizerischen Eidgenossenschaft sowie Johann von Reumont, dem Stadtkommandanten der Stadt Münster zu jener Zeit und Verantwortlichen für die Sicherheit der Kongressteilnehmer (beide links neben dem Kamin). Im Rahmen der umfangreichen Restaurierungsarbeiten zum 350-jährigen Jubiläum des Westfälischen Friedens im Jahre 1998 wurden Ziffern auf den Bildern entdeckt. Da angenommen wird, dass sie die ursprüngliche Reihenfolge angeben, wurden die Bilder nach Abschluss der Arbeiten in dieser Reihenfolge neu aufgehängt. Sie unterscheidet sich daher von der Reihenfolge auf älteren Fotos des Friedenssaals. Die folgenden beiden Tabellen veranschaulichen die korrigierte Aufhängung: Von den insgesamt 37 Bildern wurden 34 durch den Porträtmaler Anselm van Hulle beziehungsweise durch seinen Gehilfen Jan Baptist Floris gemalt, der Kopien von den durch van Hulle erstellten Porträts anfertigte. Sie wurden am 7. Juli 1649 in der Ratskammer aufgehängt. Das Bild von Münsters Stadtkommandanten Johann von Reumont sowie das des schwedischen Gesandten Matthias Mylonius Biörenklou stammen nicht von Floris. Erst 1966 kam das Porträt des Gesandten der Stadt Basel, Johann Rudolf Wettstein, hinzu, als Geschenk des Kantons Basel-Stadt. Neben der Funktion als Sitzungssaal für die Ratsherren diente der Saal auch als Gerichtsstätte. Die Ratsherren waren dabei für die höhere Rechtsprechung zuständig. Dementsprechend finden sich in diesem Saal auch noch entsprechende Relikte. Eines davon ist die mitten im Raum stehende Gerichtsschranke, die Richter und Beisitzer von den Gerichtsparteien und Zuschauern trennte. Oberhalb der Schranke unter der Decke aufgehängt befindet sich eine Tafel, die die Richter zur Unparteilichkeit ermahnen sollte. Auf ihr steht „Audiatur et altera pars – Men hoere beide Parte“ geschrieben, was „man höre beide Parteien an“ bedeutet. Weiterhin befindet sich unter der Decke des Saals aufgehängt ein massiver Kronleuchter, der von flämischen Kunstschmieden geschaffen wurde. Er ruht auf dem Geweih eines ungeraden Achtenders und ist mit Jagdszenen und Tierdarstellungen verziert. Weitere Verzierungen bestehen aus dem Stadtwappen, einer spätgotischen Madonnenfigur, einer goldenen Krone sowie zwei goldenen Kugeln und einer geschnitzten Rose, aus der die Deckenaufhängung entspringt. Der äußere Ring um die geschnitzte Rose ist mit einer Umschrift aus Goldbuchstaben aus dem „Buch der Weisheit“, Kapitel 1, Vers 1, versehen. Sie lautet „Diligite iustitiam, qui iudicatis terram“ und bedeutet in der Übersetzung „Liebet die Gerechtigkeit, ihr, die ihr über die Erde richtet.“ Zusätzlich diente der Saal zwischen 1826 und 1862 als Sitzungssaal des Landtages der preußischen Provinz Westfalen, der alle zwei Jahre tagte, nachdem Münster durch den Wiener Kongress in den Jahren 1814/15 dem Königreich Preußen zugeordnet und zur Hauptstadt der Provinz Westfalen ernannt wurde. Zudem tagte hier im Jahre 1848 die Stadtverordnetenversammlung, als es zur Märzrevolution im Deutschen Bund und somit auch in Preußen kam. Festsaal Die Nutzung des Raumes vor dem Jahre 1861 ist unbekannt. Allerdings ist anzunehmen, dass er als zusätzliche Lagerfläche für Händler und Kaufleute diente, die ihre Waren auf den regelmäßig stattfindenden Märkten feilboten. Er befand sich jedoch in einem desolaten Zustand, so dass Wünsche zur Umgestaltung und Nutzung in der Bevölkerung aufkamen, insbesondere nachdem Pläne zur Verlegung des westfälischen Provinziallandtags in das Obergeschoss fallengelassen wurden. Die Umgestaltung in jenem Jahr nahm der geheime Regierungsbaurat Salzenberg vor und ermöglichte die Nutzung des Saals für Empfänge und größere Geselligkeiten. Salzenberg versah den Raum mit einem hochsteigenden Tonnengewölbe im Stile der Gotik, passend zu den großen gotischen Maßwerkfenstern auf der zum Prinzipalmarkt gelegenen Seite. Zur Realisierung des hochgezogenen Gewölbes bezog er die darüberliegenden Dachböden mit ein, so dass sich die Decke des Saals bis hoch unter den Giebel erstreckte. Die Längsseiten zierten zahlreiche lebensgroße Figurengemälde von Personen, die sich um die Stadt Münster verdient gemacht haben, unter anderem Karl der Große, Liudger und Freiherr Franz von Fürstenberg. Nachdem der bei der münsterschen Bevölkerung durchaus beliebte Saal bei der Zerstörung des Rathauses im Zweiten Weltkrieg ein Raub der Flammen wurde, ist er während des Wiederaufbaus im vollkommen neuer Form „rekonstruiert“ worden. Dabei wurde das Tonnengewölbe durch eine flache Deckenkonstruktion ersetzt, was der ursprünglichen Form der Decke entsprach. Auch kam es zu einer farblichen Umgestaltung. So ist der Raum seitdem in den Stadtfarben Gold, Rot und Silber gehalten. An der grundlegenden Funktion hat sich seit der Umwandlung in einen Festsaal 1861 allerdings nichts verändert. Jedoch dient der Saal auch regelmäßig als Tagungsort des münsterschen Stadtrates. Rüstkammer Die Rüstkammer befindet sich im Hauptgeschoss oberhalb der Ratskammer und entspricht ihr in den Ausmaßen. Während früher in diesem Raum das Waffenarsenal der Stadtwache untergebracht war, ist er nun ein großzügiger Kaminraum, was nicht zuletzt der zurückhaltenden Einrichtung zu verdanken ist. Keller Sowohl die Bürgerhalle als auch die Ratskammer sind unterkellert und wurden ab 1545 zur Lagerung von Wein verwendet. Bereits ab 1550 gab es einen „Rats-Weinschenk“ im Keller des Rathauses. Die alte Balkenkonstruktion der Decke wurde im vorderen Teil unterhalb der Bürgerhalle 1563 und unterhalb der Ratskammer beim großen Umbau des Rathauses 1576 durch gemauerte Kreuzgewölbe ersetzt. Bis zur Eröffnung des Stadtweinhauses im Jahre 1616 lagerten bis zu 20.000 Liter Wein in den Fässer im Rathauskeller. Nachdem der Wein daraufhin umgelagert wurde, diente der Keller als Lagerfläche, die an Kaufleute vermietet wurde. Zwischen 1924 und der Zerstörung des Rathauses gab es eine Gaststätte im Rathauskeller. Dachboden Der große Dachboden besteht aus vier Teilen und misst vom Boden bis zum Dachfirst 15 Meter. Drei davon wurden zur Lagerung von Tüchern, Holz und Getreide genutzt. Ab dem Jahr 1664 mussten die Kaufleute, die ihre Waren dort einlagerten, eine Pacht bezahlen. Die Ein- beziehungsweise Auslagerung der Waren fand durch drei Öffnungen in Spitzarkadenform im vorderen, zum Prinzipalmarkt zeigenden Giebel statt. Verschlossen waren sie mit Holztüren. Die Lagerung von diesen leicht brennbaren Waren wurde im Jahr 1774 durch den Rat der Stadt aufgrund der bestehenden Brandgefahr für das historische Gebäude verboten. Nachdem die Öffnungen für den Transport der Waren keine Funktion mehr hatten, wurden sie 1863 zugemauert. Sie sind als drei vertikal übereinander angeordnete Nischen in der Mitte des Rathausgiebels zu erkennen. Nutzungsarten Das deutsche Rathaus im Mittelalter besaß mitunter mehr Funktionen als reiner Versammlungsort. Für das münstersche Rathaus treffen neben den Funktionen als Bürgerhalle und Ratskammer die eines Richt-, Kauf-, Tuch-, Spiel-, Tanz-, Korn-, Rüst- und Weinhauses sowie der einer Hauptwache zu. Wie bereits erwähnt diente es als Gerichtshaus sowohl für die höhere Gerichtsbarkeit durch die Ratsherren in der Ratskammer als auch für die niedere Gerichtsbarkeit durch den von bischöflichen Landesherren eingesetzten Stadtrichter vor dem Rathaus beziehungsweise unter der Bogenhalle. Dabei beschränkten sich die Aufgaben des Stadtrichters im Wesentlichen auf die Ankündigung des Gerichtstages und die Verkündung des durch das hohe Gericht gefällte Urteil. Dennoch erhielt auch er ein Gerichtsbild zur Ermahnung an eine gerechte Urteilsfindung. Hermann tom Ring erschuf dieses Bild mit der Darstellung des Jüngsten Gerichts gegen 1558 am gegenüberliegenden Michaelistor. Auch als Spielhaus für öffentliche Aufführungen trat das Rathaus in Erscheinung. Allerdings war diese Art der Nutzung eher selten. Bezeugt sind nur Aufführungen in den Jahren 1537, 1552, 1601, 1611, 1612 und 1645. Über Tanzveranstaltung finden sich noch weniger Überlieferungen. Wesentlicher Grund war das um 1265 erbaute Gruthaus, das für Veranstaltungen solcher Art wesentlich besser ausgestattet war. Auch die Feste und Feiern der ortsansässigen Gilden fanden in den eigenen Gildehäusern statt. Die einzige Überlieferung einer Tanzveranstaltung fällt in die Episode der Täufer, als Jan van Leiden im Jahre 1534 mit seinen Frauen und den Stadträten an drei aufeinanderfolgenden Tagen mit jeweils einem Drittel der Stadtbevölkerung getanzt und getafelt hat. Wesentlich wichtiger war die Funktion eines Kaufhauses. So war es während der Zeit der Jahrmärkte auch ortsfremden Händlern und Bürgern, die nicht Mitglied einer Gilde waren, gestattet, Waren innerhalb der Stadt zu verkaufen. Dazu erhielten die ortsansässigen Gilden die Genehmigung, ihre Stände im Rathaus aufzustellen, während sich die zuerstgenannten Gruppen den Platz im oberen Hauptgeschoss teilen mussten. Zur Lagerung entsprechender Waren wie Tüchern, Holz und Vorräte waren die vier Dachböden des Rathauses vorgesehen, die seine Funktion als Tuch- beziehungsweise Kornhaus beschreibt. Auch die Keller wurden zur Lagerung von Waren genutzt. Bei diesen Waren handelte es sich jedoch hauptsächlich um Wein, der ab 1616 im fertiggestellten benachbarten Stadtweinhaus gelagert wurde. Gleichzeitig bekam es die Funktion als Wiegehaus übertragen und die Stadtwaage wurde dementsprechend davor aufgebaut. An die Funktion eines Kaufhauses erinnert die an der Nordseite des Rathauses angebrachte Tafel mit einer „Preußischen Halben Ruthe“, der gesetzlichen Längeneinheit des Jahres 1816, mit der in Münster zu jener Zeit gemessen wurde und an die sich auch Händler beim Verkauf ihrer Waren halten mussten. Bei Streitigkeiten zwischen Käufer und Verkäufer diente sie zudem als Referenz für das im Rathaus tagende Gericht. Eine Nutzung als Hauptwache ist ab dem Jahr 1637 bezeugt, als eine Offiziersstube am Markt erwähnt wird. Nach der Niederlage und Kapitulation im Konflikt mit dem fürstbischöflichen Landesherren Christoph Bernhard von Galen 1661 befand sie sich durchgehend bis in das Jahr 1843 im Rathaus. Danach wurde sie ebenfalls in das benachbarte Stadtweinhaus versetzt. Die Waffen der Stadt befanden sich ebenfalls im Rathaus. Sie waren in der Rüstkammer im oberen Hauptgeschoss über der Ratskammer eingelagert. Heutzutage wird das Rathaus hauptsächlich nur noch für kulturelle oder repräsentative Anlässe wie zum Beispiel dem großen Bankett zum 350-jährigen Jubiläum des Westfälischen Friedens, der Vergabe des Internationalen Preis des Westfälischen Friedens oder der Ausrichtung des Kramermahls genutzt. Ratssitzungen finden hier allerdings immer noch statt, wenn auch nicht in der Ratskammer, sondern im Festsaal. Neben dem offiziellen Empfang von Würdenträgern und der Ausrichtung von Festivitäten, beispielsweise Jubiläen örtlicher Vereine, wird es regelmäßig während Wahlen als Zentrale des Wahlamtes sowie zur Verkündung der Wahlergebnisse verwendet. Darüber hinaus ist die Liveübertragung eines Fernsehgottesdienstes, mit dem das ZDF eigenen Angaben zufolge regelmäßig rund 700.000 Zuschauer erreicht, aus dem Friedenssaal nennenswert, die am 22. September 2013 erfolgte. Am 3./4. November 2022 fand im Friedenssaal des Rathauses das Treffen der Außenminister der G7-Staaten unter Leitung von Außenministerin Annalena Baerbock statt. Auf Kritik stieß dabei in der Öffentlichkeit, dass im Zuge einer Umgestaltung des Saals für das Treffen auf Wunsch der Protokollabteilung des Außenministeriums das Kreuz an der Nordwand des Saales entfernt wurde. Das Rathaus als Museum Neben der Aufbewahrung und Ausstellung von diversen Kunstgegenständen sowie Kunstschätzen der Stadt kann das Rathaus bereits ab der Mitte des 16. Jahrhunderts als Vorläufer eines modernen Museums angesehen werden, das an bedeutende Ereignisse erinnern und gleichzeitig ermahnen soll. Aufgrund des Kapitels der Herrschaft der Täufer in Münster zierten die vier Folterzangen alsbald die Pfeiler der Bogenhalle. Neben den Käfigen der Lambertikirche, in denen die Leichen der Täufer zur Schau gestellt wurden, dienten sie als mahnendes Beispiel und zur Abschreckung. Erst bei der Renovierung des Giebels im Jahre 1848 wurden sie von dort entfernt und in den Friedenssaal verbracht. Dort hingen sie bis ins Jahr 1921, als sie an das Landesmuseum verliehen wurden. Ein weiterer Gegenstand des Ensembles war das Folterhalseisen. Dabei handelt es sich um eisernes Halsband, an dem eine ebenfalls eiserne, bewegliche, 15 cm hohe und 14 cm breite Gesichtsmaske angebracht ist. Auf der Innenseite des Halsbandes befinden sich vorne acht 1,6 cm lange und hinten sechs 2 cm lange Stacheln, die sich dem Träger in den Hals bohrten. Obwohl es anzunehmen ist, dass es nicht bei der Folter des Täuferkönigs Jan van Leiden verwendet worden ist, so stammt es zumindest aus derselben Epoche. Wahrscheinlich wurde er zur Folter der Gefangenen nach der Niederwerfung des Aufstandes von Heinrich Mollenhecke verwendet, der sich gegen die Einführung der Polygamie durch die Täufer zur Wehr setzte und von ihnen deshalb gefoltert wurde. Ganz im Gegensatz zu den Erinnerungen an die Epoche der Täufer steht der Friedenssaal als Zeugnis für die Bemühungen um Frieden und Sicherheit in Europa. Aufgrund seiner historischen Bedeutung wurde er seit dem Abschluss des Westfälischen Friedens im Jahre 1648 nicht mehr verändert. Spätestens im Jahre 1803 nach der Besetzung des Hochstifts Münster und der Stadt selbst durch die Preußen war man sich der Funktion als Gedenkstätte bewusst. So wurde bei der Umgestaltung des Rathauses vorgeschlagen, den Friedenssaal in seiner Form zu erhalten. Auch beim großen Umbau und der Renovierung des Rathauses im Jahre 1848 blieb er unberührt. Maßgeblichen Einfluss hatte die Bestimmung des preußischen Königs Friedrich Wilhelm III. bei seinem Besuch am 21. September 1817, dass der Friedenssaal zu erhalten sei und nie für andere Zwecke benutzt werden sollte. Historische Waffen und Gegenstände Das Rathaus beherbergt auch eine Sammlung weiterer historischer Gegenstände. Der Kunstbesitz der Stadt hingegen ist weitestgehend als Leihgabe im Landesmuseum ausgestellt. Ebenso befinden sich Teile der Gegenstände im Landesmuseum, von denen einige allerdings nicht mehr alle erhalten sind, da sie dem Zweiten Weltkrieg zum Opfer fielen. Waffen Beim ersten Teil der Exponate handelt es sich größtenteils um alte Waffen aus städtischem Besitz. Erhalten sind zwei von drei historischen Harnischen, die alle um 1550 geschaffen wurden. Sie sind in der Bürgerhalle ausgestellt. Dort finden sich ebenfalls drei Richtschwerter, die jeweils eine Länge zwischen 82 cm und 86 cm aufweisen. Das älteste von ihnen datiert um das Jahr 1550, das jüngste um das Jahr 1600. Auch acht Schlachtschwerter sind erhalten. Sie gehörten einst der Großen Schützenbrüderschaft, die nach der Herrschaft der Täufer in Münster im Jahre 1557 neu gegründet wurde. Entstanden sind die mit einer 1,20 m langen Klinge versehenen Schwerter vermutlich um das Jahr 1570. Ein weiteres Exponat ist eine Sammlung von zehn Stangenwaffen. Bei dreien dieser Waffen handelt es sich um Partisanen. Zwei von ihnen entstanden um das Jahr 1600, eine gegen Ende des 16. Jahrhunderts. Ebenfalls aus der Jahrhundertwende des 16. und 17. Jahrhunderts stammen insgesamt sechs eiserne Hellebarden. Die letzte dieser Stangenwaffen ist ein Kriegsflegel. Allerdings ist dieser spätestens seit dem Jahre 1933 kein Original mehr, da dieser vom Holzwurm zerfressen wurde. Ein besonderes Exponat ist ein 2,49 m langes Riesenschwert mit einer 1,45 m langen und durchschnittlich 15 cm breiten, geschärften Klinge. Geschmiedet wurde es wahrscheinlich in der ersten Hälfte des 17. Jahrhunderts. Die größte Waffe überstand den Zweiten Weltkrieg jedoch nicht. Es handelte sich dabei um eine 3,78 m lange Riesenhellebarde, die zusammen mit dem Riesenschwert angefertigt wurde. Welchem Zweck diese beiden monumentalen Waffen dienten ist nicht hinreichend geklärt. Sie könnten jedoch Teil einer Theateraufführung von David und Goliath im 16. oder 17. Jahrhundert gewesen sein. Zur Ausstellung des Rathauses gehörten auch eine Wallbüchse aus dem Jahre 1586 mit einem Kaliber von 3 cm und ein Wallbüchsenlauf aus der zweiten Hälfte des 16. Jahrhunderts mit einem Kaliber von 3,3 cm. Es ist unbekannt, wie die Stadt in den Besitz dieser Waffen gekommen ist. Erhalten von diesen beiden Stücken ist noch der einzelne Lauf. Fahnen und Standarten Alle im Rathaus ausgestellten Fahnen haben den Zweiten Weltkrieg überstanden und sind im Landesmuseum ausgestellt. Dabei handelt es sich um die beiden Friedensfahnen aus dem Jahre 1648 sowie die Fahne von der Einführung des Fürstbischofs Ferdinand von Fürstenberg von 1678. Ebenfalls zur Ausstellung gehören zwei Standarten des Freiwilligenkorps der bürgerlichen Kavallerie. Sie wurden am 3. Mai 1763 geweiht und gelangten durch einen Nachlass in den Besitz der Stadt. Aus den Jahren 1780 und 1781 stammten drei Laischafts-Fahnen aus den Laischaften Lamberti, Ludgeri sowie Liebfrauen, das heißt den weltlichen Gesellschaften aus den jeweiligen Pfarrbezirken. Bei den letzten historischen Fahnen handelte es sich drei Fahnen der Bürgergarde aus dem Jahre 1815. Ratssilber Zur Ausstellung gehört auch das erhaltene Ratssilber. Obwohl es sich hierbei um eine stattliche Sammlung handelte, kann sie sich mit denen anderer Städte nicht verglichen. Das liegt daran, dass die Stadt Münster ihr Ratssilber öfters neu aufbauen musste. So zerstörten die Täufer während ihrer Herrschaft 1534/35 die komplette Sammlung. Auch in Notzeiten wurde es eingeschmolzen und veräußert, zum Beispiel während der Belagerung durch Fürstbischof Christoph Bernhard von Galen im Jahre 1661. Aber nicht nur Not und Zerstörung trugen zum Verlust bei. Oftmals wurde das Silber an wichtige und einflussreiche Personen und Offiziere verschenkt. Letztendlich blieben nur drei Teile erhalten. Weitere Gegenstände Die Liste der Einzelstücke ohne eine besondere Zuordnung beginnt mit dem Stab des Türwärters. Dieser 128,4 cm lange, 1,7 cm bis 2,3 cm dicke und mit zwei Kugeln mit je 6,7 cm und 18,8 cm Durchmesser versehene Stab entstand vermutlich im Jahre 1545. Als gesichert gilt aber ein Entstehungsdatum vor der Wiedereinführung der Gilden im Jahre 1553, da dem Stab ein Stadtbeschauzeichen und ein Meistervermerk fehlt. Der zweite Gegenstand ist ein Spielmannswappen aus vergoldetem Silber mit einem Durchmesser von 13,3 cm. Die Vorderseite des Wappens zeigt das Wappen der Stadt Münster in der Schmuckfassung mit Helm und Löwen. Obwohl es das Entstehungsdatum 1606 auf der Rückseite trägt, ist auf der Rechnung des Stadtkämmerers für das Jahr 1605 vermerkt. Dieser Umstand lässt sich durch die Ratswahl am 20. Januar 1606 erklären, dass Rechnungen bis zu diesem Zeitpunkt unter dem Jahr 1605 weitergeführt wurden. Das Besondere am Münzbecher ist nicht seine Entstehungszeit in der zweiten Hälfte des 17. Jahrhunderts, sondern sind die in das Metall eingelassenen Münzen. An der Außenseite befinden sich in zwei Reihen übereinander jeweils sieben, meist sächsische Taler. Den Boden des Bechers ziert eine Gedenkmünze Engelbert Kettlers an den Westfälischen Frieden von 1648. In den Deckel ist eine Nachprägung einer Münze der Täufer eingelassen. Ebenfalls in Verbindung mit Münzen stehen die Münzprägemaschinen, die von einem Münzfälscher um 1686 zum Prägen von falschen Münzen verwendet worden sein sollen. Beide Exponate befinden sich als Leihgabe im Landesmuseum. Ebenfalls im Landesmuseum sind die Reste eines Himmelbettes zu sehen. Sie wurden zunächst als Bettlade des Anführers der Täufer, Jan van Leiden, angesehen. Allerdings stammen sie aus dem Wohnhaus eines anderen Täufers, nämlich von Bernd Knipperdolling, um das Jahr 1550. Zu welchem Zeitpunkt sie in den Besitz der Stadt übergingen ist nicht bekannt. Der Zeitraum lässt sich jedoch zwischen 1759 und 1836 begrenzen. Abschließend befinden sich noch 26 Sitzkissen im Rathaus für die Sitzbänke in der Ratskammer. Sie dienten als Sitzunterlage für die 24 Ratsherren und die beiden Bürgermeister. Dabei sind die Kissen in zwei Gruppen zu je 13 Kissen aufteilen, erkennbar an der unterschiedlichen Gestaltung des aufgebrachten Stadtwappens. Die erste Hälfte entstand vermutlich um das Jahr 1537, die zweite Hälfte um 1553. Besonderheiten Am 22. Januar 1536 war das Rathaus Schauplatz der öffentlichen Hinrichtung der drei Anführer der Täufer von Münster durch die wiedererstarkte katholische Kirche. Gegen 8 Uhr vormittags wurden sie dazu auf ein Podest vor dem Rathaus geführt. Jan van Leiden, selbsternannter König des sogenannten Königreiches Zion, wurde an einen Pfahl gebunden und durch glühende Zangen zu beiden Seiten durch einen Henker aus Paderborn und einen aus Münster zerrissen, bevor er durch einen Messerstich in die Brust erdolcht wurde. Es soll noch über eine Stunde gedauert haben, bis van Leiden daran gestorben ist. Die Hinrichtung der beiden anderen Anführer, Bernd Krechting und Bernd Knipperdolling, erfolgte auf dieselbe Art und Weise. Die vier dafür verwendeten Zangen wurden anschließend an den Säulen der Bogenhalle angebracht. Sie dienten zur Mahnung und Abschreckung möglicher Aufrührer gegen den Bischof, und wie mit ihnen in Münster verfahren wird. Seit dem Jahr 1578 wird während der Zeit des dreimal jährlich stattfindenden Jahrmarktes, dem Send, das sogenannte Sendschwert an der nordwestlichen Ecke des Rathauses aufgesteckt. Die Wahl fiel auf diese Ecke, weil das Sendschwert so vom Markt auf dem Domplatz aus durch das Michaelistor der Domburg noch zu sehen war. Es dokumentiert das Marktrecht der Stadt Münster und zugleich ein verschärftes Strafrecht während der Zeit des Jahrmarktes. In den Zeiträumen zwischen den Jahrmärkten hängt es in der Bürgerhalle des Rathauses. Seit dem Jahr 2001 handelt es sich bei dem Schwert jedoch um eine Replik, nachdem das über 400 Jahre alte Original von Dieben in der Sendnacht auf den 24. Oktober 2000 gestohlen wurde und bislang unauffindbar ist. Der Arm aus Holz, der das Schwert hält, wurde schon 1923 durch eine Replik ersetzt, da der originale Arm vom Holzwurm durchlöchert worden war. Im Friedenssaal des Rathauses befinden sich in Vitrinen ausgestellt drei, teils mysteriöse Gegenstände aus Münsters Vergangenheit. Ein Gegenstand ist der Goldene Hahn der Stadt, ein Trinkgefäß aus vergoldetem Silber, das in Nürnberg gefertigt wurde. Das Jahr lässt sich nicht genau beziffern. Einige Quellen gehen vom Jahr 1600, andere von 1621 aus. Dieses Gefäß wird heute vor allem für die Begrüßung von Ehrengästen eingesetzt, die daraus nach dem Eintrag ins Goldene Buch der Stadt trinken. Dazu wird der Hahn mit Wein gefüllt. Er fasst ungefähr den Inhalt einer normalen Weinflasche. Einer Sage nach wurde der Goldene Hahn durch einen münsterschen Ratsherrn gestiftet, nachdem der letzte Hahn der Stadt während der Belagerung durch Fürstbischof Christoph Bernhard von Galen kurz vor seiner Köpfung entwischt war und auf der Stadtmauer entlang gelaufen war. Dies brachte den Fürstbischof zu der Einsicht, dass eine Belagerung der Stadt und das Warten auf eine Hungersnot sinnlos seien, da noch genug Essensvorräte in der Stadt seien, so dass er daraufhin die Belagerung abbrach. Dies steht im Widerspruch zur Zeit der Erschaffung des Hahns, da eine Belagerung der Stadt durch von Galen frühestens im Jahre 1657 stattfand. Bei dem zweiten Gegenstand handelt es sich um einen Pantoffel aus den Jahren zwischen 1620 und 1640. Die Herkunft sowie der Grund der Aufbewahrung sind nicht überliefert. Ursprünglich wurde der Pantoffel Elisabeth Wandscherer zugeschrieben, einer der vielen Ehefrauen des Anführers der Täufer in Münster, Jan van Leiden, der sie 1535 eigenhändig geköpft hat. Neuere Quellen gehen jedoch davon aus, dass der Schuh Anne von Bourbon, der Herzogin von Longueville gehörte, die ihren Ehemann Henri II. d'Orleans und Herzog von Longueville zu den Friedensverhandlungen zum Westfälischen Frieden begleitet hatte. Der wohl merkwürdigste Gegenstand sind die Überreste einer abgeschlagenen Hand, die auf einem Kästchen aus Eichenholz ruht. Wie schon beim Pantoffel ist über die Herkunft wenig bekannt. Fest steht nur, dass das Kästchen aus der zweiten Hälfte des 16. Jahrhunderts stammt. Glaubt man einer Überlieferung, soll es sich um die Hand des Urkundenfälschers Küster Brand zu Löhningen handeln, die ihm am 14. Januar 1705 abgehackt wurde und zur Abschreckung möglicher Straftäter diente. Allerdings könnte sie auch eine Ermahnung an Prozessbeteiligte gegen Falschaussage und Meineid gewesen sein. Nach Einschätzung des forensischen Archäologen und Historikers Peter Pieper wurde die Hand nicht abgeschlagen, sondern chirurgisch abgetrennt, weswegen die Annahme naheliegt, dass es sich um ein Leibzeichen eines Opfers handelt, über welches vor Gericht verhandelt wurde. Weiterhin sei anzunehmen, dass der Mörder nicht ermittelt und der Prozess nicht abgeschlossen werden konnte, weswegen die Hand aufbewahrt wurde. Neben den Gegenständen des Friedenssaals ist eine weitere Besonderheit ein Originalstein aus der am 15. Februar 1945 zerstörten und mittlerweile wieder aufgebauten Dresdner Frauenkirche, der sich in der Eingangshalle des Rathauses auf der Innenseite der vorderen Wand zum Prinzipalmarkt hin befindet und im Mai 2005 als Zeichen für die Dankbarkeit für 60 Jahre Frieden in Europa angebracht wurde. Im Gegenzug wurde ein Stein des in Münster während des Zweiten Weltkriegs zerstörten Klarissenklosters beim Wiederaufbau der Frauenkirche sichtbar vermauert. Im Rathausinnenhof befindet sich die Plastik „Toleranz durch Dialog“ des baskischen Bildhauers Eduardo Chillida. Sie entstand im Jahre 1993 und besteht aus zwei überdimensionalen Bänken aus Stahl, deren Sitzflächen einander zugewandt sind und teilweise vom Künstler ausgehöhlt wurden. Damit sollen die Gegensätze zwischen Material und Leere, Schwergewicht und Leichtigkeit sowie Offenheit und Geschlossenheit symbolisiert werden. Durch die einander zugewandte Anordnung der Bänke möchte der Künstler ausdrücken, dass die Annäherung dieser gegensätzlichen Zustände durch einen Dialog möglich ist. Nebengebäude Neben dem Hauptgebäude gehörten zeitweise auch noch weitere Nebengebäude zum Rathaus. Bis auf das Stadtweinhaus existieren jedoch keine dieser Gebäude mehr. Sie werden im Folgenden vorgestellt. Stadtweinhaus Das Stadtweinhaus wurde in den Jahren 1615/16 unter dem Ersten Bürgermeister Bernhard II. von Droste zu Hülshoff durch Johann von Bocholt erbaut und ist das einzige noch erhaltene Nebengebäude. Es befindet sich nördlich vom eigentlichen Rathaus, nur durch eine schmale Gasse von ihm getrennt. Im ersten Obergeschoss befindet sich ein Übergang zwischen den beiden Gebäuden, der den Festsaal des Rathauses mit dem großen Saal des Stadtweinhauses verbindet. Es diente ursprünglich als Lagerhaus für den Wein der Stadt, der zuvor in den Kellern des Rathauses gelagert wurde. Ab dem Jahr 1843 wurde die Stadtwache in das Stadtweinhaus einquartiert. Sie befand sich zuvor seit der Niederlage der Stadt gegen Fürstbischof Christoph Bernhard von Galen im Jahre 1661 im Rathaus selbst. Ebenso war vor dem Haus die Stadtwaage aufgebaut, die in vielen anderen Rathäusern normalerweise innerhalb des Rathausgebäudes untergebracht war. An die Funktion als Lagerstätte für den Wein des Stadtrates erinnert eine Weinschenke im Erdgeschoss. Im Sommer ist die Weinprobe auch vor dem Gebäude möglich, wobei der Außenbereich mitunter weit in die Marktstraße des Prinzipalmarktes hineinreicht. Der große Saal, der sich hinter dem Balkon im Inneren des Gebäudes erstreckt, dient einerseits als Veranstaltungsort von Sitzungen des Stadtrates und andererseits als Festsaal. Sollten sich sowohl der Festsaal des Rathauses als auch des Stadtweinhauses als zu klein erweisen, so besteht über die Verbindung der beiden Räume die Möglichkeit auch große Festivitäten im historischen Ambiente abzuhalten. Der vorgelagerte Balkon dient unter anderem zur Begrüßung des alljährlich stattfindenden Rosenmontagszuges durch den Oberbürgermeister sowie anderen feierlichen und repräsentativen Anlässen. Gruthaus Das Gruthaus (siehe Grundrissplan Nr. 11), das sich östlich des Rathauses befand, stellte das größte Nebengebäude dar. Der Name leitet sich von einer Heidepflanze und der im weiteren Verlauf daraus gewonnenen Mischung zum Brauen von Bier ab. Entsprechend seinem Namen wurde in diesem Haus das Grutbier gebraut, das bis zum Ende des 15. Jahrhunderts das einzige in Münster gebraute Bier darstellte. Da das Monopol der Herstellung und des Verkaufs der Grut beim Landesherren lag, erwarb die Stadt zunächst ab 1265 ein Drittel davon sowie ab 1278 die gesamte Menge vom bischöflichen Landesherren und braute ihr eigenes Bier im Gruthaus gegen eine jährliche Zahlung an das Domkapitel. Im 14. Jahrhundert bestritt die Stadt durch den Verkauf der Grut etwa zwei Drittel ihres Haushalts. Die Einnahmen wurden in Gold und Silber angelegt, woraus u. a. der Goldene Hahn gefertigt wurde. Am 23. November 1663 übernahm sie mit einer Zahlung von 30.000 Talern das Grutmonopol. Entsprechend wird angenommen, dass das Gruthaus um 1265 mit dem Beginn des Bierbrauens durch die Stadt entstanden ist. Es wurde vermutlich gegen Ende des 15. Jahrhunderts beziehungsweise Anfang des 16. Jahrhunderts durch einen Neubau ersetzt und 1867/68 abgebrochen. Bis dahin beherbergte es mit dem Grutsaal den Repräsentationssaal der Stadt. Neben Festen und Feierlichkeiten konnten auch anderen Gesellschaften ihn für ihre Feiern anmieten. An das Gruthaus, in welchem die Abgaben für das Bierbrauen erhoben wurden, erinnert die Gruetgasse. Bereits 1501 wurde der Weg Gruetstegge genannt. Schreiberei Über die im Jahre 1870 abgebrochene Schreiberei (siehe Grundrissplan Nr. 10) liegen nur äußerst wenige Informationen anhand von Grundrissen um 1815 und einiger weniger Fotografien vor. Dabei handelte es sich bei diesem Gebäude um einen dreigeschossigen Anbau aus Backsteinen mit einem schlichten Dreiecksgiebel. Sie entstand vermutlich gegen Ende des 15. oder Anfang des 16. Jahrhunderts. Fest steht jedoch, dass Jan van Leiden, der Anführer der Täufer in Münster, im Jahre 1535 in das Gefängnis der Schreiberei verbracht wurde. Dieses befand sich im Kellergeschoss und bestand aus einigen wenigen Zellen. Im Erdgeschoss besaß die Schreiberei eine Zweiteilung durch eine Kaminwand in Nord-Süd-Richtung. Über die ursprüngliche Lage der Treppe in das Obergeschoss finden sich keinerlei Informationen. Bei der beim Abriss des Gebäudes im Jahre 1870 entfernten Treppe handelt es sich jedenfalls nicht um das Original, da unter ihr ein alter Kamin zum Vorschein kam, der zudem mit dem Stadtwappen der Stadt Münster geschmückt war. Über den Verbleib des Kamins existieren keinerlei Informationen. Schmiedeturm/Archiv Der Schmiedeturm (siehe Grundrissplan Nr. 9) entstand vermutlich gegen Ende des 16. Jahrhunderts als eigenständiges Gebäude nordöstlich des Hauptgebäudes. Seinen Namen verdankt es vier verhafteten Gesellen des Schmiedeamtes, die Anfang März 1618 in den Gewölben des Turms eingeschlossen wurde. Die Gesellen waren indes jedoch nicht die Einzigen, die eine Zeit lang im Turm verbringen mussten. Bis ins Jahr 1772 sind Inhaftierungen nachgewiesen. Die eigentliche Funktion des Gebäudes war jedoch nicht die eines Gefängnisses – Gefangene wurden wie oben erwähnt im Keller der Schreiberei inhaftiert –, sondern die des Stadtarchivs. Das zweigeschossige Gebäude war zu diesem Zweck durch eine Wand in Nord-Süd-Richtung zweigeteilt. Während die Gefangenen im westlichen Gebäudeteil des Erdgeschosses untergebracht wurden, begann der Umbau des östlichen Teils zum Archiv im Jahre 1576. Die Erweiterung des Obergeschosses zum Archiv wurde im Jahre 1624 durchgeführt. Es war über eine kleine Wendeltreppe in der Südostecke zugänglich. Seine Funktion als Archiv behielt das Gebäude auch nach seinem Umbau von 1869 bis zur Übersiedlung des Archivs im Jahre 1906 in das neue Stadtverwaltungsgebäude, von dem nur noch der Turm erhalten ist. Ab dem Jahre 1918 diente der freigewordene Raum im Obergeschoss als Asyl für Obdachlose. Nach starken Zerstörungen im Zweiten Weltkrieg im Jahre 1944 wurde der Schmiedeturm nicht wieder aufgebaut. Steveninks Hof Früheste Erwähnung des Steveninks Hof finden sich für das Jahr 1503. Seinen Namen erhielt es nach dem damaligen Besitzer Kordt Stevenink. Nachdem es von einem Stadtrat im Jahre 1571 für 2400 Reichsmark gekauft wurde, fand ab 1594 ein Umbau statt und der Stadtsyndikus wohnte fortan bis ins Jahr 1704 in diesem Gebäude. Gleichzeitig erhielt es die Bezeichnung Syndikatshaus. Eine Ausnahme stellte die Zeit der Verhandlungen zum Westfälischen Frieden dar, als der Stadtkommandant Johann von Reumont im Steveninks Hof sein Quartier bezog. Am 1. Oktober 1704 entscheidet der damalige Bischof Friedrich Christian von Plettenberg, dass von diesem Zeitpunkt an der Stadtrichter im Hof zu wohnen hat, um näher am Markt zu sein, wo die Gerichte abgehalten wurden. Das Gebäude wurde seitdem auch als Richthof bezeichnet. Weitere Nutzungen fanden durch die Jesuiten im Siebenjährigen Krieg statt, die es als Schule nutzten, nachdem in ihrem Gymnasium ein Lazarett untergebracht worden war. Im Jahre 1806 versuchte die Stadt zweimal das Gebäude zu versteigern. Nachdem der bei der ersten Versteigerung erfolgreiche Weinhändler Gräser das Haus doch nicht übernahm und die zweite Versteigerung aufgrund der erzielten Summe für ungültig erklärt wurde, bewohnte der Postsekretär Dieckmann das Haus ab 1812. In den Jahren von 1818 bis 1851 bewohnte es der damalige Stadtsekretär Höttger. Nach seinem Tod im Jahre 1851 wurde das Gebäude abgebrochen. Weinhof Der im Jahre 1853 abgebrochene Weinhof beherbergte ab dem Jahre 1604 die Wohnung des Stadtsekretärs. Vor dieser Funktion und der damit aufgegebenen Funktion als Weinhof diente das Gebäude offensichtlich als Synagoge für die erste jüdische Gemeinde in Münster. Nachdem die Juden für den Schwarzen Tod verantwortlich gemacht und um 1350 aus der Stadt vertrieben worden waren, konnte der Bischof als Landesherr frei über das Gebäude verfügen und verlieh es später an die Familie Stevenink, was wohl die Grundlage des großen Besitzes der Familie im Bereich des Rathauses erklärt. Ratsstall Das letzte der Nebengebäude stellte der um 1900 abgebrochene Ratsstall (siehe Grundrissplan Nr. 12) dar, über dessen Zeitraum der Erbauung nichts bekannt ist. Erstmalige Erwähnung des östlich der Schreiberei befindlichen Gebäudes finden sich für das Jahr 1546. Er wurde vom Rat der Stadt vor allem im 16. und 17. Jahrhundert genutzt, als dieser umfangreiche Pferdezucht und Pferdehandel betrieb. Literatur Max Geisberg: Die Bau- und Kunstdenkmäler von Westfalen. Bd. 41. Die Stadt Münster, Teil 2. Die Dom-Immunität, die Marktanlage, das Rathaus. Aschendorff, Münster 1976, ISBN 3-402-05091-9. Klaus Gruna: Das Rathaus zu Münster. Kleine Kunstführer. Bd. 1722. Schnell&Steiner, München/Zürich 1988. Otto-Ehrenfried Selle: Rathaus und Friedenssaal zu Münster. Westfälische Kunststätten. Bd. 93. Münster 2002. Weblinks Die Stadt Münster über den Friedenssaal (PDF; 961 kB) Historische und aktuelle Fotos des Friedenssaals im Bildarchiv des LWL-Medienzentrums für Westfalen 360°-Panorama auf de.180x360.eu Einzelnachweise Munster Baudenkmal in Münster Gotisches Bauwerk in Nordrhein-Westfalen Historisches Rathaus
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https://de.wikipedia.org/wiki/Gr%C3%BCner%20Baumpython
Grüner Baumpython
Der Grüne Baumpython (Morelia viridis) ist eine baumbewohnende Schlange aus der Gattung der Rautenpythons (Morelia) innerhalb der Familie der Pythons (Pythonidae). Die Art kommt auf Neuguinea, den vorgelagerten Inseln sowie auf der Kap-York-Halbinsel im Norden Australiens vor. Beschreibung Der Grüne Baumpython zeichnet sich durch einen verhältnismäßig schlanken Körper aus, auf den relativ langen Schwanz entfallen etwa 14 % der Gesamtlänge. Der Kopf ist groß und deutlich vom Hals abgesetzt. Er ist auf der Oberseite posterior stark aufgewölbt, die Schnauze ist groß und eckig. Der Körper ist im Querschnitt dreieckig mit deutlich sichtbarer Wirbelsäule. Die Art erreicht eine Gesamtlänge von 150 bis 180 Zentimeter, große Weibchen erreichen eine Länge bis 200 Zentimeter. Die Größe variiert je nach Herkunftsgebiet. Das Gewicht hängt stark vom Ernährungszustand des Tieres ab. Männchen können etwa 1100 bis 1400 Gramm schwer werden, Weibchen bis 1600 Gramm, besonders große Exemplare bis 2200 Gramm. Die Weibchen sind, wie bei den meisten Schlangen, etwas größer und schwerer als die Männchen. Beschuppung Das Rostrale ist groß, deutlich abgesetzt und oft so tief eingekerbt, dass die Schnauze vorn oft wie gespalten wirkt. Die Nasalia sind gewölbt und haben große, nach hinten und oben gerichtete Nasenlöcher. Die beiden Internasalia sind rund und durch mehrere kleinere Schuppen voneinander getrennt. Die Kopfoberseite zeigt sonst keine größeren Schuppen, zwischen den Augen können sich 20 kleine Schuppen befinden. In der Seitenansicht befinden sich zwischen dem Nasale und dem Auge 60 oder mehr kleine, unregelmäßig geformte Zügelschilde (Lorealia). Es gibt keine deutlich ausgebildeten Präocularia oder Postocularia; um das Auge liegen 11–19 kleine Schuppen und zwei Supralabialia grenzen von unten an das Auge. Die Anzahl der Supralabialia kann zwischen 12 und 16 liegen, die ersten zwei zeigen tiefe, schräge Labialgruben, die dritte zeigt eine flache Mulde. Die hinteren 6–7 der insgesamt 14–18 Infralabialia zeigen tiefe Labialgruben. Die Anzahl der Bauchschuppen (Ventralschilde) variiert zwischen 219 und 254, die Zahl der Subcaudalia zwischen 68 und 129 und die Anzahl der dorsalen Schuppenreihen in der Körpermitte zwischen 55 und 57. Neben dem Analschild können zwei in ihrer Ausprägung variable Aftersporne auftreten. Färbung Die Grundfarbe adulter Tiere ist oberseits ein satter Grünton, der in vielen Schattierungen vorkommen kann, sehr selten treten auch rein blaue Exemplare auf. Auf diesem Grund sind etwa eine Schuppe breite, weiße Flecken verteilt, die häufig besonders konzentriert auf dem kielartigen Rücken auftreten und dort manchmal ein fast durchgehendes Band bilden. Gelegentlich sind diese Flecke zu größeren, flächigeren Flecken vereint. Die Färbung des Bauchs und der Lippen schwankt von beige-weiß bis hin zu gelb. Die Schwanzspitze ist bräunlich oder schwarz. Die Pupillen sind senkrecht geschlitzt und die Iris silberfarben. Ungewöhnlich ist die Umfärbung der Jungtiere (ontogenetischer Farbwechsel), wie sie auch bei einigen anderen Schlangenarten vorkommt. Als Jungtier in einem leuchtenden Gelb oder Rot bis Rot-Braun gefärbt, nehmen die Tiere erst im Alter von sechs bis zehn Monaten ihre endgültige Färbung an. Die Schwanzspitze ist hellgelb und wird zum Anlocken von Beutetieren benutzt. Dieses Verhalten nimmt mit zunehmendem Alter ab, konnte aber auch bei adulten Tieren beobachtet werden. Der komplette Farbwechsel kann aber auch innerhalb weniger Wochen vollzogen werden oder bei manchen Tieren auch 2 bis 3 Jahre dauern. Warum die Jungtiere so eine leuchtende Farbe haben, ist nicht gänzlich geklärt. Man vermutet, dass auf diese Weise eine optimale Tarnung im Licht- und Schattenspiel des Regenwaldes möglich ist oder dass verschiedene natürliche Feinde das Jungtier für eine giftige Pflanze halten. Verbreitung und Lebensraum Das Verbreitungsgebiet des Grünen Baumpythons erstreckt sich auf die tropischen Regenwälder auf Papua-Neuguinea, dessen vorgelagerte Inseln sowie auf die Kap-York-Halbinsel in Australien. Es wurden Vorkommen bis 2.000 Meter über dem Meeresspiegel nachgewiesen. Als westlichster Fundort wird die Insel Gag verzeichnet, als östlichster Punkt wurde die Insel Normanby gemeldet, eine Neuguinea vorgelagerte Insel. Die Entfernung zwischen diesen beiden Punkten beträgt circa 3.000 Kilometer Luftlinie. In den Regenwaldgebieten ist keine Veränderung des Klimas in Zusammenhang mit der Jahreszeit zu verzeichnen. Die Niederschlagsmenge ist deutlich höher als die Verdunstungsrate und schwankt im Verbreitungsgebiet des Grünen Baumpythons standortbedingt zwischen 2.100 und 3.400 mm pro Jahr. Entsprechend ist auch die relative Luftfeuchtigkeit sehr hoch und beträgt tagsüber 70 bis 85 Prozent und steigt nachts auf Werte von 95 bis 100 Prozent an. Die Temperatur schwankt tagsüber zwischen 27 und 32 Grad Celsius und sinkt nachts auf 22 bis 25 Grad ab. Verhalten Der Grüne Baumpython verbringt den Großteil seines Lebens in Bäumen oder Sträuchern. Im Nordosten Australiens halten sich Jungtiere in Höhen bis maximal 10 m auf, während adulte Exemplare meist Bäume über die gesamte Höhe nutzen und oft in Höhen über 25 m festgestellt werden. In den Ruhephasen nehmen die Tiere eine charakteristische Stellung ein. Dabei hängt der Körper in mehreren engen Schlingen über einem Ast, wobei der Kopf in der Mitte aufliegt. Jagdweise und Ernährung Die Art ist ein Lauerjäger. Die wesentliche Jagdstrategie ist das bewegungslose Warten an einer geeigneten Stelle, bis Beute in Reichweite kommt. Der Grüne Baumpython ist dabei sehr standorttreu, an einer geeigneten Stelle halten sich die Tiere bis zu 14 Tage lang auf. Bei der Lauerjagd formt der Python mit dem vorderen Körperdrittel in einer Ebene eine annähernde „8“, so dass er mit dem Kopf sehr schnell eine bestimmte Distanz überbrücken und zubeißen kann. Für Jungtiere beträgt diese Distanz etwa 10 cm, bei größeren Tieren etwa 40 cm. Detaillierte Untersuchungen zur Jagdaktivität und Ernährung wurden bisher nur im Nordosten Australiens durchgeführt. Die tageszeitliche Jagdaktivität war hier sowohl vom Geschlecht als auch von der Körpergröße abhängig. Jungtiere jagten überwiegend am Tag. Mit zunehmender Größe wurde die Jagdaktivität von beiden Geschlechtern immer stärker auf die Nacht verlegt. Männchen mit einer Kopf-Rumpf-Länge über 100 cm jagten fast ausschließlich nachts, Weibchen dieser Größe jagten noch zu 10–20 % am Tag. Das kleinräumige Jagdhabitat war alters- und tageszeitabhängig unterschiedlich. Jungtiere wurden niemals in Lauerposition am Boden angetroffen, immature und erwachsene Exemplare tagsüber in weniger als 1 % der Fälle. Nachts erfolgten bei immaturen Schlangen 15 % aller Nachweise in Lauerstellung auf dem Boden, bei adulten Tieren stieg dieser Anteil auf 29 %. Die Nahrung besteht vor allem aus kleinen Säugetieren und Echsen, daneben werden auch Vögel und Insekten gefressen. Über Zufallsbeobachtungen hinausgehende Daten zur Ernährung liegen bisher wiederum nur aus Nordostaustralien vor, dort wurde das Beutespektrum anhand von acht Kotproben und vier direkten Beobachtungen ermittelt. Hauptbeutetier immaturer und adulter Tiere war die zu den Mosaikschwanzratten gehörende Melomys capensis, die in fünf der acht Kotproben nachgewiesen wurde, weitere Beutetiere waren ein unbestimmter Skink, zwei unbestimmte Vögel sowie zwei Schmetterlinge. Für Jungschlangen wurden einmal der Skink Carlia longipes, ein unbestimmter Skink und ein Käfer als Beute nachgewiesen. Fortpflanzung Wie alle Pythons ist auch der Grüne Baumpython eierlegend (ovipar). Er ist eine nichtsaisonale Schlange. Das bedeutet, dass die Paarung, die Eiablage und der Schlupf der Jungtiere zu jeder Zeit des Jahres erfolgen können. Die meisten Paarungen finden von September bis Ende Oktober statt. Wenn die Schlangen ihre Geschlechtsreife im Alter von zweieinhalb bis drei Jahren erreicht haben, begeben sie sich auf die Suche nach einem Geschlechtspartner. Trifft das Weibchen mehrere Männchen zur Paarung an, sind auch Mehrfachpaarungen mit wechselnden Geschlechtspartnern möglich. Weibchen stellen einige Zeit nach der erfolgreichen Paarung die Nahrungsaufnahme ein und beginnen mit der Suche nach einem geeigneten Eiablageplatz. Bevorzugt werden höher gelegene Höhlen in Bäumen aufgesucht, wobei aber jede versteckte Stelle, die genügend Schutz vor Feinden und ausreichende Feuchtigkeit bietet, als Brutplatz angenommen wird. Das Weibchen legt gegen Februar bis März, nach 70 bis 90 Tagen Trächtigkeit seine 5 bis 35 Eier im Versteck ab. Die Größe des Geleges hängt mit der Größe und dem Alter des Weibchens zusammen. Wie die meisten Pythonarten betreibt auch der Grüne Baumpython Brutpflege. Das Weibchen legt 45 bis 65 Tage lang seine Körperschlingen um das Gelege und hält mit kräftigen Muskelkontraktionen die Temperatur auf 29,5 Grad Celsius. Steigt die Temperatur darüber, lockert es die Schlingen und lässt Luft an die Eier. Die Weibchen fasten von der Paarung bis zum Schlupf der Jungtiere für einen Zeitraum von vier bis fünf Monaten. Die Männchen nehmen dagegen bereits nach der Paarung wieder Nahrung auf. In freier Natur lebende Tiere haben vermutlich nur alle zwei Jahre Nachwuchs. Bei einigen Weibchen kann es mit Beginn der Trächtigkeit zu einer Umfärbung ins Blaue oder Türkise kommen. Nach dem Schlupf der Jungtiere färben sie sich dann zurück in den ursprünglichen Zustand. Selten bleibt auch eine leicht blaue Färbung erhalten. In Gefangenschaft gehaltene Exemplare werden etwa 15 bis 20 Jahre alt. Die durchschnittliche Lebenszeit frei lebender Tiere ist unbekannt. Haltung Aufgrund ihrer baumlebenden Lebensweise sollte Morelia viridis ein hohes Terrarium geboten werden. Zur Berechnung des Mindestmaßes sollte die Größe des Terrariums 0,75 × 0,5 × 1,0 (Länge × Tiefe × Höhe in Metern) mit der Länge des Tieres multipliziert werden, wobei die maximale Höhe auf 2 Meter begrenzt wird. Über die Richtigkeit dieses Mindestmaßes wird in Fachkreisen häufig diskutiert, weil auch in wesentlich kleineren Terrarien schon erfolgreich Baumpythons gehalten und nachgezogen wurden. Außerdem bringen zu große oder hohe Terrarien oft Nachteile mit sich. So wird z. B. die Beheizung des Terrariums erschwert, was zum Ausbleiben eines optimalen Temperaturgefälles führen kann. Manche Autoren geben daher für adulte Tiere ein Mindestmaß von 0,90 × 0,60 × 0,60 und ein Idealmaß von 1,20 × 0,60 × 0,6–0,75 an. Aufgrund der Verbreitung im tropischen Australasien muss den Tieren ein dementsprechendes Klima geschaffen werden. Um eine Luftfeuchtigkeit zu erreichen, die im Regenwald herrscht, sollte täglich 2× gesprüht werden. Für die notwendige Temperatur von durchschnittlich 30 °C können Wärmespots genutzt werden. Außerdem sollten viele Ruhemöglichkeiten in Form von (quer verlaufenden) Ästen oder Lianen geschaffen werden. Systematik Die Erstbeschreibung des Grünen Baumpython erfolgte durch Hermann Schlegel im Jahre 1872 unter der Bezeichnung Python viridis. Morelia viridis wurde lange Zeit als einzige Art der monotypischen Gattung Chondropython geführt, da er durch den Greifschwanz mit geteilten Schuppen auf der Schwanzunterseite und das Fehlen der vorderen Oberkieferzähne sehr ausgeprägte Eigenmerkmale besitzt und sich von allen anderen Rautenpythons (Gattung Morelia) unterscheidet. Nach heutiger Erkenntnis handelt es sich dabei lediglich um Anpassungen an die baumbewohnende Lebensweise, die innerhalb der Gattung Morelia entstanden sind, und somit ist der Grüne Baumpython nicht als eigene Gattung abzugrenzen, sondern muss in diese Gattung eingestellt werden. Dabei steht er im Schwestergruppenverhältnis zum Rautenpython (Morelia spilota). Da die einzelnen Inselpopulationen sich teilweise morphologisch mehr oder weniger stark unterscheiden wird darüber diskutiert sie als Unterarten zu etablieren. Zurzeit werden die Tiere nach ihrem Herkunftsgebiet und deren typischen Merkmalen unterschieden und als Lokalformen betrachtet (Aru, Sorong, Biak, Kofiau etc.). Der Grüne Baumpython (Morelia viridis) hat eine starke anatomische Ähnlichkeit mit dem südamerikanischen Hundskopfschlinger (Corallus caninus), der in die Unterfamilie der Boaschlangen (Boinae) gestellt wird. Die beiden Arten sind also nicht näher miteinander verwandt und somit ein Beispiel für biologische Konvergenz. Name Von den Einheimischen auf Neuguinea wird der Grüne Baumpython als „Jamumong“ bezeichnet, auf der indonesischen Seite der Insel wird von einigen Stämmen „Ular hijau“ benutzt. Frei übersetzt bedeuten beide Namen Grüne Schlange. Im Englischen Sprachraum wird er „Green Tree Python“ genannt. Der früher gültige Artenname Chondropython viridis wurde abgeleitet von den griechischen Wörtern chondros (Knorpel) und python (Schlangenartiger Drache in der griechischen Mythologie). Der Zusatz viridis kommt ebenfalls aus dem Griechischen und bedeutet schlicht Grün. Gesetzliche Bestimmungen Der Grüne Baumpython wurde in das Washingtoner Artenschutzabkommen Anhang 2 und in den Anhang B der EU-Artenschutzverordnung aufgenommen. Deshalb darf er ohne Genehmigung privat gehalten werden, ist jedoch nach der Bundesartenschutzverordnung gegenüber der zuständigen Landesbehörde (Untere Naturschutzbehörde) meldepflichtig. Der Im- und Export dieser Tiere muss durch das Bundesamt für Naturschutz genehmigt werden. Vom Verkäufer oder Züchter wird ein Herkunftsnachweis ausgestellt, die Regelungen dafür sind von Bundesland zu Bundesland allerdings sehr unterschiedlich. Quellen Literatur Greg Maxwell: Morelia viridis – Das Kompendium. Chimaria Verlag, Frankfurt am Main 2005. ISBN 3-930612-79-8 Markus Weier, Ralf Vitt: Der Grüne Baumpython. Herpeton Verlag, Offenbach 22003. ISBN 3-9806214-1-3 Ron Kivit, Stephen Wiseman, Andreas Kirschner: Grüner Baumpython und Grüne Hundskopfboa. Kirschner & Seufer Verlag, Karlsruhe 2005. ISBN 3-9804207-9-5 Zdenek Vogel: Riesenschlangen aus aller Welt. Westarp Wissenschaften. Spektrum Akademischer Verlag, Magdeburg-Oxford 41996. ISBN 3-89432-463-5 J. G. Walls: The Living Pythons. T. F. H. Publications, 1998: S. 185–194. D. Wilson: Foraging ecology and diet of an ambush predator: the Green Python (Morelia viridis). In: R. W. Henderson and R. Powell (Eds.): Biology of the Boas and Pythons. Eagle Mountain Publishing Company, Eagle Mountain., 2007: S. 141–150. Einzelnachweise Weblinks Pythons
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https://de.wikipedia.org/wiki/Bahnstrecke%20Landau%E2%80%93Rohrbach
Bahnstrecke Landau–Rohrbach
|} Die Bahnstrecke Landau–Rohrbach ist eine 92 Kilometer lange Hauptbahn, die unter anderem über Annweiler am Trifels, Rodalben, Zweibrücken und Blieskastel verläuft. Sie entstand im Zeitraum von 1857 bis 1895 teilweise aus bestehenden Strecken. Der bedeutendste Abschnitt Landau–Zweibrücken ging am 25. November 1875 vollständig in Betrieb. Teilabschnitte der Strecke werden wahlweise als Südpfalzbahn (Landau–Zweibrücken), Queichtalbahn (Landau–Pirmasens Nord) oder Schwarzbachtalbahn (Pirmasens Nord–Rohrbach) bezeichnet. In ihren ersten Jahrzehnten war sie im Güterverkehr Bestandteil einer wichtigen Ost-West-Magistrale von der Saargegend nach Süddeutschland und besaß zusätzlich Bedeutung im Personenfernverkehr. Seit Ende der 1980er Jahre findet ausschließlich Nahverkehr statt. Die Strecke wurde ab 1994 im Kursbuch der Deutschen Bahn (DB) in zwei getrennten Kursbuchtabellen (Saarbrücken–Pirmasens und Pirmasens–Landau) aufgeführt. Gleichzeitig entfiel weitgehend der durchgehende Verkehr zwischen Landau und Saarbrücken zugunsten von Direktverbindungen nach Pirmasens. Der Güterverkehr kam 2002 zum Erliegen. Geschichte Übersicht Historisch betrachtet ist die Magistrale Landau–Rohrbach ein Konglomerat mehrerer Strecken. Dies hängt damit zusammen, dass die Erweiterung des pfälzischen Streckennetzes nach Eröffnung der Ludwigsbahn Ludwigshafen–Bexbach sich an letzterer orientierte. Die bedeutendste ist die 1874 und 1875 eröffnete Südpfalzstrecke Landau–Zweibrücken. Die restlichen, teilweise zuvor eröffneten Abschnitte entstanden hauptsächlich aufgrund lokaler Interessen als Teilstück anderer Strecken. Erst seit 1895 besteht die Strecke von Landau bis Rohrbach in ihrer heutigen Form. Errichtet wurden alle Teilstrecken von der Pfälzischen Ludwigsbahn-Gesellschaft, die ab 1. Januar 1870 Bestandteil der Pfälzischen Eisenbahnen war. Entstehung der Abschnitte Zweibrücken–Einöd und Bierbach–Würzbach Der älteste Teil ist der Abschnitt Einöd–Zweibrücken, der als Teil der Bahnstrecke Homburg–Zweibrücken entstand. Bereits 1844 bildete sich in Zweibrücken ein Komitee, das eine Zweigbahn von Homburg aus anstrebte. Zunächst stieß dieses Vorhaben jedoch in beiden Städten auf Widerstand. In Homburg wurden Befürchtungen laut, dass Handel und Gewerbe erheblichen Schaden hinnehmen müssten. In Zweibrücken beruhten die Vorbehalte hingegen darauf, dass die Stadt fortan erheblicher Rußbelästigung ausgesetzt wäre. Es mangelte auch an Fachkräften für eine Projektierung. Erst als die Pfälzische Ludwigsbahn von Ludwigshafen nach Bexbach 1849 auf voller Länge fertig gestellt war, konnte sich ihr Erbauer, der Eisenbahningenieur Paul Denis, diesem Projekt zuwenden. 1852 begann er mit den Planungen und der Kalkulation. Er kam zu dem Ergebnis, dass eine Strecke von Homburg über Schwarzenacker und Einöd nach Zweibrücken rentabel sei. Nachdem die Bauarbeiten am 1. Juni 1856 begonnen hatten, wurde die Strecke schon am 7. Mai 1857 eröffnet. Bereits im Zuge der Planungen der Ludwigsbahn gab es Erwägungen, die Stadt St. Ingbert wegen ihrer Kohlevorkommen und des dortigen Eisenwerks an das Eisenbahnnetz anzuschließen. Jedoch wurde stattdessen auf preußischen Druck eine Variante nach Bexbach vorgesehen, um später von dort aus ins Sulzbachtal einschwenken zu können. Zunächst war eine Bahnlinie auf kürzestem Weg von St. Ingbert nach Homburg geplant. Für eine solche hatte Denis bereits 1856 plädiert. Die Gemeinden entlang der Blies und des Würzbaches plädierten gegen den Widerstand der beiden Städte vehement für eine Streckenführung über ihr Gebiet. Eine Berechnung der Direktion der Ludwigsbahn kam zu dem Ergebnis, dass diese lediglich unwesentlich teurer sei als eine direkte Strecke der Relation Homburg–St. Ingbert, zumal die Grundbesitzer aus St. Ingbert hohe Preise für Abtretungen forderten. Dennoch sprach die befürchtete Verteuerung der Kohleförderung dieser Stadt gegen den geplanten Umweg. Die Ludwigsbahn-Gesellschaft gewichtete die Interessen der Orte entlang der beiden genannten Flüsse schließlich höher als die der St. Ingberter Grube. Sie stellte jedoch die Bedingung, dass die Erzeugnisse aus dieser Grube nicht teurer sein dürften als bei einer Direktstrecke. Die geplante Strecke sollte im Bahnhof Schwarzenacker von der Stichbahn nach Zweibrücken abzweigen und anschließend über Bierbach, Lautzkirchen, Niederwürzbach und Hassel nach St. Ingbert führen. Das Teilstück Schwarzenacker–Hassel wurde am 28. November 1866 eröffnet, die Durchbindung bis St. Ingbert durch den Hasseler Tunnel folgte am 1. Juni des Folgejahres. Entstehung des Abschnitts Landau–Zweibrücken Erste Bestrebungen für einen entsprechenden Bahnbau gehen bis 1837 zurück. Im Zuge der Aktienzeichnung der Pfälzischen Ludwigsbahn im Folgejahr gab es einen Vorschlag, die geplante Bahnstrecke über Zweibrücken und von dort aus entlang des Schwarzbaches über Rodalben, Annweiler und Langenkandel an den Rhein verlaufen zu lassen, der sich jedoch nicht durchsetzte. Dennoch setzten sich vor allem die Orte entlang der Queich für einen Bahnanschluss ein. Die pfälzische Eisenbahnverwaltung lehnte ihn jedoch zunächst ab, da er teuer sei und eine Konkurrenz zur Ludwigsbahn darstelle. Trotzdem konkretisierten sich ab 1863 entsprechende Pläne. Vor dem Hintergrund des Standpunktes der Bahnverwaltung zog ein lokales Komitee zunächst als Ersatzlösung die Einrichtung einer Zweigbahn von Landau nach Annweiler in Erwägung. Dann jedoch änderte es auf Betreiben der Stadt Landau seine Konzeption und setzte sich ebenfalls für den Bau einer Linie Landau–Pirmasens–Zweibrücken ein. Diesmal waren seine Bestrebungen erfolgreich: Die Genehmigung, einen geeigneten Entwurf unter Übernahme der Kosten anzufertigen, wurde erteilt. Die hierzu erforderliche Konzession wurde am 1. April 1865 erteilt. Über den Verlauf der Trasse zwischen Pirmasens und Zweibrücken herrschte Uneinigkeit, die sich in zwei unterschiedlichen Entwürfen niederschlug. Der erste Entwurf plädierte für eine Trasse über Hengsberg, während der zweite eine Führung über Walshausen und entlang der Trualb unter Einschluss von Hornbach und Ixheim bevorzugte. Genauere Untersuchungen führten zu dem Ergebnis, dass eine direkte Linienführung der Südpfalzbahn über Pirmasens aufgrund der schwierigen topographischen Situation in beiden Fällen große technische Probleme mit sich bringen würde. Eine neue Konzeption schlug einen Verlauf einige Kilometer nördlich der Stadt vor. Von Osten kommend führte er durch das Tal von Rodalb und Schwarzbach. Diese Linienführung hatte den Vorteil, dass nur eine geringfügige Steigung zu überwinden war und mit dem Neuhof-Tunnel bei Rodalben lediglich ein Tunnel gebaut werden musste. Zunächst wurde die Teilstrecke Landau–Annweiler fertiggestellt, die Inbetriebnahme fand am 12. September 1874 statt. Dabei wurden Teile des im ausgehenden 17. Jahrhundert errichteten Albersweilerer Kanals überbaut. Am 25. November des Folgejahres wurde die Strecke bis nach Zweibrücken verlängert. Gleichzeitig wurde vom Bahnhof Biebermühle aus, der im Mündungsbereich der Rodalb in den Schwarzbach entstand, eine Stichstrecke nach Pirmasens eröffnet, sodass eine Anbindung der Stadt an das neu entstandene Eisenbahnnetz gesichert war. Der Verwaltungsrat der Pfälzischen Eisenbahnen erachtete den seitherigen Bahnhof von Zweibrücken als Durchgangsstation für ungeeignet; es entstand stattdessen ein neuer weiter südlich. Obwohl die Strecke zunächst eingleisig war, wurde sie auf gesamter Länge zweigleisig projektiert. Unterbau, Kunstbauten und Überfahrten wurden entsprechend hergerichtet. Entwicklung zur wichtigen Ost–West–Verbindung (1875–1890) Der nördliche Ausgangspunkt der projektierten Bliestalbahn sollte anfangs im Bereich um Lautzkirchen liegen. Der zuständige Ingenieur, der aus Zweibrücken kam, sorgte jedoch dafür, dass die Strecke in seiner Heimatstadt begann und bis Einöd parallel zur 1857 eröffneten Bahnstrecke Homburg–Zweibrücken folgen sollte. Dies hatte mehrere Gründe: Die Orte im Bliestal gehörten größtenteils zum Bezirksamt Zweibrücken. Darüber hinaus sollte das benachbarte Homburg nicht zu viel Macht als Eisenbahnknotenpunkt erhalten. Des Weiteren sollte die Strecke ins Bliestal konzeptionell als Fortsetzung der Strecke Landau–Zweibrücken dienen. Bereits am 15. Oktober 1877 wurde der Streckenabschnitt Zweibrücken–Bierbach eröffnet, um Züge der Relation Zweibrücken–St. Ingbert zu ermöglichen. Nachdem die 1870 eröffnete Bruhrainbahn Bruchsal–Rheinsheim im Mai 1877 nach Germersheim durchgebunden worden war, entwickelte sich die Verbindung in Kombination mit der Strecke von Homburg nach Zweibrücken zu einer der wichtigsten Güterverkehrsstrecken in Deutschland. Sie diente vor allem dem Transport von Kohle und Eisen aus der „Saargegend“ zu den Industriezentren am Oberrhein und nach Süddeutschland. Dennoch mussten die aus Richtung Bexbach und Saarbrücken kommenden Kohlezüge im Bahnhof Homburg „Kopf machen“, sofern sie über die Südpfalzstrecke fuhren. Am 15. Oktober 1879 folgte die Durchbindung der Würzbachbahn nach Saarbrücken. Dadurch entfiel der Umweg über Neunkirchen und Bexbach der aus Saarbrücken kommenden Züge, zumal diese zuvor die Richtung in Homburg wechseln mussten. Folglich wurde der Transport von Kohle billiger und kürzer. Zwei Jahre später war es ebenso möglich, von Bexbach aus ohne Richtungswechsel über Zweibrücken und Landau zu fahren. Die zunehmende Verkehrsverdichtung machte es notwendig, die Kapazitäten der Strecke weiter auszubauen, sodass ab 1888 die Strecke von Landau bis Zweibrücken durchgängig zweigleisig befahrbar war. Im selben Jahr begann die Errichtung eines zweiten Gleises im Abschnitt Zweibrücken–Bierbach zusammen mit der sich anschließenden Bliestalbahn. Diese Maßnahme war zwei Jahre später abgeschlossen. Damit einhergehend sowie aufgrund einer neuen Betriebsordnung für bayerische Hauptbahnen erhielten die Bahnhöfe neue Signale für die Aus- und Durchfahrt. Entwicklung bis zum Ende des Ersten Weltkriegs (1890–1918) Der seit 1867 zwischen Hassel und St. Ingbert bestehende Hasseler Tunnel wies zunehmend bauliche Mängel auf, sodass Züge ihn aus Sicherheitsgründen nur mit geringer Geschwindigkeit passieren konnten. Außerdem war das Tunnelprofil mit einer Breite von 3,08 Metern und einer lichten Höhe von 4,44 Metern sehr klein, was den Kapazitäten weitere Grenzen setzte. Vor allem das Militär kritisierte diesen Zustand, da dadurch im Kriegsfall der schnelle Transport von Truppen und Material Richtung Frankreich nicht ausreichend gewährleistet war. Insgesamt drei Optionen standen zur Wahl: Bei der ersten sollte der Bestandstunnel neu ausgemauert werden. Die zweite sah einen neuen Tunnel vor und die dritte eine komplett neue Trasse, die über Rohrbach ohne einen Tunnel ausgekommen wäre. Aufgrund der strategischen Bedeutung der Strecke fiel auf Druck der Reichsregierung die Wahl auf die letztgenannte Variante. Da die Pfälzischen Eisenbahnen außerstande waren, die Maßnahme allein zu finanzieren, bezuschusste das Deutsche Reich das Projekt. Zwischen Würzbach und St. Ingbert entstand eine insgesamt 5,7 Kilometer längere Umgehungsstrecke über Rohrbach, die am 7. September 1895 in Betrieb ging. Dies machte zudem die Verlegung des Bahnhofs Hassel erforderlich. Die Direktverbindung von Würzbach–St. Ingbert wurde stillgelegt und abgebaut, alle Züge fuhren ab diesem Zeitpunkt über die neue Verbindungsstrecke zwischen Hassel und Rohrbach. Am 1. Januar 1904 wurde ebenfalls aus strategischen Gründen zusammen mit der vier Monate später eröffneten Glantalbahn eine Direktverbindung von Homburg nach Rohrbach in Betrieb genommen, die über Kirkel und Limbach führte. Dies hatte zur Folge, dass der Verkehr der Relation Homburg–Bierbach–St. Ingbert seine Bedeutung verlor. Während dieser Zeit wurden Streckenfernsprecher eingerichtet, die von Germersheim über Landau und Zweibrücken bis nach Saarbrücken reichten. Am 1. Januar 1909 ging die Magistrale zusammen mit den übrigen Bahnstrecken innerhalb der Pfalz in das Eigentum der Bayerischen Staatseisenbahnen über. In Zusammenhang mit der 1911 eröffneten nach Bundenthal-Rumbach führenden Wieslauterbahn entstand für diese neue Verbindung zwischen den Bahnhöfen Hinterweidenthal-Kaltenbach und Hauenstein der neue Abzweigbahnhof Kaltenbach Ost, der bereits wenige Jahre später in Hinterweidenthal umbenannt wurde. Der bisherige Bahnhof Hinterweidenthal-Kaltenbach erhielt die Bezeichnung Kaltenbach (Pfalz). Nach dem Beginn des Ersten Weltkriegs 1914 fuhren zwischen dem 9. und 16. August pro Tag 50 von Germersheim kommende Militärzüge zwischen Landau und Zweibrücken, 30 von ihnen fuhren über die Bliestalbahn nach Saargemünd, die restlichen über Rohrbach bis nach Saarbrücken. Zwischenkriegszeit (1918–1939) Nachdem Deutschland den Ersten Weltkrieg verloren hatte, wurde der Streckenabschnitt westlich von Zweibrücken mit Wirkung des 10. März 1920 dem neu geschaffenen Saargebiet zugeteilt, das auf Initiative der Siegermächte für die Dauer von 15 Jahren der Kontrolle durch den Völkerbund unterstand und während dieser Zeit französisches Zollgebiet war. Folglich war für ihn die Saareisenbahn zuständig, die aus der preußischen Eisenbahndirektion Saarbrücken hervorgegangen war. Entsprechend fanden in den Bahnhöfen Einöd und Zweibrücken Zollkontrollen statt. Der östliche Abschnitt ging im selben Jahr in das Eigentum der neu gegründeten Deutschen Reichsbahn über, die ihn zwei Jahre später der Reichsbahndirektion Ludwigshafen unterstellte. Mit der Rückgliederung des Saargebiets 1935 war die Reichsbahn für die Gesamtstrecke zuständig, wodurch die Zollkontrollen entfielen, die bisherige Saareisenbahn wurde in „Reichsbahndirektion Saarbrücken“ umbenannt. Im Zuge der Auflösung ihres Ludwigshafener Pendants gelangte der Abschnitt Godramstein–Zweibrücken am 1. April 1937 zur Direktion in Saarbrücken, der zuvor bereits das Teilstück Einöd–Rohrbach unterstand. Der Abschnitt Landau Hauptbahnhof – Landau West wurde zeitgleich in die Reichsbahndirektion Mainz eingegliedert. Die Nationalsozialisten ließen den Knotenbahnhof Biebermühle zur Vorbereitung auf den Westfeldzug in der zweiten Hälfte der 1930er Jahre grundlegend umbauen. Zum 1. Juli 1938 erhielt er den neuen Namen „Pirmasens Nord“, womit seiner Bedeutung für die Schuhstadt Rechnung getragen wurde, obwohl er sich nicht auf deren Gemarkung befand. Daneben verbesserten technische Neuerungen die Leistungsfähigkeit der Strecke. Zur selben Zeit entstand nördlich des Bahnhofs Pirmasens Nord eine Verbindungskurve, die im Zweiten Weltkrieg direkte Zugläufe der Relation Zweibrücken–Kaiserslautern über die Biebermühlbahn ermöglichen sollte. Zweiter Weltkrieg und Nachkriegszeit (1939–1960) Im Zweiten Weltkrieg war die Bahnlinie aufgrund ihrer strategischen Bedeutung mehreren Angriffen ausgesetzt, die sich ab 1944 verstärkten. Deshalb wurde der Verkehr teilweise eingeschränkt. Zunächst war am 25. April Landau betroffen, am 28. Juni war Zweibrücken das Ziel und am 21. Juli erneut Landau. Im September folgten Albersweiler und Godramstein und am 29. Dezember Annweiler. Im selben Monat sowie vom 3. bis 5. Januar des Folgejahres war abermals Landau Angriffsziel. Gegen Kriegsende befuhren ab 4. März 1945 Nachschubzüge der US Army die Strecke. Die Kampfhandlungen in den Folgetagen führten dazu, dass es ab dem 24. März zwischen Landau und Zweibrücken keinen Zugverkehr gab. Noch 1946 war der Streckenabschnitt Hinterweidenthal–Pirmasens Nord gesperrt. In der Folge der deutschen Kriegsniederlage demontierte die französische Besatzungsmacht als Teil deutscher Reparationsleistungen zwischen 1945 und 1948 das zweite Gleis der Bahnstrecke. Zudem wurde der westliche Abschnitt abermals dem erneut abgetrennten, nun Saarland genannten Gebiet zugeteilt. Für ihn waren ab diesem Zeitpunkt die Saarländischen Eisenbahnen (SEB) beziehungsweise ab 1951 die Eisenbahnen des Saarlandes (EdS) zuständig; erneut fanden in Einöd Zollkontrollen statt. Der restliche Teil der Bahnstrecke unterstand fortan der Betriebsvereinigung der Südwestdeutschen Eisenbahnen (SWDE), die 1949 in die neu gegründete Deutsche Bundesbahn (DB) überging. Bereits seit 1945 unterstand der innerhalb des ein Jahr später neu gegründeten Bundeslandes Rheinland-Pfalz befindliche Streckenabschnitt Landau–Zweibrücken der Mainzer Direktion. Im Juni 1949 wurde der Personenverkehr wieder aufgenommen. Im Streckenabschnitt Pirmasens Nord–Zweibrücken entstanden mit Höhmühlbach, Dellfeld Ort und Stambach drei neue Haltepunkte. Zur besseren Auslastung der Magistrale Saarbrücken–Neunkirchen–Ludwigshafen wurde der Durchgangsgüterverkehr mit Wirkung vom 1. Mai 1955 gesperrt. Mit der wirtschaftlichen Rückgliederung des Saarlandes 1959 wurde die Bundesbahn Eigentümerin der gesamten Strecke, die Zollkontrollen entfielen. Vom Bund erhielt die DB finanzielle Zuwendungen, die im Rahmen des Kalten Kriegs auf den Erhalt des Streckenabschnitts Landau–Zweibrücken aus strategischen Gründen abzielten. Schrittweiser Bedeutungsverlust (1960–1993) Weitere Auswirkungen auf die Entwicklung der Südpfalzstrecke hatte die bereits am 24. März 1945 gesprengte Germersheimer Rheinbrücke, die erst 1967 wiederhergestellt wurde. Dies führte zu einer Konzentration der Verkehrsströme auf die Bahnstrecke Mannheim–Saarbrücken. Zweimal diente die Magistrale von Landau nach Rohrbach in der Folgezeit als Umleitungsstrecke, so zunächst während der schrittweisen Elektrifizierung der Strecke Mannheim–Saarbrücken von 1960 bis 1964. Vor allem im Abschnitt Kaiserslautern–Neustadt führten diese Arbeiten wegen der zahlreichen Tunnels zeitweilig zu eingleisiger Streckenführung und Geschwindigkeitsbeschränkungen, so dass die Kapazität der Strecke stark eingeschränkt war. Aus diesem Grund fand in jenem Zeitraum der Güterverkehr verstärkt über die Bahnstrecke Landau–Rohrbach statt. Nach dem Eisenbahnunfall im Heiligenberg-Tunnel am 28. Juni 1988 war die Bahnstrecke Mannheim–Saarbrücken für die Dauer von 56 Stunden gesperrt. Ein Teil der Züge wurde während dieser Zeit ab Rohrbach erneut über Zweibrücken und Landau umgeleitet. Um 1967 wurde die Telegrafen-Freileitung entlang der Strecke abschnittsweise durch Fernmeldekabel ersetzt. Im Zuge der schrittweisen Auflösung der Mainzer Direktion 1971 wechselte der Abschnitt Landau–Wilgartswiesen mit Wirkung zum 1. Juni in den Zuständigkeitsbereich der Karlsruher Direktion, während für die Reststrecke ab dem 1. August die Saarbrücker Behörde verantwortlich zeichnete. 1975 wurde das hundertjährige Jubiläum des Streckenabschnitts Landau–Zweibrücken gefeiert, bei dem auch Dampfzüge verkehrten. 1982 fand das 125-jährige Jubiläum der in Einöd abzweigenden Bahnstrecke Homburg–Zweibrücken statt. Bei den Feierlichkeiten verkehrte ein Triebwagen des Trans-Europ-Express im Ring Zweibrücken–Homburg–Saarbrücken–Zweibrücken. In den 1980er Jahren baute die DB mehrere Unterwegsbahnhöfe zu Haltepunkten zurück. Die Stationen Einöd (Saar) (1989), Stambach (1984), Zweibrücken-Niederauerbach (1985) und Albersweiler (1984) gab sie für den Personenverkehr auf, dafür entstand für letztere ein näher am gleichnamigen Ort liegender Haltepunkt. Mit Einführung des Interregio gab es vor Ort Bemühungen, diesen auch hier verkehren zu lassen. Die DB veranstaltete am 16. März 1991 eine Werbefahrt zwischen Landau und Zweibrücken, obwohl sie nicht plante, die neue Zuggattung im Regelverkehr einzuführen. Dies brachte ihr Kritik ein. 1993 hegte die Bundesbahndirektion Saarbrücken Pläne, den Streckenabschnitt Annweiler–Zweibrücken stillzulegen. Deutsche Bahn (seit 1994) Nach der Bahnreform setzten sich die Umstrukturierungen zunächst fort. Zwar wurden die Planungen zur vollständigen Stilllegung der Strecke nicht realisiert, das Zugangebot wurde jedoch weiter reduziert. 1994 entstand der so genannte Rheinland-Pfalz-Takt, der eine Verbesserung des Zugangebotes sowie die Reaktivierung stillgelegter Bahnstrecken innerhalb von Rheinland-Pfalz vorsah. Im selben Jahr wurde die Strecke im Kursbuch in zwei Abschnitte aufgeteilt, wobei der Abschnitt Pirmasens–Saarbrücken fortan als Kursbuchstrecke 674 („Schwarzbachtalbahn“) und der Abschnitt Pirmasens–Landau als Kursbuchstrecke 675 („Queichtalbahn“) erschien. 1996 folgte die Integration des Abschnitts Landau–Rinnthal in den Tarifbereich des Verkehrsverbundes Rhein-Neckar (VRN), im selben Jahr galt der Karlsruher Verkehrsverbund (KVV) bereits innerhalb des Streckenabschnittes Landau–Godramstein. Am 1. Juli 1997 wurde auf der Wieslauterbahn der regelmäßige Ausflugsverkehr wieder aufgenommen und der zwischenzeitlich nicht mehr bediente Abzweigbahnhof Hinterweidenthal Ost zu den Betriebszeiten der Nebenstrecke für den Personenverkehr reaktiviert. Im September 2000 wurde das 125-jährige Jubiläum der Bahnstrecke mit Dampfzugfahrten der Ulmer Eisenbahnfreunde (UEF) gefeiert, sodass die Strecke erneut in das Bewusstsein der Öffentlichkeit rückte. Anders als 25 Jahre zuvor beschränkten sich die Feierlichkeiten jedoch auf den Abschnitt Landau–Pirmasens Nord. Im selben Jahr wurde der Abschnitt Wilgartswiesen–Zweibrücken wie die gesamte Westpfalz zunächst Teil des Westpfalz-Verkehrsverbundes (WVV), ehe dieser sechs Jahre später im Verkehrsverbund Rhein-Neckar (VRN) aufging. Seit 2005 ist der saarländische Streckenabschnitt Teil des Saarländischen Verkehrsverbundes (SaarVV). In der Folgezeit kamen mit Landau Süd, Annweiler-Sarnstall und Hauenstein Mitte drei neue Haltepunkte hinzu, mit Stambach und Einöd wurden zwei weitere reaktiviert. Die Infrastruktur der Strecke erfuhr in den Folgejahren eine Modernisierung. So ging im April 2010 das elektronische Stellwerk Landau in Betrieb, das seither den Landauer Hauptbahnhof und den Bahnhof Godramstein von Neustadt aus fernsteuert. Zur selben Zeit wurden viele Unterwegshalte darüber hinaus mit Fahrgastinformationsanlagen ausgestattet. Im September 2017 wurde der Teilbereich „Südpfalz“ des ESTW „Südliche Pfalz“ in der regionalen Bedienzentrale Neustadt (Weinstraße) in Betrieb genommen. Seither werden hierüber die Bahnhöfe Zweibrücken Hbf, Dellfeld, Pirmasens Nord, Pirmasens Hbf, Münchweiler (Rodalb) und Hinterweidenthal ebenfalls aus Neustadt ferngesteuert. Dies war ursprünglich bereits für den 19. Dezember 2016 geplant. Zukunftspläne Es wird immer wieder über die Einführung schneller Regionalexpress-Züge der Relation Saarbrücken–Karlsruhe diskutiert. Für die Realisierung wären nach Angaben des Zweckverbandes Schienenpersonennahverkehr Rheinland-Pfalz Süd (ZSPNV Süd) die Einrichtung einer Kreuzungsmöglichkeit in Thaleischweiler-Fröschen sowie ein weiterer Kreuzungsbahnhof notwendig. Für den Bundesverkehrswegeplan 2030 hat das Land Rheinland-Pfalz den zweigleisigen Ausbau und die Elektrifizierung der gesamten Strecke als „Ausbaukonzept West-Ost-Korridor/nördlicher Oberrhein“ angemeldet. Darüber hinaus sollen langfristig im Berufsverkehr Züge der Relation Landau–Dahn verkehren. Im Rahmen der Reaktivierung der Bahnstrecke Homburg-Zweibrücken soll der Abschnitt Zweibrücken Hbf – Einöd (Saar) elektrifiziert werden. Ab Dezember 2025 ist der Einsatz von Akkutriebwagen des Typs FLIRT Akku geplant. Verkehr Personenverkehr Zeit der Pfälzischen Ludwigsbahn-Gesellschaft Da vor allem derjenige Abschnitt westlich von Zweibrücken bauhistorisch ein Konglomerat unterschiedlicher Strecken bildete, fand in den ersten Jahrzehnten kein durchgehender Nahverkehr statt. Der Personenverkehr zwischen Zweibrücken und Einöd bestand ab 1857 als Teilstück der Bahnstrecke Homburg–Zweibrücken. Zwischen Bierbach und Würzbach war der Verkehr als Bestandteil der Würzbachbahn auf die Relation Homburg–St. Ingbert ausgerichtet. Entsprechend verkehrten dort in den ersten Jahren drei Zugpaare. Als 1877 in Zusammenhang mit dem Bau der Bliestalbahn eine Verbindung zwischen Einöd und Bierbach entstanden war, verkehrten zwei Jahre später nach Fertigstellung dieser Strecke Züge von Zweibrücken über Bierbach bis nach Saargemünd. Der Personenverkehr zwischen Landau und Zweibrücken spielte anfangs lediglich eine untergeordnete Rolle. Da die Würzbachbahn 1879 eine Fortsetzung bis nach Saarbrücken erhalten hatte, verkehrte ein Jahr später erstmals ein Fernzug der Relation München–Oostende über die neu entstandene Magistrale Landau–Zweibrücken–Bierbach–St. Ingbert–Saarbrücken. Zeitgleich war auf diese Weise eine deutlich kürzere Verbindung zwischen Homburg und Saarbrücken entstanden als die seit 1852 bestehende Verbindung über Bexbach und Neunkirchen, sodass auf dem Abschnitt Bierbach–Würzbach fortan Züge von Ludwigshafen nach Saarbrücken fuhren. Der Sommerfahrplan von 1880 wies ein Schnellzugpaar der Relation Bruchsal–Saarbrücken auf, das sich mehrere Jahrzehnte lang hielt. 1897 existierten Kurswagenverbindungen nach Metz und München, die über die Bliestalbahn fuhren. Erst nachdem die Würzbachbahn zwischen Würzbach und St. Ingbert 1895 eine neue Trasse über Rohrbach erhalten hatte, war die heutige Strecke vollendet. Dennoch gab es keinen umsteigefreien Nahverkehr von Landau bis Rohrbach. Der Fahrplan von 1897 enthielt durchgehende Nahverkehrszüge von Zweibrücken bis Germersheim, daneben verkehrten solche zusätzlich zwischen Zweibrücken und Biebermühle bis Pirmasens. Da aus strategischen Gründen 1904 eine Direktverbindung zwischen Homburg und Rohrbach und damit einhergehend die Bahnstrecke Mannheim–Saarbrücken in ihrer jetzigen Form entstand, verlor der Abschnitt Bierbach–Rohrbach für den Durchgangsverkehr der Relation Ludwigshafen–Saarbrücken an Bedeutung. Zwischen Landau und Zweibrücken verkehrten während dieser Zeit fünf Nahverkehrs- und zwei Schnellzüge; hinzu kam ein weiteres Zugpaar der Relation Zweibrücken–Pirmasens. Nach der Verstaatlichung bis zum Zweiten Weltkrieg 1910 existierten Schnell- und Eilzüge nach Saarbrücken, München und Metz. 1914 fuhr an Sonn- und Feiertagen auf dem Streckenabschnitt Landau–Hinterweidenthal ein Zugpaar, das über die 1911 eröffnete Wieslauterbahn bis nach Bundenthal-Rumbach verkehrte. Aus diesem entwickelte sich in den Folgejahrzehnten der sogenannte „Bundenthaler“. 1931 verkehrte letzterer bereits ab Neustadt, er begann vormittags und fuhr abends zurück. Bis Landau benutzte er die Pfälzische Maximiliansbahn. Ab dem Sommer 1930 verkehrte zwischen Rohrbach und Bierbach außerdem ein Ausflugszug der Relation Saarbrücken–Bingerbrück entlang der Glantalbahn. Die Bahnstrecke selbst war weiterhin Teil der West-Ost-Magistrale Saarbrücken–Bruchsal. Mit Inbetriebnahme der festen Rheinbrücke zwischen dem pfälzischen Maximiliansau und dem badischen Maxau entlang der Bahnstrecke Winden–Karlsruhe 1938 änderte sich jedoch der Fahrtweg der meisten, teilweise bereits in Trier beginnenden Fernzüge: Sie fuhren nach einem Fahrtrichtungswechsel in Landau fortan bis Winden über die Maximiliansbahn und anschließend weiter bis nach München. Entsprechend war die Relation Saarbrücken–Karlsruhe 1939 als Kursbuchstrecke 242 geführt. In diesem Jahr verkehrte unter anderem ein Eilzug der Relation Mannheim–Landau–Saarbrücken. Der Fahrplan von 1944 wies zum Teil durchgehende Nahverkehrszüge von Karlsruhe über Landau und Zweibrücken bis nach Saarbrücken auf. Nachkriegszeit und Deutsche Bundesbahn Die erneute Trennung des nun Saarland genannten Territoriums hatte zur Folge, dass bis Ende der 1950er Jahre mit Ausnahme eines Fernzuges der Relation München–Saarbrücken kein durchgehender Verkehr über Zweibrücken hinaus existierte. Der Bundenthaler wurde 1951 reaktiviert und verkehrte während dieser Zeit bereits ab Ludwigshafen. Bis Neustadt an der Weinstraße folgte er der Bahnstrecke Mannheim–Saarbrücken, um nach einem Richtungswechsel bis Landau die Maximiliansbahn und danach bis Hinterweidenthal die Bahnstrecke Landau–Rohrbach zu benutzen. Dieser Ausflugszug war stark frequentiert. Bis Landau bediente er alle Unterwegshalte und fuhr bis Hinterweidenthal als Eilzug; entsprechend hielt er in diesem Abschnitt ausschließlich in Albersweiler, Annweiler und Wilgartswiesen. Nach der Rückgliederung des Saarlandes an Deutschland war Zweibrücken weiterhin für die meisten Nahverkehrszüge End- beziehungsweise Ausgangspunkt. 1959 verkehrten über die Strecke außerdem Eilzüge der Relation Tübingen–Trier, die in Hinterweidenthal, Pirmasens Nord und Zweibrücken hielten; ebenso existierte eine Kurswagenverbindung bis nach Salzburg. Im Nahverkehr existierten sowohl Zugläufe Pirmasens Hauptbahnhof–Zweibrücken–Homburg als auch solche der Relation Landau–Homburg sowie von Landau und Pirmasens Hauptbahnhof, bei letzteren war im Bahnhof Pirmasens Nord ein Fahrtrichtungswechsel erforderlich. Die in den 1980er Jahren erfolgten Rückbauten hatten zunächst keine Auswirkungen auf den Personenverkehr zwischen Rohrbach und Landau. So wurden ab dem 31. Mai 1985 im Zwei-Stunden-Takt Schnell- beziehungsweise Eilzüge über die Bahnstrecke der Verbindungen Saarbrücken–Stuttgart, Saarbrücken–München, Saarbrücken–Karlsruhe, Saarbrücken–Basel und Berchtesgaden–Saarbrücken geführt. In Landau machten diese Züge Kopf, um über die Maximiliansbahn den Weg in Richtung Karlsruhe und München zu nehmen. In der Folge kam es jedoch zu einer kontinuierlichen Verringerung der Fernverkehrs auf dieser Strecke, was schließlich zu seiner Aufgabe führte. Nachdem der Fernverkehr in West-Ost-Richtung bereits nach dem Zweiten Weltkrieg seine einstige Bedeutung eingebüßt und sich diese Entwicklung nach dem Ende des Kalten Kriegs noch verstärkt hatte, verkehren auf der Bahnstrecke seit 1988 keine Fernzüge mehr, da in dem Jahr die letzte durchgehende D-Zugverbindung von Saarbrücken über die Strecke nach Stuttgart und München eingestellt wurde. Fortan verkehrten zwischen Rohrbach und Landau neben Zügen des Nahverkehrs ausschließlich Eilzüge. Zudem fuhren diese Züge nur noch bis Stuttgart, manchmal nur noch bis Karlsruhe. Weitere Einschränkungen waren 1991 zu verzeichnen: Die bisherigen Eilzüge wurden durch Regionalschnellbahnen (RSB) ersetzt, die grundsätzlich nur noch bis Karlsruhe fuhren. Verkehr der Deutschen Bahn Der westliche Abschnitt ist seit 1994 Teil der Kursbuchstrecke (KBS) 674 Saarbrücken–Pirmasens, der östliche bildet die KBS 675 Pirmasens–Landau. Die Züge im östlichen Abschnitt verkehren meistens im Stundentakt mit Kreuzung in Annweiler und Münchweiler zu den üblichen Symmetrieminuten und bedienen mit Ausnahme von Hinterweidenthal Ost alle Unterwegshalte; am Abend gibt es zwischen Landau und Pirmasens Nord in Fahrtrichtung West Taktverdichtungen. Seit 1994 machen die Züge in Pirmasens Nord Kopf, um nach Pirmasens zu fahren. Von 1994 bis 1999 wurden sie über die Maximiliansbahn bis nach Neustadt geführt. Die Züge im westlichen Abschnitt verkehren seit 1994 ebenfalls überwiegend nach Pirmasens. Letztere werden bis nach Saarbrücken durchgebunden. Von wenigen Ausnahmen abgesehen halten die Züge zwischen Rohrbach und Saarbrücken ausschließlich in St. Ingbert. Werktags findet der dortige Verkehr zwischen Saarbrücken und Pirmasens Nord von 5 bis 23 Uhr statt, am Wochenende beginnt der Betrieb einige Stunden später. In Fahrtrichtung Pirmasens fährt ein Zug lediglich von Saarbrücken nach Zweibrücken sowie einer ausschließlich zwischen Zweibrücken und Pirmasens Hauptbahnhof. Im Westpfalz-Netz sind ab 19 Uhr alle Züge mit Zugbegleitern besetzt. 1997 wurde der sogenannte „Rosengartenexpress“ eingeführt; er verkehrte an Sonn- und Feiertagen von Landau nach Zweibrücken und wurde als Regional-Express gefahren. Der Name bezog sich auf den Rosengarten Zweibrücken. Doch wurde der Zug zwei Jahre später aufgrund geringer Inanspruchnahme eingestellt. Ebenfalls 1997 folge die Reaktivierung des „Bundenthalers“, der anfangs in Neustadt und inzwischen in Mannheim beginnt. Zunächst verkehrte er ganzjährig am Wochenende, seit 2008 ausschließlich von Mai bis Oktober. Im selben Jahr kam der in Karlsruhe beginnende „Felsenland-Express“ hinzu, der über die Bahnstrecke Winden–Karlsruhe und die Maximiliansbahn ebenfalls ins Wieslautertal fährt. Beide Züge verkehren mittwochs, sams-, sonn- und feiertags. Mit dem Fahrplanwechsel im Dezember des Jahres entfiel zudem die letzte durchgehende Verbindung von Landau nach Saarbrücken. Seit Ende 2010 existieren abends an Werktagen Direktverbindungen von Annweiler nach Karlsruhe. Güterverkehr Der Güterverkehr war auf der Bahnstrecke in den ersten Jahrzehnten vor allem für den Kohletransport aus der Saargegend sehr bedeutend. Anfang des 20. Jahrhunderts verkehrten über die Strecke Güterzüge der Relationen Kaiserslautern–Homburg–Landau–Germersheim, Saarbrücken–Landau–Germersheim, St. Ingbert–Zweibrücken, Homburg–Hinterweidenthal und Pirmasens–Biebermühle–Rodalben. Mehrere Bahnhöfe entlang des Streckenabschnitts Albersweiler–Pirmasens Nord waren darüber hinaus für die Verladung von Holz bedeutend. In den 1930er Jahren wies die Strecke im Zuge der Errichtung des Westwalls den stärksten Güterverkehr in ihrer Geschichte auf. Die Demontage des zweiten Gleises nach dem Zweiten Weltkrieg verhinderte dauerhaft einen leistungsfähigen Gütertransport. Im Laufe der Jahrzehnte ging das Aufkommen deutlich zurück. Dies verstärkte sich nach der Elektrifizierung der Bahnstrecke Mannheim–Saarbrücken. Aufgrund der seit 1971 bestehenden Direktionszugehörigkeiten erfolgte die Bedienung der Bahnhöfe des Abschnitts Landau–Wilgartswiesen von Landau aus, während der restliche Streckenabschnitt von Kaiserslautern, Homburg und Saarbrücken aus versorgt wurde. Aufgrund der alliierten Streitkräfte, die in und um Pirmasens sowie Zweibrücken ansässig waren, kam es zudem jahrzehntelang zu Militärtransporten über die Strecke, die sich jedoch mit dem Ende des Kalten Kriegs und dem damit einhergehenden Truppenabzug erübrigten. Die hohe Anzahl an Zugkreuzungen in den Bahnhöfen und den damit einhergehenden Verspätungen im Personenverkehr brachte eine Umleitung der meisten noch vorhandenen Güterzüge mit sich, die vorzugsweise die Magistrale Mannheim–Saarbrücken befuhren. Bereits in den 1980er Jahren bestimmten Übergabezüge das Betriebsgeschehen. 1996 endete der Güterverkehr zwischen Hinterweidenthal und Pirmasens Nord. Der Abschnitt Landau–Wilgartswiesen wurde zu diesem Zeitpunkt lediglich sporadisch bedient, sodass er 1998 ebenfalls zum Erliegen kam. Zwischen Rohrbach und Pirmasens Nord wiesen zuletzt lediglich Zweibrücken und Thaleischweiler-Fröschen Güterbeförderung auf; diese endete 2002, sodass seither kein Güterverkehr mehr stattfindet. In der Folge wurden in den Bahnhöfen die Gütergleise stillgelegt und demontiert. Fahrzeuge Dampflokomotiven Im Schnellzugverkehr kamen anfangs die Baureihen P 1.I, P 1.II, P 1.III, P 3.I, P 3.II und P 4 zum Einsatz. Die P 2.I war für den Nahverkehr zuständig. Die P 2.II fand für beide Zuggattungen Verwendung. Stationiert waren diese überwiegend in Ludwigshafen. In westlicher Richtung gelangten sie bis nach Saarbrücken, in östlicher bis nach Bruchsal. Das Schnellzugpaar zwischen Saarbrücken und Bruchsal wurde dagegen ausschließlich von Saarbrücker 1B-Personenzugloks der KED Cöln (linksrheinisch) gefahren. Erst ab dem Sommer 1894 kamen pfälzische Lokomotiven wie die P 1 vor den Flügelzügen Zweibrücken–Saargemünd und P 2 im Durchlauf Bruchsal–Saargemünd zum Einsatz. Den Güterverkehr bestritten die Baureihen G 2.I, G 2.II, G 4.I, G 4.II, G 4.III und G 5 aus Kaiserslautern. Sowohl für den Personen- als auch für den Güterverkehr kamen die Baureihen T 1, T 3, T 5 zum Zuge. Teilweise fuhren ebenso Lokomotiven der Preußischen sowie der Großherzoglich Badischen Staatseisenbahnen über die Strecke. Die später eingesetzten Baureihen kamen teilweise aus den zwischenzeitlich neu entstandenen Bahnbetriebswerken Homburg, Landau und Zweibrücken. Bereits zu Zeiten der Bayerischen Staatseisenbahnen zogen in Kaiserslautern stationierte Bayerische S 3/6 die Schnellzüge. Zu Reichsbahnzeiten versah die dem Bahnbetriebswerk Landau zugeteilte Preußische G 8 (bei der Reichsbahn als Baureihe 55 geführt) den Dienst im Güterverkehr. Im Fernverkehr wurde ebenso die Baureihe 39 eingesetzt. Von 1967 bis 1971 fand die Baureihe 01 für die Schnell- und Fernzüge Verwendung. Die reguläre Nutzung von Dampflokomotiven endete 1972, obwohl es im September des Folgejahres noch einmal einzelne planmäßige Fahrten mit Dampfbetrieb gab. Die D-Züge hatten das übliche Wagenmaterial der DB. Diesellokomotiven Ab Ende der 1950er Jahre kamen im Rangierdienst des Landauer und des Zweibrücker Hauptbahnhofs Loks der Baureihen 261 und 323 zum Einsatz. Wenige Jahre später wurden sie durch solche der Baureihen 331–335 ergänzt, die darüber hinaus für Übergaben Verwendung fanden. Die dampflokgeführten Züge, die zuletzt meistens mit drei- und vierachsigen Umbau-Wagen fuhren, wurden ab den 1960er Jahren zunehmend ebenfalls durch solche mit Diesellokomotiven abgelöst. Ab 1964 fanden Dieselloks der Baureihen 211 und 212 im Schnell- und Personenzugdienst Verwendung. Ab 1968 war ebenso die Baureihe 216 anzutreffen. In den 1970er Jahren kamen Silberling-Nahverkehrswagen zum Einsatz. Bei allen Zuggattungen wurden ab 1972 Loks der Baureihe 218 verwendet. Sie bestritten bis in die 1980er Jahre den Nahverkehr unter anderem in Form von Wendezügen, die neben den Dieselloks aus Minttürkis/Pastelltürkis/Lichtgrau lackierten vierachsigen Personenwagen gebildet wurden. In den letzten Jahren des Güterverkehrs wurden Loks der Baureihe V 90 eingesetzt. Triebwagen Bereits zur Zeit der Pfälzischen Eisenbahnen wurden ab dem frühen 20. Jahrhundert auf der Teilstrecke Landau–Annweiler Akkumulatortriebwagen der Typen MC und MBCC und ab 1906 ebenso MBCL eingesetzt. Ab 1955 wurden die meisten Nahverkehrszüge aus hauptsächlich in Landau und vereinzelt in Zweibrücken stationierten Uerdinger Schienenbussen gebildet, die bis zur endgültigen Schließung des Landauer Werkes 1993 zum Einsatz kamen. Vor allem in den 1970er Jahren verkehrten hauptsächlich auf dem Streckenabschnitt Pirmasens Nord–Rohrbach zudem Triebwagen der Baureihe 634. Vereinzelt übernahmen von Mitte der 1960er bis Ende der 1980er Jahre Akku-Triebwagen der Baureihe ETA 150 Leistungen. Ab Ende der 1980er Jahre ersetzten allmählich Dieseltriebwagen der Baureihe 628 beide Zugkombinationen. Sie dominierten bis Dezember 2010 das Betriebsgeschehen und wurden von Triebwagen der Baureihe 642 abgelöst, die zurzeit auf der Strecke eingesetzt werden. Ähnliches gilt für den westlichen Teil der Strecke, hier übernahm im Dezember 2000 die Baureihe 643 zwischen Pirmasens Nord und Saarbrücken die Zugleistungen. Seit 2008 sind auch auf diesem Streckenabschnitt die Dieseltriebwagen der Baureihe 642 im Einsatz. Seit der Sommersaison 2010 verkehren planmäßige Personenzüge der Albtal-Verkehrs-Gesellschaft (AVG), zwischen Landau und Hinterweidenthal Ost. Sie bedienen samstags, sowie an Sonn- und Feiertagen von Mai bis Oktober mit einem historischen Esslinger Triebwagen den „Felsenland-Express“ Karlsruhe – Bundenthal-Rumbach. Streckenbeschreibung Streckenbezeichnungen Die Bezeichnung „Queichtalbahn“ für den östlichen Streckenabschnitt rührt daher, dass die Bahnstrecke von Landau bis Hauenstein der Queich folgt. Die Strecke zwischen Landau und Zweibrücken wurde als eine betriebliche Einheit gebaut und erhielt zunächst die Bezeichnung „Südpfalzbahn“ beziehungsweise „-strecke“, wobei sich – nach heutigem Verständnis – nur der Abschnitt Landau–Hinterweidenthal innerhalb der Südpfalz befindet. Der westliche Streckenteil wird oft als „Schwarzbachtalbahn“ bezeichnet, da seine Trasse von Pirmasens Nord bis Zweibrücken durch das Tal des Schwarzbaches verläuft. Verlauf Abschnitt Landau–Pirmasens Nord Die Strecke beginnt im Hauptbahnhof von Landau. Die Pfälzische Maximiliansbahn nach Wissembourg lässt sie anschließend links zurück und umfährt die Stadt Landau in einem großen Bogen. Dabei passiert sie die frühere Güterabfertigung. Im Landauer Stadtgebiet weist sie mit dem Haltepunkt Landau Süd, Landau West und dem Bahnhof Godramstein noch drei Stationen auf. Zwischen den beiden erstgenannten kreuzen insgesamt drei Bahnübergänge die Strecke. Anschließend erreicht sie das Queichtal und tritt in den Landkreis Südliche Weinstraße ein. Zwischen Godramstein und Albersweiler durchquert sie das Weinbaugebiet der Pfalz und kreuzt unmittelbar vor dem Haltepunkt Siebeldingen-Birkweiler die Deutsche Weinstraße. Innerhalb von Albersweiler passiert sie außerdem den Kirchberg-Tunnel. Hinter Albersweiler führt die Strecke in den Pfälzerwald. Im Einzugsbereich von Annweiler am Trifels befinden sich die Burgen Trifels, Anebos und Scharfenberg in Sichtweite; hinzu kommen mehrere Felsformationen zwischen Rinnthal und Wilgartswiesen. Am westlichen Ortsrand von Rinnthal kürzt sie eine Schleife der Queich in Form des Schwerwoogkopf-Tunnels ab. Kurz vor Hauenstein verlässt sie das namensgebende Queichtal. In diesem Bereich passiert sie außerdem die Wasserscheide von Queich und Lauter. Nach dem Bahnhof Hinterweidenthal Ost, der ausschließlich von Mai bis Oktober mittwochs sowie an Sonn- und Feiertagen bedient wird, zweigt die Wieslauterbahn nach Bundenthal-Rumbach ab. Bis Hinterweidenthal verläuft die Bahnstrecke in eine schmale Einsenkung, die den Wasgau vom Mittleren Pfälzerwald trennt; sie befindet sich dort bereits im Landkreis Südwestpfalz. Die Strecke verlässt anschließend den Wasgau und passiert das Gräfensteiner Land, den südwestlichen Teil des Mittleren Pfälzerwaldes; dabei wird mittels des Münchweiler Tunnel () die Pfälzische Hauptwasserscheide unterquert. Anschließend verläuft die Strecke, der Rodalb folgend, durch Münchweiler an der Rodalb sowie nach Passieren des Neuhof-Tunnel () durch die Stadt Rodalben. Am westlichen Rand des Pfälzerwaldes erreicht sie den Eisenbahnknotenpunkt Pirmasens Nord. Abschnitt Pirmasens Nord–Rohrbach Unmittelbar nachdem die Strecke die Biebermühlbahn nach Kaiserslautern hinter sich gelassen hat, unterquert sie die Schwarzbachtalbrücke, die der Überführung der A 62 dient. Ab Thaleischweiler-Fröschen durchquert sie bis Zweibrücken die vorwiegend landwirtschaftlich geprägte Westricher Hochfläche. In vielen und großen Kurven schlängelt sie sich durch das von moderaten Hügeln eingerahmte, namensgebende Schwarzbachtal, dessen Talboden meist zur Grünlandbewirtschaftung genutzt wird, während seine Hänge bewaldet sind. In diesem Bereich passiert sie die Ortsgemeinden Thaleischweiler-Fröschen, Rieschweiler-Mühlbach und Dellfeld. Hinter Contwig erreicht die Bahnstrecke kurz vor der Mündung des Schwarzbaches in die Blies den früheren Knotenpunkt Zweibrücken Hauptbahnhof, von dem von 1913 bis 1971 die Bahnstrecke Zweibrücken–Brenschelbach abzweigte. Anschließend überquert die einstige Magistrale den Schwarzbach und bei Einöd die Landesgrenze zum Saarland, sie befindet sich fortan im Saarpfalz-Kreis. Hinter Einöd zweigte die Strecke nach Homburg ab, deren Abschnitt bis Schwarzenacker demontiert ist. Zwischen Einöd und Blieskastel-Lautzkirchen verläuft sie durch die breite Talniederung der Blies, die hauptsächlich von Wiesen und Weiden bedeckt ist. Vor dem Bahnhof Bierbach unterquert sie die Bundesstraße 423 und die Bundesautobahn 8. Von rechts kommt aus nördlicher Richtung die inzwischen ebenfalls stillgelegte und als Teil der Würzbachbahn errichtete Verbindungskurve aus Schwarzenacker. Kurz vor Erreichen des Haltes Blieskastel-Lautzkirchen zweigte bis 1997 die bereits 1991 im Personen- und Güterverkehr eingestellte Bliestalbahn nach Süden ab, die in diesem Bereich parallel zur Strecke nach Rohrbach verlief. Ab Lautzkirchen wird das waldreiche Würzbach­tal genutzt. Sie passiert in diesem Bereich das Naherholungsgebiet am Niederwürzbacher Weiher. Kurz vor Hassel biegt die Bahntrasse seit 1895 nach Norden ab und mündet kurz vor Rohrbach nach einem Schwenk in die westliche Richtung in die von Homburg kommende Trasse der Bahnstrecke Mannheim–Saarbrücken. Verwaltungszugehörigkeit und Kilometrierung Mit Landau in der Pfalz, dem Landkreis Südliche Weinstraße, dem Landkreis Südwestpfalz, Zweibrücken und dem Saarpfalz-Kreis werden insgesamt fünf Landkreise beziehungsweise kreisfreie Städte durchquert. Aufgrund der Bauhistorie existierte zunächst keine durchgehende Kilometrierung der Strecke. Entlang des Abschnitts Bierbach–Würzbach lag der Nullpunkt der Kilometrierung ursprünglich im Bahnhof St. Ingbert. Eine durchgängige Kilometrierung existierte von Landau bis Zweibrücken mit Landau als Nullpunkt. Der Abschnitt Zweibrücken–Bierbach war zunächst ab Zweibrücken kilometriert und setzte sich bis Saargemünd fort. Erst unter der Deutschen Reichsbahn fand eine neue Kilometrierung statt, die bis heute besteht. Deren Nullpunkt befindet sich etwa 1,5 km östlich der Rheinbrücke der Bruhrainbahn zwischen Rheinsheim und Germersheim an der Landesgrenze zwischen Baden-Württemberg und Rheinland-Pfalz. Anschließend setzt sie sich entlang der Bahnstrecke Germersheim–Landau und von dort aus über Annweiler, Pirmasens Nord und Zweibrücken bis nach Rohrbach fort. Bahnhöfe und Haltepunkte Landau (Pfalz) Hauptbahnhof Der Landauer Hauptbahnhof hat von allen Bahnhöfen entlang der historischen Bahnstrecke die größte Bedeutung. Er entstand 1855 im Zuge der Errichtung der von Neustadt nach Wissembourg führenden Pfälzischen Maximiliansbahn, die in den Jahren 1864 und 1865 mit der Zweigstrecke von Winden über Kandel und Wörth nach Karlsruhe erweitert wurde. 1872 kam die Bahnstrecke Germersheim–Landau hinzu, die sich zusammen mit der einige Jahre später errichteten Strecke nach Zweibrücken zu einem Teil der Fernverkehrsmagistrale Bruchsal–Saarbrücken entwickelte. In diesem Zusammenhang wurden seine Gleisanlagen erweitert und leicht nach Westen verlegt. 1877 erhielt der Bahnhof ein neues Empfangsgebäude. 1898 kam eine Stichstrecke nach Herxheim hinzu, von 1913 bis 1953 führte vom Bahnhofsvorplatz aus mit der Pfälzer Oberlandbahn eine Überlandstraßenbahn bis Neustadt, die mehrere Dörfer abseits der Maximiliansbahn anband. Da das zweite Bahnhofsgebäude im Zweiten Weltkrieg zerstört worden war, wurde das derzeitig noch existierende 1962 in Betrieb genommen. Die einst umfangreichen Gütergleise wurden ab 1990 abgebaut. Der Rangierbahnhof sowie das nahe, seit den 1920er Jahren existierende Bahnbetriebswerk wurden während dieser Zeit ebenfalls stillgelegt und abgebaut. Ab 2009 wurde der Bahnhof samt Umfeld grundlegend renoviert und barrierefrei ausgebaut. Der Abschluss der Baumaßnahmen war 2014. Landau (Pfalz) Süd Der Haltepunkt Landau (Pfalz) Süd bietet der Landauer Südstadt und dem Wohnpark Am Ebenberg eine Nahverkehrsanbindung. Zugleich erschließt er das Gelände der 2015 in Landau stattfindenden Landesgartenschau, das sich in der Umgebung des Haltepunktes befindet. Der Haltepunkt befindet sich direkt am Vinzentius-Klinikum. Er liegt östlich des Bahnüberganges zur Weißenburger Straße und besitzt einen zusätzlichen direkten Ausgang zur Bürgerstraße und zum dortigen Gebäude der Universität Koblenz-Landau. Landau (Pfalz) West Der Haltepunkt Landau (Pfalz) West befindet sich am südwestlichen Rand der Landauer Innenstadt. Er entstand auf Initiative der Stadt bereits im Zuge der Eröffnung des Abschnitts Landau–Annweiler am südlichen Ende der Straße An 44. Sein Empfangsgebäude war ursprünglich dasjenige des Bahnhofs Bad Dürkheim, war dort jedoch lediglich ein Provisorium. Während der Zeit der Bayerischen Staatseisenbahnen war er als Stationstyp 3 geführt, was bedeutete, dass er „Personen-, Gepäck- und beschränkten Güter-Verkehr“ aufwies. In den 1970er Jahren wurde das Empfangsgebäude abgerissen. An seiner Stelle entstand das „Haus am Westbahnhof“, das jedoch trotz seines Namens nie Bedeutung für den Bahnbetrieb aufwies. Der frühere Bahnhof wurde zwischenzeitlich zum Haltepunkt zurückgebaut. Die einst umfangreichen Gütergleise wurden komplett zurückgebaut. Auf diesem Terrain entstand eine Park-and-ride-Anlage. Landau (Pfalz) Kreisverwaltung Der neue Haltepunkt Landau (Pfalz) Kreisverwaltung soll am Bahnübergang Kanalweg angelegt werden. Südlich dieses Standortes befinden sich in fußläufiger Entfernung die Verwaltung des Landkreises Südliche Weinstraße und das Wohngebiet Wollmesheimer Höhe. Die Realisierung wird langfristig angestrebt. Godramstein Der Bahnhof Godramstein südlich des Landauer Stadtteils Godramstein ist zwischen dem Landauer Hauptbahnhof und Annweiler die einzige verbliebene Möglichkeit für Zugkreuzungen und besitzt den Status einer Blockstelle. Dennoch finden Zugkreuzungen selten statt. Er wurde in den letzten Jahrzehnten deutlich zurückgebaut und verfügt über einen Inselbahnsteig. Der Güterschuppen aus Holz stammt aus der Zeit der Pfälzischen Eisenbahnen und hat für den Bahnbetrieb keine Bedeutung mehr. Das Empfangsgebäude wurde ab den 1930er Jahren umgebaut. Um 1940 wurde ein mechanisches Stellwerk mit Fahrdienstleiter untergebracht, das seit 2010 zurückgebaut wurde. Gesteuert wird es jetzt vom ESTW Landau aus Neustadt/Weinstr. Die einstigen Gütergleise, von denen eines in ein benachbartes Gaslager führte und zweimal pro Woche von Landau aus bedient wurde, sind ebenfalls verschwunden. Im Güterverkehr wird der Bahnhof seit 1998 nicht mehr bedient. Zuletzt war er unter anderem für die in Ramberg ansässige Spielwarenfabrik Theo Klein GmbH zuständig, da es in Albersweiler und Annweiler keine Güterverladung mehr gab. Siebeldingen-Birkweiler Der frühere Bahnhof Siebeldingen-Birkweiler befindet sich auf der Gemarkung der Ortsgemeinde Birkweiler unweit der Nachbargemeinde Siebeldingen. Unmittelbar östlich davon kreuzt die Strecke die Deutsche Weinstraße. Das Empfangsgebäude, das dem von Godramstein entsprach, wurde um 1970 als einziges zwischen Godramstein und Pirmasens Nord abgerissen. 2009 wurde der Bahnsteig erneuert und barrierefrei ausgebaut. Lediglich der Güterschuppen aus der Zeit um 1900, der zwischenzeitlich in ein neues Gebäude einbezogen wurde, und ein Schrankenwärterhaus am östlichen Ende der Bahnstation aus den 1930er Jahren blieben erhalten. Letzteres besitzt ein Walmdach und wurde als Wartehäuschen umfunktioniert. Albersweiler Der Bahnhof Albersweiler befand sich auf der Gemarkung von Queichhambach – seit 1972 Stadtteil von Annweiler am Trifels – auf Höhe des Weilers Neumühle. In den ersten Jahrzehnten seines Bestehens trug er die Bezeichnung Albersweiler-Sankt Johann; der zweite Namensteil rührt von der gleichnamigen zu Albersweiler gehörenden Siedlung her. Sämtliche Bahnhofsbauten wie Empfangs- und Nebengebäude sowie Güterschuppen existieren noch, haben für den Bahnbetrieb jedoch keine Bedeutung mehr. Bis 1906 war ein nahe gelegener Granitsteinbruch ein bedeutender Güterkunde vor Ort. Mit seiner Architektur stellt das Empfangsgebäude innerhalb der Pfalz eine Singularität dar. Es besteht aus einem Kopfbau mit drei Stockwerken und einem kurzen Längsbau. Einige Jahre nach der Streckeneröffnung erhielt es an der Bahnsteigseite ein Dach für Fahrgäste. In den 1930er Jahren wurde im Erdgeschoss ein Stellwerk eingerichtet. Das Nebengebäude am westlichen Bahnhofsteil fungierte als Güterabfertigung. Zur weiteren Ausstattung gehörte eine Signalbrücke am Westkopf des Bahnhofs. Aufgrund geringer Siedlungsnähe wurde er aufgegeben und 1984 durch einen neuen Haltepunkt auf der Gemarkung der gleichnamigen Ortsgemeinde ersetzt. Das Empfangsgebäude wurde als Wohnhaus umgebaut; zeitgleich verschwanden die Anlagen des Stellwerks. 2009 wurde der Haltepunkt modernisiert. Annweiler am Trifels Der 1874 eröffnete Bahnhof Annweiler am Trifels war in den ersten 14 Monaten seines Bestehens Endpunkt der Strecke, die erst im November 1875 bis Zweibrücken durchgebunden wurde. Er ist zwischen Landau und Pirmasens Nord der Bahnhof mit der größten Bedeutung. An ihm hielten viele Fernzüge. Er besaß drei Gleise für den Personenverkehr, von denen eines jedoch inzwischen als Abstellgleis zurückgebaut wurde. Die Bedienung im Güterverkehr kam 1994 zum Erliegen. Das Bahnhofsgebäude steht unter Denkmalschutz. Daneben existieren noch ein früheres Nebengebäude aus der Eröffnungszeit, ein Güterschuppen und ein Stellwerk aus den 1930er Jahren. Die beiden Erstgenannten haben für den Bahnverkehr keine Bedeutung mehr. Annweiler West Der Haltepunkt Annweiler West soll zukünftig in der Nähe des Freibads am Bahnübergang zur August-Bebel-Straße entstehen. Die Einrichtung dieses Halts wird langfristig gesehen. Annweiler-Sarnstall Der Halt Annweiler-Sarnstall liegt in Sarnstall südöstlich des Bahnüberganges zur Wasgaustraße. Baubeginn war im April 2012, die Inbetriebnahme erfolgte am 9. Dezember 2012. Wenige Meter entfernt befinden sich die Kartonagefabrik Buchmann und ein zugehöriger großer Parkplatz. Die Anlage des neuen Haltepunktes im relativ kleinen Sarnstall (etwa 220 Einwohner) war nach der Eröffnung des Haltepunktes Hauenstein Mitte der letzte wichtige Schritt zur Umsetzung des neuen Zug-Bus-Systems im Queichtal. Mit der Inbetriebnahme wurde der ehemals stündliche bahnparallele Busverkehr zwischen Landau und Hauenstein bis auf wenige Schulbusse eingestellt, um mit den „freiwerdenden Buskilometern“ ohne signifikante Zusatzkosten Orte abseits der Bahnstrecke an den ÖPNV anzubinden. Rinnthal Der ehemalige Bahnhof Rinnthal befindet sich am südöstlichen Siedlungsrand der Ortsgemeinde Rinnthal. Bei der Streckeneröffnung trug er die Bezeichnung Rinnthal-Sarnstall. Das Empfangsgebäude besaß einen Fahrkartenschalter, einen Warteraum und ein Zimmer für Gepäck. Der örtliche Güterverkehr wurde einst durch eine örtliche Stuhlfabrik sowie die Verladung von Holz und die Papierfabrik Buchmann in Sarnstall getragen. Letztere besaß darüber hinaus ein Anschlussgleis. Zwischenzeitlich wurde der Bahnhof zum Haltepunkt zurückgebaut; bereits ab den 1980er Jahren wurde er schrittweise sämtlicher Nebengleise entledigt. Dennoch sind einige stillgelegte Ladegleise in Richtung Sarnstall sowie eine Gleiswaage erhalten geblieben. 2006 wurde Rinnthal als erster Unterwegshalt im Abschnitt Landau–Pirmasens Nord modernisiert. Das Empfangsgebäude für den Bahnbetrieb spielt mittlerweile keine Rolle mehr und wurde in ein Wohnhaus umgewandelt. Wilgartswiesen Der Bahnhof Wilgartswiesen befindet sich am südöstlichen Ortsrand von Wilgartswiesen. Zwischen Annweiler und Hinterweidenthal Ost ist er die einzige Station, in der noch Zugkreuzungen möglich sind, wenngleich sie selten stattfinden. Das frühere Empfangsgebäude hat für den Bahnbetrieb inzwischen keine Bedeutung mehr. Ein Toilettenhäuschen existiert bis heute. Bis zur Einstellung des Güterverkehrs 1998 hatte der Bahnhof für die Holzverladung eine große Bedeutung. 2010 wurde der Bahnsteig modernisiert. Am 6. Juli 2013 erhielt der Bahnhof Wilgartswiesen als mittlerweile sechste Bahnstation in Rheinland-Pfalz das Prädikat „Wanderbahnhof“. Hauenstein Mitte Der Haltepunkt Hauenstein Mitte wurde am 30. Mai 2010 in Betrieb genommen, um die Hauensteiner Ortsmitte besser zu erschließen. Er befindet sich noch auf der Gemarkung der Gemeinde Wilgartswiesen, die lange Widerstand gegen dessen Realisierung leistete, da sie den Fortbestand ihres eigenen Bahnhofs gefährdet sah. Als erster Bahnstation in Rheinland-Pfalz wurde dem Haltepunkt ein Jahr nach dessen Eröffnung das Prädikat „Wanderbahnhof“ verliehen. Hauenstein (Pfalz) Der heutige Haltepunkt trug ehemals die Bezeichnung Hauenstein und ab 1910 die Bezeichnung Hauenstein i Pfalz. Der ehemalige Bahnhof wurde in den 1980er Jahren zum Haltepunkt zurückgebaut. Er liegt am nordwestlichen Siedlungsrand von Hauenstein. Das Bahnhofsgebäude befindet sich in einer Hanglage. Das Nebengebäude wurde in den 2000er Jahren abgerissen. Hinterweidenthal Ost Der zwischenzeitlich stark zurückgebaute Bahnhof Hinterweidenthal Ost befindet sich rund zwei Kilometer nordöstlich des Siedlungsgebietes der Ortsgemeinde Hinterweidenthal und hieß in seinen ersten Betriebsjahren Kaltenbach Ost. Er entstand erst im Zuge des Baus der Wieslauterbahn und diente ausschließlich für den Umstieg zur Anschlussstrecke. In seiner Anfangszeit hielten entlang der Hauptstrecke Schnellzüge an diesem Bahnhof. Später erhielt er den Namen Hinterweidenthal. Nach der vorübergehenden Einstellung des Personenverkehrs auf der Wieslauterstrecke fungierte er ausschließlich als Güter- und Betriebsbahnhof. Seit 1970 trägt er die Bezeichnung Hinterweidenthal Ost. Bereits beim Bau erhielt er einen Bahnsteigtunnel und verfügte über insgesamt sechs Gleise, darunter ein Überhol- und vier Abstellgleise. Letztere wurden inzwischen zurückgebaut. An seinem Hausbahnsteig beginnen die Züge der Wieslauterbahn. Züge der Hauptstrecke halten im Bahnhof lediglich zu den Betriebszeiten der Wieslauterbahn, von Mai bis Oktober mittwochs, an Wochenenden und feiertags, da er aufgrund seiner ortsfernen Lage genau wie früher ausschließlich dem Umstieg auf die Anschlussstrecke dient. Sein Stellwerk sowie die Formsignale wurden zwischenzeitlich abgebaut. Hinterweidenthal Der ehemalige Bahnhof und spätere Haltepunkt Hinterweidenthal befindet sich auf Höhe des zu Hinterweidenthal gehörenden Weilers Kaltenbach. Er hieß zum Zeitpunkt der Eröffnung der Strecke Hinterweidenthal-Kaltenbach und wurde nach Inbetriebnahme des Bahnhofs Hinterweidenthal Ost in Kaltenbach (Pfalz) umbenannt. 1970 erfolgte eine weitere Umbenennung, diesmal in Hinterweidenthal. Für die Dauer mehrerer Jahrzehnte war hier eine für den Streckenabschnitt Hauenstein–Rodalben zuständige Bahnmeisterei untergebracht. Bis zum Zweiten Weltkrieg hatte der Bahnhof zwei Unterführungen, die nach dem eingleisigen Rückbau der Strecke ihre Funktion verloren, jedoch noch immer bestehen. Münchweiler (Rodalb) Der Bahnhof Münchweiler (Rodalb) befindet sich am nordwestlichen Rand der Ortsgemeinde Münchweiler an der Rodalb. 1910 wurde der Bahnhof von „Münchweiler a. d. Rodalb“ in „Münchweiler a Rodalb“ umbenannt. Zwischen Hinterweidenthal und Pirmasens Nord bildete Münchweiler den letzten Gütertarifpunkt, ehe der Güterverkehr in diesem Abschnitt 1996 eingestellt wurde. Das inzwischen abgerissene US-Militärkrankenhaus in Münchweiler an der Rodalb verfügte über ein Anschlussgleis. Im Bahnhof finden wie in Annweiler regelmäßig Zugkreuzungen statt. 2007 wurde er erneuert, nachdem bereits 2004 der Insel- durch einen Seitenbahnsteig ersetzt worden war. Das noch vorhandene Empfangsgebäude spielt für den Bahnbetrieb inzwischen keine Rolle mehr. Rodalben-Neuhof Der Haltepunkt Rodalben-Neuhof soll am Parkplatz an der Schwallbornanlage eingerichtet werden. Die Planung läuft, die Zeitpunkt für Bau und Inbetriebnahme stehen noch nicht fest. Rodalben Der ehemalige Bahnhof Rodalben befindet sich im Zentrum der Kleinstadt Rodalben und besaß einst neben dem Haus- einen Inselbahnsteig. Während oder nach dem Zweiten Weltkrieg wurde der Bahnhof betrieblich zum Haltepunkt. Erst Ende 1948 wurde wieder ein Überholungsgleis in Betrieb genommen. Ende der 1980er Jahre wurde er erneut zum Haltepunkt zurückgebaut. Das ehemalige mechanische Fahrdienstleiterstellwerk, das die Bezeichnung Rf führte, wurde zeitgleich außer Betrieb genommen. 2011 folgte die Modernisierung des Bahnsteiges. Das örtliche Wasserwerk verfügte einst über ein Anschlussgleis. Er ist Ausgangspunkt der 54 Kilometer langen Tour 1 des Streckennetzes des Mountainbikepark Pfälzerwald. Im Oktober 2012 erhielt er das Prädikat „Wanderbahnhof“. Das frühere Empfangsgebäude besitzt für den Bahnverkehr keine Bedeutung mehr und dient inzwischen einem Gastronomiebetrieb. Pirmasens Nord Der auf der Gemarkung der Ortsgemeinden Donsieders, Rodalben und Thaleischweiler-Fröschen liegende Bahnhof Pirmasens Nord hatte trotz seiner peripheren Lage von allen Zwischenstationen stets die größte Bedeutung. Seine Entstehung verdankt er im Wesentlichen der Tatsache, dass eine direkte Anbindung der Stadt Pirmasens an den schwierigen topographischen Verhältnissen scheiterte. Aus diesem Grund wurde einige Kilometer nördlich dieser Bahnhof errichtet, von dem eine Stichstrecke nach Pirmasens abzweigte. Er fungiert daher vor allem als Umsteigestation. Von 1904 bis 1913 entstand außerdem mit der Biebermühlbahn eine Verbindung in nördliche Richtung nach Kaiserslautern. In den ersten Jahrzehnten seines Bestehens trug er nach dem unmittelbar östlich gelegenen, zu Donsieders gehörenden Weiler Biebermühle die Bezeichnung Biebermühle, die in der Umgangssprache bis heute erhalten blieb. Erst 1938 erhielt er den Namen Pirmasens Nord, obwohl er sich nie auf Pirmasenser Gemarkung befand. In diesem Zusammenhang wurde er außerdem aus strategischen Gründen erheblich umgestaltet; so wurde das Empfangsgebäude, das sich seit 1904 mit Eröffnung des Biebermühlbahn-Abschnitts nach Waldfischbach in einer Insellage befunden hatte, durch ein neues ersetzt. Im Güterverkehr, der 2005 zum Erliegen kam, diente er in den letzten Jahrzehnten als Verteilerbahnhof für Güterzüge, die vom Rangierbahnhof Einsiedlerhof aus bis Pirmasens Nord gelangten und von dort aus in mehrere Züge geteilt wurden, die zwischen Hauenstein und Zweibrücken die Bahnhöfe entlang der Magistrale Landau–Rohrbach und diejenigen an der Biebermühlbahn bedienten. Thaleischweiler-Fröschen Der Haltepunkt Thaleischweiler-Fröschen liegt in der Mitte zwischen den Orten Thaleischweiler und Thalfröschen, die 1969 im Zuge der rheinland-pfälzischen Verwaltungsreform zur neuen Ortsgemeinde Thaleischweiler-Fröschen zusammengelegt wurden. Der Güterverkehr wurde hauptsächlich durch den Schuhhandel Reno getragen und 2002 eingestellt; der Bahnhof war damals der letzte Gütertarifpunkt zwischen Pirmasens Nord und Rohrbach. Seine Funktion als Kreuzungsbahnhof hat er inzwischen eingebüßt. Das frühere Empfangsgebäude hat für den Bahnbetrieb keine Bedeutung mehr und wurde 1990 an eine Privatperson verkauft. Es beherbergt eine Mietwohnung und ein Geschäft. Das ehemalige Stellwerk Twf existiert ebenfalls noch. Höhmühlbach Der Haltepunkt Höhmühlbach wurde zum 14. Mai 1950 in Betrieb genommen, um den gleichnamigen Ort anzuschließen. Er wurde in den Jahren 2008 und 2009 ausgebaut und erhielt einen neuen, 55 Zentimeter hohen Bahnsteig und ein neues Wartehäuschen. Rieschweiler Der ehemalige Bahnhof Rieschweiler befindet sich am südlichen Ortsrand von Rieschweiler unweit des Schwarzbaches. Er wurde zwischenzeitlich zum Haltepunkt zurückgebaut. In den Jahren 2008 und 2009 wurde er barrierefrei ausgestattet. Das Bahnhofsgebäude und der Güterschuppen haben für den Bahnverkehr keine Funktion mehr. Das ehemalige mechanische Fahrdienstleiterstellwerk, mit der Bezeichnung Rf wurde zwischenzeitlich ebenfalls außer Betrieb genommen. Dellfeld Ort Da der Bahnhof Dellfeld vom Ortszentrum weit entfernt liegt, wurde nach dem Zweiten Weltkrieg mit Dellfeld Ort ein ortsnaher Haltepunkt errichtet. Zur Inbetriebnahme gibt es zwei unterschiedliche, voneinander abweichende Daten: den 14. Mai 1950 und den 3. Juni 1951. Der Haltepunkt war bis 1968 Personal besetzt und diente ausschließlich dem Personenverkehr. Dellfeld Der Bahnhof Dellfeld befindet sich im Dellfelder Ortsteil Falkenbusch. Heute gehört er zur Preisklasse 6. Zwischen Pirmasens Nord und Zweibrücken stellt er die einzige verbliebene Kreuzungsmöglichkeit dar. Das Empfangsgebäude sowie der frühere Güterschuppen haben für den Bahnverkehr keine Bedeutung mehr. Er besitzt ein immer noch in Betrieb befindliches mechanisches Stellwerk mit der Bezeichnung Df, das nach 1938 nach Einheitsbauart entstand und mit einem Fahrdienstleiter ausgestattet ist. Früher verfügte er über ein weiteres, ebenfalls aus dem Jahr 1938 entstandenes mechanisches Wärterstellwerk namens DM, das inzwischen außer Betrieb genommen wurde. Ende 2009 erhielt er einen neuen Außenbahnsteig in Fahrtrichtung Osten. Dieser wurde mit einem Wartehaus, einem Schriftanzeiger, Beschilderung und einer Beleuchtungsanlage ausgestattet. Er ersetzte den bisherigen Inselbahnsteig, der demontiert wurde. Stambach Der Haltepunkt Stambach liegt am südöstlichen Ortsrand. Bis zum 31. Mai 1968 war er noch mit Personal besetzt. In den 1980er Jahren wurde er mangels Rentabilität aufgelassen, Ende 2009 reaktiviert. Contwig Der ehemalige Bahnhof Contwig befindet sich am südöstlichen Ortsrand von Contwig und gehört zur Preisklasse 7. Er wurde zwischenzeitlich ebenfalls zum Haltepunkt zurückgebaut. Das unter Denkmalschutz stehende Empfangsgebäude und der Güterschuppen haben für den Bahnbetrieb keine Bedeutung mehr. Der Güterschuppen nutzt inzwischen ein Industriebetrieb. Tschifflick-Niederauerbach Bei seiner Eröffnung hieß der Bahnhof Tschifflick-Niederauerbach. Der erste Namensteil rührt vom nahe gelegenen Lustschloss Tschifflik her. Nachdem Niederauerbach 1938 in Zweibrücken eingemeindet worden war, erhielt er zum 1. Oktober 1941 den neuen Namen Zweibrücken-Niederauerbach. Mangels Rentabilität wurde er zwischenzeitlich aufgelassen. Das Empfangsgebäude und der Bahnsteig existieren noch. Das Bahnhofsgebäude steht inzwischen unter Denkmalschutz und wird als Restaurant genutzt. Zweibrücken Rosengarten Der bereits für 2009 angestrebte Eröffnungstermin für den neu geplanten Haltepunkt Zweibrücken Rosengarten, der die östliche Kernstadt und den Rosengarten erschließen soll, wurde aufgrund von Finanzierungsfragen immer wieder verschoben und war angesichts der politischen Auseinandersetzung im Zweibrücker Stadtrat unklar. Die Hauptbauarbeiten erfolgten schließlich im Sommer 2021. Zum Fahrplanwechsel am 12. Dezember 2021 wurde der Haltepunkt in Betrieb genommen. Zweibrücken Hauptbahnhof Der Bahnhof, der zunächst nur den Namen Zweibrücken trug, wurde im November 1875 eröffnet. Seine Entstehung verdankt er der Tatsache, dass der Verwaltungsrat der Pfälzischen Eisenbahnen eine Fortführung der seit 1857 bestehenden Strecke aus Homburg über den bestehenden Bahnhof durch die damals junge Vorstadt ablehnte. Aus diesem Grund erwarb die Ludwigsbahn-Gesellschaft ein unbenutztes Gelände weiter südlich am westlichen Rand der Stadt. Seinen heutigen Namen erhielt der Bahnhof zum 1. Oktober 1941. Seine Entwicklung war ähnlich wie die des Landauer Hauptbahnhofs. Der einstige Fernverkehrshalt wird nur noch von Nahverkehrszügen angefahren, seine Gleisanlagen wurden deutlich verringert. Die Bedeutung im Güterverkehr verschwand ebenfalls komplett. Im Zuge der Einstellung der früher abzweigenden Bahnstrecke Zweibrücken–Brenschelbach und der Verbindung nach Homburg verlor er zudem seine einstige Funktion als Knotenpunkt. Der Hauptbahnhof von Zweibrücken besaß einst umfangreiche Gleise für den Güterverkehr, die jedoch komplett abgebaut wurden. In den 1990er Jahren erfuhr der Zweibrücker Hauptbahnhof eine größere Demontage: Von 13 Gleisen wurde er auf 3 reduziert. Bereits 1985 wurde das ehemalige Zweibrücker Betriebswerk, das die letzten zwei Jahrzehnte als Außenstelle seines Pendants in Saarbrücken gedient hatte, samt Lokschuppen aufgegeben. Zudem erfolgte 2000 die Demontage sämtlicher Gleisanschlüsse innerhalb von Zweibrücken. Geplant ist jedoch, den Bahnhof in das Netz der S-Bahn RheinNeckar zu integrieren, wofür die Verbindung nach Homburg wieder in Betrieb genommen werden soll. Über dieses Vorhaben stehen das Saarland und Rheinland-Pfalz seit einigen Jahren in Verhandlungen, wobei bisher vor allem Finanzierungsfragen eine Realisierung des Projektes verzögert haben. Einöd (Saar) Der Bahnhof Einöd (Saar) wurde 1857 als Teil der Bahnstrecke Homburg–Zweibrücken eröffnet. Nachdem beim Bau der Bliestalbahn eine Verbindungskurve nach Bierbach entstanden war, wurde er zum Eisenbahnknotenpunkt. Die Strecke nach Homburg wurde 1989 stillgelegt und der Bahnhof aufgelassen. Ende 2009 erhielt Einöd einen neuen, ortsnahen Haltepunkt. Bierbach Der ehemalige Bahnhof und heutige Haltepunkt Bierbach befindet sich am südwestlichen Rand von Bierbach. Er wurde 1866 als Teil der Würzbachbahn Schwarzenacker–Hassel eröffnet, deren Verlängerung nach St. Ingbert ein Jahr später erfolgte. Ab 1879 war er durch die Eröffnung der damals in Zweibrücken beginnenden Bliestalbahn Berührungsbahnhof. Bedingt durch die Veränderung der Verkehrsströme, die nach den beiden Weltkriegen durch die Bildung des Saarlandes entstanden, wurde er Trennungsbahnhof der in Ost-West-Richtung verlaufenden Bahnstrecke Landau–Rohrbach und den Zügen der Bliestalbahn, die fortan vorzugsweise in Nord-Süd-Richtung über Schwarzenacker nach Homburg verkehrten. Die Bliestalbahn sowie die Verbindung nach Schwarzenacker samt ihrer Weiterführung nach Homburg wurden 1991 stillgelegt. Der frühere Bahnhof ist inzwischen nur noch ein Haltepunkt. Drei Jahre später wurde außerdem das seit 1969 bestehende Stellpult im Bahnhofsgebäude außer Betrieb genommen. Blieskastel-Lautzkirchen Der Bahnhof Blieskastel-Lautzkirchen befindet sich am südlichen Rand von Lautzkirchen. Da Blieskastel 1879 im Zuge der Eröffnung der Bliestalbahn einen stadtnahen Bahnhof erhalten hatte, wurde er in Lautzkirchen umbenannt. Er wurde zwischenzeitlich als Haltepunkt zurückgebaut. Mit der Rückumbenennung wurde der Eingemeindung von Lautzkirchen nach Blieskastel und seiner Bedeutung für Letztere Rechnung getragen. Außerdem ist er seit Stilllegung der Bliestalbahn der nächstgelegene Bahnhof zur Kernstadt von Blieskastel. Würzbach (Saar) Der Bahnhof Würzbach (Saar) befindet sich in Niederwürzbach. Seinen Namen erhielt er, da er als gemeinsame Bahnstation der Ortschaften Niederwürzbach und Oberwürzbach dienen sollte. Unmittelbar nördlich schließt sich der Niederwürzbacher Weiher an. Östlich vom Bahnhof befand sich früher ein Kohlenlager. Zu den Güterkunden vor Ort zählte unter anderem ein Backstein- und Ziegelunternehmen, das über ein Anschlussgleis verfügte. Das Bahnhofsgebäude besitzt einen einstöckigen Anbau. Zu den Bauten des Bahnhofs gehörten ein Güterschuppen und zwei weitere kleinere Häuser. Um 1970 folgte die Demontage des Güterschuppens. In den 1970er Jahren wurde das Empfangsgebäude für den Bahnbetrieb aufgelassen und 1980 verkauft. Inzwischen ist darin ein gastronomischer Betrieb untergebracht. Der Bahnhof stellt seit 2000 zwischen Rohrbach und Zweibrücken die einzige verbliebene Kreuzungsmöglichkeit für Züge dar. Hassel (Saar) Im Zuge der Neutrassierung der Würzbachbahn 1895 und der damit einhergehenden Umfahrung des Hasseler Tunnels wurde der bisherige Bahnhof Hassel am südlichen Ortsrand aufgegeben. Stattdessen erhielt der Ort einen neuen Bahnhof am östlichen Ortsrand. Rohrbach (Saar) Der Bahnhof Rohrbach (Saar) befindet sich am südwestlichen Ortsrand von Rohrbach und gehört der Preisklasse 6 an. Er entstand 1895 als Teil der Neutrassierung der 1867 eröffneten Würzbachbahn Schwarzenacker–St. Ingbert, die als Ersatz für den in den Jahren 1866 und 1867 eröffneten Streckenverlauf mit dem Hasseler Tunnel diente. 1904 wurde er mit der Freigabe des aus strategischen Gründen eröffneten Abschnitts Homburg–Rohrbach – heute Bestandteil der Bahnstrecke Mannheim–Saarbrücken – Eisenbahnknotenpunkt. Aus der Würzbachbahn und den Strecken weiter östlich ging später die heutige Bahnstrecke Landau–Rohrbach hervor, deren westlichen Endpunkt der Bahnhof seither bildet. Rezeption Der Prediger Johann Joseph Candidus beschrieb in seinem 1884 erschienenen Buch Über die Kaltenbach und Wegelnburg nach Wörth und Fröschweiler. Reisebilder aus der Südpfalz und dem Unter-Elsaß seine Eindrücke einer Bahnfahrt von Zweibrücken nach Kaltenbach im Sommer 1877. Loriot kommentierte den Fahrplan der Bahnstrecke Landau–Rohrbach – gemeinsam mit der Bahnstrecke Germersheim–Landau – in seinem Sketch Literaturkritik. Literatur Heinz Sturm: Die pfälzischen Eisenbahnen (= Veröffentlichungen der Pfälzischen Gesellschaft zur Förderung der Wissenschaften. Band 53). Neuausgabe. pro MESSAGE, Ludwigshafen am Rhein 2005, ISBN 3-934845-26-6, S. 147–148, 165–168, 177–183 und 201–203. Weblinks Streckenplan Landau-Annweiler mit Nivellement aus dem Bayerischen Hauptstaatsarchiv München von 1879 Streckenplan Annweiler-Hinterweidenthal mit Nivellement aus dem Bayerischen Hauptstaatsarchiv München von 1879 Streckenplan Hinterweidenthal-Rieschweiler und Biebermühle-Pirmasens mit Nivellement aus dem Bayerischen Hauptstaatsarchiv München von 1879 Streckenplan Rieschweiler-Zweibrücken mit Nivellement aus dem Bayerischen Hauptstaatsarchiv München von 1879 Informationen der DB Regio RheinNeckar zum Südpfalznetz (Betrieb der KBS 674) Informationen der DB Regio RheinNeckar zum Westpfalznetz (Betrieb der KBS 675) Informationen zur Strecke von Wolfgang Grabitzky Informationen zur Strecke von Michael Strauß Bilder einer Sonderfahrt im September 1988 von Jörg Klawitter Einzelnachweise Bahnstrecke in Rheinland-Pfalz Bahnstrecke LandauRohrbach Bahnstrecke LandauRohrbach Bahnstrecke LandauRohrbach
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Burgas
Burgas, auch Bourgas [] (), ist mit Einwohnern (Stand: ) die viertgrößte Stadt Bulgariens. Die Stadt ist der Verwaltungssitz der gleichnamigen Provinz Burgas sowie der Gemeinde Burgas. Als Industrie- und Hafenstadt ist sie das wirtschaftliche, kulturelle und politische Zentrum des gesamten Südostens von Bulgarien. Westlich der Stadt ist mit LUKoil Neftochim die größte Erdölraffinerie Südosteuropas und der größte Arbeitgeber Bulgariens angesiedelt. Durch die gute Verkehrsanbindung auf Straßen, Schienen und Gewässern ist Burgas einer der wichtigsten Verkehrsknotenpunkte des Landes. Der Hafen Burgas ist der größte Hafen und einzige Rohölhafen Bulgariens sowie der Heimathafen der bulgarischen Übersee-Fischfangflotte, der Schwarzmeermarine und der Küstenwache. Die Stadt ist das Zentrum der bulgarischen Fischfang- und Fischverarbeitungsindustrie. Der Flughafen Burgas ist nach dem Flughafen Sofia der meistfrequentierte Flughafen Bulgariens. Burgas ist eine touristisch überregional bekannte Stadt. Die geografische Lage mit mehreren unter Naturschutz stehenden Seen, sowie dem Schwarzen Meer ziehen ebenso wie auch die antiken und mittelalterlichen Siedlungen und die Festivals nicht nur Besucher aus den Balkanländern, sondern aus ganz Europa und Asien an. Die Kathedrale der Heiligen Brüder Kiril und Methodius und das Naturschutzgebiet Poda wurden in die Liste der 100 nationalen touristischen Objekte in Bulgarien aufgenommen. Das Kloster Sweta Anastasia auf der vorgelagerten gleichnamigen Insel ist das einzige im Schwarzen Meer erhaltene mittelalterliche Inselkloster. Geographie Lage Burgas liegt in der Burgasebene, östlich der Oberthrakischen Tiefebene in der Bucht von Burgas, an der westlichen Küste des Schwarzen Meeres. In der Bucht von Burgas befindet sich die kleine bewohnte Insel Sweta Anastasia, die ebenfalls zum Stadtgebiet gehört. Die Bucht und die Stadt sind der westlichste Punkt des Schwarzen Meeres. Die Hafenstadt ist umgeben vom Schwarzen Meer und drei Seen, dem Burgas-See, dem Mandra-See und dem Atanassow-See, die gemeinsam mit weiteren Gewässern die Seenlandschaft Burgasseen bilden. Zwischen dem Mandra-See und dem Burgas-See befindet sich der 209 Meter hohe Berg Warli brjag, der höchste Punkt der Stadt. Zu diesem Gebiet gehört auch das größte Stadtviertel Meden Rudnik. Der Burgas-See liegt zwischen den Vierteln Gorno Eserowo, Dolno Eserowo, Slawejkow, Akacijte und Pobeda. Am Ufer des Atanassow-Sees liegen die Viertel Sorniza, Isgrew, Lasur und Sarafowo. Die Viertel Banewo und Wetren befinden sich in den Ausläufern des Balkangebirges. Auf der zwischen dem Schwarzen Meer und dem Burgas-See gelegenen Nehrung Kumluka liegen die Viertel Pobeda und Akacijte sowie Teile der Industriezone Süd. Eine weitere Nehrung mit Dünen, die Teil des Stadtstrandes ist, trennt den Atanassow-See vom Schwarzen Meer. Nachbargemeinden Folgende Städte und Gemeinden, die alle in der Provinz Burgas liegen, grenzen an die Stadt Burgas: Stadtgliederung Das Stadtgebiet von Burgas besteht aus der Kernstadt und den Stadtteilen (bzw. Ortsteilen) und diese aus Vierteln. Die Ortsteile und Viertel sind historisch gewachsen, wurden als vorherige Gemeindeorte eingegliedert, traten nach einem Referendum der Stadt bei oder wurden ihr bei Gemeindereformen zugeschlagen. Außer der Innenstadt (Zentrum) gehören folgende Stadtteile zur Kernstadt: Bratja Miladinowi, Wasraschdane und Lasur. Zu den weiteren Wohngebieten werden die Stadtteile Meden Rudnik, P. R. Slawejkow, Sorniza, Isgrew und die Stadtviertel Akacijte, Gorno Eserowo, Dolno Eserowo, Losowo, Pobeda, Sarafowo und Kraimorie gezählt. Seit 2009 sind die ehemaligen Gemeindedörfer Banewo (mit den Mineralbädern von Burgas) und Wetren Stadtviertel von Burgas. Administrativ ist die Stadt Burgas in sechs territoriale Direktionen (TD) unterteilt. Diese umfassen neun Stadtviertel (Pobeda, Banewo, Losowo, Wetren, Akacijte, Sarafowo, Dolno Esserowo, Gorno Esserowo, Kraimorie), sieben Stadtteile (Meden Rudnik, Sorniza, Isgrew, Slawejkow, Bratja Miladinowi, Wasraschdane und Lasur), zwei Siedlungen (Fischersiedlung und Villensiedlung Alatepe), das Stadtzentrum und die Insel Sweta Anastasia. Die TD Wasraschdane umfasst Pobeda und Akacijte sowie die zwischen dem Burgas-See und dem Mandra-See liegenden Meden Rudnik und Gorno Eserowo. In der TD Isgrew sind Isgrew, Sorniza und Sarafowo zusammengeschlossen, die auf beiden Seiten des Atanasow-Sees liegen. Die TD Primorie umfasst das Stadtzentrum, die Viertel Wasraschdane und Kraimorie, die einen Zugang zum Meer haben, die Fischersiedlung in der Bucht Tschengene Skele, den Park Rossenez, die Villensiedlung Alatepe () und die Insel Sweta Anastasia. In der TD Oswoboschdenie befinden sich die nördlich des Burgas-Sees gelegenen Slawejkow und Losowo sowie Banewo und Wetren. Die TD Sora umfasst die zentral gelegenen Lasur und Bratja Mladinowi, die TD Dolno Eserowo besteht nur aus dem gleichnamigen Stadtviertel. Klima Das Klima in Burgas ist trocken und gemäßigt kontinental mit Meereseinfluss. Der Sommer ist heiß, dank der Meeresnähe mit einer ständigen Brise dennoch angenehm. Die durchschnittlichen Tagestemperaturen betragen 28,4 °C und die des Meeres 24,7 °C. Die Anzahl der Sonnentage im Sommer liegt zwischen 24 und 27 bei 10 bis 11 Sonnenstunden täglich. Der Herbst ist durch den Einfluss des Schwarzen Meers im Vergleich zum Rest des Landes lang, warm und regenarm. Der Winter ist mild und meistens ohne Schneefall. Die Tagestemperaturen liegen in dieser Jahreszeit im Durchschnitt bei 8,1 °C, die des Meeres bei 7,4 °C. Der Frühling tritt meist einen Monat später als im Rest des Landes ein und ist kürzer. Ausführliche Klimadiagramme von Burgas Ökologie/Umwelt In den 1980er Jahren stellte die Verschmutzung der Luft und der Abwässer ein großes Problem dar. Ursachen waren eine fehlende Umweltpolitik und die Nichteinhaltung ökologischer Standards seitens der in der kommunistischen Zeit errichteten Industrie. Die Reinigungsanlagen für Abwässer wurden in der Planwirtschaft nicht ausgebaut, die vorhandenen waren dem raschen Bevölkerungswachstum nicht gewachsen und wurden vernachlässigt. Die industriellen Abwässer führten Ende der 1980er Jahre, verstärkt durch die der ehemaligen Flüchtlingslager, im Burgas-See zu einer ökologischen Katastrophe. Die Tierbestände im ehemals fischreichsten See Bulgariens gingen beinahe gänzlich zugrunde. Auch die Schwarzmeerküste wurde durch Auslaufen von kleineren Mengen Rohöl aus Öltankern und durch die Abwässer der petrochemischen Werke mehrmals in Mitleidenschaft gezogen. In dieser Zeit war das gesamte Stadtgebiet der ständigen Luftverschmutzung durch überhöhte Konzentrationen von Schwefelwasserstoff (H2S), Feinstaub und Schwefeldioxid (SO2) ausgesetzt, die vor allem durch die Emissionen der Raffinerie und anderer Betriebe der Chemiebranche verursacht wurden. 1996 gab es in der Stadt Proteste wegen der ökologischen Lage. Mit dem Ende des Kommunismus wurden mehrere Projekte zur Verbesserung der Ökologie der Stadt ins Leben gerufen. 1992 wurde in der Stadtverwaltung die Abteilung Ökologie eingerichtet, welche die Projekte und die Überwachung in diesem Bereich koordiniert. Seit Anfang der 1990er Jahre wurden zudem stationäre und mobile Überwachungs- und Kontrolleinheiten gebildet. Die heute in Burgas verwendeten fünf stationären Luftüberwachungsstationen sind die einzigen ortsgebundenen Stationen im Land. Das Überwachungs- und Kontrollsystem ist das einzige in Bulgarien, dass einzelne Emissionsverursacher bestimmen kann. Zwischen Ende der 1980er bis Ende der 1990er wurden mehrere Naturschutzgebiete eingerichtet und seit 2005 über 220 Millionen Lewa (ca. 110 Millionen Euro) in Projekte zur Verbesserung der Kanalisation, Wasserversorgung und Wasserverarbeitung in der Stadt investiert. Unter anderem wurde 2010 eine zusätzliche Kläranlage im größten Stadtviertel Meden Rudnik gebaut und kleinere Stadtteile mit dem zentralen Abwassersystem verbunden. 2012 begann der Ausbau des Abwassersystems in Meden Rudnik. Diese Maßnahmen verbesserten neben dem Strukturwandel und den Investitionen zur Eindämmung der Luft- und Abwasserverschmutzung durch die betroffenen Unternehmen die ökologische Lage der Stadt und des Umlandes enorm. Dennoch werden vor allem in den Vierteln Dolno Eserowo und Losowo noch überdurchschnittliche Konzentrationen von Schwefelwasserstoff und Schwefeldioxid in der Luft nachgewiesen. Diese Werte haben aber eine sinkende Tendenz und werden durch eine bestimmte meteorologische Situation erklärt, bei der der Wind Luftpartikel aus der nahen Raffinerie herüberträgt. Die Raffinerie, der Möbelhersteller Kronospan und der zunehmende Kfz-Verkehr gehören zu den größten Emissionsverursachern. Da Burgas ein wichtiger Transportknotenpunkt ist, sind für den Transitverkehr mehrere Projekte geplant. Im Jahre 2008 fand zum Bau der Burgas-Alexandroupolis-Ölpipeline in Burgas ein Referendum statt. 96,75 Prozent der Abstimmenden sprachen sich gegen den Bau der Ölpipeline aus. Das erste Referendum in der neuzeitlichen Geschichte Bulgariens war allerdings für die bulgarische Regierung nicht bindend, da die Beteiligung bei nur 27,09 Prozent und 51.225 gültigen Stimmen lag. 2010 erhielt die Stadtverwaltung bei einem Projekt zum integrierten Ausbau des öffentlichen Verkehrs eine EU-Unterstützung in Höhe von 70 Millionen Euro. Damit konnte der veraltete Fuhrpark des städtischen Transportunternehmens Burgasbus komplett erneuert, das Netz der Oberleitungsbusse erweitert und bis zu 20 km Fahrradwege gebaut werden, was Burgas eine Vorreiterrolle auf diesem Gebiet in Bulgarien bescherte. Im November 2011 gab die Stadtverwaltung ihre Ziele innerhalb des Covenant of Mayors zur Steigerung der Energieeffizienz und Nutzung nachhaltiger Energiequellen bekannt. Burgas will demnach bis 2020 den Energieverbrauch um 27 Prozent und die CO2-Emissionen um 25 Prozent reduzieren und die Nutzung erneuerbarer Energie um 26 Prozent steigern. Im selben Jahr wurde Burgas wegen seines Engagements im Bereich Umwelt und nachhaltiger Entwicklung zur umweltfreundlichsten Stadt Bulgariens gekürt. Natur Gewässer Durch die Stadt fließen die Flüsse Ajtoska, Rusokastrenska, Sredezka, Isworska und Tscharlijska. Die ersten beiden münden in den Burgas-See, der Sredezka und der Isworska in den Mandra-See und der Tscharlijska in den Atanassow-See. Von den drei Seen, welche die Stadt umgeben, besitzt der Atanassow-See den höchsten Salzgehalt, gefolgt vom Burgas-See. Dagegen befindet sich im Mandra-See nur Süßwasser, obwohl er durch einen natürlichen Kanal mit dem Schwarzen Meer verbunden ist. Der Burgas-See und der Mandra-See sind so genannte Limane. Sie sind durch das Aufstauen von Flussgewässern und einen nacheiszeitlichen Anstieg des Meeresspiegels, der zur Überflutung der Mündungsgebiete führte, entstanden. Der Burgas-See, der größte bulgarische See, nimmt eine Fläche von 27,6 km² und der Mandra-See von 10 km² ein. Das Wasservolumen der beiden Seen beträgt 19 bzw. 11 Millionen Kubikmeter. Der Atanasow-See ist eine natürliche Lagune. Der See ist durch einen künstlich errichteten Damm in einen Nord- und einen Südteil (auch nördlicher Atanasow-See und südlicher Atanasow-See genannt) geteilt. Über den Damm führt die Schwarzmeer-Autobahn, die das Stadtzentrum mit den nördlich des Sees gelegenen Vierteln und dem Flughafen sowie Burgas mit Warna verbindet. Die beiden Teilseen sind durch mehrere Kanäle miteinander und mit dem Schwarzen Meer verbunden. Obwohl der See zum Reservat erklärt wurde, ist die Salzgewinnung durch die Burgaser Tschernomorski Solnizi nicht verboten. Dort wird seit der Antike, wie archäologische Funde nachweisen, Salz gewonnen. Südlich des Mandra-Sees erstreckt sich das Strandscha-Gebirge mit dem gleichnamigen Naturpark. Der See ist durch einen Staudamm von seinem natürlichen Abfluss ins Schwarze Meer getrennt. Er wird zum Bewässern von landwirtschaftlichen Flächen genutzt. Der Abfluss der Seen folgt nach dem Damm dem natürlichen Kanal und bildet im Naturschutzgebiet Unsungeren einen Liman. Durch den Kanal Poda im gleichnamigen Naturschutzgebiet fließt entwässert der See in die Schwarzmeerbucht Poros. Im Stadtviertel Wetren befindet sich mit der Burgas-Mineralquelle eine der ältesten in Europa genutzten Mineralquellen. Die Wasserversorgung der Stadt erfolgt durch die Stauseen Kamtschija im Balkangebirge und Jasna Poljana im Strandscha-Gebirge sowie kleine lokale, meist unterirdische Wasserquellen. Flora und Fauna In der näheren Umgebung der Stadt befinden sich zahlreiche Naturschutzgebiete und schutzbedürftige Areale, u. a. die bedeutenden Brut- und Rastgebiete Poda, Mandra-See, Burgas/Waja- und Atanassow-See. Sie sind in das Projekt Feuchtgebiete Burgas (englisch: Burgas Wetlands) eingegliedert. Dazu wurden der Burgas- und der Atanassow-See sowie das Naturschutzgebiet Poda in die Ramsar-Liste aufgenommen. In den Seenlandschaften um Burgas nisten und überwintern zahlreiche unter Schutz stehende Vogelarten wie Pelikane, Reiher (Nacht-, Rallen-, Seiden-, Silber- und Purpurreiher) sowie Kormorane. Ein großer Teil der Weltpopulation anderer Zugvögel wie die Zwergscharbe und die Weißkopfruderente überwintern dort. Durch die Stadt bzw. über die Seen verläuft der östliche Nord-Süd-Migrationsweg der Zugvögel, die Via Pontica, was Vogelbeobachter und Ornithologen aus ganz Europa anlockt. So vereinen sich über Burgas acht Hauptrouten des Storchenzugs und dort sind während der Zugzeiten mehrere hunderttausend Weißstörche, Zwergscharben, Krauskopfpelikane und Rothalsgänse sowie alle europäischen Limikolenarten und fast 30 verschiedene Greifvogelarten zu beobachten. In der Bucht von Burgas und in den Burgasseen wurden rund 140 verschiedene Fischarten nachgewiesen, die zum Teil im Regionalmuseum zu besichtigen sind. Am südlichen Ausgang der Stadt befindet sich das Naturschutzgebiet Poda mit einer öffentlich zugängigen Vogelbeobachtungsstelle. Dort sind 255 Vogelarten ermittelt worden, was 67 Prozent der gesamten Vogelwelt Bulgariens entspricht. Im Naturreservat Atanassow-See sind es 317 Vogelarten. Davon stehen 83 Arten in Bulgarien auf der Roten Liste und über 170 Arten sind von europäischer Bedeutung. Ebenfalls dort anzutreffen sind das kleinste Säugetier der Welt, die Etruskerspitzmaus und seit 2010 Rosaflamingos. Der Sage nach soll in der Umgebung von Burgas eine Bärenart namens Burgasbär leben. Bulgarischen Medienberichten zufolge kam es in jüngster Zeit, letztmals im August 2005, im Großraum des Schwarzen Meeres zu vereinzelten Aufeinandertreffen von Menschen und Bären. Wanderer in der seenreichen Region um Burgas berichteten von unmittelbarem Sichtkontakt zu Burgasbären. Der letzte unzweifelhaft existierende Bär in der Region von Burgas wurde am 24. September 1874 von einheimischen Jägern in einem Waldgebiet nahe Burgas erlegt. Naturschutz Mehrere Naturschutzgebiete grenzen an das Stadtgebiet von Burgas oder sind Teile der Stadt. Die Naturreservate Atanassow-, und Mandra-See, die seit 1980 bestehen, haben nach mehreren Ausweitungen heute eine Fläche von 1002,3 ha. 1997 wurde ein Großteil des Burgas-Sees und sein Ufer zum Naturschutzgebiet mit einer Fläche von 379 ha erklärt. Weitere Naturschutzgebiete sind: seit 1990 das Gebiet Mündung des Flusses Isworska, mit einer Fläche von 150 ha, seit 1989 das Naturschutzgebiet Poda, mit einer Fläche von 100,7 ha, seit 1995 das Gebiet Tschengene Skele, mit einer Fläche von 191,19 ha, das Korijata-Naturschutzgebiet mit einer Fläche von 11,6 ha, eingerichtet 1995 und die 2005 zum Naturschutzgebiet erklärte Bucht des Mandra-Sees Usungeren. Als geschütztes Gebiet gilt seit 1995 auch die Natursehenswürdigkeit Wodenizite, die über eine Schutzfläche von 73,6 ha verfügt. Südlich der Stadt erstreckt sich der größte bulgarische Naturpark, der Naturpark Strandscha. In einigen der Schutzgebiete werden internationale Projekte mit deutscher und schweizerischer Beteiligung durchgeführt. So unterstützt die bulgarisch-schweizerische Gesellschaft für Artenschutz das Programm Feuchtgebiete Burgas. 2009 wurden gemeinsam mit der Deutschen Bundesstiftung Umwelt und der Alfred Toepfer Stiftung eine weitere Vogelbeobachtungsstation und mehrere Brutplattformen im Atanassow-See in Betrieb genommen. Mit dem Eintritt Bulgariens in die EU wurden Teile der Naturschutzgebiete in das europäische Netz Natura 2000 aufgenommen. Geschichte Name Es gibt mehrere Versionen über den Ursprung des Ortsnamens Burgas. Die meisten davon verweisen auf das lateinische Wort Burgos oder das griechische Πύργος (Pyrgos), welche derselben Sprachfamilie entstammen und die Bedeutung von Turm, Wachturm, Burg oder Burgberg haben (→ Burgus). Andere Versionen leiten den Stadtnamen aus dem deutschen borg (Berg) ab. Kiril Wlachow fügte mit /pürgos (deutsch: Wallburg) einen möglichen thrakischen Ursprung hinzu. Schließlich ist die Rede von einem römischen Burgus, der laut einer Inschrift während der Zeit Antoninus Pius (138–161), beziehungsweise unter dem Statthalter von Develtum Iulius Commodus Orfitismus errichtet wurde und in späteren Zeiten zum Synonym für die sich daraus entwickelte Stadt wurde. Der Standort dieser Burg ist heute unbekannt. Eine ähnliche Etymologie hat der Name der spanischen Stadt Burgos. Stadtgeschichte Erste Siedlungen in der Frühzeit Im Hinterland von Burgas sind mehrere vorgeschichtliche und antike Siedlungen vom Chalkolithikum bis in die Spätbronzezeit bekannt. Anfang 2008 wurden bei Ausgrabungen in der zehn Kilometer vom Stadtkern entfernten Gegend Solna Niwa (deutsch: Salzacker) nahe dem Atanassow-See mehr als 250 Artefakte gefunden, von denen die ältesten auf etwa 6000 Jahre v. Chr. datiert werden. Die Funde, darunter rituelle Gegenstände eines Priesterkönigs, zeugen von entwickelter Landwirtschaft, Viehzucht und Salzgewinnung der damaligen Bewohner. Die Artefakte von Solna Niwa sind vermutlich die ältesten, die je an der Schwarzmeerküste gefunden wurden und älter als die aus dem Gräberfeld von Warna. Sie unterstreichen die frühgeschichtliche Bedeutung des Ortes. Eine thrakische Siedlung in der Gegend Sladkite kladenci diente vom 6. bis ins 2. Jahrhundert v. Chr. wohl als Emporion (Handelsplatz) des griechischen Apollonia. Auf der Anhöhe Schiloto im Viertel Meden Rudnik befand sich eine alte thrakische Festung, welche die nahegelegenen Kupferbergwerke thrakischer Fürsten bei Warli brjag schützte. Dort wurde ein Tempel des Gottes Apollon Musagetes (Apollon der Musenführer) errichtet. Tyrsis war eine weitere thrakische Siedlung, die sich südwestlich von Burgas befand und Anfang des 2. Jahrhunderts v. Chr. zerstört wurde. Archäologische Untersuchungen der späteren Mineralbäder Aquae Calidae belegen ebenfalls thrakische Vorsiedlungen. Unter der Herrschaft des Großkönigs Dareios I. gerieten die thrakischen Siedlungen unter persische Herrschaft. Nach der Abwehr der persischen Invasion und der Gründung des Odrysenreiches wurden die Siedlungen erneut thrakisch. Burgas entstand aus mehreren Siedlungen an der Küste des Schwarzen Meeres und im Küstenland, vor allem aus Deultum, Aquae Calidae und dem späteren Pirgos. Deultum war zunächst eine am westlichen Ufer des Mandra-Sees an der Mündung des Flusses Sredezka gelegene thrakische Siedlung. Ihr Name Deultum (auch Develtum, Debeltum, Debeltus oder Develt) bedeutet im Thrakischen Zwischen zwei Seen (gelegen). Zwischen 383 und 359 v. Chr. wurde der Ort unter Kotys I. erneut Teil des Odrysenreiches. Die Bedeutung der griechischen Nachbarstädte Apollonia und Mesembria, die schon im 7. Jahrhundert gegründet wurden, hemmte jedoch in der Antike den Aufschwung der kleineren Siedlung. Bis 340 v. Chr. eroberte der makedonische König Philipp II. die thrakischen Siedlungen. Entwicklung von der Römerzeit bis zum Mittelalter 72 v. Chr. sicherte der Feldherr Lucullus die Region dauerhaft für das Römische Reich. Kurz vor 77 n. Chr. entstand östlich des thrakischen Deultum eine vom römischen Kaiser Vespasian gegründete Kolonie für Veteranen der Legio VIII Augusta. Der Name Colonia Flavia Pacis Deultensium übertrug sich später auch auf die thrakische Stadt. In dieser Zeit wurde sie zur zweitwichtigsten Stadt der römischen Provinz Thracia und Zentrum der Ländereien zwischen der heutigen Bucht von Burgas und dem Strandschagebirge. Dort traf eine Abzweigung der römischen Heeresstraße Via Militaris auf die Via Pontica, welche die Küstenstädte entlang des Pontos Euxeinos (altgriechisch für Schwarzes Meer) verband. Im Stadtzentrum von Burgas lassen sich römische Spuren mit Münzfunden aus dem 1. bis 4. Jahrhundert n. Chr. nachweisen. Südwestlich des heutigen Bahnhofs befinden sich die Reste eines römischen Stationis. Später entstand an den Südhängen des nahegelegenen Hemus-Gebirges (Balkangebirge) der Ort Aquae Calidae, ein Heilbad mit wasserreichen Mineralquellen, das nachweislich von byzantinischen Kaisern (unter anderem Maurikios) und Kaiserinnen regelmäßig besucht wurde. Das Gebiet der heutigen Stadt umfasst außerdem die früheren Siedlungen Pirgos, Kastiakion, Poros/Foros, Skafidia und Rossokastron. Unter dem Namen Pudizos ist Pirgos in der Tabula Peutingeriana verzeichnet. Mitte des 2. Jahrhunderts, während der Herrschaft des römischen Kaisers Antoninus Pius wurden die Festung Poros und eine Wegestation (statio milliaria) mit einem Hafen auf der heutigen Halbinsel Faros im Bezirk Kraimorie erbaut. Sie sicherten an der Via Pontica eine kleinere Bucht, die heute durch eine Landzunge vom Schwarzen Meer getrennt ist und in der Spätantike und im Mittelalter einen sicheren Vorhafen zu Develtum und Skafidia bildete. Neben der Festung gab es ein kleines Kloster. Einige Historiker vermuten, dass es sich um das von der byzantinischen Kaiserfamilie im 13. Jahrhundert gestiftete wieder errichtete Kloster des Heiligen Georg handelte. Es ist nicht bekannt, ob Develtum wie Aquae Calidae und die gesamte Region um 270 von den Goten zerstört oder erobert wurde. 376 schlugen die Goten bei Develtum eine römische Eliteeinheit. Nach der Reichsteilung von 395 des Imperium Romanum gehörte die Region dem Oströmischen Reich (später Byzanz) an. Unter der Herrschaft des byzantinischen Kaisers Justinian I. (527–565) wurde Aquae Calidae durch eine Festungsmauer gesichert. 708 schlug der bulgarische Herrscher Terwel unmittelbar nördlich vom heutigen Burgas in der Schlacht von Anchialos den byzantinischen Kaiser Justinian II. und konnte damit die Region Sagore mit Aquae Calidae und Develtum zum ersten Mal im Bulgarischen Reich eingliedern. Unter dem bulgarischen Herrscher Krum kam die Sagore dauerhaft zum bulgarischen Reich. In diesem Zusammenhang ließ der bulgarische Herrscher den bulgarisch-byzantinischen Grenzwall Erkesija errichten. Der Überlieferung nach soll 863 der bulgarische Khan Boris I. in oder in der Nähe von Develtum im Beisein des byzantinischen Kaisers Michael III. getauft worden sein. Dabei nahm er als Würdigung des oströmischen Herrschers den Taufnamen Michael an und widmete anschließend seine Regentschaft dem Ziel der Christianisierung seines Reiches. Um 970 geriet die Region erneut unter byzantinische Herrschaft. 1093 stationierte Alexios I. Komnenos Truppen zur Sicherung der östlichen Pässe des Balkangebirges in Aquae Calidae. 1206 wurde Aquae Calidae, der mittlerweile unter dem Namen Thermopolis bekannt war, vom lateinischen Kaiser Heinrich zerstört (siehe Vierter Kreuzzug), später jedoch von Bulgaren und Byzantinern wieder aufgebaut. 1270 wurde Poros in einem Dokument des Patriarchats von Konstantinopel erwähnt. 1304 fand bei Poros die Schlacht von Skafida statt, bei der der bulgarische Zar Todor Swetoslaw die Byzantiner schlug und die südliche Schwarzmeerküste eroberte. 1332 gelang es den Bulgaren unter Zar Iwan Alexander die Byzantiner unter Kaiser Andronikos III. erneut in der Nähe von Burgas, in der in Schlacht von Rusokastro, zu schlagen. Anfang des 13. Jahrhunderts wurde die Region von der Katalanischen Kompanie geplündert. Im 13. Jahrhundert erwähnte der byzantinische Dichter Manuel Philes in seinen Werken Burgas als Pirgos. Osmanische Herrschaft und erste urkundliche Erwähnung Develtum und Pirgos wurden etwa 1367/1368 von den Osmanen unter Sultan Murad I. erobert und später an Byzanz verkauft. Sie gerieten um 1453 gemeinsam mit den anderen nahe gelegenen Küstenstädten als eine der letzten Städte im heutigen Bulgarien für Jahrhunderte unter osmanische Herrschaft. Dabei wurde Deultum zerstört; die Stadt konnte sich in den folgenden Jahrhunderten nicht erholen und spielte in der osmanischen Geschichte keine Rolle mehr. Thermopolis und Pirgos blieben erhalten und wurden als Bäder für die osmanischen Sultane ausgebaut. In Poros errichtete der osmanische Sultan Bayezid II. für seinen Hof ein Çiftlik (etwa Bauernhof). Die ehemalige Festung Pirgos existierte lange nur als Fischersiedlung und Teil des Çiftliks von Iskender Pasa; sie wurde in mehreren osmanischen Steuerregistern als Teil der Aidos Kaza (etwa Verwaltungskreis) erwähnt. Obwohl nach der Zerstörung der antiken Wasserleitungen Pirgos in den folgenden Jahrhunderten an Wassermangel litt, diente der Ort als Marinestützpunkt der osmanischen Flotte für Balkan-Kampagnen. Süßwasser wurde auf Pferdekarren in die Stadt eingeführt und in großen Gefäßen in Hafennähe gelagert. Bei Poros, das Teil der Anchialo Kaza wurde, wurde für die Schifffahrt ein Leuchtturm erbaut. In der Mitte des 16. Jahrhunderts erwähnte der osmanische Reisende Hadschi Kalfa den Ort als ersten großen Hafen nach dem Bosporus unter dem Namen Burgas. Nach der Schlacht von Lepanto von 1571 entwickelte sich der Ort als Schiffsbauzentrum. Ein weiterer Reisender, Evliya Çelebi, berichtete 1656 von zwei Häfen im Ort, einem bei Poros für die großen Schiffe und einem weiteren in Pirgos im Areal des heutigen Hafens für die kleineren. Wie der osmanische Chronist Hacı Ali in seinem Feldzug-Tagebuch Fethname-i Kamaniçe berichtete, zog der osmanische Sultan Mehmed IV. 1672/73 im Osmanisch-Polnischen Krieg (1672–1676) über Thermopolis. Als während der Kampagne von 1673 Armenier aus der Kampfregion zwangsumgesiedelt wurden, ließen sich einige in Burgas nieder. 1675 besuchte sie der armenische Erzbischof Mardiros Krimeci in Pirgos. Im 17. Jahrhundert siedelten sich griechische Fischer aus dem nahegelegenen Anchialos an. Der Ort breitete sich auf das heutige Stadtgebiet aus und wuchs zu einem kleinen Fischerdorf an. Er trug die Namen Ahelo-Burgas, Pirgos oder Borgos. In dieser Zeit entstand auch das Dorf Atanasköi (später Atanassowo, heute das Stadtviertel Isgrew). Die Bevölkerung verdiente ihren Unterhalt vorwiegend durch Fischerei und Getreideanbau. Lafitte-Clavé, der die Region 1784 besuchte, bezeichnete Burgas als strategisch wichtig und als größte Stadt in jener Bucht, die er als Erster unter dem Namen Bucht von Burgas erwähnte, mit der Bemerkung, dass diese zuvor als Bucht von Poros bekannt war. Den See westlich der Stadt nannte Lafitte-Clavé Burgas-See und seinen Abfluss Burgas. Mehrere westliche Diplomaten, darunter Wenzel Edler von Brognard (1786) und Claude-Charles de Peyssonnel (1787) berichteten in dieser Zeit, dass Burgas ein Kasaba (Kleinstadt) mit 1100–1200 Wohnhäusern und ein wichtiges Handelszentrum und Umschlagplatz für landwirtschaftliche Waren aus Ostthrakien sei. Burgas sei das Zentrum der Küste von Achtopol bis Gyozeken und besitze sein eigenes Getreidemaß, das Burgas-Kile. Im Russisch-Osmanischen Krieg (1828–1829) wurde die befestigte Stadt am 12. Juli 1829 von russischen Truppen mit Unterstützung der örtlichen Bevölkerung eingenommen. Bereits im Vorfeld flohen die türkisch-muslimischen Einwohner. Die Stadt war in der folgenden kurzen Zeit Stützpunkt der russischen Flotte. Damals zählte die russische Administration nur noch 475 Wohnhäuser, zwei Moscheen (Cilesis zâde Mustafa Cami und Gazi Paşa Camii) und eine Kirche (Heilige Mariä Himmelfahrt). 212 Wohnhäuser gehörten türkischen Bewohnern und waren verlassen. Die Kirche wurde von Griechen, Bulgaren und Armeniern gleichermaßen genutzt. Als nach dem Frieden von Adrianopel bekannt wurde, dass die Region weiter im osmanisch-türkischen Reich verbleiben sollte, zogen die christlichen Bewohner mit der russischen Armee vor den anrückenden Türken fort. Sie ließen sich vornehmlich in Bessarabien nieder. Ein kleiner Teil kehrte in den nächsten Jahren nach Burgas zurück. 1836 besuchte der deutsche General Helmut von Moltke die Stadt und hinterließ den ältesten bekannten Stadtplan. In den 1850er Jahren wurden Krim- und Kaukasus-Tataren in Burgas angesiedelt. Sie errichteten die Moschee Azizie mit einer angeschlossenen Schule. 1853 legten österreichische Kaufleute den Grundstein der katholischen Kirche. In dieser Zeit wohnte und arbeitete der polnische Dichter Adam Mickiewicz in der Stadt. In den 1860er Jahren wurde Burgas erneut wichtiges Handelszentrum und Umschlagplatz für landwirtschaftliche Waren aus dem östlichen Rumelien und verdrängte endgültig Anchialos. Mit den administrativen Reformen des Tanzimats von 1864 erfolgte eine Neugliederung des Osmanischen Reiches. Dadurch wurde Burgas Zentrum einer Kaza im Sandschak Sliwen. Im selben Jahr siedelte die osmanische Regierung Tscherkessen in den nahegelegenen Dörfern Mugres (heute Gorno Eserowo), Yakezli (heute Debelt) und Aivadcik (heute Djulewo) an. 1863 hatte die Stadt ca. 3000 Einwohner, die Hälfte waren moslemische Bürger (Türken, Tataren und Tscherkessen). Nach einer französischen Untersuchung der osmanischen Schwarzmeerhäfen war Burgas 1865 nach Trapezunt der Hafen mit dem zweithöchsten Warenumschlag. Viele Bulgaren aus den Balkanstädtchen Kotel, Elena, Sliwen und Stara Sagora und den Strandschadörfern siedelten sich in der folgenden Zeit in Burgas an. Geprägt von den Ideen der bulgarischen Wiedergeburt leiteten die Bulgaren den Kampf gegen die dominierende griechische Sprache in der Schule und Kirche ein. So wurde 1865 die erste bulgarische Schule, die Heilige Brüder-Kiril- und-Methodius-Schule, und 1869 die erste, gleichnamige, bulgarisch-orthodoxe Kirche der Neuzeit dort eingeweiht. 1873 ergab eine osmanische Volkszählung für Burgas 682 Wohnhäuser und 1753 männliche Einwohner. In jener Zeit war die Stadt dreigeteilt in ein türkisches Viertel, das sich heute zwischen dem Hafeneingang und dem Hotel Primorez befindet, ein griechisches westlich vom türkischen um die Kirche Heilige Mutter Jesu und ein bulgarisches um die heutige Kathedrale Heilige Brüder Kiril und Methodius. Südwestlich vom bulgarischen Viertel schlossen sich die Häuser und die Moschee der Tataren an. Obwohl die bulgarische Bevölkerung in Burgas nicht an Kampfhandlungen für die politische Unabhängigkeit wie am Aprilaufstand 1876 teilnahm, liefen durch die Hafenstadt wichtige Kommunikationskanäle und Waffenlieferungen der Inneren Revolutionären Organisation. Die Revolutionsführer Wasil Lewski und Panajot Chitow besuchten mehrmals die Stadt. Hafen Ostrumeliens und Vereinigung Bulgariens Im Russisch-Türkischen Befreiungskrieg von 1877/78 wurde der sichere Hafen von Burgas von der türkischen und tatarischen Bevölkerung Ostbulgariens sowie von Deserteuren und irregulären osmanischen Truppen (Başı Bozuk) als Abzugsort genutzt. Ende 1877 entsandte die osmanische Armee mit dem Dampfer Selime eine 300 Mann starke Truppe der regulären Streitkräfte, um die Bevölkerung und den Hafen vor marodierenden Banden zu schützen. Am 28. Januar 1878 zogen die Streitkräfte mit der gesamten türkischen und tscherkessischen Bevölkerung aus der Stadt in Richtung Konstantinopel ab. Am 6. Februar 1878 endete formal die osmanisch-türkische Herrschaft über die Stadt. An diesem Tag wurde Burgas nach dem Waffenstillstand von Edirne von russischen Einheiten unter der Führung von General Lermontow eingenommen. Bereits am nächsten Tag gründete sich eine bulgarische Gemeinde, die Niko Popow als ersten bulgarischen Bürgermeister wählte. Zu diesem Zeitpunkt zählte Burgas rund 3000 Einwohner. Die russische Armee wurde im ehemaligen türkischen Viertel einquartiert, richtete ein Lazarett ein und blieb bis Mitte 1879 in der Stadt. Nach dem Berliner Kongress von 1878 wurde Burgas jedoch erneut Teil des Osmanischen Reiches und in die neu konstituierte autonome Provinz Ostrumelien eingegliedert. In der Folge siedelten sich die ersten Flüchtlinge aus Ostthrakien an und ein kleiner Teil der türkischen Bevölkerung kehrte nach Burgas zurück, erreichte jedoch nie mehr ihre Vorkriegsstärke. Gleichzeitig bildete sich gegen die Entscheidungen des Berliner Kongresses in Burgas wie im ganzen Land ein Einheitskomitee. Dieses setzte sich als Ziel, die Rückkehr der osmanischen Administration nach Ostrumelien mit allen Mitteln zu verhindern und langfristig alle bulgarischen Gebiete zu vereinen. Das Komitee von Burgas tarnte sich als Sportklub und trug den Namen Morski Orel. Der Sportklub war später lokales Komitee des Bulgarischen geheimen revolutionären Zentralkomitees, das die Einheitskomitees in Ostrumelien vereinte. Burgas war damals eine kleine Hafenstadt ohne fließendes Wasser und ohne Kanalisation. Das Wasser wurde weiter per Lastkarren oder von Wasserträgern von mehreren Süßwasserquellen der Umgebung in die Stadt gebracht. Die Stadt gliederte sich in ein griechisches, ein bulgarisches und ein tatarisches Viertel sowie in einen Stadtteil der Roma. Mit dem Wegzug der türkischen Bevölkerung wurden ihre Moscheen in der Stadt zerstört. Entscheidungen des Stadtrates wurden in Bulgarisch, Griechisch und Osmanisch bekannt gegeben. Trotz des Wassermangels war die Stadt ein wichtiges Handelszentrum, der einzige Großhafen Ostrumeliens und administratives Zentrum eines der sechs Departements. Die wirtschaftliche Entwicklung lockte Flüchtlinge aus den noch unter osmanischer Direktherrschaft stehenden bulgarischen Gebieten Thrakiens und Makedoniens nach Burgas. 1880 wurde das Tschitalischte Probuda eröffnet. Die erste Wochenzeitung in Burgas erschien am 20. Juli 1885 unter dem Namen Burgaski westnik. Die Stadt blieb bis September 1885 osmanisch, als die osmanische Provinz Ostrumelien sich nach einem Militärputsch mit dem Fürstentum Bulgarien zusammenschloss. Die Vereinigung Bulgariens wurde jedoch von Österreich-Ungarn und Russland missbilligt, Großbritannien hingegen stellte sich hinter das Fürstentum. Am folgenden Serbisch-Bulgarischen Krieg nahmen auch Bürger aus Burgas unter der Führung des Einheitskomitees teil. Obwohl der Frieden von Bukarest von 1886 den Status quo wiederherstellte, gab sich Russland nicht zufrieden und Zar Alexander III. weigerte sich, dem bulgarischen Fürsten Alexander von Battenberg als Herrscher des vergrößerten Bulgarien anzuerkennen. Die osmanische Regierung verlangte ihrerseits, als Voraussetzung für die Normalisierung der nach der Vereinigung gestörten Beziehungen die Unterstellung des Hafens unter osmanischen Verwaltungshoheit, was vom bulgarischen Fürsten abgelehnt wurde. Anfang Mai 1886 misslang einer Verschwörung der prorussischen Kräfte in Burgas unter der Führung des russischen Obersten Nikolaj Nabokow gegen Alexander von Battenberg. Obwohl im August der bulgarische Fürst Alexander I. in einem von Russland initiierten Offiziersputsch gestürzt wurde, konnte sich die bulgarische Regierung von Stefan Stambolow gegen Russland durchsetzen. Auch eine weitere, von Russland im Oktober in Burgas initiierte Militärrevolte, wurde mit Hilfe der Ajtos-Kompanie unter der Führung von Major Kosta Paniza von der Zentralregierung niedergeschlagen. Wirtschaftlicher Aufschwung, Flüchtlinge und Ilinden-Preobraschenie-Aufstand Ab dem späten 19. Jahrhundert entwickelte sich Burgas zu einem bedeutenden Wirtschaftszentrum. Der erste Bebauungsplan der Stadt wurde 1891 verabschiedet. Das orientalische Stadtbild änderte sich nach westlichem Vorbild, vor allem durch die neu errichteten öffentlichen Gebäude: 1888 wurde die Stadtbibliothek gegründet, 1891 der Meeresgarten angelegt und 1897 die Kathedrale Heilige Brüder Kiril und Methodius errichtet. 1895 eröffnete Georgi Iwanow die erste Druckerei in Burgas, gefolgt von der Druckerei von Ch. Weltschew 1897, die 1900 ihren Namen in Druckerei Brüder Weltschewi änderte. Auf diese Zeit ist auch die Bildung einer der größten armenischen Gemeinden in Bulgarien im ehemaligen Türkenviertel zurückzuführen. Die Eröffnung der Eisenbahnlinie nach Plowdiw am 27. Mai 1890 und des Hochseehafens 1903 waren wichtige Etappen dieses Aufschwungs und führten zur schnellen Industrialisierung der Stadt. In der Zeit danach wurden 151 Fabriken gegründet. Darunter waren die von Awram Tschaliowski gegründete Zuckerraffinerie, die Großen Bulgarischen Mühlen von Iwan Chadschipetrow sowie die Öl- und Seifenfabrik Kambana. 1900 wurden die Mineralquellen in das Stadtgebiet einbezogen. 1907 entstand die erste vom Balkangebirge in die Stadt führende Süßwasserleitung, die bereits von 1910 bis 1912 erweitert wurde. Bulgarische Flüchtlinge aus Makedonien siedelten sich seit den 1880er Jahren in der Stadt an. Die meisten von ihnen kamen jedoch erst zwischen 1923 und 1925 überwiegend aus der Gegend um die heutige nordgriechische Stadt Giannitsa, die sie im Rahmen eines Bevölkerungsaustausches zwischen Griechenland und Bulgarien nach dem Vertrag von Neuilly-sur-Seine verlassen mussten. Am 29. Januar 1895 gründeten makedonische und thrakische Bulgaren auf Initiative von Christo Stanischew die Flüchtlingsorganisation Pirin Planina. Später kamen weitere Organisationen, wie der makedonische Wohltätigkeitsverein Dimitar Michajlow, der Kultur-, Bildungs- und Wohltätigkeitsverein der makedonischen Frauen Mentscha Karnitschewa und die makedonische Jugendorganisation Pelister hinzu. Die thrakischen Bulgaren gründeten daraufhin am 15. Dezember 1896 den Edirne-Vertriebenenverein Strandscha. Während des ersten Kongresses der thrakischen Flüchtlingsorganisationen zwischen dem 19. und 21. Februar 1897 schlossen sie sich zum Bund der thrakischen Vereine Strandscha zusammen und beschlossen die Gründung von revolutionären Komitees. Diese sollten den bewaffneten Kampf in den bulgarischen Gebieten des Osmanischen Reichs wieder aufnehmen. Mit der Gründung des Bulgarischen Exarchats durch den Sultansferman von 1870 erhielt die bulgarische orthodoxe Kirche ihre Unabhängigkeit zurück. Mehrere Orte an der westlichen Schwarzmeerküste, darunter Burgas, blieben jedoch weiter unter der kirchlichen Obrigkeit des griechisch geprägten Ökumenischen Patriarchats von Konstantinopel. Erst 1900 übergab das Ökumenische Patriarchat nach langen Protesten die letzten Kirchen und Klöster der bulgarischen Kirche. Dies geschah nicht überall friedlich; so wollte der griechische Hegumen des Klosters Sweta Anastasia vorher noch den Kirchenschatz verkaufen. Dieser Versuch führte zu Unruhen in der Stadt und nur durch das Eingreifen der bulgarischen Regierung konnten Pogrome gegen die griechische Bevölkerung seitens makedonischer Bulgaren verhindert werden. Die Konzentration von Flüchtlingen und die Nähe der osmanischen Grenze führte dazu, dass im Vorfeld des Ilinden-Preobraschenie-Aufstands (1903) in Ostthrakien Burgas eine wichtige logistische Basis der BMARK wurde. In Stadtnähe, bei dem heutigen Dorf Rossenowo, wurden Ausbildungscamps, Waffen- und Proviantlager angelegt. Der führende Ideologe der BMARK, Goze Deltschew, besuchte 1900 mehrmals Burgas und stellte die Struktur der Organisation in der Region wieder her. Er richtete eine illegale Bombenfabrik ein, in der die Sprengstoffe für die Attentate von Thessaloniki (1903) hergestellt wurden. Von Burgas setzten viele Kämpfer (Komitadschi) des Aufstands mit ihren Tschetas (Kompanien) in das Osmanische Reich über (→ Petrowa Niwa). Am 2. September brannte das ungarische Schiff Vaskapu beim Einlaufen in die Bucht von Burgas nach einem misslungenen Bombenattentat der BMARK aus. Nach der blutigen Niederschlagung des Ilinden-Preobraschenie-Aufstandes wurde Burgas zum Hauptflüchtlingsort; in der näheren Umgebung wurden Flüchtlingscamps eingerichtet. 1906 führte das Vorgehen der griechischen Andarten in Makedonien zu Unruhen und Pogromen gegen die griechische Bevölkerung in der mit Flüchtlingen überfüllten Stadt und der Umgebung. In der folgenden Zeit wurden griechische Kirche und Schule in Burgas enteignet. In der Stadt gab es jedoch weiterhin eine armenische, eine türkische und eine französische Privatschule. Die griechische Bevölkerung wanderte in den folgenden Jahren vornehmlich nach Konstantinopel aus. Im selben Jahr zog die 1905 gegründete Handelsschule, das heutige Handelsgymnasium, in die Räumlichkeiten der ehemaligen griechischen Schule. Balkankriege, Erster Weltkrieg, Zwischenkriegszeit Im Ersten Balkankrieg wurde Burgas am 18. Oktober 1912 von der osmanischen Flotte beschossen, als diese eine Seeblockade in der Bucht vor Burgas errichtete. Die Seeblockade wurde am 8. November des gleichen Jahres aufgehoben. Nach der Niederlage Bulgariens im Zweiten Balkankrieg war die Stadt mit Flüchtlingen überfüllt und am Ende des Ersten Weltkrieges erhöhte sich ihre Zahl erneut. 1918 gründete der Zisterzienserorden, der sich in Burgas um die Flüchtlinge kümmerte, ein Mädcheninternat. 1920 wurde die Stadt wieder zum wichtigsten Getreideexporthafen Bulgariens und hatte bereits mehr als 21.000 Einwohner. 1921 wurde die Deutsche Schule in der Kiril und Metodij Str. 45 eröffnet, ein Jahr später bekam die Schweizer AG für Handel und Industriewerte in Glarus eine 25-jährige Konzession für die industrielle Nutzung des Atanasow-Sees mit Meerwassersalinen zur Salzgewinnung. Nach dem Ilinden-Preobraschenie-Aufstand, den Verträgen von Sèvres, Neuilly-sur-Seine und Lausanne sowie den Balkankriegen und dem Weltkrieg wurde die rasante Entwicklung der Stadt zusätzlich durch größere Flüchtlingswellen von vertriebenen ethnischen Bulgaren aus Makedonien und Thrakien im heutigen Norden Griechenlands und der Türkei vorangetrieben. Aufgrund der gleichen Verträge verließen 1929 die letzten Griechen die Stadt. Nach Angaben thrakischer Vertriebenenverbände wurden in dieser Zeit im Bezirk Burgas mehr als 60.000 thrakische Bulgaren, vorwiegend aus Ostthrakien, aufgenommen. 1924 wurde in Burgas mit Deweko (heute HemusMark AD) die erste Bleistiftfabrik in Südosteuropa gegründet, die 1937 offizieller Lieferant des bulgarischen Zarenhofs wurde. 1925 öffnete eine spezialisierte höhere Schule für Mechanik und Technologien ihre Tore. Im darauffolgenden Jahr wurde eine große Markthalle eröffnet. Durch die Kältewelle im Winter 1928/29 vereiste Ende Januar, Anfang Februar die Bucht von Burgas, so dass die vorgelagerte Insel Sweta Anastasia zu Fuß zu erreichen war. 1934 hatte Burgas bereits 34.260 Einwohner. Burgas ab der Mitte des 20. Jahrhunderts Während des Zweiten Weltkrieges besetzten am 9. September 1944 Truppen der Roten Armee die Stadt und kurz darauf das ganze Land. Nach der Machtübernahme der Kommunisten 1945 wurden die Deutsche und Italienische Schule sowie die Volksuniversität geschlossen. und über 160 Fabriken und Betriebe, Geschäfte, Bäder und weiterer privater Besitz verstaatlicht. Die totale Verstaatlichung hemmte die wirtschaftliche Entwicklung in der Stadt für Jahrzehnte und die Unfähigkeit der neuen Machthaber die Betriebe zu leiten führte in den ersten Nachkriegsjahren zum Zusammenbruch der Lebensmittelversorgung und zum Mangel von Waren des täglichen Lebens in der Stadt. Nach dem Ende des Krieges organisierte die Hagana mehrere Schiffskonvois für die europäischen Überlebenden des Holocausts, die von Burgas in Richtung Palästina ausliefen. Mit diesen Konvois wanderten ca. 12.000 Menschen, darunter die jüdische Bevölkerung der Stadt aus. In der Stadt wurden zu diesem Zeitpunkt neben den Bädern des alten Thermopolis weitere sechs öffentliche Badehäuser und ein Seebad betrieben. Seit den 1950er und 1960er Jahren wurden im Zuge der staatlich verordneten Planwirtschaft mehrere Konzerne der Öl- und Chemiebranche in Burgas angesiedelt. Die Industrialisierung brachte ein zusätzliches Bevölkerungswachstum mit sich und in den 1960er Jahren wurde wieder eine Deutsche Schule eröffnet. Zwischen 1970 und 1973 wurde ein neuer Bebauungsplan verabschiedet und die Stadt nach dem Projekt des Architekturstudios IPP Glawproekt nach sozialistischem Muster erweitert und umgebaut. In der Folgezeit entstanden die Stadtteile Isgrew, Sorniza, Slawejkow und Meden Rudnik, in denen noch Bauten aus dieser Zeit das Stadtbild prägen. Im Stadtteil Slawejkow wurde bis in die 1980er Jahre der längste Häuserblock Bulgariens mit 25 Stiegenhäusern erbaut, der mit dem Titel Sozialistischer Stolz ausgezeichnet war. Die städtische Zentralmarkthalle ersetzte ein neuer zweistöckiger Bau. Er trägt seither den Namen Krasnodar. 1976 wurde das Dorf Kara Bair als Stadtteil Meden Rudnik eingemeindet. Es ist das größte Viertel der Stadt und durch eine vierspurige Straße, die auf einem Damm am Ufer des Burgassees entlangführt, mit dem Stadtzentrum verbunden. Aus den ehemaligen Flüchtlingslagern entstanden die Stadtviertel Kraimorie, Sarafowo, Banewo, Marinka sowie die umliegenden Gemeindedörfer Twardiza und Isworischte. Am 21. Juni 1978 wurden die Terroristen der Bewegung 2. Juni Till Meyer, Gabriele Rollnik, Gudrun Stürmer und Angelika Goder in Burgas von bundesdeutschen Beamten verhaftet und anschließend in die Bundesrepublik überbracht. Entwicklung in der postkommunistischen Zeit Nach dem Ende des Kommunismus 1989 änderten sich die Architektur und das Aussehen der Stadt. Trotzdem ist das heutige Stadtbild von Burgas, besonders in der Peripherie, vom Ausbau der Stadt während der kommunistischen Ära geprägt, als die ehemaligen Flüchtlingslager in moderne Wohnviertel umgewandelt wurden. Im Winter 1996/97 fanden in Burgas, wie im ganzen Land Proteste gegen die unter der Regierung Schan Widenow eingesetzte Hyperinflation statt. 1998 wurde die Hafenstadt Sitz eines der fünf bulgarischen Amtsgerichte. Im Gegensatz zu anderen bulgarischen Großstädten wie Plowdiw oder Warna gab es in Burgas nach der Wende keinen drastischen Bevölkerungsrückgang. Burgas ist eine der am stärksten wachsenden Städte des Landes. 1992 hatte die Stadt 190.057 Einwohner, 2007 waren es bereits 229.250 Personen. 2009 wurden die ehemaligen Dörfer Banewo und Wetren in die Stadt eingemeindet, so dass die Einwohnerzahl auf 231.059 anstieg. Im Frühjahr 2010 führte Hochwasser, verursacht durch Schneeschmelze und tagelangen Regen, zu Überschwemmungen der Stadtteile Podeba, Dolno Ezerowo und Akazijte und der Straße nach Meden Rudnik. Am 18. Juli 2012 wurden bei einem terroristischen Anschlag am Flughafen Burgas sieben Menschen, darunter fünf Israeli getötet. Weitere 32 wurde teils schwer verletzt. Weitere Entwicklung Auch die weitere Entwicklung der Stadt wird von ihrer Lage zwischen dem Schwarzen Meer im Osten und den Burgas-Seen und dem Industriegebiet beeinflusst. Im Oktober 2010 begann der Aus- und Neubau des Flughafens Burgas. Im selben Jahr wurde die Erweiterung der Stadt in östlicher Richtung zwischen den Seen beschlossen. Dabei sollen Brücken zur Entlastung des Verkehrs in der Innenstadt über die Seen führen. Auch ein Fährbetrieb zwischen den Stadtteilen und eine Ringautobahn sind im Gespräch. Zum Sommer 2011 wurde die Grundsanierung der Innenstadt und des alten Casinos abgeschlossen. In diesem Zusammenhang wird der Plan Super Burgas diskutiert. Er soll nach dem Vorbild Barcelonas die Stadt in Richtung Hafen und nach dem Vorbild Hamburgs in Richtung der Seen öffnen, sowie einen Teil der Hafenanlagen für Touristen und Einwohner zugänglich machen. Erste Arbeiten begannen im September 2011. Zur Öffnung der Stadt zu den Gewässern wurde im Juli 2011 ein neuer Bebauungs- und Entwicklungsplan der Stadt vom Gemeinderat verabschiedet und im Herbst des gleichen Jahres mit dem Bau eines Passagierhafens begonnen. Seit 2002 ist die Stadt Namensgeber für die Burgas-Halbinsel, einer Halbinsel der Livingston-Insel in der Antarktis. Bevölkerung Bevölkerungsstruktur Da die erste nach der Aufnahme Bulgariens in die Europäische Union durchgeführte Volkszählung EU-Vorgaben unterlag, gab es 2011 erstmals die Möglichkeit, Fragen nach ethnischer und religiöser Zugehörigkeit sowie nach der Muttersprache nicht zu beantworten. So beantworteten in Burgas nur 181.116 Bürger die Frage nach der ethnischen Zugehörigkeit, von ihnen bezeichneten sich 171.898 als Bulgaren, 3.800 als Türken, 1.330 als Roma und 666 gaben eine weitere ethnische Zugehörigkeit (Deutsche, Russen etc.) an. Aus Furcht vor der allgegenwärtigen Diskriminierung ziehen es die Roma vor, der lokalen Mehrheitsbevölkerung anzugehören und identifizieren sich häufig entsprechend. Dadurch beeinflussen sie die Anzahl der Türken und weniger die Anzahl der Bulgaren. Auch die tatsächliche Anzahl der in der Stadt lebenden Armenier konnte durch die Volkszählung nicht ermittelt werden. Einwohnerentwicklung Einwohnerzahlen richten sich nach dem jeweiligen Gebietsstand. Die Zahlen sind Volkszählungsergebnisse (¹), Schätzungen (²) oder amtliche Fortschreibungen der Statistischen Ämter (³). Politik Stadtrat Der Stadtrat von Burgas besteht aus dem Oberbürgermeister und der von der Gemeindeordnung vorgeschriebenen Anzahl von 51 Stadtratsmitgliedern. Alle vier Jahre wird der Stadtrat neu gewählt, die nächste Wahl ist im Jahr 2015. Die Sitzverteilung des Stadtrats stellt sich seit der letzten Kommunalwahlen am 23. Oktober 2011, mit einer Wahlbeteiligung von 53,4 %, wie folgt dar: Veränderung zur Kommunalwahl 2007 Bürgermeister seit 1990 Nach den demokratischen Änderungen im November 1989 wurde Nikola Aleksandrow im Dezember zum ersten demokratischen Bürgermeister der Stadt erklärt. Er hatte diesen Posten bis September 1990 inne, als er vom Atanas Demirew abgelöst wurde. Demiriew übte das Amt bis zu seinem Tod im Mai 1991 aus. Die ersten demokratischen Kommunalwahlen der Neuzeit, die der Oppositionsführer Prodan Prodanow von der Union der Demokratischen Kräfte gewann, fanden im Oktober statt. Sein Mandat endete im November 1995 und war von politischer Konfrontation mit den ehemaligen Machthabern und finanziellen Problemen geprägt. Prodanow wurde bei den Kommunalwahlen 1995 vom Kandidaten der Ex-Kommunisten Joan Kostadinow, die auch die Zentralregierung stellen, bei den Wahlen geschlagen. Kostadinow wurde 1999 und 2003 in seinem Amt bestätigt und galt in Bulgarien lange Zeit als am „längsten regierender Bürgermeister der Neuzeit“. 2007 trat er als Kandidat der Union der Thrakischen Verbände erneut für das Bürgermeisteramt an, konnte sich jedoch nicht durchsetzen. Die Stichwahl am 4. November gewann der Kandidat der Partei GERB, Dimitar Nikolow mit 63,55 Prozent vor dem Kandidaten der nationalistischen Koalition und Besitzer des größten Kabelfernsehbetreibers Bulgariens Skat TV, Waleri Simeonow, mit 36,45 Prozent der Stimmen. Die Wahlbeteiligung in der Gemeinde Burgas lag bei 42,30 Prozent. Dimitar Nikolow wurde als Kandidat von allen demokratischen Kräften, unter anderem der Union der Demokratischen Kräfte in Burgas unterstützt. Bei den Kommunalwahlen 2011 wurde Dimitar Nikolow als Oberbürgermeister bestätigt. Der GERB-Politiker konnte mit 70,86 Prozent der Stimmen die Wahlen im ersten Wahlgang für sich entscheiden und erhielt erneut von den anderen demokratischen Kräften in der Stadt Unterstützung. Der Zweitplatzierte Waleri Simeonow als Kandidat der nationalkonservativen NFSB überzeugte nur 11,25 Prozent der Wähler. Ombudsmann 2004 wurde das Amt des von der Verwaltung völlig unabhängigen Bürgerbeauftragten (Ombudsmann) in Burgas eingeführt. Nach mehreren Anläufe wurde erst im Dezember 2011 im Stadtrat eine Mehrheit für einen Kandidaten gefunden. Zum ersten Ombudsmann der Stadt wurde dabei der Jurist Tanjo Atanassow gewählt. Der Bürgerbeauftragte kann in laufenden Verwaltungsverfahren von der Verwaltung Auskünfte und Einsicht in Akten und Unterlagen verlangen. In Gerichtsverfahren kann der Bürgerbeauftragte nicht eingreifen. Wappen und Stadtfarben Wappenbeschreibung: In Blau ein goldener fischgeschwänzter gekrönter Löwe einen zweistufigen gezinnten Turm in Silber haltend. Auf dem Schild eine Schiffskrone. Symbolik: Das Wappen von Burgas gibt auf einem blauen Schild mehrere historische Fakten wieder. Der Löwe symbolisiert die Tapferkeit der städtischen Bewohner. Sein Fischschwanz symbolisiert den Fischreichtum in den Gewässern um Burgas. Der Löwe hält in seinen Händen einen Turm, die alte Burg symbolisierend, von der nur ein Turm übrig blieb und die der Stadt den heutigen Namen gab. Über dem blauen Schild sind zwei Karavellen Symbol für den Hafen. Die blaue Farbe des Schildes steht für die Gewässer um Burgas und das Meer. Die Farben der Stadt Burgas sind blau und weiß. Konsulate und Vertretungen sowie Mitgliedschaften in internationalen Vereinigungen In Burgas hat die Türkei ihr Generalkonsulat. Weitere diplomatische Vertretungen haben dort folgende Länder: Belarus, Estland, Georgien, Israel, Rumänien, Russland, Tschechien, Ukraine und Ungarn. 2004 wurde in Burgas das Black Sea Border Coordination and Information Centre eröffnet. Es entstand aus der regionalen Zusammenarbeit der Schwarzmeer-Anrainerstaaten (BSEC). Das Zentrum sammelt Informationen über illegale Machenschaften im Schwarzmeerraum und fördert den Informationsaustausch der Küstenwachen der Anrainerstaaten. Die Gemeinde Burgas ist Mitglied in 12 internationalen Organisationen, darunter Eurocities, ICLEI sowie BALCINET, ein Netzwerk von über 30 Balkanstädten. Die Gemeinde ist durch ein Büro bei der Europäischen Union in Brüssel präsent. Städtepartnerschaften Burgas arbeitet weltweit mit dreizehn offiziellen Partnerstädten und -regionen sowie weiteren Städten vor allem auf den Gebieten Ökologie, Städteplanung und Bildung zusammen: Wirtschaft und Infrastruktur Ansässige Unternehmen Im 21. Jahrhundert zählt Burgas zu den wichtigsten Wirtschafts- und Industriestandorten Bulgariens. Die Region Burgas ist hochindustrialisiert. Beim Bruttoinlandsprodukt pro Kopf liegt die Region Burgas an dritter Stelle hinter Sofia-Stadt und Stara Sagora und damit deutlich über dem gesamtbulgarischen Durchschnitt. Die Arbeitslosigkeit ist mit 4,3 Prozent die niedrigste im ganzen Land, so dass in den Sommermonaten eine Vollbeschäftigung erreicht wird. In der Stadt haben ca. 16.700 Unternehmen ihren Sitz. Wichtige Wirtschaftszweige sind der Handel, die Industrie (Lebensmittelherstellung, Elektrotechnik, Maschinenbau, und Chemiewirtschaft) und Dienstleistungen sowie Tourismus und Transportwesen. Burgas ist Zentrum der bulgarischen Fischfang- und Fischverarbeitungsindustrie. Dort werden bis zu 80 % des bulgarischen Fischfangs umgeschlagen. Im Hafen Burgas befindet sich zu diesem Zweck die größte Kühlhalle des Landes. Die größte bulgarische Fischverarbeitungsfabrik ist Slawjanka, kleinere Unternehmen dieser Industrie sind Tschernomorski ribolow, Atlantic Group und Krez Mar Seafoods. Zu den größten Unternehmen der Lebensmittelindustrie gehören der Süßwarenhersteller Pobeda, die Brauerei Burgasko Piwo, die Großbäckereien Burgas hljab und Hlebozavoda, sowie die Großweinkellerei Festa Holding. Der Export wird überwiegend von der Chemie- und Ölbranche, Holz-, Fischerei-, Textil- und Kabelindustrie sowie von den Wein- und Spirituosenherstellern getragen. Zu der Chemie- und Ölbranche gehören die LUKoil-Neftochim und HemusMark AD. Mit ihrer Verarbeitungskapazität von 176.800 Fass Rohöl am Tag ist die 1964 erbaute LUKOIL-Neftochim-Burgas-Raffinerie die größte in Südosteuropa. Seit 1999 gehört sie dem russischen Konzern LUKoil, der Ende Januar 2012 weitere Investitionen in Höhe von 1,5 Milliarden US-Dollar und die Schaffung von 3.000 neue Arbeitsplätze bis 2015 ankündigte. In Burgas befindet sich mit Promet Steel der einzige bulgarische Hersteller von Bewehrungselementen aus Rippenstahl. Das Stahlwerk hat eine Kapazität von 0,8 Millionen Tonnen im Jahr. Zu den großen Unternehmen der Maschinenbauindustrie gehören die Werft von Burgas, das Schiffsreparaturwerk Burgas, der Güterwagenbauer Transwagon, sowie Elkabel und Marie Bentz. Unternehmen der Holzverarbeitungsindustrie sind Kronospan, Detelina und Dograma, die vor allem Holz aus dem Strandscha- und Balkangebirge verarbeiten. Die Landwirtschaft wird durch den Wein- und Getreideanbau geprägt. 2010 wurde mit einer Fläche von 1,6 ha der modernste Obst- und Gemüsemarkt Bulgariens eröffnet. Er verfügt über 3500 m² überdachte Fläche und ist nach EU-Standards gebaut. In Planung sind mehrere große Industriezonen, in denen internationale und Unternehmen der Green Economy angesiedelt werden sollen. Investitionspläne von Voestalpine mit einem Volumen bis zu fünf Milliarden Euro liegen seit der Wirtschaftskrise 2009 auf Eis. Als Ergänzung zu den Industriezonen wird der erste intermodale Terminal Bulgariens errichtet. Die Bauwirtschaft zählt nicht zu den wichtigsten Wirtschaftssektoren in Burgas, dennoch haben dort drei der größten bulgarischen Bauunternehmen ihren Sitz: Pons Holding AD, Transstroy und Eurobuilding Engineering. In der Nähe der Stadt gibt es seit der Antike die größten Weinanbaugebiete des Landes, außerdem große Salz-, Eisen-, Kupfer-, Braunkohle- und Goldminen. Die Region ist seit der Vorgeschichte für die Salz- und Erzgewinnung bekannt. Heute ist sie die einzige bulgarische Region, in der Salz aus Meereswasser gewonnen wird. Eine umwälzende Veränderung in der Entwicklung des Stadtbilds und der Stadtnutzung mit weitreichenden Konsequenzen für die städtische Lebensqualität ist die Ausdehnung der Stadt in östlicher Richtung sowie die Entstehung dreier Großeinkaufszentren, Burgas Plaza, Galleria Burgas und The Strand. Alle großen bulgarischen Handelsketten sind in der Stadt präsent. Die Freihandelszone in Burgas ist die einzige an der bulgarischen Schwarzmeerküste. Verkehr Schifffahrt Die Schifffahrt hatte in Burgas über Jahrhunderte hinweg eine prägende Bedeutung. Trotz des Strukturwandels ist sie auch heute ein wichtiger Wirtschafts- und Arbeitsmarktfaktor. Über das Schwarze Meer ist Burgas durch regelmäßigen Fährverkehr mit Poti, Noworossijsk und Port Kawkaz verbunden. Die in den 1970er und 1980er Jahren regelmäßigen Personenfährverbindungen zu den Touristenzentren und nach Istanbul wurden nach dem Fall des Kommunismus und dem Ende des Ostblocks eingestellt. Im Juni 2013 wurde der Verkehr mit zwei Tragflügelbooten, die vier Mal täglich bis Sosopol und Nessebar sowie einmal wöchentlich bis Warna verkehren, wieder aufgenommen. Das Hafenareal der Stadt Burgas ist in drei Häfen gegliedert: den Hafen Burgas (Hafen Ost, Hafen West, Containerterminal und Yachthafen), den Fischereihafen und den Ölhafen südlich der Stadt, nahe Kraimorie. Kleinere Häfen befinden sich in den Vierteln Kraimorie und Sarafowo. Der Hafen von Burgas ist der größte Übersee- und Fischereihafen des Landes. Dort werden 60 Prozent der nach Bulgarien importierten und von dort exportierten und Waren umgeschlagen. Im Hafen befinden sich auch ein Containerterminal, die Burgas-Werft und die Schiffsreparaturwerft. Der Hafen von Burgas ist mit einem großen Yachthafen und einem zusätzlichen Containerterminal erweitert. Der Ölhafen wird trotz des aufgegebenen Projekts der Burgas-Alexandroupolis-Ölpipeline und der AMBO-Ölpipeline ausgebaut. In einer weiteren Bucht südlich des Ölhafens befindet sich der Marinestützpunkt von Burgas. Luftverkehr Der Flughafen Burgas wurde für die zivile Luftfahrt im Jahre 1947 eröffnet. Zwischen 1962 und 1963 wurde eine Stahlbetonrollbahn von einer Länge von 2600 Meter errichtet, die zwischen 1977 und 1979 bis 3200 Meter verlängert wurde. Der Flughafen nahm vor der 2010 eingetretenen Konzessionierung eine Fläche von 2600 da ein. Die Terminals für inländische Flüge und das internationale(?) Terminal für den Abflug wurden 1974 fertiggestellt, das Terminal für die Ankunft 1992. 2006 vergab die bulgarische Regierung im Rahmen der Privatisierungen zum EU-Beitritt eine 35-jährige Konzession für den Flughafen von Burgas an die deutsche Fraport AG, welche ihn weiter ausbauen will. Linienflüge von Burgas aus gibt es national zweimal täglich nach Sofia und Warna, und international mehrmals wöchentlich nach London, Moskau, Budapest und Tel Aviv. Im Weiteren wird der Flughafen Burgas als Reserveflughafen für die Flughäfen von Plowdiw, Warna und Sofia, für Privat- und in den Sommermonaten für Charterflüge genutzt. Im Jahr 2011 wurden in Burgas insgesamt 2.253.320 Passagiere gezählt, eine Steigerung um 19 Prozent zum Vorjahr. Straßenverkehr Burgas besitzt eine sehr gut ausgebaute Infrastruktur und ist an das Fernstraßennetz gut angebunden. Sie liegt am Beginn des paneuropäischen Korridor Nr. 8 und der längsten Republikstraße Bulgariens, die I-6, welche das Schwarze Meer über die Hauptstadt Sofia mit der nordmazedonischen Grenze verbindet. Diese Verkehrskorridore sind auch Teil des TRACECA-Korridors, der Europa mit Zentralasien verbindet. Weiter ist Burgas Ausgangspunkt der A 1, die die Stadt mit Sofia verbindet, und der in Planung befindlichen A 5, die die Stadt mit Warna verbinden soll. In ferner Zukunft soll eine weitere Autobahn Burgas mit Istanbul verbinden. Außerhalb der Stadt besteht im Norden eine als Schnellstraße erbaute Umfahrung mit einer Länge von 4,7 km, welche den Verkehr von der A1 nach Norden zu den Urlaubsgebieten um den Sonnenstrand leitet. Durch die Hafenstadt verlaufen die Europastraßen 87 und 773, sowie die Republikstraßen I-9, II-79 und II-99. Öffentlicher Personennahverkehr Der Öffentliche Personennahverkehr ist in Burgas gut ausgebaut: neben zwei Oberleitungsbuslinien (T1 und T2) gibt es 28 Bus- und 6 Marschrutkalinien. Die Streckenlänge beträgt 510 km. Der regionale Fernverkehr wird ebenfalls durch Buslinien von den zwei Busbahnhöfen durchgeführt. Vom Busbahnhof Jug (Süd) neben dem Hauptbahnhof führen Verbindungen zu allen Küstenorten in der Provinz Burgas, zum Flughafen Burgas (Linie 15) und nach Warna. Der Busbahnhof Zapad (West) neben dem Alten Bahnhof ist der Knotenpunkt für Transitverbindungen und ins Landesinnere. Buslinien nach Sofia und im Sommer nach Istanbul verkehren stündlich von beiden Busbahnhöfen. Die Innenstadt wird durch ein feinmaschiges Busliniennetz erschlossen. Der Verkehrsbetrieb der Stadt trägt den Namen Burgasbus. Weitere Verkehrsunternehmen sind Komfort OOD und Burgasvolan 95, die Linien innerhalb der Stadt betreuen, sowie M-Bus und Enturstrans, die vor allem außerhalb der Stadt eingesetzt sind. Eisenbahn Im Jahr 1890 wurde die Eisenbahnlinie nach Sofia in Betrieb genommen. Während des Zweiten Weltkriegs baute die deutsche Wehrmacht eine weitere Eisenbahnlinie von Burgas nach Warna. 1939 wurde die Teilstrecke nach Pomorie feierlich vom bulgarischen König eröffnet. Der Linienverkehr dorthin wurde in den 1980ern aufgegeben. Heute ist Pomorie zwar über Burgas an das bulgarische Eisenbahnnetz angeschlossen, jedoch verkehren nur Güterzüge aus den nahe gelegenen Salz- und Kohleminen in Richtung Burgas. In den 1980er Jahren wurde die Eisenbahnstrecke nach Sredez eröffnet. Heute verfügt Burgas über sechs Personenbahnhöfe, die Zentralna gara (Hauptbahnhof), die Bahnhöfe Wladimir Pawlow (Alter Bahnhof), Sarafowo, Solnizi, Towarna gara und Gorno Eserowo im gleichnamigen Viertel, sowie vier Rangierbahnhöfe. Tägliche Zugverbindungen vom Hauptbahnhof Burgas in alle großen Städte Bulgariens werden durch internationale Verbindungen bis nach Moskau, Prag, Budapest und Krakau ergänzt. 2011 begann die Modernisierung und der Ausbau der Eisenbahnstrecke Burgas-Sofia als Hochgeschwindigkeitsstrecke, die im August 2013 fertiggestellt worden ist. Burgas soll neben Sofia zentraler Bestandteil des zukünftigen Kernverkehrsnetzes Connecting Europe der Europäischen Union in Bulgarien werden. Die Fahrzeit auf der 428 Kilometer langen Strecke nach Sofia beträgt sechs bis sieben Stunden. In Burgas befindet sich einer der sieben Eisenbahn-Güterumschlagsplätze Bulgariens. Medien Neben den im Land erscheinenden nationalen Printmedien wird in Burgas eine Reihe von lokalen Zeitungen und Zeitschriften publiziert. Unter ihnen sind die Tageszeitungen Tschernomorski Far, Burgas Dnes i Utre und Faktor, die Wochenzeitungen Kompas und Soleno Morsko, der Wochenanzeiger Alo Burgas und die Zeitschriften More und Virginia zu nennen. Es gibt eine Reihe lokaler Radio- und Fernsehsender. So hat der größte Kabelfernsehbetreiber Bulgariens Skat TV seinen Sitz in Burgas. Weitere Kabelfernsehbetreiber sind TV Mix, Far Tv und Kanal 0. Neben dem Gemeinderadio Radio Burgas senden auch Radio Glarus, Radio Juschen Brjag, Radio Maja und Power FM aus der Stadt. Im Juni 2012 eröffnete das bulgarische Nationalradio mit dem Lokalsender BNR Radio Burgas sein achtes Regionalprogramm und sendet ebenfalls aus der Hafenstadt. Gesundheitswesen Burgas ist das gesundheitliche Zentrum Ostbulgariens. Die Kliniken der Stadt betreuen in Notfällen die gesamte südliche bulgarische Schwarzmeerküste sowie den Südosten des Landes. Unter den großen Kliniken sind das Erste und das Zweite städtische Krankenhaus, die privaten Krankenhäuser Deva Maria und Life Hospital sowie das balneologische Sanatorium in den Mineralquelle von Burgas. Darüber hinaus verfügt die Stadt über eine Augenklinik, eine Stomatologie, eine Psychiatrie, eine Onkologie-Klinik, ein Militärkrankenhaus und weitere kleinere Kliniken. Zurzeit (Januar 2012) werden im Viertel Meden Rudnik ein weiteres Krankenhaus und eine Kinderklinik gebaut. Bildung und Forschung Universitäten Die erste Universität von Burgas, die Volksuniversität von Burgas wurde 1924 durch den Frauenverein Samosasnanie (Selbstbewusstsein) gegründet. Die Initiative stammte von der Vorsitzenden des Vereins und Frauenrechtlerin Scheni Patewa. In der Volksuniversität konnten Kinder von Mittellose und Flüchtlinge eine höhere Bildung bekommen. Mit der Machtübernahme der Kommunisten wurde die Volksuniversität geschlossen. Die Assen-Slatarow-Universität Burgas wurde 1963 gegründet. Sie ist staatlich und bietet mehr als 26 Studiengänge mit dem Abschluss Bachelor und Master an. Die Universität gliedert sich in drei Fakultäten, drei Colleges und ein Departement für Fremde Sprachen. Die drei Colleges: Technisches College, Medizinische College und Tourismus-College funktionieren als autonome Strukturen nach britischem College-Vorbild. Die Assen-Slatarow-Universität Burgas verfügt weiterhin über eine Bibliothek mit mehr 250.000 Bände, ein Rechenzentrum, eine Zentrale Forschungslaborstelle, in der 10 unterschiedliche Forschungslabore eingegliedert sind (unter anderem das Forschungslaboratorium für Kautschuk (Gummi), oder das Forschungslabor für mathematische Chemie), ein Buchverlag und eine Universitätsdruckerei. Die Universität kooperiert eng mit der LUKoil Neftochim Raffinerie und ist Mitglied im Netzwerk der Schwarzmeer-Universitäten. Die Freie Universität wurde 1991 gegründet. Sie gliedert sich in vier Fakultäten und einer mit der Cisco Systems geführte Cisco Networking Academy. Die Freie Universität verfügt über eine Bibliothek, ein Rechenzentrum, mehrere Forschungslabore und ist Mitglied im Netzwerk der Balkan-Universitäten. In Burgas unterhält außerdem die Amerikanische Universität in Bulgarien einen Campus. Schulen In Burgas gibt es alle Schultypen Bulgariens. Zu den öffentlichen Bildungseinrichtungen zählen 22 Grundschulen, neun weiterführende Schulen und Gymnasien, elf Berufsgymnasien (beziehungsweise Berufskollegs), sechs spezialisierte Gymnasien und eine Seemannsschule. Daneben existieren mehrere Schulen aller Schultypen in privater Trägerschaft. Das Goethe-Gymnasium Burgas ist ein deutschsprachiges Gymnasium mit Lehrern aus Deutschland. Daneben arbeitet das Wirtschaftsgymnasium mit dem österreichischen Bildungsministerium und mit der Unterstützung der deutschen Stadt Bensheim bei den Projekten ECO NET, beziehungsweise Ökologie-Wasserschutz zusammen. Die Schüler des naturwissenschaftlich-mathematischen Gymnasiums Akademik Nikola Obreschkow gewinnen regelmäßig internationale Schulwettbewerbe und andere Auszeichnungen. Zu den weiteren wichtigsten Bildungseinrichtungen zählen das Gymnasium Die Heiligen Brüder Kyrill und Methodi, das englischsprachige Gymnasium Geo Milew, das Gymnasium für fremde Sprachen Wasil Lewski, das Gymnasium für Architektur; das Technikgymnasium, das Musikgymnasium Pantscho Wladigerow sowie die technische Berufskollegien für chemische Technologien, Mechanik, Schiffbau und Fischerei. Bibliotheken und Archive Neben den Universitätsbibliotheken gibt es die 1888 gegründete Stadtbibliothek. Sie trägt den Namen des bulgarischen Dichter-Revolutionärs Pejo Jaworow und zählt zu den ältesten des Landes. Die Stadtbibliothek verfügt (Stand 2004) über 600.000 Medieneinheiten (Bücher, Hörbücher, Video- und Musikträger); 70.500 Zeitungsbände von bulgarischen, russischen, englischen, deutschen und anderen ausländischen Periodika, und alle seit 1883 erschienene Ausgaben von Darschawen Westnik (bulgarischer Staatsanzeiger). In der Bibliothek wird das persönliche Archiv des Dichters Petko Rossen mit über 3000 Monographien und über 300 Periodika aufbewahrt. Weitere kleine Lesesäle und mehrere Tschitalischte (Kulturhäuser), die über kleinere Bibliotheken verfügen befinden sich in einigen der Stadtviertel. In Burgas befindet sich mit der Direktion Staatsarchiv, einer der 27 regionalen Direktionen der staatlichen Agentur Archivi. Sie wurde 1952 gegründet und verfügt heute über Lesesaal, Bibliothek, Fotolabor und ein Mikrofilm-Labor. In der Direktion werden 4157 Archivbestände mit etwa 286.000 Einheiten, 661 private Archive, 524 Erinnerungen, über 6800 Fotografien und über 100.000 Negativen gewartet (Stand 2005). Kultur und Freizeit Theater, Opern- und Kulturhäuser und Kunstgalerien Burgas besitzt ein Schauspielhaus, ein Kinder- und Puppentheater, ein Opernhaus, eine Philharmonie sowie mehrere Kunstgalerien. Burgas verfügt als eine der wenigen Städte Bulgariens über ein Opern- und Balletttheaterhaus, das sich in unmittelbarer Nähe zur Fußgängerzone befindet. 2000 wurden die staatliche Oper und die Philharmonie von Burgas zu einer Institution vereinigt. Die Philharmonie wurde 1947 staatliche Institution, ihre Anfänge waren jedoch 1910 die Gründung des Musikvereins Rodni swuzi. Die Philharmonie nutzt sowohl ihre eigene Bühne als auch die des Opernhauses. Im Opernhaus ist auch das Staatliche Kinder- und Puppentheater von Burgas untergebracht, das 1954 gegründet wurde. Das Schauspielhaus befindet sich neben dem alten Gerichtsgebäude im alten Stadtkern von Burgas. Es wurde 1882 mit der Aufführung Malakowa des Schriftstellers Petko Slawejkow eröffnet und trägt seit 1953 den Namen der Schauspielerin Adriana Budewska. Burgas verfügt als eine der wenigen bulgarischen Städte über ein funktionierendes Jugendkulturzentrum. Es wird auch vom Folkloreensemble Strandscha genutzt. Das Ensemble wurde 1965 gegründet und besteht aus Chor, Orchester und Tanzformation. 2011 wurde das ehemalige Seebad-Casino renoviert und in ein Kulturzentrum umgebaut. Im Offiziersklub finden Ausstellungen zu Militärgeschichte und -thematik statt. Als kleine Kulturhäuser mit Raum für Veranstaltungen, Ausstellungen und Vereinsarbeit gibt es mehrere Tschitalischte und das Haus des Petrochemikers. Die Stadt ist in der bulgarischen Kunstszene für ihre zahlreichen Galerien bekannt. Die städtischen Kunstsammlungen sind in der Stadtgalerie Petko Sadgorski untergebracht. Sie befindet sich in der zwischen 1905 und 1910 vom österreichischen Architekten Friedrich Grünanger errichteten ehemaligen Synagoge. Nach der Machtergreifung der Kommunisten und der Auswanderung der jüdischen Bevölkerung nach dem Zweiten Weltkrieg wurde der Bau nationalisiert und am 7. April 1947 als Stadtgalerie neu eröffnet. Weitere bekannte Galerien sind die Galerie des Kunstvereins der Burgasser Maler, die Galerie Nesi, die Galerie Burgas und Galerie Eti. Museen Das Historische Museum befindet sich im Stadtzentrum in der Lermontov Straße 31, gegenüber dem Ersten Polizeirevier. Das Museum wurde 1925 gegründet und beherbergt neben den Ausstellungen zur neueren Geschichte der Stadt eine reiche Sammlung antiker Münzen und eine in Form einer Krypta ausgebaute Ikonengalerie mit Werken aus dem Süden Bulgariens und dem heutigen Norden der Türkei. Das Ethnographische Museum befindet sich im Haus des ehemaligen Bürgermeisters der Stadt, Dimitar Brakalow. Das Gebäude wurde in der typischen Architektur der bulgarischen Wiedergeburtszeit um 1873 erbaut. Dort befindet sich eine ständige Ausstellung von bulgarischen Trachten und Schmuck der Bewohner der Stadt. Der Großteil der Ausstellung stammt aus den Heimatregionen der zahlreiche Flüchtlinge im heutigen Griechenland und der Türkei. Im Archäologischen Museum finden Ausstellungen zur älteren Geschichte der Stadt, der Region und zur Meeresthematik der thrakischen und römischen Zeit bis zur osmanischen Herrschaft statt. Auch die Ergebnisse der in den letzten Jahren intensivierten archäologischen Ausgrabungen in der näheren Umgebung befinden sich dort. Die zentrale Ausstellungsfläche und die Museumsverwaltung befinden sich in der Aleko Bogoridi Straße in der Fußgängerzone. Das Museum wurde 1912 als Archäologische Gesellschaft Debelt gegründet. Die Vielfalt der Flora und Fauna von Burgas und der Region wurden in drei ständigen Ausstellungen des naturwissenschaftlichen Museums der Stadt zusammengetragen. Das jüngste Museum ist das Hausmuseum der Dichterin Petja Dubarowa. Es wurde 1995 gegründet und ist Veranstalter des jährlichen gleichnamigen Literaturwettbewerbs. Musik Die Stadt ist bekannt für ihre Musiker und Musikfestivals. So kommen aus Burgas die populärste bulgarische Gruppe Familia Tonika, der Dirigent Emil Tschakarow und die weltberühmte Operndiva Rajna Kabaiwanska. Das Publikum gilt als eines der anspruchsvollsten in Bulgarien. In der alternativen Szene ist die Stadt als die Heimat des bulgarischen Melodic Death Metal, der von Bands wie The Revenge Project, Dark Inversion, Necromanncer und Vrani Volosa auch international vertreten wird, bekannt. Regelmäßige Veranstaltungen Neben dem Stadtfest, dem kirchlichen Festtag des Heiligen Heilige Nikolai am 6. Dezember finden in Burgas vor allem im Sommer mehrere Festivals und Veranstaltungen verschiedener Genres statt. Einige Festivals, das Sofia Film Fest an der Küste, das Internationale Folklorefestival Burgas, die Musikfestivals Burgas und das Meer, Burgas Blues & Jazz Festival und Spirit of Burgas, die Dichtertage Petja Dubarowa, das Biker-Treffen, eines der größten bulgarischen Motorradtreffen, und die traditionellen Feierlichkeiten zur Ehrung des Schutzpatrons der Stadt finden alljährlich statt. Ende April finden die Festtage der deutschen und österreichischen klassischen Musik statt. Anfang Mai findet die internationale Regatta Burgas Sailing Week statt. Im selben Monat werden der nationale Literaturwettbewerb Petja Dubarowa, das internationale Theaterfestival Erata na Wodoleja und in der dritten Woche des Monats die Internationale Segelregatta Port Burgas Sailing Week durchgeführt. Am 24. Mai finden wie im ganzen Land Umzüge der Schulen zur Ehrung des bulgarischen (kyrillischen) Alphabets und der Slawenapostel Kyrill und Methodius statt. Der Monat Juni beginnt mit der Eröffnung des Sandskulpturen-Festivals am Stadtstrand, das bis Ende September andauert. Ebenfalls im Juni werden die Sommer-Kulturtage Burgas – Sommer, Meer und das Festival der klassischen und Opernmusik Emil Tschkarow gefeiert. Am Abend des 30. Juni sammeln sich die Menschen an der Küste des Schwarzen Meeres, um den Sonnenaufgang am Morgen des ersten Juli zu erleben. Dieses Überbleibsel aus der Zeit der Hippies der 70er-Jahre am Burgasser Stadtstrand wird auch July Morning genannt. Im Sommermonat Juli folgen die Pejo-Jaworow-Dichtertage und am letzten Wochenende des Monats der Burgas Schwimmmarathon. Anfang August finden der nationale Musikwettbewerb Burgas und das Meer und das Burgas Blues & Jazz Festival statt. Am zweiten Wochenende des Monats werden die Szenen des Festivals für zeitgenössische Musik Spirit of Burgas am Stadtstrand aufgebaut. Ab August bis Oktober findet in der Stadtgalerie Petko Zadgorski die Kunstausstellung Freunde des Meeres statt. Von 19. bis 20. August wird der Jahrestag des Ilinden-Preobraschenie-Aufstands begangen, die Hauptgedenkfeier wird jedoch in der südlich von Burgas gelegenen Region Petrowa Niwa durchgeführt. Ebenfalls Ende August finden das Internationale Folklorefestival und die Nationale Woche des Meeres statt. Im September wird das internationale Theaterfestival Auf dem Strand durchgeführt. Am letzten Wochenende im November findet das Metalfestival Haunted Shores statt. Am Tag des Stadtfestes wird der Beschützer der Stadt, des Meeres und der Seemänner, der Heilige Nikolai, geehrt und neben einer Vielzahl von Veranstaltungen auch die Preisträger des Titels „Ehrenbürger der Stadt Burgas“ bekannt gegebenen. Ebenfalls im Dezember wird der internationale Tanzwettbewerb Burgas Cup ausgetragen. Eine Woche vor Weihnachten werden die Preisträger des Literaturpreises Helikon bekanntgegeben. Sport und Sportstätten Die Stadt verfügt über eine große Anzahl von Sportstätten. Die wichtigsten Sporthallen sind Zala Isgrew, Zala Bogoridi, BZ Lukoil Neftochimic und Zala Mladost, wobei die letztere eine multifunktionale Halle ist. 2009 wurde eine neue Mehrzweckhalle mit einer Größe von 2.585 m² im Stadtteil Meden Rudnik eröffnet und nach dem ersten bulgarischen Olympia-Goldmedaillisten Nikola Stantschew benannt. Im 2010 wurde die Sportstätte Isgrew im gleichnamigen Viertel eingeweiht. Im Januar 2011 gab die Stadtverwaltung bekannt einer weiten Sporthalle zu bauen. Diese soll im Areal des ehemaligen Heeresstützpunktes der 1. Schwarzmeer Brigade errichtet werden und Veranstaltungen von europäischer und internationaler Bedeutung anlocken. Sie soll eine Kapazität ca. 7000 Sitzplätze haben und den Namen Arena Burgas tragen. Im Dezember des gleichen Jahres wurde die Sportstätte Slawejkow im gleichnamigen Viertel eingeweiht. In ihr befindet sich die größte künstliche Kletterwand Bulgariens. Des Weiteren gibt es die großen Fußballstadien Lasur und Tschernomorez, eine Radrennbahn und eine Kartbahn. Ballsport Die Fußballbegeisterung ist in der Stadt wie im ganzen Land groß. Zu den erfolgreichsten Fußballvereinen zählen der FC Neftochimic und der FC Tschernomorez Burgas. Der FC Tschernomorez spielt in der B Grupa, in seinem gleichnamigen Stadion. Der FC Neftochimic, der Vizemeister von 1997 und dreifache Pokalsieger, spielt derzeit ebenfalls in der B Grupa und trägt seine Heimspiele im Lasur-Stadion aus. Burgas ist einer der Austragungsorte der 2015 in Bulgarien stattfindende U-17-Fußball-Europameisterschaft. Neben den beiden großen Fußballverein gibt es weitere kleinere Clubs mit Stadien in den Vierteln Kraimorie, Banewo, Dolno Eserowo und Sarafowo. Darunter sind FC Master, FC Olimpik, FC Wetren, FC Spartak und FC Sweti Nikola. Weitere ehemalige Clubs, die in der dritten bulgarischen Fußballliga spielen, sind der FC Morska Fauna, der FC Port Burgas und der PFC Kosmos. Die Stadt war 1971 Austragungsort der Jugendeuropameisterschaften im Basketball und ein Jahr später der Basketball-Europameisterschaft der Damen neben Warna. Der BK LUKoil Neftomchimic Burgas ist eine der stärksten Mannschaften in der bulgarischen Basketballliga der Frauen und mehrfacher bulgarischer Meister und Pokalsieger. In der bulgarischen Volleyballliga der Männer ist Burgas durch den VK Lukoil Neftochimic, bulgarischer Meister von 2007 und Pokalsieger in der Saison 2007/2008 vertreten. Wassersport Jährlich findet Anfang Mai in der Bucht von Burgas eine internationale Regatta statt, die vom Yacht Club Port Bourgas veranstaltet wird. Am 30. Juli 2011 wurde nach 15 Jahren Unterbrechung der internationale Schwimmmarathon Burgas durchgeführt. Von 10. bis 19. September 2011 fanden vor Burgas Wettkämpfe der internationalen RS:X-Windsurfregatten statt, die Teil der Europameisterschaft in der olympischen Klasse waren und der Qualifikation für die Weltmeisterschaft dienten. Im Nordabschnitt des Stadtstrandes von Burgas befindet sich der Windsurfklub Windsurf Burgas. In Burgas fand 1924 zum ersten Mal in Bulgarien ein Ruderwettbewerb statt. Zehn Jahre später durften bei dem Wettbewerb in Burgas auch Frauen erstmals teilnehmen. Heute sind zwei der wenigen Rudermannschaften in Bulgarien, der RC Lukoil Burgas und der Ruder Club Tschernomorez Burgas in Burgas beheimatet. Die Sportler vom RC Tschernomorez absolvieren ihre Trainingseinheiten meistens in den Gewässern des Burgassees. In Burgas gibt es zwei Wasserballmannschaften, den WBK Tschernomorez und den WBK Neptun. Radsport Der Radclub Burgas, gegründet im Jahre 1905, ist nicht nur der stärkste in Bulgarien, sondern auch einer der besten in ganz Südosteuropa. Dabei kann er internationale Erfolge nicht nur auf der Rennbahn, sondern auch auf der Straße vorweisen. Der Radclub ist der Organisator des internationalen Radrennens Grand Prix Bourgas. Burgas ist dazu regelmäßiger Etappenziel der Bulgarien-Rundfahrt. Im Park Ezero befindet sich eine Dirt-Jump-Anlage mit drei unterschiedlichen Schwierigkeitsebenen. Weitere Sportarten Burgas bietet als eine der wenigen Städte Bulgariens eine hervorragende Thermik für Gleitschirmfliegen. Einer der Startmöglichkeiten befindet sich im Meeresgarten, direkt über dem zentralen Bereich des Stadtstrandes. Eine weitere am Fuße des Berges Warli Brjag in der Gegend Schiloto im Bezirk Meden Rudnik. Der Start erfolgt dort auf 209 m über dem Meeresspiegel. In der Stadt befinden sich auch zwei Moto-Cross-Anlagen, eine im Stadtviertel Meden Rudnik, wo jährlich Teile der bulgarischen Moto-Cross-Meisterschaft ausgetragen werden und die zweite in der Gegend Poroi unweit des Viertels Sarafowo. Alljährlich wird in der Sporthalle Mladost der internationale Tanzwettbewerb Burgas Cup, als WDSF-Turnier ausgetragen. Sehenswürdigkeiten und bemerkenswerte Bauwerke Seit dem Ende des 19. Jahrhunderts spiegelt sich die dynamische wirtschaftliche und kulturelle Entwicklung der Hafenstadt auch in ihre Architektur wider. Obwohl heute architektonisch die schnell errichteten Flüchtlingsunterkünfte und die Architektur der sozialistischen Jahre die Stadtviertel und ehemaligen Gemeindedörfern prägen, wurden in Burgas 264 Gebäude aus unterschiedlichen bulgarischen und europäischen Stilrichtungen zu Kulturdenkmälern ernannt. Die Hauptstraßen Alexandrowska und Aleko Bogoridi kreuzen sich beim Rathaus und prägen das Zentrum von Burgas und bilden die längste Fußgängerzone Bulgariens. Der südliche Verlauf der Aleko Bogoridi-Straße vom Rathaus aus trägt den Namen Ferdinandova zum Andenken an Zar Ferdinand I. Rechts und links und in unmittelbarer Nähe der Fußgängerzone sind neben zahlreichen Geschäften, Cafés, Restaurants und Bars auch der Großteil der Sehenswürdigkeiten der Stadt konzentriert. So beginnt die ul. Alexandrowska am Bahnhofsvorplatz (Zariza-Joana-Platz), führt am Rathaus mit der Stadtuhr, am Besistan, dem Denkmal der russischen Soldaten, am Amtsgericht und an der Kirche Iwan Rilski vorbei und endet bei der Freien Universität von Burgas. In der Straße, die den Namen von Alexander von Bulgarien trägt, befinden sich auch die ehemaligen Gebäude der Agrarbank (heute Bulbank) und der bulgarischen Nationalbank (heute Nationales Institut für Soziale Sicherheit) sowie das 71 Meter hohe Hotel Bulgaria. In den letzten Jahren wurden viele der Sehenswürdigkeiten restauriert. Über die Aleko-Bogoridi-Straße gelangt man zum Archäologischen Museum, zum Meeresgarten und zur Strandpromenade. Festungen und Grenzwall Die Reste der antiken Stadt Develtum befinden sich westlich von Burgas in der Nähe des Dorfes Debelt. Die während der Regierungszeit des römischen Kaisers Vespasian gegründete Kolonie für Veteranen der Legio VIII Augusta ist die einzige Kolonie von freien römischen Bürgern auf dem heutigen bulgarischen Territorium. In den folgenden Jahrhunderten wuchs die Kolonie zu einer der reichsten Städte in der Provinz Haemimontus. Archäologisch wird das Gebiet seit 1925 untersucht. Dabei wurden die Nekropolis, die städtischen Thermen, die Teile der antiken und mittelalterlichen Festung, das mittelalterliche Zollamt sowie umfangreiche Münzschätze, Statuen, Inschriften und Keramiken freigelegt. Die Fundstücke sind im Archäologischen Museum in Burgas zu besichtigen. 1965 wurde Develtum zum Architektur- und Baudenkmal und 1980 das Areal zum archäologischen Reservat erklärt. Seit den 1980er Jahren betreibt das Archäologische Museum in Burgas neben der Hauptgrabungsstätte eine Außenstelle, in der auch ein kleines Museum eingerichtet ist. Das archäologische Reservat Develtum wurde 2010 vom bulgarischen Staat mit dem Europäischen Kulturerbe-Siegel ausgezeichnet. Zur Sicherung des Hafens von Develtum wurde in der Antike die Doppelfestung Poros errichtet. Die Überreste dieser Festung befinden sich auf der gleichnamigen Halbinsel im Stadtviertel Kraimorie. Bis in die 1990er Jahre wurde die Halbinsel von der bulgarischen Marine genutzt. Aus diesem Grund konnte sie noch nicht umfangreich erforscht werden. Teile der südwestlichen und nordwestlichen Mauer aus dem vierten Jahrhundert wurden 2008 in der Gegend Poda bei Ausgrabungen freigelegt. Das Mauerwerk hat eine Dicke von 2,10 bis 4,20 Meter. Am höchsten Punkt des Festungsareals wurden die Überreste einer Klosteranlage aus dem 13. Jahrhundert gefunden. Unter den Artefakten, die im Archäologischen Museum von Burgas ausgestellt sind, befindet sich eine Inschrift des römischen Kaisers Gordian III. in Altgriechisch. Die Reste der antiken und mittelalterlichen Festung Aquae Calidae beziehungsweise Thermopolis befinden sich im Areal der heutigen Mineralbäder von Burgas im Stadtteil Banewo am Fuße des Balkangebirges. 1206 plünderten die Kreuzritter des Vierten Kreuzzugs unter Heinrich VI. die Stadt und zerstörten sie. Der kaiserliche Schreiber hielt fest: „das war eine sehr schöne Stadt, in guter Lage, mit vielen warmen Quellen - die besten der Welt. Aus ihr haben wir gute Beute mitgenommen“. In den nächsten Jahren wurden die Quellen wieder ausgebaut, jedoch im 13. Jahrhundert von der Katalanischen Kompanie verwüstet. Die ersten Ausgrabungen führte 1910 Bogdan Filow durch. Seit 2008 finden großangelegte Ausgrabungen statt, die bis 2010 ein Areal von über 3.800 m² freigelegt haben, darunter die antiken Thermen, das Nordtor und Teile der Festungsmauern mit einer Dicke von 5 Metern, die besichtigt werden können. Im Juli 2011 wurde ein Areal von 36.000 m² zum archäologischen Reservat Thermopolis erklärt. Die Erkesija war ein mittelalterlicher Grenzwall an der bulgarisch-byzantinischen Grenze. Er wurde im Auftrag des bulgarischen Herrscher Krum im 9. Jahrhundert errichtet und reichte vom heutigen Burgas bis Simeonowgrad am Fluss Mariza in der Thrakien-Ebene. Seine Länge betrug 140 Kilometer. Der Grenzwall teilte sich kurz vor Pirgos und seine Teilstücke erreichten das Ufer der heutigen Burgas- und Mandraseen. Ein gut erhaltenes Stück befindet sich zwischen dem archäologischen Reservat Develtum und dem Stadtviertel Gorno Esserowo. Im Umkreis von 40 km befinden sich über 150 antike und mittelalterliche befestigte Siedlungen, darunter Apollonia, Anchialos, Mesembria, Aetos und Rusokastron. Sakrale Bauten Die Kathedrale Heilige Brüder Kiril und Methodius ist den Slawenaposteln Kiril und Methodius gewidmet und befindet sich im Stadtzentrum gegenüber der gleichnamigen Schule. Sie wurde zwischen 1897 und 1907 vom italienischen Architekten Ricardo Toscani erbaut. Sie unterscheidet sich von allen während der Bulgarischen Wiedergeburt erbauten Kirchen. Die Kirche ist eine dreischiffige Kreuzkuppelkirche in Ost-West-Ausrichtung. Die zentrale Apsis mit dem Altar und die reichlich geschmückte Altarwand befinden sich im östlichen Teil der Kirche. Der Naos teilt die Kirche in drei Schiffe, die jeweils von zwei Reihen von fünf Marmorsäulen getragen werden. Über dem Hauptschiff befindet sich die zentrale und größte Kuppel; über den beiden Seitenschiffen befinden sich weitere vier kleine Kuppeln. Der Narthex an der Westseite ist breiter und höher als der Zentralbau. Der Haupteingang befindet sich im Westen; weitere kleinere Eingänge an der Nord- und Südseite werden nur bei besonderen Zeremonien geöffnet. An dem Bau waren auch die Meister Mitjo Tzanew aus Drjanowo und Kuzman Dimitrow aus Makedonien beteiligt. Die Wandmalereien stammen von den Malern Gjudschenow und Koschuharow, die auch beim Ausmalen der Alexander-Newski-Kathedrale in Sofia beteiligt waren, vollbracht. Seit 2009 wird ein Teil des Kreuzes Christi in der Kathedrale aufbewahrt. Die Kirche Heilige Mariä Himmelfahrt, auch als Muttergotteskirche oder griechische Kirche bekannt, ist die älteste orthodoxe Kirche in der Stadt. Ihr Vorgängerbau wurde während des russisch-osmanischen Kriegs von 1828 bis 1829 zerstört und wird auf Anfang des 17. Jahrhunderts datiert. Mit der Rückkehr der christlichen Bevölkerung wurde der Hauptbau 1840 der heutigen Kirche im griechischen Viertel errichtet. Bis zur Errichtung der Kirche der Heiligen Brüder Kiril und Methodius 1869 wurde sie ebenfalls für Gottesdienste der bulgarischen Orthodoxie genutzt. 1906 wurde die bis dahin griechische Kirche von der bulgarischen Bevölkerung eingenommen als Antwort auf ähnliche Vorgänge in Griechenland. Die Kirche wurde enteignet, der Bulgarisch-Orthodoxen Kirche unterstellt und in Christi Himmelfahrt umbenannt. 1952 wurde die Kirche restauriert und sie bekam ihren früheren Namen zurück. 1673 errichtete die armenische Gemeinde mit bulgarischer Unterstützung die Kirche Surp Haç (Kirche des Heiligen Kreuzes). Sie wurde mehrmals umgebaut, zuletzt 1855, als der Glockenturm errichtet wurde. Die für die armenische Architektur typische einschiffige Saalkirche ist heute Gotteshaus und Kulturdenkmal. An der Westseite der Kirche befindet sich das 1990 errichtete Mahnmal für die im Völkermord an den Armeniern im Osmanischen Reich getöteten Armenier. Der Bau der Kirche des Heiligen Iwan Rilskis ist eng mit der Erweiterung der Stadt nach der Befreiung von der osmanischen Herrschaft und dem Flüchtlingsstrom nach den Balkankriegen (1912–13) verbunden. 1913 überließ Alexandar Goergiew-Kodschafalijata Ländereien für bedürftige Flüchtlinge und Arme der Stadt sowie für den Bau eines Gotteshauses im heutigen Viertel Bratja Miladinowi. Ein Jahr später wurden die Bauarbeiten aufgenommen. Weitere Spenden kamen vom Verband der Reserveoffiziere und von der Bevölkerung der Stadt. 1934 wurde der Bau fertiggestellt und eingeweiht. Die Ikonostase ist 3 Meter hoch und 11,5 Meter breit. Die Wandmalereien fertigte Meister Nikolaj Koschucharow. 1951 wurde der ehemalige Holzglockenturm durch einen neuen ersetzt, der sich links vom Eingang der Kirche befindet. Dort hängen vier Glocken, die größte wiegt ca. 100 kg. Am 1. November 1971 wurden Reliquien des Heiligen Märtyrer Vakch in der Kirche feierlich beigesetzt. Weitere Kirchengebäude sind die bulgarisch-orthodoxen Kirchen Heilige Dreifaltigkeit, Heilige Mariä Geburt und Heiliger Pimen Sografski sowie die römisch-katholischen Kirchen Heilige Mariä Himmelfahrt und Heilige Mutter Gottes. Das Kloster Heilige Mutter Jesu befindet sich zwischen den Vierteln Meden Rudnik und Gorno Eserowo. Die Mineralbäder von Burgas Rund zehn Kilometer vom Stadtkern im Stadtviertel Banewo befinden sich die Mineralbäder von Burgas (/Burgaski Mineralni Bani). Die warmen Heilbäder waren schon in der Antike unter den Namen Aquae Calidae und später unter Thermopolis (von griechisch θερμός/thermos = warm und πόλις/polis = Stadt) bei den Thrakern, Griechen und Römern bekannt. Im 16. Jahrhundert ließ der osmanische Sultan Süleyman I. der Prächtige auf den römischen Grundmauern Bäder (Hammām) errichten, die noch funktionieren. 2012 sollen die osmanischen Bäder aufwendig restauriert werden. Die heutigen Bäder liegen inmitten eines großräumigen Landschaftsparks am Südhang des Balkangebirges und sind ein balneologischer Kurort von nationaler Bedeutung. Das Mineralwasser hat eine Temperatur von 41 °C. Es fließt mit einer Ergiebigkeit von 36 Litern pro Sekunde und hat ausgezeichnete Trink- und Geschmacksqualitäten. Das Wasser eignet sich zur Behandlung des Stütz-Bewegungs-Apparates und des Nervensystems, gynäkologischer Erkrankungen, und für Therapien nach Knochenbrüchen und Traumata. Es gibt die Klinik für Physiotherapie, die Kurortklinik, Trinkwasserquellen, ein Freibad mit hydrothermalem Bassin, Sanatorien und Erholungsheime. Der Meeresgarten und andere Grünanlagen Die Stadt verfügt über viele Parkanlagen und Grünflächen, der Meeresgarten ist ein Denkmal von nationaler Bedeutung. Der größte Park der Stadt wurde im ersten Bebauungsplan von 1891 festgelegt und erstreckt sich ca. fünf Kilometer am Stadtstrand entlang. Das steile Ufer, auf dem sich der Meeresgarten entlang windet, eröffnet einen weiten Blick auf die gesamte Küste und die Bucht von Burgas. Ein wesentlicher Beitrag zur Entwicklung der Parkanlage im Zentrum von Burgas war 1910 die Übernahme der Parkleitung durch Georgi Duchtew, der danach die Königlichen Gärten in Sofia gestaltete. Von der Terrasse kann man die ganze Bucht überblicken: im Norden bis zum Städtchen Pomorie, im Süden bis zur Stadt der Künstler Sosopol und zu den östlichen Ausläufern des Strandscha-Gebirges. Im Park befinden sich das ehemalige Kasino und die im Volksmund Sommertheater genannte Freilichtbühne mit 2000 Plätzen und einem beweglichen Dach. Dort finden im Sommer viele Veranstaltungen statt, zum Beispiel das internationale Folklorefestival und das Burgas Summer Jazz Festival, daneben auch Opern- und Theatervorstellungen, Schlagerabende und Rockkonzerte. Der Park beherbergt viele Werke von bulgarischen und internationalen Künstlern. Dort findet jährlich im Frühling und im Herbst die internationale Blumenausstellung Flora statt. In der Nähe des Ausstellungsgeländes steht das Pantheon von Burgas, eine Gedenkstätte für die in den Kriegen gefallenen bulgarischen Soldaten und Freiwilligen. Das Festival der Sandskulpturen findet seit 2008 jährlich in den Monaten Juni bis Oktober im nördlichen Meerespark in der Nähe des Stadtstrandes mit Sandskulpturen bekannter internationaler Künstler statt. Der südliche Teil des Meeresgartens ist Veranstaltungsort für das MTV-Musikfestival Spirit of Burgas, das jährlich in der zweiten Augustwoche stattfindet. Im Stadtzentrum befindet sich der Park Borissowa gradina (etwa Borisgarten), auch Knjas-Borissowa gradina genannt. Er ist nach dem bulgarischen Zaren Boris I. benannt. Der Park ist im Karree von den Straßen William Gladstone, Aleksandar Stambolijski, Knjaz Boris I. und Zar Kalojan eingeschlossen; seine Parkalleen wurden in Form eines Schiffsankers angelegt. Am nördlichen Teil des Parks befindet sich das städtische Jugendzentrum, im Südteil ein Tennis- und ein Fußballspielplatz. Außer dem Meeresgarten und dem Borisgarten gibt es fünf weitere große Parks im Stadtgebiet: den Park Kaptscheto (87 ha) am Osthang des Gipfels Warli Brjag, den Park Kraimorie (412,6 ha) entlang der Schwarzmeerküste, den Brjastowez-Draganowo-Izworischte-Park (818,3 ha) am Südhang des Balkangebirges und den Park Ezeroto zwischen dem Atanassow-See und den Stadtteilen Isgrew und Sorniza. Im Park Rossenez, der südlich der Stadt Richtung Sosopol in den Ausläufern des Strandscha-Gebirges und entlang der Schwarzmeerküste liegt, befinden sich die Fischersiedlung und die Villensiedlung Alatepe. Strandcasino und Seebrücke Strandcasino und Seebrücke sind Teil des Meeresgartens. Die erste Brücke wurde 1936 neben den neuerbauten öffentlichen Strandbädern errichtet. Es handelte sich um eine Stahl-Fachwerkkonstruktion. Die Brücke war durch eine Steintreppe mit der Strandpromenade und mit dem Casino verbunden. Für das Strandcasino wurde in den 1930er Jahren ein Architekturwettbewerb ausgeschrieben. Der deutsch-bulgarischen Architekten Dimitar Fingow erhielt den 3. Preis im Wettbewerb. Gebaut wurde nach den Plänen der bulgarischen Architektin Wiktorija Angelowa-Winarowa, die den 2. Preis errang. Die feierliche Einweihung erfolgte 1938. Die Eröffnung war eines der wichtigsten Ereignisse im damaligen Königreich Bulgarien. In den 1980er Jahren wurde die alte Brücke abgerissen und die bisherige Stahl-Holz-Konstruktion durch eine Stahlbetonkonstruktion ersetzt. Am Ende der Brücke wurde ein Kai für kleinere touristische Boote und Fischkutter gebaut. Im Winter 2010/11 wurde das Casino grundsaniert und in ein dreistöckiges Kultur- und Veranstaltungszentrum umgewandelt. Eine Ebene wird als Ausstellungsfläche der Museen von Burgas genutzt in einem weiteren Teil ist ein Saal des Standesamtes für Zeremonien untergebracht. Am alten Casino endet eine der Hauptfußgängerstraßen in Burgas, die Aleko-Bogoridi-Straße. Die Meeresbrücke ist eines der Wahrzeichen der Stadt. Weitere Sehenswürdigkeiten Das regionale Zollamtsgebäude wurde 1911 als letztes administratives Gebäude am Bahnhofsvorplatz erbaut. Das Projekt stammt von dem österreichischen Architekten Weinstein; den Bau leitete der bulgarisch-österreichische Architekt Georgi Fingow. Stilistisch stellt das Gebäude eine Mischung aus dem späteren Neoklassizismus und dem Eklektizismus dar. Das Zollamtsgebäude wurde 2005 restauriert. 1927 errichtete man das Rathaus, ebenfalls im Stile des Neoklassizismus, am Ort der ersten Stadtbibliothek, die Anfang der 1900er Jahre einem Feuer zum Opfer gefallen war. Das heutige Amtsgerichtsgebäude wurde gemeinsam mit dem Denkmal des russischen Soldaten und dem Haus des Petrochemikers in den 1950er Jahren als Parteizentrale und Zentrum der Kommunistischen Partei Bulgariens mit mehreren Sitzungssälen am zentralen Platz Trojkata im Stadtzentrum gebaut. Zuvor trug der Platz den Namen Baba Ganka, benannt nach der Kaufmannsehefrau Ganka Chadschipetrowa, die sich in den 1900er Jahren für die Flüchtlinge eingesetzt hatte. Nach der Demokratisierung Bulgariens wurde das Parteigebäude zunächst der neugegründeten Freien Universität übergeben, die 2004 in ihr neues Gebäude einzog, das im selben Jahr von der bulgarischen Architektenkammer zum Gebäude des Jahres gewählt wurde. Im Dezember 2009 fand im Amtsgericht Burgas der erste virtuelle Gerichtsprozess Bulgariens statt. Das Denkmal des russischen Soldaten wurde zwischen 1952 und 1953 aufgestellt und ist im Volksmund als Aljoscha bekannt. Es stellt auf einem 18 Meter hohen Fundament einen sowjetischen Soldaten mit erhobener linker Hand dar. Die Bronzereliefs am Fuße beiderseits des Fundaments geben Kriegsszenen aus dem Zweiten Weltkrieg wieder. In der Straße Dunav 1 befindet sich neben dem Technikgymnasium der 1993 erbaute 72 Meter hohe Radio- und Fernsehturm von Burgas. Der Turm lehnt sich architektonisch dem Eiffelturm in Paris an und wird auch als Eiffelturm auf Betonfüßen bezeichnet. Der Fundamentalpunkt der Stadt Burgas ist ein Werk des Bildhauers Radostin Damaskow und gibt die exakten Koordinaten der Hafenstadt an. Auf der Kupferplatte sind ein Dreizack (Ψ) als Symbol Neptuns, drei Fische als Symbol für Jesus Christus, das Schiff der Argonauten für den Hafen und die Schifffahrt und ein Lorbeerkranz als Symbol der reichen Geschichte von Burgas abgebildet. Das Werk wurde 2011 im Rahmen der Sanierung der Innenstadt in der Kreuzung zwischen den Straßen Kiril und Methodius-Straße und Aleksandrovska in der zentralen Fußgängerzone aufgebracht. Persönlichkeiten Burgas ist der Geburts- und Wirkungsort zahlreicher prominenter Persönlichkeiten, beispielsweise der Operndiva Rajna Kabaiwanska oder der Komponisten Georgi Schagunow, Anestis Logothetis und Emil Tschakarow. Weitere Intellektuelle mit Verbindungen zu Burgas sind die Schriftsteller Djado Blago, Petko Rossen, Anton Straschimirow, Anton Dontschew und Nedjalko Jordanow; die Dichter Stefan Tinterow, Christo Fotew, Petja Dubarowa und Recep Küpçü; sowie die Maler Georgi Baew und Damjan Zaberski. Unter den bekanntesten Sportlern, die mehrmals bulgarischen und internationalen Meisterschaften gewinnen konnten, sind die Europameisterin im 100-Meter-Hürdenlauf Swetla Dimitrowa und hauptsächlich Ringer und Fußballer zu finden. Zu diesen gehören die Olympiasieger Nikola Stantschew, Prodan Gardschew und Atanas Komtschew sowie die Fußballer Slatko Jankow, Ilia Gruev, Radostin Kischischew, Dimitar Dimitrow. Ihre Kindheit verbrachten in Burgas die Schauspieler Apostol Karamitew, Georgi Kalojantschew und Tontscho Tokmaktschiew und der Dichter Kostas Varnalis. Aufgrund der kurzen Amtszeiten hatten bis ins 20. Jahrhundert hinein nur wenige Bürgermeister einen nachhaltigen Einfluss auf die Entwicklung der Stadt. Bekannte Politiker, die in der Hafenstadt tätig waren, sind Iwan Chadschipetrow, Dimitar Stefanow und der Europaabgeordneten Stanimir Iltschew. Weitere Politiker, die aus Burgas stammen sind Rumjana Schelewa (Außenministerin Bulgariens), Rumen Owtscharow (Wirtschaftsminister Bulgariens) und Ginjo Ganew (erste Ombudsmann Bulgariens). Das Testament des Händlers und Großgrundbesitzers Alexandar Goergiew-Kodschafalijata ermöglichte die Gründung des Stadtteils Brjata Miladinowi und der Kirche des Heiligen Iwan Rilski. Literatur Ivanka Nikolova, Filip Panaiotov (Hrsg.): България. 20 век (dt. Bulgarien. 20. Jahrhundert), TRUD Publishers, 1999. Jan de Boer: Apollonia Pontica and its Emporia, Ports of Trade? In: Murielle Faudot u. a. (Hrsg.): Pont-Euxin et commerce. La genèse de la "route de la soie". Actes du IXe Symposium de Vani (Colchide), 1999. Presses Universitaires Franc-Comptoises, Besançon 2002, ISBN 2-84627-079-1, S. 131–135. Miroslaw Klasnakow: Селищна могила Бургас. Сезон 2009 (dt.: Der Siedlungshügel Burgas. Saison 2009). In: Българска Археология 2009 (dt. Bulgarische Archäologie 2009), Sofia 2010, S. 10–11. Iwan Karajotow, Stojan Rajtschewski, Mitko Iwanow: История на Бургас. От древността до средата на ХХ век. (Istorija na Burgas: od drevnostta do sredata na XX vek, deutsch: Geschichte der Stadt Burgas. Von der Antike bis zur Mitte des 20. Jahrhunderts.) Verlag Tafprint OOD, Plowdiw 2011, ISBN 978-954-92689-1-1. Stojan Rajtschewski: Старият Бургас. (dt. Das alte Burgas), Verlag Zahari Stoyanov, 2011, ISBN 978-954-09-0266-1. Atanas Sirkarow: Архитектурата на Бургас 1878–1940. (dt. Die Architektur von Burgas 1878–1940), Verlag Baltika, Burgas 2010, ISBN 978-954-8040-29-7 (Inhaltsverzeichnis (PDF) ). Weblinks Stadtverwaltung der Stadt Burgas (englisch) Gemeinderat (bulgarisch) Website der Oblast Burgas (englisch, bulgarisch) Über die Geschichte der Stadt und ihrer Umgebung (englisch, bulgarisch) Weitere Informationen über die Stadt und die Region Burgas Website mit Informationen und Bilder zu der Burgasser Seelandschaft (englisch, bulgarisch) Einzelnachweise Ort in der Oblast Burgas Ort mit Seehafen Hochschul- oder Universitätsstadt in Bulgarien Gegründet im 1. Jahrhundert
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https://de.wikipedia.org/wiki/2002%20AA29
2002 AA29
{{SEITENTITEL:2002 AA29}} 2002 AA29 ist ein sehr kleiner erdnaher Asteroid, der am 9. Januar 2002 durch die automatische Himmelsüberwachung LINEAR (Lincoln Near Earth Asteroid Research) entdeckt wurde. Der Durchmesser des Asteroiden beträgt nur zirka 50 bis 110 Meter. Er umkreist die Sonne auf einer der Erdbahn sehr ähnlichen, fast kreisförmigen Umlaufbahn. Sie verläuft zum größten Teil innerhalb der Erdumlaufbahn und kreuzt sie im sonnenfernsten Punkt des Asteroiden, dem Aphel. Er wird wegen dieser Umlaufbahn nach dem namensgebenden Asteroiden Aten als Aten-Typ klassifiziert. Eine weitere Besonderheit ist, dass seine mittlere Umlaufdauer um die Sonne exakt einem siderischen Jahr entspricht. Das bedeutet, dass er in Wechselwirkung mit der Erde steht, da eine solche Umlaufbahn nur unter bestimmten Voraussetzungen stabil ist. Bislang sind erst wenige derartige, in 1:1-Bahnresonanz mit der Erde wechselwirkende Asteroiden bekannt. Der erste war der 1986 entdeckte (3753) Cruithne. Asteroiden, die in 1:1-Resonanz mit einem Planeten stehen, werden auch koorbitale Objekte genannt, da sie der Bahn des Planeten folgen. 2002 AA29 gehört jedoch nicht zu den Trojanern, die die bekanntesten koorbitalen Asteroiden sind und sich in den Lagrangepunkten L4 und L5 des jeweiligen Planeten aufhalten. Er befindet sich vielmehr auf einer sogenannten Hufeisenumlaufbahn entlang der Erdbahn. Umlaufbahn Bahndaten Wissenschaftler des Jet Propulsion Laboratory (JPL), der Athabasca University (Kanada), der Queen’s University in Kingston (Ontario, Kanada), der York University in Toronto und des Tuorlaobservatoriums der Universität von Turku in Finnland stellten schon kurz nach der Entdeckung durch LINEAR den ungewöhnlichen Orbit von 2002 AA29 fest, der durch Nachuntersuchungen am Canada-France-Hawaii Telescope auf Hawaii bestätigt wurde. Seine Umlaufbahn befindet sich größtenteils innerhalb der Erdbahn im Gegensatz zu den Bahnen der meisten Asteroiden im sogenannten Asteroidengürtel zwischen Mars und Jupiter oder noch weiter draußen außerhalb der Neptunbahn im sogenannten Kuipergürtel. Die Umlaufbahn ist der Erdumlaufbahn sehr ähnlich. Die mittlere Umlaufdauer beträgt ein siderisches Jahr und die mittlere Halbachse 0,993 AE. Die Umlaufbahn des Asteroiden ist nahezu kreisförmig und hat mit 0,012 eine noch geringere Exzentrizität als die Erdbahn mit 0,0167. Die zum Zeitpunkt der Entdeckung (im Jahr 2002) bekannten Asteroiden hatten im Durchschnitt eine wesentlich höhere Exzentrizität von 0,29. Auch die damals bekannten Asteroiden in 1:1-Resonanz mit der Erde wiesen stark elliptische Bahnen auf – die Exzentrizität von (3753) Cruithne beträgt beispielsweise 0,515. Die Bahn von 2002 AA29 war zum Zeitpunkt der Entdeckung einzigartig. Daher wurde der Asteroid oft auch als erster echter koorbitaler Begleiter der Erde bezeichnet, da die Bahnen der übrigen davor entdeckten Asteroiden der Erdbahn nicht sehr ähnlich sind. Die Bahnneigung gegen die Ekliptik (Bahnebene der Erde) von 2002 AA29 ist mit 10,7° moderat. Somit ist seine Bahn leicht gegen die der Erde verkippt, ansonsten würden beide Bahnen direkt aufeinander liegen. Bahnform Im Gegensatz zu den Trojanern ist 2002 AA29 nicht an einem der beiden stabilen Lagrange-Punkte der Erdbahn (L4 oder L5) gefangen, sondern er bewegt sich von der Erde gesehen aus vor und zurück. Dabei scheint er sich der Erde von vorne zu nähern, beschreibt dann im Lauf von 95 Jahren einen (hinter der Sonne liegenden) Kreisbogen von fast 360° und nähert sich ihr schließlich von hinten. Daraufhin kehrt er seine Bewegung um und nähert sich der Erde nach weiteren 95 Jahren wieder von vorne. Die Form des Bogens erinnert an ein Hufeisen, daher der Name Hufeisenorbit für seine Umlaufbahn vom mit der Erde mitbewegten Bezugssystem aus gesehen. Bei der Bewegung entlang des Erdorbits windet er sich spiralförmig um diesen, wobei er für eine Spiraldrehung ein Jahr braucht. Dieses Verhalten verhindert auch, dass 2002 AA29 auf der Erde einschlägt. Diese Spiralbewegung im mit der Erde mitbewegten Bezugssystem kommt durch seine leicht von der Erdbahn abweichende Exzentrizität und Bahnneigung zustande, wobei der Unterschied in der Bahnneigung für den vertikalen und derjenige der Exzentrizität für den horizontalen Anteil der projizierten Spiralbewegung verantwortlich ist. Kommt 2002 AA29 der Erde von vorn (also in Umlaufrichtung der Erde) nahe, so wird er durch deren Anziehungskraft in einen geringfügig schnelleren, etwas näher an der Sonne liegenden Orbit befördert. Er eilt der Erde auf ihrer Bahn nun voraus, bis er sie nach 95 Jahren einmal fast überrundet hat und sich ihr nun von hinten nähert. Jetzt gerät er erneut unter ihren Gravitationseinfluss und wird so auf eine langsamere Umlaufbahn etwas weiter weg von der Sonne gehoben. Dadurch kann er nun nicht mehr mit der Geschwindigkeit der Erde mithalten, bis diese ihn nach 95 Jahren wieder von vorn erreicht. Die Erde und 2002 AA29 verfolgen sich also immer abwechselnd, kommen sich jedoch nie zu nahe. Zum Zeitpunkt seiner Entdeckung näherte sich 2002 AA29 der Erde von vorne und war im Morgenhimmel sichtbar. Am 8. Januar 2003 näherte sich der Asteroid der Erde von vorn bis auf 5,9 Millionen Kilometer, was seine größte Annäherung für fast ein Jahrhundert sein wird. Seit diesem Zeitpunkt eilt er ihr nun voraus, bis er sie von hinten eingeholt haben wird. Aufgrund der subtilen Wechselwirkung mit der Erde muss man jedoch nicht befürchten, dass dieser Asteroid wie andere Erdbahnkreuzer mit der Erde zusammenstoßen könnte. Berechnungen zeigen, dass er in den nächsten Jahrtausenden der Erde niemals näher als 4,5 Millionen Kilometer nahekommen wird, was etwa dem Zwölffachen des Erde-Mond-Abstands entspricht. Im Vergleich dazu nähert sich der größere koorbitale Begleiter (419624) 2010 SO16 nur auf den 50-fachen Mond-Abstand. Für die Distanz zwischen den Hufeisenpunkten benötigt er 175 Jahre. Aufgrund seiner Bahnneigung von 10,7° gegen die Ekliptik wird 2002 AA29 jedoch nicht immer von der Erde auf seine Hufeisenumlaufbahn gezwungen, sondern kann manchmal quasi durchschlüpfen. Er ist dann für eine Weile in der Nähe der Erde gefangen, was das nächste Mal in ungefähr 600 Jahren, also um das Jahr 2600 passieren wird. Er wird sich dann ständig in einem kleineren Abstand zur Erde aufhalten, als er in seinem Hufeisenorbit Orbit erreicht und sich nicht weiter als 0,2 Astronomische Einheiten (30 Millionen Kilometer) von der Erde entfernen. Von der Erde aus betrachtet wird er dann – fast wie ein zweiter Mond – langsam um sie kreisen; für einen Umlauf braucht er allerdings ein Jahr. Nach etwa 45 Jahren wechselt er schließlich wieder zurück in den Hufeisenorbit, um sich dann um das Jahr 3750 und noch einmal um 6400 wieder für 45 Jahre in der Nähe der Erde aufzuhalten. In diesen Phasen, in denen er sich außerhalb seines Hufeisenorbits aufhält, schwingt er in dem schmalen Bereich entlang der Erdbahn, in dem er gefangen ist, innerhalb von 15 Jahren einmal vor und zurück. Da er nicht wie der Mond fest an die Erde gebunden ist, sondern hauptsächlich unter dem Gravitationseinfluss der Sonne steht, nennt man diese Körper Quasisatelliten. Dies ist in etwa analog zu zwei Autos, die nebeneinander mit gleicher Geschwindigkeit fahren und sich wechselseitig überholen, jedoch nicht fest aneinander gebunden sind. Bahnberechnungen zeigen, dass 2002 AA29 bereits ab etwa 520 n. Chr. für 45 Jahre in diesem Quasisatellitenorbit war, jedoch aufgrund seiner winzigen Größe zu lichtschwach und somit nicht sichtbar. Er wechselt somit annähernd zyklisch zwischen den beiden Orbitformen, hält sich aber immer für 45 Jahre im Quasisatellitenorbit auf. Außerhalb einer Zeitspanne von ca. 520 bis 6500 n. Chr. werden die berechneten Bahnen chaotisch, also nicht berechenbar, weswegen man über Zeiträume, die darüber hinausgehen, keine exakten Angaben machen kann. 2002 AA29 war der erste bekannte Himmelskörper, der zwischen Hufeisen- und Quasisatellitenorbit wechselt. Ursprung Durch Bahnstörungen der großen Gasplaneten, hauptsächlich durch Jupiter, und durch den Jarkowski-Effekt (Bahnänderung durch asymmetrische Ein- und Abstrahlung von Infrarotstrahlung) werden Asteroiden ins innere Sonnensystem abgelenkt, wo ihre Bahnen durch nahe Vorbeiflüge an den inneren Planeten weiter beeinflusst werden können. Nach diesem Mechanismus gelangte 2002 AA29 wahrscheinlich ebenfalls aus dem äußeren Sonnensystem in den Einflussbereich der Erde. Es wird jedoch auch spekuliert, dass der Asteroid in der Nähe der Erdbahn entstand und sich schon immer auf einer erdnahen Bahn bewegte. Eine Möglichkeit wäre in diesem Fall, dass er ein abgesprengtes Bruchstück des Zusammenstoßes eines mittleren Asteroiden mit der Erde oder dem Mond sein könnte. Physikalische Eigenschaften Über 2002 AA29 selbst ist relativ wenig bekannt. Aufgrund seiner geringen absoluten Helligkeit von etwa 25 mag erscheint er von der Erde selbst mit großen Teleskopen nur als kleiner Punkt und kann nur mit hochempfindlichen CCD-Kameras beobachtet werden. Um den Zeitpunkt der größten Annäherung am 8. Januar 2003 hatte er im visuellen Bereich nur eine scheinbare Helligkeit von etwa 20,4 mag. Über die Zusammensetzung von 2002 AA29 ist bislang nichts Konkretes bekannt. Aufgrund der Sonnennähe kann er aber nicht aus leichtflüchtigen Substanzen wie beispielsweise Wassereis bestehen, da sie schmelzen, verdunsten oder sublimieren würden, was man etwa bei Kometen an ihrem Schweif deutlich sichtbar beobachten kann. Vermutlich wird er wie die meisten Asteroiden eine dunkle kohlenstoffhaltige oder etwas hellere silikatreiche Oberfläche haben; im ersteren Fall läge die Albedo bei etwa 0,05, im letzteren etwas höher bei 0,15 bis 0,25. Aufgrund dieser Unsicherheit haben die Angaben für seinen Durchmesser eine relativ große Spanne. Aufgrund der bei der Entdeckung ermittelten absoluten Helligkeit von 23,9 mag wurde unter der Annahme einer typischen Albedo von 0,18 ein Durchmesser von 50 Metern ermittelt. Aus Radar-Echomessungen mit dem Arecibo-Radioteleskop ergaben sich ein maximaler Durchmesser von 30 Metern und eine maximale Rotationsperiode von 33 Minuten. Allerdings ist diese Messung mit einer großen Unsicherheit behaftet, da nur ein unerwartet schwaches Radarecho aufgefangen werden konnte. Zusätzlich gibt es Unsicherheiten bei der Ermittlung der visuellen absoluten Helligkeit aus verschiedenen Beobachtungen. Der mögliche Bereich der visuellen absoluten Helligkeit ermöglicht Durchmesser zwischen 16 und 60 Metern, wobei sich unterschiedliche Albedos ergeben. Dies erschwert auch die Klassifikation von 2002 AA29, da sie hier anhand des angenommenen Wertes der Albedo durchgeführt wird. Dieser ist wiederum typisch für bestimmte Klassen. Möglich ist eine Einordnung von 2002 AA29 in den C- oder den S-Typ. Die wahrscheinlichste Klasse ist der S-Typ, wobei 2002 AA29 dann Radar nur schwach reflektieren würde. Wie bereits oben angegeben ist die Rotationsperiode von 2002 AA29 sehr kurz. Für einen maximalen Durchmesser von 30 Metern ergibt sich eine maximale Rotationsperiode von 33 Minuten. Der Asteroid rotiert so schnell, dass die Fliehkraft an seiner Oberfläche größer ist als seine Gravitationskraft. Er steht somit unter Zugspannung und kann deshalb nicht aus einem Haufen lose zusammenhängenden Schutts oder aus mehreren sich umkreisenden Bruchstücken bestehen – was man von einigen anderen Asteroiden vermutet beziehungsweise zum Beispiel beim Asteroiden (69230) Hermes auch nachgewiesen hat. Stattdessen muss der Körper aus einem einzelnen relativ festen Felsblock oder leicht zusammengebackenen Teilen bestehen. Die Zugfestigkeit, die benötigt wird, um den Asteroiden zusammenhalten, ist allerdings weitaus kleiner als die irdischen Gesteins. Die Radardaten lassen auch den Schluss zu, dass der Asteroid vermutlich recht porös ist. Ausblick Aufgrund seiner sehr erdähnlichen Bahn ist der Asteroid für Raumsonden relativ leicht erreichbar. 2002 AA29 wäre also ein geeignetes Studienobjekt zur genaueren Untersuchung des Aufbaus und der Zusammensetzung von Asteroiden und der zeitlichen Entwicklung ihrer Bahnen um die Sonne. Da er sich allerdings inzwischen wieder von der Erde entfernt, nehmen die nötigen Startenergien und Flugzeiten wieder zu. Weitere derartige auf Hufeisenbahnen oder auf einer Umlaufbahn als Quasisatelliten befindliche koorbitale Begleiter der Erde wurden in der Zwischenzeit bereits gefunden, wie zum Beispiel der Quasisatellit 2003 YN107. Des Weiteren vermutet man um die Lagrangepunkte L4 und L5 des Systems Erde-Sonne kleine trojanische Begleiter der Erde in der Größenordnung von 100 Metern Durchmesser. Der Erdtrojaner 2010 TK7 wurde 2010/2011 entdeckt und bestätigt; er ist gegenwärtig an L4 gebunden; sein Durchmesser liegt mit circa 300 Metern aber deutlich über der vermuteten Größe für einen Erdtrojaner. Siehe auch 2010 TK7 Kordylewskische Wolken Liste der Asteroiden Benennung von Asteroiden und Kometen Literatur Tilmann Althaus: Ein zweiter Begleiter des Blauen Planeten. in: Sterne und Weltraum. Spektrum der Wiss., Heidelberg 42.2003, 2, S. 22–24. Weblinks Artikel Detaillierter Artikel des Entdeckerteams über den Asteroiden (englisch) Datenbanken Bahndaten von 2002 AA29 aus der MPEC-Datenbank (englisch) Physikalische Daten von 2002 AA29 aus der EARN-Datenbank (englisch) Asteroid Orbital Elements Database des Lowell-Observatoriums (englisch) Einzelnachweise 2002 AA29
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https://de.wikipedia.org/wiki/Parliament%20Act
Parliament Act
Der Parliament Act ist ein Gesetz des britischen Parlaments vom 10. August 1911 (abgeändert 1949). Es beschneidet die Rechte des Oberhauses (House of Lords) im Parlament, indem es festlegt, dass das Oberhaus Gesetze, die vom Unterhaus (House of Commons) beschlossen wurden, nicht mehr aufheben oder beliebig lang hinauszögern kann. Damit bestätigt es das Unterhaus als die oberste gesetzgebende Gewalt. Am 16. Dezember 1949 wurden die Rechte des Oberhauses durch Änderungen im Parliament Act weiter eingeschränkt: Die Zeitspanne des aufschiebenden Vetos gegen Gesetzesentwürfe wurde von zwei Jahren auf ein Jahr verkürzt. Die Verabschiedung des Parliament Act war das Ergebnis eines Machtkampfes zwischen Ober- und Unterhaus, der durch das Gesetz zugunsten des Unterhauses und der auf Sozialreformen drängenden liberalen Regierung entschieden wurde. Das mehrheitlich konservative Oberhaus hatte die Verabschiedung des Parliament Act zunächst abgelehnt, erst durch die Drohung mit einem Pairsschub konnte es zur Zustimmung bewogen werden. Großbritannien hat keine kodifizierte Verfassung, der Parliament Act kann jedoch als wichtiger Teil des britischen Verfassungsrechts angesehen werden. Hintergrund Das Machtverhältnis zwischen Krone, Oberhaus und Unterhaus Die Glorreiche Revolution 1688/1689 setzte den absolutistischen Bestrebungen der Stuarts ein Ende und entschied den seit langem schwelenden Machtkampf zwischen Krone und Parlament zu Gunsten des Parlaments. Seit der Revolution ist der König nicht mehr allein, sondern nur in Verbindung mit dem Parlament (King-in-parliament) Träger der Staatssouveränität. In der Folgezeit hatte sich ein ungefähres machtpolitisches Gleichgewicht zwischen der Monarchie, dem Oberhaus (House of Lords) und dem Unterhaus (House of Commons) herausgebildet. Im 18. Jahrhundert war diese Balance zwischen Krone, den Lords im Oberhaus und dem Unterhaus gemeinhin als ideal akzeptiert. Auch noch im 19. Jahrhundert waren Dispute zwischen den drei Säulen darauf begründet, ob eine der Seiten das Machtgleichgewicht störe. So verdächtigten die Whigs Ende des 18. Jahrhunderts König Georg III., dass er den Einfluss der Krone auf Kosten des Parlaments zu erweitern suche. Als Reaktion darauf verabschiedeten sie im April 1780 im Unterhaus eine berühmte Resolution, die feststellte, dass „der Einfluss der Krone gewachsen ist, weiterhin wächst und vermindert werden sollte.“ Im 19. Jahrhundert war der Einfluss der Krone dann immer weiter geschwunden; 1839 hatte zum letzten Mal ein Monarch (Königin Victoria) einen Premierminister (Lord Melbourne) für kurze Zeit gegen den Willen der Mehrheit des Parlaments im Amt gehalten. Dagegen blieb die Machtbalance zwischen Oberhaus und Unterhaus vage. Im 19. Jahrhundert hatte es mehrfach Beispiele gegeben, bei denen das Oberhaus Gesetze des Unterhauses zurückgewiesen hatte. Im Streit um den Reform Act 1832, der die sogenannten Rotten boroughs betraf (Wahlkreise, die nur sehr wenige Einwohner hatten, so dass sie im Unterhaus als überrepräsentiert galten), hatte sich das Unterhaus gegen den anfänglichen Widerstand der Lords durchgesetzt und damit seine Vorherrschaft beansprucht. Premierminister Grey hatte den Widerstand der Lords durch die Drohung eines Peers-Schubs gebrochen. Für Beobachter war es offensichtlich, dass der Reform Act das Machtgleichgewicht zugunsten des Unterhauses verschoben hatte. In Bezug auf das Verhältnis der beiden Häuser hatte der mehrmalige Lordkanzler Lord Lyndhurst 1858 offen deklariert, dass es in seinen Augen keinen Grundsatz gebe, nach dem das Oberhaus Stellung beziehen könne gegen das Unterhaus, sofern dieses den Willen des Volkes umsetze. Auch Walter Bagehot hatte 1867 in seiner einflussreichen Analyse The English Constitution ausgeführt, dass das Oberhaus als legislative Kammer dem Unterhaus untergeordnet sei. Für Bagehot habe die Regierung Greys in Verbund mit Unterhaus und König den Reform Act erzwungen; dadurch sei das Oberhaus von einer führenden Kammer hin zu einem Organ mit limitierter legislativer Kraft geworden. Dieses könne durch ihr Veto die Gesetzgebung des Unterhauses im Ernstfall revidieren oder suspendieren. Dieses Veto sei jedoch hypothetischer und nur aufschiebender Natur. Demgegenüber hatte der spätere konservative Premierminister Lord Salisbury ab 1872 für das Oberhaus das Recht deklariert, Gesetze aus dem Unterhaus zurückzuweisen. In mehreren Reden baute er seine Theorie aus. Sofern behauptet werden könne, dass die Regierung im Unterhaus kein ausreichendes Mandat für einen wichtigen Gesetzesentwurf habe, könne das Oberhaus das Gesetz zurückweisen und die Frage so an das Wahlvolk überweisen. In den 1880er Jahren gewann Salisburys Initiative zunehmend an Aufmerksamkeit, besonders nachdem bei der Unterhauswahl 1880 die konservative Regierung abgewählt worden war und William Ewart Gladstone erneut eine liberale Regierung gebildet hatte. Durch den Tod Benjamin Disraelis avancierte Salisbury zum Kopf der konservativen Partei und machte schnell deutlich, dass seine verfassungsrechtlichen Theorien für ihn eine prioritäre Bedeutung hatten. Nachdem Gladstone die irische Selbstverwaltung (Home Rule) in Angriff genommen hatte, wurde Salisburys Theorie zunehmend populärer und von Publikationen wie der Times und dem Spectator aufgegriffen. Als Gladstone 1892 seine vierte Regierung bildete, benutzte Salisbury gezielt die konservative Mehrheit im Oberhaus, um die liberale Gesetzgebung zu be- und verhindern. Dabei ging er sehr bedacht vor und wählte jeweils immer nur solche liberale Gesetzesentwürfe zur Blockade aus, die lediglich liberale Partikularinteressen umsetzen sollten. Gladstones zweiter Home-Rule-Gesetzesentwurf zur eigenständigen Verwaltung Irlands wurde im September 1893 vom Oberhaus mit einer historischen Mehrheit von 419 zu 41 Stimmen abgelehnt. Salisbury rechtfertigte die Ablehnung von Gladstones Home-Rule-Gesetz im Oberhaus 1893 wiederum mit seinen Theorien, die er nun noch einmal ausweitete, um den Gebrauch des Vetos auch für diesen konkreten Fall zu rechtfertigen: Auch wenn im Landesteil Irland sowohl das Home-Rule-Gesetz als auch Gladstones Koalition eine Mehrheit habe, dürfe ein solch drastischer legislativer Eingriff nicht ohne die Zustimmung der anderen „prädominierenden“ Landesteile (England, wo die Liberalen keine Mehrheit hatten, und nachfolgend auch Schottland) gemacht werden. Auch ein vom liberalen Innenminister H. H. Asquith ausgearbeiteter Gesetzesentwurf, der Arbeitgeber für Unfälle im Betrieb verantwortlich machen sollte, wurde im Oberhaus blockiert. Dagegen ließ die von Salisbury dominierte konservative Mehrheit im Oberhaus 1894 aus taktischen Gründen die Einführung von Erbschaftssteuern ebenso ungehindert passieren wie die Einführung von Stadtgemeinderäten. Die Zurückweisung des liberalen Gesetzesentwurfs zur Haftbarkeit von Arbeitgebern veranlasste den Nachfolger des zurückgetretenen Gladstone, Premierminister Rosebery, 1894 zu einer Denkschrift an Königin Victoria. In dem Dokument beklagte er die deutliche Parteilichkeit der Lords: „Wenn die Konservative Partei an der Macht ist, gibt es praktisch kein Oberhaus“, so Rosebery. Sobald aber eine Liberale Regierung gebildet wird, erwache das Oberhaus zum Leben „und seine Aktivitäten sind vollständig gegen die (liberale) Regierung gerichtet.“ Der große Wahlsieg Salisburys und der Konservativen bei der Unterhauswahl 1895 wurde von den Zeitgenossen als Ratifizierung der Ablehnung der liberalen Gesetzesentwürfe durch das Oberhaus wahrgenommen. Sowohl für Salisbury als auch seine viktorianischen Zeitgenossen erschien das Oberhaus durch die Ereignisse von 1892 bis 1895 signifikant gestärkt. Die parteipolitische Zusammensetzung des Oberhauses Mit dem Aufkommen des klassischen Zweiparteiensystems im 18. Jahrhundert hatte die ganz überwiegende Mehrheit der Peers im Oberhaus sich einer der beiden Parteien (Whigs und Tories, die beide jeweils auch von Peers mitgegründet worden waren) angeschlossen. Das Oberhaus hatte in seiner parteiinternen Zusammensetzung im 18. und 19. Jahrhundert einen steten Wandel durchlaufen. Zu Beginn des 18. Jahrhunderts war – bei einer Gesamtzahl von etwa 150 Mitgliedern – eine kleine Mehrheit der Mitglieder den Whigs angehörig. 1711 hatte Königin Anne auf Anraten ihrer Berater 12 Peers kreiert, um die Mehrheitsverhältnisse zu drehen und eine knappe Tory-Mehrheit zu schaffen. Dies war explizit erfolgt, um eine Regierungsmehrheit zu schaffen, die den politisch umstrittenen Vertrag von Utrecht ratifizieren konnte. In den Folgejahren war diese Mehrheit durch graduelle Nobilitierungen wieder ins Gegenteil verkehrt worden: Die Whigs hielten erneut eine knappe Mehrheit. Mit dem Aufstieg von William Pitt dem Jüngeren in den 1780er-Jahren änderte sich die interne Balance erneut: Unter Pitt wurden Nobilitierungen in einem bis dahin unbekanntem Ausmaß vorgenommen. In seinen 17 Regierungsjahren fanden 140 Erhebungen in den Adelsstand (von zumeist reaktionären Landedelmännern) statt. Die Tories erhielten dadurch im Oberhaus eine fast unangreifbare Mehrheitsposition. Als Mitte des 19. Jahrhunderts die „Peeliten“ um ihren Anführer Robert Peel sich von den konservativen Tories lösten und mit den Whigs zur Liberalen Partei (Liberal Party) fusionierten, glich sich die Balance zwischen den beiden Parteien beinahe wieder aus. Mit der von seinen Zeitgenossen als zunehmend radikaler empfundenen Agenda des liberalen Premierministers William Ewart Gladstone rückte das Oberhaus dann jedoch mehrheitlich erneut nach rechts. So informierte Lord Granville Königin Victoria im Jahr 1868, dass die Mehrheit der konservativen Tories im Oberhaus etwa 60 bis 70 Stimmen betrage. Als Gladstone 1886 und erneut 1893 eine irische Selbstverwaltung (“Home Rule”) einführen wollte, kam es zur Spaltung der Liberalen Partei und zu einem Ende der liberalen Dominanz in der Wählergunst. Eine große Gruppe Liberaler, die in Gladstones Initiative eine Gefahr für die Union zwischen Großbritannien und Irland sahen, wandten sich von den Liberalen ab. Sie bildeten als Liberale Unionisten jeweils eine eigenständige Fraktion in beiden Häusern. Die Liberalen Unionisten stimmten nicht nur in der Home Rule–Debatte gemeinsam mit den Konservativen ab, sondern verbanden sich bald auch parteipolitisch immer enger mit den Konservativen. Besonders schwerwiegend war dies im Oberhaus, wo eine Anzahl von etwa 95 bis 130 Peers fortan als Liberale Unionisten saßen und das Kräfteverhältnis in der Folge drastisch zu Gunsten der Konservativen beeinflusst wurde. Bei einer Abstimmung über Gladstones zweite Home Rule–Gesetzesvorlage erlangten im Jahr 1893 die Konservativen im Oberhaus eine Mehrheit von 419 zu 41 Stimmen. In der Folge wurde Gladstones Entwurf zurückgewiesen. Im Jahr 1906 saßen 354 Konservative Peers im Oberhaus, unterstützt von 107 Peers der Liberalen Unionisten. Demgegenüber saßen 98 Liberale Peers im Oberhaus, bei 43 Peers ohne deklarierte Parteizugehörigkeit. Entstehung Der große Wahlsieg der Liberalen 1906 Bei den Unterhauswahlen von 1906 errang die Liberale Partei einen bemerkenswerten Wahlsieg; sie erreichten 397 Sitze im Unterhaus. Die Konservativen wurden demgegenüber auf 155 Sitze dezimiert. Die Liberalen verfügten im Unterhaus nun über eine ähnlich große Mehrheit wie die Konservativen im Oberhaus. Im Wahlprogramm der Liberalen war die umstrittene Home Rule-Frage absichtlich zurückgestellt worden, dafür standen soziale Reformen im Vordergrund. Die Finanzierung der liberalen Gesetze war jedoch in Frage gestellt, da durch das Deutsch-Britische Flottenwettrüsten immer größere Summen für den Unterhalt und Ausbau der Royal Navy aufgewendet werden mussten und es keine gestiegenen Mehreinnahmen gab. Die liberale Regierung schlug daraufhin höhere Steuern vor und konzentrierte sich stark auf die (zumeist konservativ gesinnten) landbesitzenden Klassen. Die Konservativen bekämpften die Gesetzesinitiativen der liberalen Regierung mit großem Nachdruck und benutzten ihre Mehrheit im Oberhaus, um ausgewählte der von den Liberalen im Unterhaus verabschiedeten Gesetze zurückzuweisen oder stark zu verändern. So wurde 1906 eine vom liberalen Bildungsminister, Augustine Birrell, vorgebrachte Gesetzesinitiative im Oberhaus so stark verändert, dass die Regierung das Gesetz notgedrungen zurückzog. Besonders die irischen Peers zeigten sich unversöhnlich und wollten mehrere liberale Gesetzesentwürfe, Irland betreffend, auch gegen den Willen der konservativen Führung zurückweisen. Der konservative Mehrheitsführer im Oberhaus, Lord Lansdowne, sah sich mehrfach mit Revolten der irischen Peers konfrontiert, die er nur schwer unter Kontrolle halten konnte. Die extremistische Mentalität und Aufsässigkeit der irischen Peers übertrug sich teilweise auf die anderen Peers und die Basis der konservativen Partei. Andrew Adonis beschreibt Lansdowne im Rückblick als eher führungsschwach und reserviert. Er sei zögerlich darin gewesen, seine Autorität geltend zu machen. Im Vergleich zu Salisbury, der einen scharfsinnigen politischen Instinkt besessen habe, habe Lansdowne unentschlossen gehandelt. Er habe sich meist der herrschenden Stimmung in der Fraktion angeschlossen statt diese zu führen. Während viele konservative Peers den liberalen Old-Age Pensions Act 1908, mit dem staatliche Renten für Menschen über 70 Jahren eingeführt wurden, die nur ein geringes Einkommen aufweisen konnten, als „sozialistisch“ ablehnten, ließen sie das Gesetz dennoch passieren, da Finanzgesetze vom Oberhaus traditionell nicht abgeändert oder zurückgewiesen wurden. Im November 1908 lehnte eine konservative Mehrheitsfraktion im Oberhaus dagegen ein liberales Gesetz zur Lizenzvergabe von Alkohol ab. Lansdowne gab damit starkem Druck innerhalb seiner Fraktion nach, die offen mit einer Revolte drohte. Nach Einschätzung von Andrew Adonis setzten die Lords damit einen Ablauf vorbestimmter Handlungen in Bewegung: Die liberale Regierung hätte keine andere Wahl mehr gesehen, als ihre soziale Agenda fortzuführen und weiter auszubauen. Der unweigerlich folgende Widerstand im Oberhaus war von den Liberalen einkalkuliert und würde von den Liberalen benutzt werden, um die Peers zum Zentrum einer öffentlichen Kontroverse zu machen, bei denen Liberalen ihren Wahlkampf anhand von Klassenkampf−Begriffen führen würden. Lloyd Georges Volksetat Der Konflikt spitzte sich weiter zu, als der liberale Schatzkanzler David Lloyd George im Jahr 1909 einen provokanten „Volks-Haushalt“ vorlegte, der mit Steuern auf Einkommen und Luxusgüter finanziert werden sollte. Ferner schlug er die Einführung einer Grundsteuer nach dem Vorbild des amerikanischen Steuerreformers Henry George vor. Der Entwurf hätte nach Ansicht von Adonis enorme Auswirkungen auf Großgrundbesitzer gehabt. Da das Oberhaus immer noch vornehmlich aus solchen zusammengesetzt war, traf der Vorschlag dort auf erbitterte Opposition. Das Oberhaus war der Ansicht, dass stattdessen Importsteuern (Zölle) erhoben werden sollten, um die britische Wirtschaft zu stärken. Der mächtige Zeitungsmagnat Lord Northcliffe, Eigentümer der Times und der Daily Mail, stellte sich gegen die Steuerpläne und opponierte durch seine Zeitungen gegen die Pläne der liberalen Regierung. So nannte die Times Lloyd Georges Budgetentwurf rachsüchtig, da er sich besonders auf diejenigen konzentriere, die nicht zu den Unterstützern der regierenden Partei zählen würden. Aufgrund der anhaltenden konservativen Blockade im Oberhaus hatte das liberale Kabinett beschlossen, diese mit einem juristischen Kunstgriff zu umgehen; traditionell waren Finanz- und Haushaltsfragen die ureigene Domäne des Unterhauses und wurden vom Oberhaus nicht angefochten. Die Liberalen bündelten deshalb nun alle ihre Gesetzesvorhaben in einem großen Gesetz, dem jährlichen Haushaltsentwurf. Die Konservativen waren dennoch entschlossen, den Entwurf nicht durchzulassen; sie fochten zunächst im Unterhaus das Gesetz in jedem Stadium an und forcierten bei jeder sich bietender Gelegenheit auch eine Division des Hauses durch den Speaker. Der normale Parlamentsbetrieb wurde dadurch erheblich aufgehalten und die Regierung musste die Parlamentssession auf die übliche Sommerpause und darüber hinaus ausdehnen. Parallel dazu traten den ganzen Sommer über Liberale Minister auf öffentlichen Kundgebungen und Veranstaltungen auf und rechtfertigten das Gesetz, während umgekehrt namhafte Konservative auf eigenen Kundgebungen das Gesetz öffentlich verurteilten. Lansdowne erklärte am 16. Juli öffentlich, dass das Oberhaus das Gesetz nicht einfach durchwinken, sondern es prüfen werde. Das Gesetz selbst betitelte er als finanzielle Revolution und meinte weiter, dass die liberale Regierung hierfür kein Mandat bei der letzten Wahl erhalten habe. Lloyd George antworte hierauf mit seiner berühmten „Limehouse-Rede“, in der er die Peers scharf angriff. In nachwirkenden Bildern beschrieb Lloyd George die Landbesitzer pauschal als gierige, parasitäre Profiteure, die Wohlstand genießen würden, den sie sich selbst nicht erarbeitet hätten. Drei Monate später stellte er bei einem Auftritt in Newcastle die rhetorische Frage, wer das Land regiere, das Volk oder die Peers? Weiter fragte er die Zuhörer, wie diese sich gegen das Urteil von Millionen Wählern stemmen könnten. Mit seinen polemischen Angriffen erzürnte Lloyd George sowohl den König als auch die Peers, seine Angriffe blieben allerdings haften. Nachdem das Gesetz Anfang November 1909 durch das Unterhaus gebracht war, benutzten die Konservativen, angeführt von Arthur Balfour und Lord Lansdowne, trotz einiger Widerstände in ihrer Partei die große konservative Mehrheit im Oberhaus, um es zu blockieren. Bruce Murray sah 1980 als entscheidenden Grund die Berechnung Balfours an, dass ansonsten seine und Lansdownes Position unhaltbar und die Einheit der Partei dann gefährdet wäre. Andrew Adonis widersprach Murray 1993 und sah das Momentum unter den konservativen Peers als wichtigeren Grund. Balfour und Lansdowne seien zu ihrer Entscheidung gelangt im Wissen, dass ein substantieller Teil der Peers in jedem Fall entschlossen war, gegen das Budget zu stimmen. So kam es zu einer Verfassungskrise. Die liberale Regierung unter Premierminister H. H. Asquith rief Neuwahlen aus und machte die Reduzierung der Macht des Oberhauses zum vorrangigen Wahlkampfthema für die Wahlen im Januar 1910. Die Liberalen gewannen die Wahl zwar, hatten jedoch im Vergleich zur Vorwahl schwere Verluste zu verzeichnen; sie bildeten eine Minderheitsregierung und waren fortan auf die Unterstützung der Labour-Party und irischen Nationalisten, der Irish Parliamentary Party (IPP), angewiesen. Asquith forderte daraufhin von König Eduard VII., neue, liberale Lords zu ernennen, um die konservativen Lords im Oberhaus überstimmen zu können (sog. Pairsschub). Der König sah jedoch durch die Unterhauswahl kein schlüssiges Ergebnis erzielt und teilte Asquith dies auch mit; er warnte zugleich jedoch das Oberhaus vor „gravierenden Konsequenzen“, ohne diese näher zu spezifizieren. Völlig überraschend starb er im Mai 1910. Eduards Sohn, der neue König Georg V., war politisch unerfahren und als zweiter Sohn Eduards in seinem Werdegang nicht dazu erzogen worden, der neue Monarch zu werden. Er zögerte, als erste Amtshandlung in seiner neuen Funktion eine drastische Attacke auf den Adel durchzuführen. Asquith versuchte deshalb zunächst, in bereits anberaumten informellen Gesprächen mit den führenden Konservativen einen Kompromiss zu erzielen. Bei den folgenden Gesprächen wurden die Liberalen durch Asquith, Lloyd George, Crewe und Augustine Birrell vertreten, die Konservativen dagegen durch Balfour, Lansdowne, Austen Chamberlain und Cawdor. Asquith und Lloyd George zeigten sich dabei ebenso kompromissbereit wie Balfour auf der anderen Seite. Allerdings wurde die konservative Seite von Lansdowne dominiert, der sich im ganzen Verlauf der Gespräche als nicht kompromissbereit erwies. Lansdowne hatte bei allen vorgeschlagenen Kompromissformeln bereits mögliche Implikationen für die schwelende Home Rule-Frage im Blick, wo er seit den 1880er Jahren als Hardliner auftrat und unter keinen Umständen nachgeben wollte. Inhaltlich unterstützt von Cawdor, war er deshalb eher bereit, die Konferenzgespräche scheitern zu lassen, als Home Rule wahrscheinlicher werden zu lassen. Auch der Vorschlag Lloyd Georges, eine Koalition aus Konservativen und Liberalen zu bilden, wurde von Balfour zurückgewiesen. Am 10. November 1910 stellten beide Seiten die Gespräche ein. Mit Zögern gab der König Asquith die Zusage, nötigenfalls 250 neue liberale Lords zu ernennen. Auf diese Weise sollte die Mehrheit der konservativen Lords gebrochen werden. Asquith rief daraufhin Neuwahlen aus, um die Bedingung des Königs zu erfüllen und sicherzugehen, dass ein klarer Auftrag des Volkes zu einer Verfassungsänderung bestehe. Damit erhoben die Liberalen abermals die Reduzierung der Macht des Oberhauses durch einen Parliament Act zum vorrangigen Wahlkampfthema. Die Wahl brachte im Vergleich keine Veränderungen. Daraufhin gab eine Gruppe von Lord Curzon angeführte Gruppe konservativer Lords nach. Sie stimmte am 10. August 1911 der liberalen Minderheit im Oberhaus zu, so dass das Gesetz das Oberhaus passieren konnte. Die Grundsteuer – die der Auslöser für den Parliament Act gewesen war – wurde nicht eingeführt. Inhalt des Gesetzes Parliament Act 1911 Das Oberhaus verlor mit dem Parliament Act sein Vetorecht in Finanzfragen: Ein vom Unterhaus verabschiedeter Finanzgesetzesentwurf (money bill) sollte fortan dem Oberhaus mindestens einen Monat vor dem Ende der Sitzungsperiode vorgelegt werden. Wenn das Oberhaus ihn nicht fristgerecht innerhalb eines Monats nach der Übersendung unverändert annahm, sollte der Gesetzesentwurf – sofern das Unterhaus nichts Gegenteiliges bestimmte – dem König vorgelegt und nach der königlichen Zustimmung selbst dann Parlamentsgesetz werden, wenn ihm das Oberhaus weiterhin nicht zustimmt. Der Parliament Act konnte nur bei Gesetzesentwürfen angewandt werden, die vom Unterhaus ausgingen, nicht aber auf Entwürfe, die ihren Ursprung im Oberhaus hatten. Ob ein öffentlicher Gesetzesentwurf ein Finanzgesetzesentwurf im Sinne des Parliament Act war, sollte vom Sprecher des Unterhauses entschieden werden. Das Gesetz musste dabei gewissen Anforderungen genügen, die im Absatz 1.2 des Parliament Act beschrieben werden (siehe dazu Link zum deutschsprachigen Gesetzestext in den Referenzen). Darunter fallen Gesetzesentwürfe, die folgende Gebiete betreffen: Auferlegung, Aufhebung, Erlass, Änderung oder Regelung von Steuern Ausgabe von Geldern aus dem konsolidierten Staatsfonds zur Rückzahlung von Schulden oder zu anderen Finanzzwecken Ausgabe von durch das Parlament bewilligten Geldern oder die Änderung oder Aufhebung irgendwelcher solcher Ausgaben das Budget Bewilligung, Einnahme, Verwaltung, Ausgabe oder Überprüfung öffentlicher Gelder Aufnahme oder Gewährleistung einer Anleihe oder deren Rückzahlung untergeordnete Angelegenheiten, die in Zusammenhang mit diesen Gegenständen stehen Darüber hinaus wurden auch andere öffentliche Gesetzesentwürfe (public bills) einer Einschränkung unterzogen. Ein Gesetzesentwurf sollte auch dann zum Gesetz werden, wenn ihm das Oberhaus nicht zustimmt. Im Parliament Act von 1911 ist zu lesen (Absatz 2.1): Der Parliament Act beschränkte nicht nur das Vetorecht des Oberhauses. Er verkürzte auch die maximale Länge einer Legislaturperiode von sieben auf fünf Jahre. Parliament Act 1949 Der Parliament Act von 1949 schränkte die Möglichkeiten des Oberhauses weiter ein. Dieses Gesetz wurde durch die Anwendung des Parliament Act von 1911 durchgesetzt und ist daher nicht unumstritten. Die Änderungen haben eine Beschleunigung des Verfahrens zur Folge: So können öffentliche Gesetzesentwürfe nun bereits nach der zweiten Ablehnung durch das Oberhaus dem König beziehungsweise der Königin vorgelegt werden. Außerdem wurde die Mindestzeit bis zur Verabschiedung in der zweiten Sitzungsperiode von zwei Jahren auf ein Jahr verkürzt. Folgende Kriterien müssen zutreffen, damit das Unterhaus einen Parliament Act (so wird auch das Verfahren zur Durchsetzung von Gesetzen mit Hilfe des Parliament Act genannt) anwenden kann: Zweimalige Ablehnung des Gesetzesentwurfs durch das Oberhaus Ablauf von einem Jahr zwischen erster und zweiter Sitzungsperiode Anwendung Der Parliament Act wurde bis heute nur sieben Mal angewendet. Im Jahre 1914 wurde der walisische Teil von der Kirche Englands (Church of England) getrennt und in die Kirche von Wales (Church of Wales) umgewandelt. Im selben Jahr wurde ein Gesetz verabschiedet, das die Selbstverwaltung Irlands vorsah. 1949 wurden die Änderungen zum Parliament Act durch die Anwendung des Parliament Act von 1911 durchgesetzt. 1991 trat der sogenannte War Crimes Act (Gesetz gegen Kriegsverbrechen) mit Hilfe des Parliament Act in Kraft, in dem die Jurisdiktion des Vereinigten Königreichs erweitert wurde, um auch Taten abzudecken, die während des Zweiten Weltkriegs für Nazideutschland verübt wurden. 1999 wurde ein Gesetz verabschiedet, das das Wahlsystem für das Europäische Parlament zu einer Form proportionaler Repräsentation abänderte. Ein Jahr darauf, im Jahr 2000, wurde der „Sexual Offences (Amendment) Act“ (Sexualdeliktsgesetz (Abänderung)) durch einen Parliament Act durchgesetzt. Dieser hatte die Gleichstellung des Volljährigkeitsalters für männliche homosexuelle Paare mit heterosexuellen und lesbischen Paaren zum Ziel. Das jüngste Gesetz, das durch einen Parliament Act in Kraft getreten ist, ist der „Hunting Act“ (Jagdgesetz), der die Jagd auf Säugetiere mit Hunden verbietet, insbesondere die Fuchsjagd. Das von Tony Blairs zweiter Regierung verabschiedete Gesetz war heftig umstritten und führte bereits zu wilden Tumulten von Anhängern der Fuchsjagd um das britische Parlament. Da die Fuchsjagd weithin als ein Privileg der Oberschicht angesehen wird, lebte auch der Konflikt zwischen Bürgertum und Adel wieder auf, der im heutigen Vereinigten Königreich meist stellvertretend und mit vielen Klischees auf beiden Seiten als Konflikt zwischen Stadt und Land geführt wird. Aus diesem Grund kippte das immer noch mit Teilen des Erbadels besetzte Oberhaus das Verbot. Gesetze, bei denen mit dem Parliament Act gedroht wurde Durch Androhung des Parliament Act kann das Unterhaus auch versuchen, Druck auf das Oberhaus zu machen, einem Kompromiss zuzustimmen. Bisher gab es drei Gesetzesvorhaben, bei denen dies geschah: Im Temperance (Scotland) Act von 1913, der ein Alkoholverbot zum Ziel hatte. Das Gesetz sah vor, dass schottische Wahlkreise darüber abstimmen konnten, ob dort der Alkoholverkauf weiter erlaubt sei oder nicht. Bei der 1976er Novelle des 1974 beschlossenen Trade Union and Labour Relations Act. Das ursprüngliche Gesetz führte zu einer Stärkung der Rechte der Gewerkschaften und Arbeitnehmer, in der Novelle sollte unter anderem die Definition einer unfairen Kündigung weiter gefasst sein. Beim Aircraft and Shipbuilding Industries Act von 1977, der die britische Flugzeug- und Schiffbauindustrie verstaatlichte und reorganisierte. Diese drei Gesetze wurden nach der ersten Sitzungsperiode vom Oberhaus abgelehnt, aber infolge einer Kompromisslösung in der letztmöglichen Sitzungsperiode von diesem angenommen. Ein Parliament Act war daher in diesen Fällen nicht notwendig. Auch im Zusammenhang mit dem Brexit nach dem Referendum von 2016 wurde von der britischen Regierung unter Boris Johnson, die im Oberhaus über keine Mehrheit verfügte, die Möglichkeit einer Anwendung des Parliament Act zumindest angedeutet. Gesetze, bei denen der Parliament Act nicht zur Anwendung kommt Gesetze, die die Länge einer Parlamentszeit über fünf Jahre hinaus verlängern Initiativanträge (Private Bills) Gesetze, die weniger als einen Monat vor Ende einer Sitzungsperiode (Legislative Session) an das Oberhaus gesendet werden Gesetze, die vom Oberhaus initiiert werden Präambel Gesetze, die durch einen Parliament Act verabschiedet wurden, tragen folgende Präambel: BE IT ENACTED by The Queen’s most Excellent Majesty, by and with the advice and consent of the Commons in this present Parliament assembled, in accordance with the provisions of the Parliament Acts 1911 and 1949, and by the authority of the same, as follows SEI DIES ERLASSEN durch Ihre Königliche Majestät, durch und mit dem Anraten und der Zustimmung des Unterhauses in diesem nun versammelten Parlament, gemäß den Bestimmungen der Parliament Acts von 1911 und 1949 und durch sie ermächtigt, wie folgt Forschungsgeschichte Roy Jenkins veröffentlichte im Jahr 1954 seine Darstellung des Konflikts zwischen den Lords und dem Unterhaus unter dem Titel Mr. Balfour’s Poodle. Corinne Weston veröffentlichte im Jahr 1982 eine Analyse von Salisburys Wirken als führender konservativer Vertreter im Oberhaus; Salisbury sei es aufgrund seiner Persönlichkeit und seinem Temperament her unmöglich gewesen, in einem geschwächten Oberhaus zu sitzen. Seine Theorien seien als Ausdruck seines Bemühens zu verstehen, die Macht und die Autorität des Oberhauses zu stärken, besonders während zur gleichen Zeit Gladstone das vergleichsweise mächtigere Unterhaus dominierte. Für Andrew Adonis war der sich immer weiter zuspitzende Verfassungskonflikt auch das Resultat der Schwäche von Salisburys Nachfolgern im Oberhaus, die eine im Vergleich zu Salisbury mangelnde Kontrolle über die konservativen Peers ausübten. Zudem hätten signifikante Unterschiede zwischen den liberalen Regierungen der späten viktorianischen Ära und der Regierung Asquith bestanden; erstere seien durch innere Meinungsverschiedenheiten geschwächt worden und bei Opposition durch das Oberhaus schnell an ihren inneren Streitigkeiten zerbrochen. Sie seien auch nie in der Lage gewesen, einen errungenen Wahlsieg zu wiederholen und so die von Salisbury aufgestellte Referendaltheorie zu widerlegen und die Opposition des Oberhauses zu brechen. Dagegen sei Asquiths liberale Regierung nach vereitelten Maßnahmen eher entschlossener und zunehmend resolut aufgetreten und habe die Initiative durch ein erweitertes Programm zurückgewonnen. Simon Heffer sah zudem in der aggressiven Opposition durch die Northcliffe–Presse einen wichtigen Grund für die Eskalation des Konflikts; die Peers seien durch die Parteinahme der Northcliffe–Presse zunächst ermutigt und später dazu angetrieben worden, nicht zurückzuweichen. Siehe auch Verfassungsgeschichte des Vereinigten Königreichs Literatur Andrew Adonis: Making Aristocracy Work: The Peerage and the Political System in Britain, 1884–1914. Oxford University Press 1993, ISBN 978-0-19-820389-6. Simon Heffer: The Age of Decadence: Britain 1880 to 1914. Random House, New York 2017, ISBN 978-1-84794-742-0. Emil Hübner, Ursula Münch: Das politische System Großbritanniens. C. H. Beck, München 1999, ISBN 3-406-45651-0 Gert-Joachim Glaeßner: Verfassungspolitik und Verfassungswandel. Deutschland und Großbritannien im Vergleich. VS Verlag für Sozialwissenschaften, Wiesbaden 2001, ISBN 3-531-13570-8 Roy Jenkins: Mr. Balfour’s Poodle. Collins 1954. Nachdruck: Bloomsbury Reader, London 2012, ISBN 978-1-4482-0320-8. Karl-Ulrich Meyn: Die Verfassungskonventionalregeln im Verfassungssystem Großbritanniens. Schwarz, Göttingen 1975, ISBN 3-509-00793-X. Corinne C. Weston: Salisbury and the Lords, 1868 – 1895. In: The Historical Journal, 25, 1 (1982), Seite 103–129. Weblinks Der Parliament Act 1911 in seiner heute geltenden Fassung Standard Note zum Parliament Act des britischen Unterhauses (in englischer Sprache) Dieses Dokument (PDF) beschreibt die Anwendung des Parliament Act und nennt bisherige Anwendungsfälle (13 kB). Deutsche Übersetzung des Gesetzestexts (Parliament Act 1911 und 1949) Anmerkungen Historische Rechtsquelle (Vereinigtes Königreich) Rechtsquelle der Neuzeit Politikgeschichte (Vereinigtes Königreich) Britische Geschichte (20. Jahrhundert) Politik 1911 Herbert Henry Asquith
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https://de.wikipedia.org/wiki/Dresden%20Hauptbahnhof
Dresden Hauptbahnhof
Dresden Hauptbahnhof (kurz Dresden Hbf) ist der größte Personenbahnhof der sächsischen Landeshauptstadt Dresden. Er ersetzte 1898 den Böhmischen Bahnhof der einstigen Sächsisch-Böhmischen Staatseisenbahn und wurde mit seiner repräsentativen Gestaltung als zentraler Bahnhof der Stadt konzipiert. Eine Besonderheit ist die Kombination aus Insel- und Kopfbahnhof in zwei verschiedenen Ebenen. Die Hallen sind mit teflonbeschichteten Glasfaser-Membranen überdacht. Diese transluzente Dachgestaltung lässt seit der umfassenden Sanierung des Bahnhofs zu Beginn des 21. Jahrhunderts mehr Tageslicht als vorher in die Bahnhofshallen fallen. Der Hauptbahnhof verknüpft im Eisenbahnknoten Dresden die Strecken Dresden-Neustadt–Děčín hl. n. und Dresden–Werdau (Sachsen-Franken-Magistrale) miteinander, die den Verkehr nach Südosten in Richtung Prag, Wien und weiter nach Südosteuropa ermöglichen, sowie nach Südwesten in Richtung Chemnitz weiter nach Nürnberg. Die Anbindung der Strecken in Richtung Norden (Berlin), Nordwesten (Leipzig) und Osten (Görlitz) erfolgt nicht vom Hauptbahnhof aus. Der Bahnhof zählte 2018 täglich 381 Ankünfte und Abfahrten sowie 60.000 Reisende und Besucher. Vor der Corona-Pandemie waren es rund 64.000. Davon waren rund 70 Prozent Fahrgäste, die Übrigen Kunden in Läden und Lokalen. Lage und Umgebung Der Hauptbahnhof befindet sich südlich der Altstadt in der Seevorstadt; an seiner Südseite grenzt das Schweizer Viertel der Südvorstadt an. Direkt neben dem Bahnhofsgelände befindet sich die Hochschule für Technik und Wirtschaft. Die Bundesstraße 170 unterquert in Nord-Süd-Richtung das Bahnhofsgelände östlich des Empfangsgebäudes. Nach Norden hin beginnt über den Wiener Platz die Prager Straße, die innerstädtische Einkaufsmeile der Stadt. Der Straßenverkehr am Wiener Platz wird seit den 1990er Jahren durch einen Straßentunnel mit Tiefgarage geleitet, der Platz ist seitdem Fußgängerzone. Im Umfeld entstanden verschiedene größere Büro-, Geschäfts- und Wohngebäude in modernem Stil. Geschichte Vorgeschichte Im Jahr 1839 eröffnete die Leipzig-Dresdner Eisenbahn-Compagnie die erste deutsche Ferneisenbahn von Leipzig bis zum Dresdner Endpunkt Leipziger Bahnhof. In den folgenden Jahrzehnten ergänzten weitere Eisenbahnstrecken die Fahrtmöglichkeiten von Dresden aus. Dabei errichtete jede Privatbahn einen eigenen Bahnhof als Endpunkt ihrer Strecke. Der im Jahr 1847 eingeweihte Schlesische Bahnhof markiert den Startpunkt der Bahnstrecke Dresden–Görlitz und im Jahr 1848 eröffnete der Böhmische Bahnhof der Strecke in Richtung Böhmen. Der weitere sieben Jahre später in Betrieb genommene Albertsbahnhof diente der Strecke in Richtung Chemnitz und im Jahr 1875 eröffnete der Berliner Bahnhof, an dem die Strecke nach Berlin begann. Zwischen 1800 und 1900 wuchs die Einwohnerzahl Dresdens von 61.794 auf 396.146 an. In der Folge stieg das Verkehrsbedürfnis enorm. Die bisherigen Eisenbahnanlagen erwiesen sich als unzureichend, um die erwartete räumliche Mobilität zu gewährleisten und das durch Bevölkerungszunahme und Industrialisierung entstandene erhöhte Verkehrsaufkommen zu bewältigen. Insbesondere waren die Gleisanlagen der nur unzureichend miteinander verknüpften Fernbahnhöfe nicht auf durchgehenden Verkehr ausgelegt und viele niveaugleiche Kreuzungen von Eisenbahn und Straße stellten ein wesentliches Verkehrsproblem dar. Nachdem sich Ende der 1880er Jahre alle die Stadt berührenden Eisenbahnanlagen in Staatshand befanden, entschloss sich die sächsische Regierung zu einer grundlegenden Umgestaltung des Eisenbahnknotens Dresden unter Federführung von Baurat Otto Klette. Dabei sollte ein neuer Zentralbahnhof entstehen, über dessen Standort jedoch lange Zeit keine Einigkeit bestand. Nach dem Elbhochwasser im März 1845 hatte der Vermessungsinspekteur Karl Pressler angeregt, die Weißeritz nach Cotta umzuleiten und das bisherige Flussbett für einen Zentralbahnhof zu nutzen. Die Planer griffen diese Idee teilweise auf und realisierten im ehemaligen Flussbett eine höhergelegte Verbindungsstrecke zwischen den Fernbahnhöfen. Als neuen Hauptbahnhof sahen sie jedoch den ehemaligen Böhmischen Bahnhof vor. Dieser war einerseits am stärksten frequentiert und lag andererseits in unmittelbarer Nähe der Prager Straße (Dresden), die sich im letzten Viertel des 19. Jahrhunderts zur bedeutendsten Geschäftsstraße der Stadt entwickelt hatte. Böhmischer Bahnhof Am 1. August 1848 nahm die Sächsisch-Böhmische Staatseisenbahn den Böhmischen Bahnhof als Endpunkt ihrer zunächst nur bis Pirna reichenden Strecke in Betrieb. Er bestand zunächst nur aus einem scheunenartigen Fachwerkgebäude, das vier Gleise überspannte, sowie aus ebenfalls provisorisch errichteten Maschinenschuppen, Wagenremisen und Werkstätten. Die feierliche Eröffnung erfolgte erst am 6. April 1851, zeitgleich mit der Verlängerung der Strecke bis nach Bodenbach (heute: Děčín). Ein gutes Jahr später – Dresden wurde gerade zur Großstadt – ermöglichte die Fertigstellung der für den Straßen- und Bahnverkehr nutzbaren Marienbrücke am 19. April 1852 den Durchgangsverkehr durch den Böhmischen Bahnhof bis zu dem Leipziger Bahnhof und dem Schlesischen Bahnhof auf der Neustädter Seite. Von 1861 bis 1864 wurden die dem Personenverkehr dienenden Anlagen in westlicher Richtung verlegt, um für einen Neubau Platz zu schaffen. Am 1. August 1864 ersetzte ein solides neues Empfangsgebäude das vorherige Provisorium. Vier Flügelbauten gliederten das 184 Meter lange, von Karl Moritz Haenel und Carl Adolph Canzler in Formen der italienischen Renaissance entworfene Gebäude. Zunächst wurde nur ein 370 Meter langer Hausbahnsteig realisiert, der jedoch die gleichzeitige Abfertigung zweier Züge erlaubte. Ein zusätzlicher 360 Meter langer Inselbahnsteig entstand in den Jahren 1871 und 1872. Diese Erweiterung war notwendig geworden, da der Böhmische Bahnhof im Jahr 1869 den Personenverkehr der Bahnstrecke Dresden–Werdau vom knapp zwei Kilometer nordwestlich gelegenen Albertsbahnhof übernahm, der fortan nur noch als Kohlenbahnhof diente. Damit wurde der Verkehr auch in Richtung Chemnitz bereits vor Errichtung des Hauptbahnhofes vom Böhmischen Bahnhof aus abgewickelt. Zusätzlich sollte der neue Hauptbahnhof den Personenfernverkehr des ebenfalls auf Altstädter Elbseite befindlichen, knapp drei Kilometer nordwestlich gelegenen Berliner Bahnhofs aufnehmen. Bau und Eröffnung Die grundlegende funktionale Gestaltung des Hauptbahnhofs mit der Kombination einer großen Kopfbahnhalle in Tieflage und zwei flankierenden Durchgangshallen in Hochlage gilt als das Werk von Finanzrat Claus Koepcke und Otto Klette. Diese funktionalen Rahmenbedingungen lagen dem Wettbewerb des Jahres 1892 zur architektonischen Gestaltung des neuen Hauptbahnhofes zugrunde. Die Dresdner Bauräte Ernst Giese und Paul Weidner sowie der Leipziger Arwed Rossbach gewannen je einen ersten Preis. Der realisierte Entwurf enthält Elemente beider Entwürfe. Noch im selben Jahr begannen die von Ernst Giese und Paul Weidner geleiteten Bauarbeiten. Der Eisenbahnbetrieb lief im Böhmischen Bahnhof weiter, während die Südhalle entstand, die am 18. Juni 1895 dem Verkehr übergeben wurde. Danach konnte der Böhmische Bahnhof abgerissen und auf seinem Areal mit der Errichtung der Mittel- und Nordhalle begonnen werden. Bis zur Fertigstellung des Gesamtbauwerks diente die Südhalle als provisorische Abfertigungsanlage. Der Neubau erhielt mit sechs Kopfgleisen der Mittelhalle, sechs durchgehenden Hochgleisen sowie weiteren Kopfgleisen des Ostbaus alle Voraussetzungen für einen erheblich ausgeweiteten Personenzugverkehr. Zwischen der Südhalle und der rückseitigen Bismarckstraße (der heutigen Bayrischen Straße) wurde ein überdachter Baukörper mit zwei Gleisen in Hochlage für den Güterzugverkehr angebaut. Das Empfangsgebäude umfasste eine Fläche von rund 4.500 Quadratmetern. Für das Tragwerk der Bahnsteighallen verwendete die Stahlbaufirma August Klönne rund 17.000 Tonnen Stahl, das Mauerwerk besteht aus Elbsandstein. Die Baukosten betrugen 18 Millionen Mark; das entspricht einem Gegenwert von etwa 320 Millionen Euro. Nach etwas mehr als fünf Jahren Bauzeit ging das Gesamtbauwerk am 16. April 1898 in Betrieb. Um 2:08 Uhr erreichte von Leipzig kommend der 101 als erster Zug den neu eröffneten Dresdner Hauptbahnhof. Im Zuge der zeitgleichen Umgestaltung der Dresdner Eisenbahnanlagen erhielt der Hauptbahnhof mit den bisher unzureichend angeschlossenen Strecken nach Leipzig, Berlin und Görlitz bessere Verknüpfungen. Hierfür entstand eine neue leistungsfähige, durchgehend viergleisige innerstädtische Verbindungsbahn über den für den Vorortverkehr bestimmten neuen Haltepunkt Wettiner Straße, Vorläufer des heutigen Bahnhofs Dresden Mitte weiter über die neu gebaute, nur für die Eisenbahn bestimmte Marienbrücke zum 1901 eröffneten Bahnhof Dresden-Neustadt. Über angeschlossene Gleisdreiecke bestand Verbindung zu den anderen innerstädtischen Stationen, insbesondere zum Bahnhof Dresden-Friedrichstadt. Obschon in die große Zeit der Luxuszüge hinein gebaut, ging diese Zeit an Dresden beinahe spurlos vorbei, lediglich ein Zweig des Balkanzugs verkehrte hier von 1916 bis 1918. Erste Umbauten und Erweiterungen Die Erbauer des Hauptbahnhofes gingen davon aus, dass die neuen Anlagen ausreichende Kapazitäten für etliche Jahrzehnte bereitstellen könnten. Tatsächlich entwickelte sich das Verkehrsaufkommen rasanter als angenommen, wovon die folgende Tabelle einen Eindruck vermittelt. Da das rasch gestiegene Verkehrsaufkommen kaum noch bewältigt werden konnte, wurde bereits vor Beginn des Ersten Weltkriegs die erste Erweiterung geplant. Im Jahr 1914 bewilligte der Landtag die Mittel für den Ausbau, der Kriegsbeginn verhinderte jedoch eine Realisierung. Erst Ende der 1920er Jahre konnte mit der Erweiterung begonnen werden. Ein Hindernis im Betrieb waren bis dahin die nur schwer in den Ablauf einzubeziehenden Kopfgleise des Ostbaus. Als Abhilfe wurde durch die Nordhalle zwischen den Bahnsteigen 10 und 11 anstelle eines Gepäckbahnsteiges ein neues Durchgangsgleis gelegt. Dieses konnte fortan zur Durchfahrt weiterer bereits im Ostbau abgefertigter Züge genutzt werden, außerdem für Lokdurchfahrten und den Güterverkehr. Um die beiden Güterzuggleise neben der Südhalle auch für den stark gestiegenen durchgehenden Personenverkehr zu nutzen, wurde deren überdachte Nebenhalle abgerissen, das äußere Gleis auf eine neue Betonkonstruktion über dem Bürgersteig verlegt und auf dem hinzugewonnenen Platz ein Inselbahnsteig neu eingerichtet. Auch die Stellwerkseinrichtungen wurden in dieser Zeit modernisiert. Neue elektromechanische Anlagen ersetzten die mechanischen Stellwerke und ein neues Befehlsstellwerk entstand an der Hohen Brücke, die damals in Verlängerung der Hohen Straße das westliche Gleisvorfeld überspannte. Die Architektur des Hauptbahnhofs erfuhr ebenfalls eine Umgestaltung. Zahlreiche Verzierungen und Aufbauten mussten modernen glatten Flächen weichen. Zeit des Nationalsozialismus In den 1930er Jahren begann die Deutsche Reichsbahn-Gesellschaft mit dem Aufbau eines Schnellverkehrsnetzes. Sie führte Schnelltriebwagen-Verbindungen unter anderem zwischen Berlin und Hamburg, Berlin und Köln sowie Berlin und Frankfurt ein. Die Anbindung Dresdens an Berlin geschah jedoch auch im Schnellverkehr dampfbespannt mit dem Henschel-Wegmann-Zug. Von 1936 bis zum Kriegsbeginn 1939 bewältigte er die Strecke von Dresden Hauptbahnhof bis zum Anhalter Bahnhof in Berlin in etwa 100 Minuten. Ende der 1930er Jahre planten die Nationalsozialisten eine Neugestaltung der Stadt, wobei das Geltungs- und Repräsentationsbedürfnis des „Dritten Reiches“ nach gewaltigen Dimensionen verlangte. Ein neuer Zentralbahnhof sollte sich anstelle des Bahnhofs Wettiner Straße über 300 Metern Länge und 200 Metern Breite ausdehnen. Außerdem waren ein überdimensionierter Vorplatz und großzügige Straßen vorgesehen, um Platz für Kundgebungen und Aufmärsche zu schaffen. Mit Ausbruch des Zweiten Weltkrieges waren diese Pläne jedoch hinfällig. Während des Zweiten Weltkriegs hatte der Bahnhof nur eine geringe Bedeutung für die Verladung von Truppen- und Gefangenentransporten, obwohl Dresden Garnisonstadt war. Allerdings bündelte er das sächsische Eisenbahnnetz in Richtung Böhmen und stellte deshalb einen Engpass dar. Zu Beginn des Krieges schien Dresden kaum durch Luftangriffe gefährdet, sodass zunächst nur unzureichende Vorbereitungen getroffen wurden, später war dies nicht mehr möglich. Die Luftschutzräume des Hauptbahnhofs boten Platz für etwa 2000 Personen, jedoch fehlten Gasschleusen und Belüftungsanlagen. Dies hatte schwerwiegende Folgen: Als während des großen Luftangriffs auf Dresden in der Nacht vom 13. zum 14. Februar 1945 der Bahnhof ausbrannte, entzündeten sich vor den Eingängen gelagerte Gepäckstücke, woraufhin 100 Menschen verbrannten und weitere 500 Personen in den Luftschutzräumen erstickten. Durch nachfolgende Luftangriffe wurden die Gleisanlagen zu wesentlichen Teilen zerstört. Endgültig funktionsuntüchtig wurde der Hauptbahnhof durch den achten und letzten Luftangriff am 17. April 1945 durch 580 Bomber der USAAF. Der lange Wiederaufbau Der Hauptbahnhof gehörte trotz seiner schweren Schäden nach den Luftangriffen zu den markanten Gebäuden in der Dresdner Innenstadt. Gegenüber einer Rekonstuktion der historischen Bausubstanz hatte jedoch die Wiederherstellung der Bahnverbindungen Vorrang. So konnte bereits am 17. Mai 1945 der Personenverkehr nach Bad Schandau wieder aufgenommen werden. Notdürftig begann nach Kriegsende noch im gleichen Jahr der Wiederaufbau. Einige Gebäudeteile wie die Bahnhofshallen und die Kuppel wurden zunächst nicht instand gesetzt und verfielen. Gleichzeitig wurde eine weitreichende Neugestaltung der Eisenbahnanlagen erwogen, was durch die großflächige Zerstörung der Stadt möglich erschien. Entwürfe aus dem Jahr 1946 zeigen eine Wendeschleife südlich des Hauptbahnhofes, die dem Ost-West-Verkehr der Verbindung Chemnitz–Görlitz einen Halt ohne Lokwechsel ermöglicht hätte. In den Jahren 1946 und 1947 entstanden erneut mehrere Entwürfe zu einem neuen, großzügig dimensionierten Hauptbahnhof anstelle des Bahnhofs Wettiner Straße. Der bisherige Hauptbahnhof sollte in Bahnhof Dresden Prager Straße umbenannt und der Personenverkehr nur über die Nordhalle und die Ostseite abgewickelt werden. Für den verbliebenen Bereich war zunächst ein Postbahnhof vorgesehen. Der wurde in Entwürfen des Jahres 1947 wieder verworfen; nun sollte die Südhalle zusätzlich dem Personenverkehr dienen, während der Mittelhalle keine Funktion zugedacht war. Warum diese Planungen letztlich nicht zur Ausführung kamen, kann nicht mit letzter Sicherheit gesagt werden. Als mögliche Gründe werden Finanznot, Materialknappheit, Arbeitskräftemangel und allgemeine Planungsunsicherheit im gesellschaftspolitischen Wandel genannt. Ein geplantes neues Empfangsgebäude auf dem Wiener Platz mit einem angeschlossenen neuen Verwaltungsgebäude für die Reichsbahndirektion wurde ebenfalls nicht realisiert. Der weitere Aufbau erfolgte ab 1950 in einer ähnlichen, aber den wirtschaftlichen Verhältnissen und dem Facharbeitermangel geschuldeten einfacheren Form. Das vormals teilweise mit Glas gedeckte Dach wurde provisorisch mit Holz, Pappe und Schiefer verschlossen. Das Bahnhofsgebäude selbst wurde nur teilweise wiederhergestellt. Insbesondere die Bauten südlich der Schalterhalle blieben eine hohle Ruine, bei der nur die Außenwände einen vollständigen Wiederaufbau vortäuschten. Die nicht zerstörte Stahlkonstruktion der Kuppel über der Schalterhalle wurde außen ebenfalls mit Holz und Schiefer eingedeckt sowie innen mit einer Kassettendecke versehen. Erst Anfang der 1960er-Jahre waren die Aufbauarbeiten weitgehend abgeschlossen. Als eine der letzten Maßnahmen erfolgte die Anpassung der Uhrtürme zu beiden Seiten des Eingangsportals an die entfeinerte Fassade. In den nächsten Jahrzehnten prägten provisorische Parkplätze und Verkehrsführungen sowie Zuleitungen ringsum das Bild. Zur Zeit der DDR Ab den 1960er Jahren entwickelte sich der Hauptbahnhof wieder zu einem wichtigen Knotenpunkt im Fernverkehr von Westeuropa und Skandinavien nach Südosteuropa. Bekannte Züge dieser Zeit waren der Vindobona (Berlin–Wien), der Hungaria (Berlin–Budapest) und der Meridian (Malmö–Bar). Ab 1963 verkehrte im Sommer einmal pro Woche der Urlauberzug Tourex zwischen Dresden und dem bulgarischen Badeort Varna. Im Zuge des Traktionswandels erreichten im September 1966 von Freiberg aus erstmals mit Elektrolokomotiven bespannte Züge Dresden. Gut zehn Jahre später – am 24. September 1977 – verließ der letzte mit einer Dampflokomotive geführte Schnellzug Dresden in Richtung Berlin. Vor den Personenzügen in Richtung Oberlausitz waren dagegen Dampflokomotiven noch bis Ende der 1980er Jahre zu sehen. Da ihre Durchfahrtshöhe nicht ausreichte, musste die Hohe Brücke im westlichen Gleisvorfeld im Zuge der Elektrifizierung der Bahngleise abgerissen werden. Ab Mai 1977 verkehrte der Städteexpress Elbflorenz nach Berlin; im Juni 1985 kam in umgekehrter Richtung der Berlin-Express hinzu. Innerhalb der Stadt und im direkten Umfeld bewältigt die S-Bahn Dresden seit 1973 den Großteil des Nahverkehrs mit dem Hauptbahnhof als zentralem Punkt. Im Jahr 1978 wurde der Dresdner Hauptbahnhof unter Denkmalschutz gestellt. In der Nacht vom 30. September auf den 1. Oktober 1989 fuhren sechs sogenannte Flüchtlingszüge über den Dresdner Hauptbahnhof, die von Prag über das Territorium der Deutschen Demokratischen Republik in die Bundesrepublik Deutschland geleitet wurden. Zwei Stunden vorher verbreiteten westdeutsche Medien die Nachricht über diese Fahrten und es gelang wenigen schnell entschlossenen Bürgern, während der Durchfahrt auf einen Zug aufzuspringen. Es war bekannt, dass sich noch weitere DDR-Bürger in der Prager Botschaft befanden und somit weitere Zugdurchfahrten anstanden. Daher kamen an den Folgetagen immer mehr unzufriedene Bürger am Hauptbahnhof zusammen, in der Nacht vom 4. auf den 5. Oktober laut Polizeiangaben etwa 20.000 Personen. Während sich der Großteil der Demonstranten und der Sicherheitskräfte in dieser Nacht auf dem Lenin-Platz (heute Wiener Platz) gegenüberstanden, passierten drei der erwarteten Züge aus Prag kaum bemerkt auf den südlichen Gleisen den Hauptbahnhof. Aufgrund der kritischen Lage in Dresden wurden fünf weitere Sonderzüge über Vojtanov und Bad Brambach nach Plauen umgeleitet. Die meisten Demonstranten verhielten sich friedlich, es kam jedoch auch zu gewaltsamen Auseinandersetzungen zwischen etwa 3000 Demonstranten und der Volkspolizei sowie zu Sachbeschädigungen am Bahnhof. In den Folgetagen waren der Leninplatz und die benachbarte Prager Straße abendlich Ort friedlicher Demonstrationen, die am 8. Oktober in den Beginn eines Dialogs mit der Staatsmacht auf kommunaler Ebene durch die Gründung der Gruppe der 20 mündeten. Mit zusammen 156 Ankünften und Abfahrten regelmäßiger Fernzüge pro Tag war der Hauptbahnhof im Sommerfahrplan 1989, nach dem Knoten Berlin und dem Hauptbahnhof Leipzig, der drittbedeutendste Knoten im Netz der Deutschen Reichsbahn. Nach der politischen Wende in der DDR Nach 1990 wurde Dresden schrittweise in das Intercity-Netz aufgenommen. Einzelne InterCity-Züge fuhren 1991 über Leipzig und die Thüringer Bahn nach Frankfurt am Main, ab 1992 im Zweistundentakt. Über die gleiche Strecke verkehrte ab dem 2. Juni 1991 das erste EuroCity-Zugpaar ab Dresden nach Paris-Est. Im gleichen Jahr bedienten erstmals Interregio-Züge Dresden. Die Zugpaare 2048/2049 und 2044/2143 verkehrten zwischen Köln und Dresden. Später kamen weitere Verbindungen hinzu. 1993 wurde eine Nord-Süd-Verbindung über Dresden in das EuroCity-Netz aufgenommen und die teilweise bis in die Gegenwart verkehrenden acht EC-Züge nach Prag, Wien und Budapest eingeführt. Am 25. September 1994 bedienten ICE-Züge erstmals planmäßig den Hauptbahnhof. Der ICE Elbkurier legte abends die Strecke vom Bahnhof Zoo in Berlin nach Dresden in 1:58 Stunden zurück. Morgens verkehrte ein Zug in umgekehrter Richtung. Der ICE-Einführung waren notwendige Bauarbeiten im Hauptbahnhof vorausgegangen. Bis zum Fahrplanwechsel am 28. Mai 2000 verkehrte ein ICE-Zugpaar täglich über Berlin nach Dresden, dann wurde die bis in die Gegenwart bestehende ICE-Linie 50 über Leipzig nach Frankfurt im Stundentakt eingeführt und die Verbindung über Berlin entfiel. Der Dresdner Hauptbahnhof wurde damit zum Ausgangspunkt der mittleren Ost-West-Relation im deutschen ICE-Netz. Dieser Wechsel bedingte Veränderungen im lokbespannten Fernverkehr, so wird Dresden seitdem fast nur noch in Nord-Süd-Richtung von IC/EC-Zügen angefahren. Daneben gab es anderweitig bedingte Veränderungen im IC/EC-Netz. So erhielt bereits 1994 die spätere EC/IC-Linie 27 (Prag–Dresden–Berlin) eine Durchbindung bis Hamburg und im Jahre 2003 fuhren erstmals zwei Zugpaare nach Wien und ein Zugpaar ins dänische Aarhus. Auf der Sachsen-Franken-Magistrale nach Nürnberg verkehrten vom 10. Juni 2001 an Triebzüge der Baureihe 605 (ICE-TD). Sie lösten den bereits ein Jahr zuvor eingestellten Interregio-Verkehr ab. Nach dem Elbhochwasser 2002 und der dadurch bedingten Streckenunterbrechung zwischen Chemnitz und Dresden sowie Problemen mit der Neigetechnik setzte die Deutsche Bahn die Triebzüge ab dem Sommer 2003 nicht mehr ein. Stattdessen verkehrten bis zur Einstellung des Fernverkehrs im Jahr 2006 Intercity-Züge. Am 6. Juni 2003 wurde im Hauptbahnhof von einem Sprengstoffspürhund eine Kofferbombe entdeckt. Nach Evakuierung des gesamten Gebäudes zerstörte die Polizei den Koffer kontrolliert. Die Bombe bestand aus einem handelsüblichen Rollenkoffer, der einen Wecker, einen Schnellkochtopf, Sprengstoff und Steine sowie eine Zündvorrichtung mit Zündschnur enthielt. Nach Einschätzung von Experten war diese Bombe zündfähig. Umbau und Modernisierung nach 2000 Bereits in den 1990er Jahren fanden erste Sanierungsarbeiten statt. Die Brücken über die Bundesstraße 170 wurden erneuert und der Ostbau erhielt eine neue Fassade zur Straße hin sowie einen neuen Aufgang. Ein Entwurf von Gerkan, Marg und Partner sah Mitte der 1990er Jahre vor, den Bahnhof zu modernisieren, einen Teil der Mittelhalle in einen Markt umzufunktionieren sowie einen Büro- und Hotelturm zu errichten. Dieser Entwurf wurde nicht realisiert. Ende Dezember 2000 gab der Vorstand der Deutschen Bahn die Auftragsvergabe für das Modernisierungsvorhaben frei. Die geplanten Baukosten lagen bei rund 100 Millionen DM, die aus Mitteln des Bundes (Altlastensanierung), Eigenmitteln der DB und einem Zuschuss des Landes Sachsen (13 Mio. DM) finanziert wurden. Der Abschluss der Bauarbeiten war für Frühjahr 2003 vorgesehen. Die umfassende Sanierung hatte bereits im Jahr 2000 mit der Inbetriebnahme des aus der Betriebszentrale Leipzig ferngesteuerten elektronischen Stellwerks begonnen. Der weitere Umbau umfasste die Erneuerung von Empfangsgebäude und Hallendach, der Gleistragwerke der Nord- und Südhalle sowie der Gleis- und Sicherungsanlagen. Um einen ununterbrochenen Zugverkehr zu gewährleisten, wurden zunächst die Gleistragwerke der Nordhalle saniert und im November 2003 wieder in Betrieb genommen. Erst anschließend begann Ende des Jahres 2004 die Sanierung der Gleistragwerke der Südhalle. Unabhängig davon wurde das Hallendach ab 2002 und das Empfangsgebäude ab Ende 2003 saniert. Aufgrund der Bauarbeiten waren von 2002 bis 2006 zahlreiche Geschäfte in der Bahnsteighalle in Containern untergebracht. Nach ihren historischen Vorbildern wurden die bis zu 34 Meter hohe Kuppel oberhalb des Kreuzungspunktes der beiden Hallen, der Kreuzgang sowie die großen Warteräume restauriert. In Letzteren eröffneten im Juli 2006 das Reisezentrum sowie ein Supermarkt, gleichzeitig mit der Inbetriebnahme der Mittelhalle. Die Hochbahnsteige sind nun per Rolltreppen und Aufzügen erreichbar. Im Dezember 2007 gingen die neu gestalteten Gleisanlagen auf der Bahnhofsüdseite in Betrieb, mit Ausnahme von Bahnsteig 1, der erst 2008 fertig wurde. Außerdem wurden südlich außerhalb der Halle die beiden Güterzuggleise neu errichtet, jedoch ohne den beim Umbau um 1930 zwischen diesen Gleisen entstandenen Bahnsteig. Das Hochwasser 2002 verzögerte die Sanierungsarbeiten signifikant. Ab dem 12. August 2002 war der Hauptbahnhof infolge einer Überflutung durch die Weißeritz gesperrt, die in Dresden wieder ihren alten Lauf eingenommen hatte und über die Trasse der Bahnstrecke Richtung Chemnitz den Hauptbahnhof erreichte; der Pegel im Bahnhof erreichte eine Höhe von bis zu 1,50 Metern. Wasser, Schlamm und Geröll richteten einen Schaden von 42 Millionen Euro an. Viele Strecken waren längere Zeit unpassierbar, vor allem in Richtung Chemnitz. Nach einigen Regionalzügen erreichte am 2. September 2002 wieder ein Fernverkehrszug den Bahnhof. Das Gebäude wurde, teilweise bis in den Keller, entkernt; dort dauerten die Arbeiten bis Ende 2004. Die Kosten der Sanierung beliefen sich bis November 2006 auf rund 250 Millionen Euro. Davon entfielen 85 Millionen auf das Membrandach sowie 55 Millionen auf das Empfangsgebäude. Der Bund beteiligte sich dabei mit etwa 100 Millionen Euro, der Freistaat Sachsen mit 11 Millionen Euro. Die Erneuerung der Hochgleistragwerke in der Südhalle stand damals noch aus, diese sollte vom Bund mit rund 54 Millionen Euro unterstützt werden. Am Abend des 10. November 2006 fand unter der Kuppel der Empfangshalle die Einweihung des sanierten Bahnhofs statt. Sie erfolgte damit noch im Jahr 2006, dem 800-jährigen Stadtjubiläum. Die Eröffnung markierte das Ende der wesentlichen Beeinträchtigungen des Reiseverkehrs, jedoch sind die Umbauarbeiten auch im Jahr 2014 noch nicht beendet. Nach rund 20-monatiger Bauzeit wurde die im Zuge der Konjunkturprogramme des Bundes durchgeführte energetische Sanierung des Bahnhofs im Juni 2011 abgeschlossen. Diese Bauarbeiten schlossen auch die Sanierung des Königspavillons ein. Seit Sommer 2011 arbeitete die Deutsche Bahn am Ausbau der Ladenflächen unter den Gleisen der Nord- und Südhalle des Bahnhofs. Das Investitionsvolumen für die Ausbauarbeiten lag bei etwa 26 Millionen Euro. Dort entstanden 43 Ladenflächen mit insgesamt 11.000 Quadratmetern. Die ersten neuen Läden eröffneten im August 2013, im Mai 2014 waren die Bauarbeiten abgeschlossen. Der beabsichtigte Neubau der Bahnsteige in der Mittelhalle ist größtenteils abgeschlossen. Dieser gehört zur 2. Baustufe des Ausbaus des Eisenbahnknotens Dresden, die laut Planungsstand von 2009 im Jahr 2011 begonnen werden sollte. Im Investitionsrahmenplan 2011–2015 des Bundes war diese Baustufe jedoch nicht enthalten. Im September 2013 gab die Bahn an, dass die Bahnsteige der Mittelhalle bis 2019 erneuert und dabei auch leicht erhöht werden sollen. Am 15. April 2018 begann der Umbau der Bahnsteige in der Mittelhalle. Mit der Wiederinbetriebnahme der Bahnsteigkanten an den Gleisen 10 und 11 wurden die Arbeiten im April 2021 abgeschlossen. Dabei waren die Bahnsteige in zwei Stufen modernisiert und auch verkürzt worden. Die Teile der betroffenen Bahnsteige, die bislang noch aus der Bahnhofshalle herausragen, wurden abgetragen und nicht wieder aufgebaut. Durch einen weitreichenden Umbau des Westkopfs soll die Ein- und Ausfahrgeschwindigkeit für Züge aus oder in Richtung Chemnitz, Leipzig und Berlin zukünftig auf 80 km/h angehoben werden. Das Vorhaben ist Teil des Verkehrsprojekts Deutsche Einheit Nr. 9. Das Planfeststellungsverfahren wurde im Februar 2019 eingeleitet. Die Pläne wurden zwischen dem 16. Juli 2020 und 17. August 2020 ausgelegt. Der Planfeststellungsbeschluss wurde für 2021 erwartet. Ebenfalls 2021 sollte dazu eine Finanzierungsvereinbarung abgeschlossen werden. Laut einer Mitteilung vom März 2023 wurden die Arbeiten an einem Kreuzungsbauwerk im Westkopf begonnen. Die Maßnahmen, in die 140 Millionen Euro investiert werden sollen, sind bis Ende 2026 geplant. Die Machbarkeitsstudie für die Neubaustrecke Dresden-Prag sieht auch für den Ostkopf derartige Geschwindigkeitserhöhungen vor. Damit soll die Betriebsqualität verbessert werden. Der Förderverein Dresdner Hauptbahnhof e. V. unterstützte die Sanierung und ermöglichte die Wiederherstellung einiger Details über das vom Denkmalschutz geforderte Maß hinaus. So erhielten die Uhrentürme eine Sandsteinfassade, abgebrochene Schmuckelemente bekamen ihren angestammten Platz zurück, Fenster wurden mit Bögen ausgestattet und Architrave sowie die krönende Figurengruppe aus Saxonia mit Wissenschaft und Technik wurden restauriert. Im dritten Gutachterentwurf des Deutschlandtakts sind zusätzliche Weichenverbindungen im Bahnhof geplant, damit von S-Bahn-Gleisen in Kopfgleise eingefahren werden kann. Dafür sind, zum Preisstand von 2015, Investitionen von neun Millionen Euro vorgesehen. Bauwerk Aufteilung Das Bahnhofsgebäude ist in Nordwest-Südost-Richtung ausgerichtet und teilt sich entlang seiner Längsachse in drei Bahnsteighallen mit auffälligen Bogendächern auf. Die Empfangshalle befindet sich östlich der mittleren und größten der drei Hallen, weist einen annähernd quadratischen Grundriss auf und liegt zwischen den beiden äußeren Hallen. Sie hat vor ihrem Haupteingang einen kleinen Vorplatz, der zur Bundesstraße 170 gehört. Letztere unterquert die Durchgangsgleise der beiden anderen Hallen annähernd in rechtem Winkel. Die dreigliedrige Bahnsteighalle umfasst eine Fläche von 60 Metern Breite und 186 Metern Länge. Die Eisenbogenkonstruktion des Daches ist im Mittelschiff bis zu 32 Meter hoch bei einer Spannweite von 59 Metern. In den Seitenschiffen liegen die Spannweiten bei 31 bzw. 32 Metern und einer Höhe von bis zu 19 Metern. Die Ausmaße des Daches waren zur Zeit der Dampfeisenbahnen nötig, um den Rauch der Maschinen abziehen zu lassen. Auf der anderen Seite der Bundesstraße 170 gegenüber dem Haupteingang befindet sich der Ostbau. Zwischen den durchgehenden Gleisen der Nord- und Südhalle sind hier weitere Stumpfgleise in Hochgleislage angeordnet. Diese werden überwiegend zum Abstellen kürzerer Garnituren genutzt. Zugang zum Empfangsgebäude besteht nicht nur von der repräsentativen Ostseite, sondern auch von Nord und Süd. Von diesen Seiten aus bestehen zusätzlich direkte Zugangsmöglichkeiten zum Mittelschiff unter den höher gelegenen Durchgangsgleisen hindurch. Der Eingang vom Wiener Platz zur Empfangshalle wurde bereits während des Baus ebenfalls als Haupteingang empfunden, was zu zeitgenössischer Kritik führte, da die organische Entwicklung des Baues unter der Forderung zweier Haupteingänge leiden mußte, deren einer mehr architektonisch-ideale Bedeutung hat, während der andere dem Bedürfnisse entspricht. Im Nordwesten liegt der im Stil des Neobarock errichtete Königspavillon. Ursprünglich diente er zum Empfang von Staatsgästen im Königreich Sachsen. Nach Ende der Monarchie befand sich dort ein Fahrkartenschalter, bevor er im Dritten Reich erneut Funktions- und Würdenträgern vorbehalten war. Nach dem Zweiten Weltkrieg beherbergte der Königspavillon seit 1950 das „Kino im Hauptbahnhof“ mit über 170 Plätzen. Zum 31. Dezember 2000 kündigte die Bahn dem Betreiber, seitdem ist der Pavillon ungenutzt. Während der energetischen Sanierung im Jahr 2010 wurde die Fassade des Königspavillons instand gesetzt, neue Fenster eingesetzt und ein neues Dach aufgesetzt. Mittlerweile ist der Königspavillon als zusätzlicher Eingang in den Hauptbahnhof geöffnet worden und bietet einen direkten Zugang zu den Bahnsteigen 12, 13 und 14 von nordwestlicher Seite. Im Königspavillon selbst soll Raum für Kulturprojekte und Kunstausstellungen sein. Ursprünglich sollten auch an den weiteren Zugängen der Nordseite Pavillons entstehen. Der Verzicht darauf führte zu Kritik von Seiten der Architekten und der Presse, da der Königspavillon nun nicht in ein harmonisches Gefüge integriert würde. Unter den Hochgleisen der Nord- und Südhalle befanden sich ursprünglich jeweils eine Gepäck-Ausgabe sowie die Betriebsdirektion und -inspektion (Nordhalle) und Räume für das Personal (Südhalle). Seit der Sanierung befinden sich Einkaufsmöglichkeiten für den Reisebedarf unterhalb des östlichen Teils der Nordhalle und eine Wartehalle mit eigenem Fundbüro sowie einer Sanitäranlage unter einem Teil der Südhalle. Der Ausbau der weiteren Räume unterhalb der Nordhalle sowie der Räume unterhalb der Südhalle ist weitgehend abgeschlossen. Bahnsteige Das Mittelschiff bildet heute einen Kopfbahnhof mit sieben Gleisen aus Richtung Nordwesten. Zunächst beherbergte es jedoch nur sechs Bahnsteiggleise. Noch vor dem Zweiten Weltkrieg wurde ein weiteres Bahnsteiggleis in die Anlage integriert, das heutige Bahnsteiggleis 11. Diesem Umbau fielen zwei Gepäckbahnsteige zum Opfer, inzwischen befindet sich nur noch zwischen den Bahnsteigen 5 und 6 ein ehemaliger Gepäckbahnsteig. Die Bahnsteiggleise des Mittelteils liegen ungefähr auf Straßenniveau; alle Durchgangsgleise verlaufen in einer zweiten Ebene 4,50 Meter darüber. Nord- und Südhalle beherbergen je drei durchgehende Bahnsteiggleise, die in südöstlicher Richtung über das Hallenende hinaus reichen. An den Bahnsteigen 1 und 2 werden diese Abschnitte auch als Bahnsteig 1a und 2a bezeichnet. Daneben beherbergt die Nordhalle außerdem ein zusätzliches Durchfahrgleis. Im Zuge der Sanierungsarbeiten seit dem Jahr 2000 wurde die Bahnsteighöhe aktuellen Maßgaben angepasst. Der Ostbau besaß ursprünglich je ein Bahnsteiggleis in Kopflage an seinen äußeren Seiten. Heute ist jedoch nur noch Gleis 4 in Nutzung. Neben baulichen Veränderungen hat sich auch das Nutzungskonzept gewandelt. Es sah ursprünglich vorwiegend Richtungsbetrieb vor. Heute herrscht dagegen Linienbetrieb vor. Die folgende Tabelle gibt eine Übersicht über die Bahnsteigeigenschaften sowie ihre ursprüngliche und heutige Nutzung. Der in den 1930er Jahren hinzugefügte Inselbahnsteig zwischen den Güterzuggleisen südlich der Südhalle besteht seit der Sanierung im neuen Jahrtausend nicht mehr und findet daher keinen Eingang in die Tabelle. Die Gleisnummerierung wurde zum 15. Dezember 2019 geändert. Seither sind die Gleise von 1 bis 14 durchgehend nummeriert. Die vorherigen Lücken 5, 7/8 und 15/16 wurden damit geschlossen. Dachkonstruktion Eine Besonderheit der sanierten Station ist das nach Entwürfen des britischen Architekten Sir Norman Foster sanierte Dach. Die bisherigen gerahmten Glasscheiben wurden durch 0,7 Millimeter dicke Glasfasermembranen, die zwischen die Hallenbögen gespannt sind, ersetzt. Die Membranen sind infolge ihres beidseitigen Teflonüberzugs von je 0,1 Millimeter Dicke selbstreinigend. Es war das erste Mal, dass ein historisches Bauwerk mit diesem neuen Material und dieser Bauweise in Verbindung gebracht wurde. Ausgelegt für eine Lebensdauer von 50 Jahren hält die Membran Zugkräften bis zu etwa 150 Kilonewton pro laufendem Meter Stand. Sie ist von eingewiesenem Personal mit einer Sicherungsausrüstung begehbar. Die transluzente Membran ist tagsüber weitgehend lichtdurchlässig und wirft nachts das Licht der Bahnhofshalle zurück; von außen erscheint die Konstruktion silberfarben. Über den Hallenbögen sind schmale Schlitze zwischen den Membranen offen gelassen, die insgesamt 67 Oberlichter bilden. Die Dachfläche ist rund 33.000 Quadratmeter (davon 29.000 Quadratmeter Glasfaser-Membran), die vom Dach überdeckte Grundfläche rund 24.500 Quadratmeter groß. Die im Wettbewerb siegreichen Architekten hoben die vergleichsweise einfache Installation, das niedrige Gewicht sowie den niedrigen Instandhaltungsaufwand (Selbstreinigung) hervor. Laut Bahnangaben ist aufgrund der „Zeltkonstruktion“ des Daches auch bei starker Sonneneinstrahlung keine Kühlung erforderlich. Die Sanierung erfolgte zwischen Februar 2001 und Juli 2006 bei laufendem Zugbetrieb. Dazu waren über den Gleisen Arbeitsbühnen von je 800 Tonnen in den beiden äußeren Hallen und mehr als 1600 Tonnen in der mittleren Halle errichtet worden. Am 15. Mai 2001 begannen Arbeiter mit der Entfernung des alten Glasdachs. Einige der alten Stahlträger und einige neue wurden als Windverband wieder zwischen die Hallenbögen eingebaut. Dann wurden Sekundärtragwerke zum Anhängen der Membranen auf den Bögen errichtet. Insgesamt wurden dabei mehr als 100.000 Schrauben, von denen ein Teil auch Niete der historischen Hallenbögen ersetzten, verbraucht. Auch eine Befahranlage wurde installiert. In der 1997 begonnenen Planung war die Vollüberdachung der oberen äußeren Bahnsteige ursprünglich enthalten, wurde aber im Jahr 2000 verworfen. Auf die Möglichkeit, die beiden äußeren Membrandächer um 200 Meter über die äußeren Bahnsteige in Richtung Osten zu verlängern, wurde bei deren Bau geachtet. Das Membrandach wurde durch Witterungseinflüsse mehrfach beschädigt. Im Winter 2010/2011 bildeten sich acht bis zu zwei Meter breite Risse. Zur Beseitigung der Schäden lief Anfang 2013 ein Rechtsstreit. Die DB und die Bank der insolventen Firma Skyspan einigten sich im November 2017 außergerichtlich. Jedes Jahr kommen weitere Schadstellen hinzu, die entweder ausgebessert oder gesichert werden. Die DB kündigte im August 2019 an, die Zeltdachmembran ab frühestens 2023 komplett auszutauschen. Der Umbau soll 2026 abgeschlossen werden. Hauptportal und Empfangsgebäude Das Hauptportal des Empfangsgebäudes ist in einen großen runden Portal-Fenster-Bogen integriert. Das Portal öffnet den wuchtigen Risalit, der die Mitte der Fassade beherrscht. Darüber befindet sich eine Statue der Saxonia, der Patronin Sachsens mit den seitlich angeordneten Allegorien von Wissenschaft und Technik. Sowohl am Portal des Empfangsgebäudes als auch an den seitlich angeordneten Uhrtürmen lässt sich der Bahnhof dem Baustil des repräsentativen Historismus des sächsischen Königreichs in Dresden zuordnen. Die Empfangshalle besteht aus zwei langgestreckten, T-förmig angeordneten Gängen, die ihren Schnittpunkt unter der großen Glaskuppel der Halle besitzen. Der Hauptgang führt zur Mittelhalle, während die Seitenschiffe über die Hallen parallel zum Querbahnsteig des Mittelschiffs erreicht werden können. Das Empfangsgebäude wurde bei der Sanierung in den Geschäfts- und Verwaltungsräumen großzügig entkernt und besitzt nunmehr weitere Glasdächer zur Belichtung. Während die Innenräume der Empfangshalle heute schlicht gestaltet sind, erschienen sie bis zur Zerstörung des Bahnhofs im Zweiten Weltkrieg sehr lebendig. Deckenmalereien und die 26 Wappen der Amtshauptmannschaften des Königreichs Sachsen in heraldischen Farben schmückten die Empfangshalle. Die Wartesäle der ersten und zweiten Klasse zierten große Wandbilder aus Porzellanfliesen, geschaffen von Prof. Julius Storm aus Meißen. Für viele Dresdner bezeichnet seit langer Zeit der Begriff „Unterm Strick“ einen bekannten Treffpunkt: genau unter der Mitte der Kuppel des Hauptbahnhofs Dresden. Vor der Sanierung hing hier, in der Mitte der Empfangshalle, ein so genannter „Strick“, bis 1945 jedenfalls eine dünne Kette, unten mit einem Ring, um eine Lüftungsklappe zu betätigen, herunter. Obwohl seit der Bahnhofssanierung 2000 nichts mehr herabhängt, wird heute noch dieser Ort von vielen Dresdnern mit der alten Bezeichnung als Treffpunkt vereinbart. Heute befindet sich ein rundes, in der Höhe bewegliches ETFE-Folienkissen von 15 Metern Durchmesser an dieser Stelle des Daches. Es dient im Wesentlichen zur Regulierung der Belüftung. Im Obergeschoss der Station steht seit September 2006 eine DB Lounge für Fahrgäste der ersten Klasse und Vielfahrer zur Verfügung. Auch im Empfangsgebäude befinden sich Einkaufsmöglichkeiten für Reisebedarf. Die vermietete Verkaufsfläche von 3.969 Quadratmetern verteilt sich zusätzlich auf die Räume unterhalb der Hochgleise der Südhalle; verglichen mit anderen Großstadtbahnhöfen ist sie gering. Funktion des Verkehrsbauwerks Der Hauptbahnhof ist ein wichtiger Verkehrsknotenpunkt in Dresden, der verschiedene Verkehrsträger verknüpft. Er markiert nicht nur den Zugang zum Eisenbahnnetz, sondern auch einen wichtigen Umsteigepunkt im öffentlichen Verkehr, eine niveaufreie Kreuzung zweier hauptrangiger Straßen sowie den Beginn der Dresdner Fußgängerzone durch die Innenstadt. Bahnstrecken und -betrieb Verbindende Bahnstrecken Der Dresdner Hauptbahnhof liegt an drei elektrifizierten zweigleisigen Hauptstrecken: Die Bahnstrecke Děčín–Dresden-Neustadt (auch Elbtalbahn) (Streckennummer 6240) durchquert den Bahnhof über die beiden seitlichen Hochgleisanlagen und verläuft Richtung Südosten. Sie stellt die Verbindung Richtung Děčín (Tetschen) bzw. Prag durch das Durchbruchstal der Elbe dar. Der Teilabschnitt bis Pirna ist für Geschwindigkeiten bis 160 km/h ausgelegt. Ab dem Bahnhofsteil Dresden Hauptbahnhof bis zum Bahnhofsteil Dresden-Neustadt Pbf verläuft parallel eine ein- bzw. zweigleisige Strecke für den Güterverkehr (Streckennummer 6241). Die Strecke zweigt zweigleisig in Dresden Hauptbahnhof ab und verläuft südlich der Südhalle. Ab dem Bahnhofsteil Dresden Mitte über die Marienbrücke bis zum Bahnhofsteil Dresden-Neustadt Pbf ist die Strecke eingleisig, wird von Personenzügen mitgenutzt und mündet eingleisig in die Strecke nach Dresden-Klotzsche. Parallel zur Elbtalbahn verläuft die S-Bahn-Strecke Pirna–Coswig (Streckennummer 6239); sie führt durch die Nordhalle des Hauptbahnhofs Dresden. Die Bahnstrecke Dresden–Werdau (Streckennummer 6258) beginnt im Hauptbahnhof und zweigt im westlichen Vorfeld niveaufrei ab. Sie stellt den ersten Abschnitt der Sachsen-Franken-Magistrale über Chemnitz, Zwickau und Hof nach Nürnberg dar. Über das Gleisdreieck zwischen Dresden Freiberger Straße und Dresden Mitte ist der Hauptbahnhof außerdem mit der Bahnstrecke nach Berlin verbunden sowie über Dresden-Neustadt mit der Bahnstrecke nach Leipzig und der Bahnstrecke nach Görlitz. Bahnhofsteile Mit der Inbetriebnahme der elektronischen Stellwerke im Knoten Dresden änderten sich die Bahnhofsgrenzen in Dresden. Aus mehreren Bahnhöfen mit sicherungstechnischen Einrichtungen der „freien Strecke“ zu den benachbarten Bahnhöfen wurden Bahnhofsteile mit Bahnhofsgleisen zu den benachbarten Bahnhofsteilen. Der Bahnhofsteil Dresden Hbf ist dabei Bestandteil der Betriebsstelle Dresden (DDRE), die aus folgenden Bahnhofsteilen besteht: Dresden Hbf Dresden-Altstadt Dresden Freiberger Straße Dresden Freiberger Straße Bahnsteig Dresden Mitte Dresden-Neustadt Pbf Dresden-Neustadt Gbf Sämtliche einmündenden Strecken haben Einfahrsignale nach Dresden, auch am Gegengleis. Damit hat die Betriebsstelle Dresden insgesamt 15 Einfahrsignale. Als Besonderheit hat die Strecke nach Dresden-Friedrichstadt sich überlappende Bahnhofsbereiche. Die Einfahrsignale stehen dabei jeweils so, dass sich eine fiktive freie Strecke von negativer Länge ergibt. Im Bahnhof stehen alle Signale rechts vom Gleis, was normal ist. Eine Besonderheit ist jedoch, dass die Strecken nach Pirna und Coswig diese Regelung ebenfalls anwenden, sodass die Unterscheidung zwischen Bahnhof und freier Strecke erschwert wird. Begründet wird dies mit der besseren Sichtbarkeit der Signale, wenn bei zwei zweigleisigen Strecken nebeneinander sonst Zuordnungsprobleme auftreten könnten. Bahnbetrieb In Dresden kreuzen sich zwei Ferneisenbahnkorridore. Neben der für den Fernreiseverkehr wichtigen Trasse nach Leipzig besteht außerdem der Nord-Süd-Korridor von Berlin über Dresden und Prag nach Wien. Ein dritter Korridor von Nürnberg nach Breslau hat in Deutschland und Polen an Bedeutung verloren und wird nicht mehr im Fernverkehr bedient. Die Reisezeiten ab Dresden betragen nach Leipzig (120 km) 65 Minuten, mit Zwischenhalten in Dresden-Neustadt und Riesa; entsprechend 110 km/h Reisegeschwindigkeit; Berlin (Hauptbahnhof, tief) (182 km) 124 Minuten, mit Zwischenhalten in (einzelne Züge: Dresden-Neustadt, Elsterwerda) und Berlin-Südkreuz; entsprechend 88 km/h Reisegeschwindigkeit; Prag (Holešovice) (191 km) 126 Minuten, mit Zwischenhalten in Bad Schandau, Děčín und Ústí nad Labem; entsprechend 90 km/h Reisegeschwindigkeit. In den Planungen der Europäischen Union ist der Hauptbahnhof Ausgangspunkt der „Paneuropäischen Verkehrskorridore III und IV“ nach Kiew beziehungsweise Südosteuropa. Im Nachtverkehr bediente der EuroNight Metropol noch bis einschließlich 9. Dezember 2017 die Relation Berlin – Budapest/Wien. Bis Fahrplanwechsel 2016/2017 bedienten der CityNightLine Canopus (Prag – Zürich) und der CityNightLine Kopernikus (Prag – Köln) den Dresdner Hauptbahnhof. Diese beiden Nachtzüge wurden aus Prag kommend hier getrennt. Seit Anfang 2022 ist der Dresdener Hauptbahnhof in das Express Rail System der Deutschen Lufthansa eingebunden. Fernverkehr Zwischen Riesa und Dresden gilt in Fernzügen die Freifahrt für Schwerbehinderte, auch bei Nutzung einer Wochen- oder Monatskarte des VVO. Regionalverkehr S-Bahn Verkehrsaufkommen Täglich benutzen rund 64.500 Reisende den Bahnhof (Stand 2018). Es gibt 530 Zughalte. Im Personenverkehr wird er von DB Fernverkehr, DB Regio (Südost), der Bayerischen Oberlandbahn (Markenname „Mitteldeutsche Regiobahn“) und Der Länderbahn (Markenname „Trilex“) angefahren. Zusätzlich passieren täglich etwa 200 Güterzüge verschiedener Eisenbahnverkehrsunternehmen den Bahnhof. Häufigstes direktes Ziel außerhalb des S-Bahn-Raums ist Leipzig mit täglich bis zu 32 Verbindungen. Weitere häufige Fernverkehrsziele sind Berlin, Hamburg, Frankfurt am Main, Wiesbaden und Prag. Die Sachsen-Franken-Magistrale über Chemnitz und durch das Vogtland nach Nürnberg hat in den letzten Jahren trotz Ausbaus der Strecken im Fernverkehr an Bedeutung verloren und wird derzeit nur noch im Regionalverkehr bedient. Eine Wiederaufnahme des Fernverkehrs zumindest zwischen Dresden und Chemnitz befindet sich mit Stand 2021 in Diskussion. Die Zahl der Direktverbindungen entspricht der eines Bahnhofes mit überregionaler Bedeutung als Umsteigebahnhof. Er gehört zu den 21 Bahnhöfen der höchsten Kategorie der DB Station&Service. Verkehrsanbindung Öffentlicher Verkehr Der Hauptbahnhof ist dominierender innerstädtischer Anlaufpunkt für den überregionalen öffentlichen Verkehr. Von Beginn an bezogen ihn die Dresdner Verkehrsbetriebe beziehungsweise ihre Vorgängerorganisationen in ihr städtisches Straßenbahnnetz ein. Heute markiert er zusammen mit Postplatz, Albertplatz und Pirnaischen Platz einen der vier großen Straßenbahnknotenpunkte. Die erste Kraftomnibuslinie Dresdens verkehrte ab April 1914 ebenso über den Hauptbahnhof wie die Überland-Linienbusse der Kraftverkehrsgesellschaft Freistaat Sachsen (KVG) von 1919 bis zum Ende des Zweiten Weltkriegs. Straßenbahnhaltestellen befinden sich auf dem Bahnhofsvorplatz zur B170 hin sowie auf dem Wiener Platz. Die Wegstrecke vom Mittelschiff hin zu den Straßenbahnhaltestellen beträgt je etwa 100 Meter. Der Übergang ist von den Kopfbahnsteigen aus ebenerdig. Ebenfalls dem Empfangsgebäude vorgelagert ist die Bushaltestelle, an der neben Stadtbuslinien auch Regionalbusse verkehren. Im Rahmen der weiteren Sanierung soll ein neuer Zentraler Omnibusbahnhof (ZOB) am westlichen Ende des Wiener Platzes entstehen. Busreisende sollen dann den Bahnhofszugang durch den Königspavillon nutzen können. Am Bahnhof halten regulär vier Straßenbahnlinien (3, 7, 8, 10), eine Stadtbuslinie (66) und mehrere Regionalbuslinien des Regionalverkehrs Sächsische Schweiz-Osterzgebirge sowie weitere überregionale Verkehrsunternehmen. Neben Zielen im Umland Dresdens werden u. a. Linien nach Annaberg-Buchholz, Olbernhau und Mittweida bedient, direkt erreichbar ist auch das tschechische Teplice. Darüber hinaus halten die zwei Straßenbahnlinien 9 und 11 an der Haltestelle Hauptbahnhof Nord, die etwa 150 Meter nordöstlich der Station liegt. In der Bayerischen Straße südlich des Hauptbahnhofs befinden sich die Haltestellen diverser Fernbuslinien. Nach Fertigstellung des geplanten ZOB soll dieser von allen Regional- und Fernbuslinien bedient werden. Individualverkehr Anfahrten mit dem PKW mit Haltemöglichkeit sind in der Nähe der Eingänge auf der Südseite des Bahnhofs vorgesehen. Eine Tiefgarage mit 350 Stellplätzen befindet sich unter dem Wiener Platz direkt vor den Nordeingängen des Bahnhofs. Sie wird über den Straßentunnel unter dem Platz in östlicher Fahrtrichtung erreicht. Weiteren Parkraum gibt es in Tiefgaragen und Parkhäusern entlang der Prager Straße sowie südlich des Bahnhofs. Auszeichnungen Der sanierte Dresdner Hauptbahnhof erhielt 2007 den Renault Traffic Future Award für besondere Verkehrsarchitektur. Darüber hinaus erreichte das Architekturbüro Foster und Partner im selben Jahr einen zweiten Platz bei der Vergabe des Stirling-Preises und im Jahr 2008 wurde das neue Hallendach mit dem Brunel Award, einem Preis für Eisenbahndesign, ausgezeichnet. Im August 2014 erhielt der Bahnhof von der Allianz pro Schiene den Titel Bahnhof des Jahres in der Kategorie Großstadtbahnhof. Damit würdigte die Jury den Bahnhof als „Denkmal einer lichten, beschwingten Leichtigkeit“. Weblinks Deutsche Bahn AG: Dresden Hauptbahnhof auf bahnhof.de mit Lageplan (PDF; 0,96 MB) , DB Netz AG Lageplan der Geschäfte auf einkaufsbahnhof.de (Werbegemeinschaft Hauptbahnhof), c/o DB Station&Service AG Andere: Darstellung der Gleisanlagen auf der OpenRailwayMap. Der Dresdner Hauptbahnhof im Stadtwiki Dresden Hintergrundinformationen zum Umbau des Hauptbahnhofs bei Das neue Dresden Projektbeschreibung des Architekturbüros Foster + Partners Literatur Ein Zelt für Züge – Der Dresdner Hauptbahnhof 2006. Broschüre der Deutschen Bahn AG, Kommunikationsbüro Leipzig, November 2006. Kurt Kaiß und Matthias Hengst: Dresdens Eisenbahn: 1894–1994. Alba Publikation, Düsseldorf 1994. ISBN 3-87094-350-5. Peter Reichler: Dresden Hauptbahnhof. 150 Jahre Bahnhof in der Altstadt. Bufe-Fachbuch-Verlag, Egglham 1998. ISBN 3-922138-64-0. Manfred Berger und Manfred Weisbrod: Über 150 Jahre Dresdener Bahnhöfe. Eisenbahn Journal special 6/91. ISBN 3-922404-27-8. Verkehrsmuseum Dresden: Hundert Jahre Dresdner Hauptbahnhof 1898–1998. Unimedia, Leipzig 1998. ISBN 3-932019-28-8. Christian Bedeschinski (Hrsg.): Hauptbahnhof Dresden – Das Tor zum Elbflorenz. VBN Verlag Bernd Neddermeyer, Berlin 2014. ISBN 978-3-941712-42-3. Einzelnachweise Hauptbahnhof Hauptbahnhof in Deutschland Hauptbahnhof Hauptbahnhof Hauptbahnhof Erbaut in den 1890er Jahren Ernst Giese (Architekt) Architektur von Foster + Partners Seevorstadt Bahnhof in Europa Bahnstrecke Děčín–Dresden-Neustadt Bahnstrecke Berlin–Dresden
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https://de.wikipedia.org/wiki/Fairchild%20Channel%20F
Fairchild Channel F
Fairchild Channel F ist eine Videospielkonsole des US-amerikanischen Herstellers Fairchild Camera and Instrument Corporation zum Anschluss an einen Fernseher. Sie basiert auf Fairchilds Mikroprozessorsystem F8 und kam 1976 in den Handel. Die Technologie der Konsole wurde an zahlreiche europäische Hersteller lizenziert. Allein in Westdeutschland produzierten mit SABA, ITT Schaub-Lorenz und Nordmende gleich drei größere Hersteller ihre eigenen Varianten: SABA Videoplay, ITT Telematch Processor und Nordmende Color TelePlay. Mit Fairchilds Gerät verfügte erstmals eine Videospielkonsole über einen programmierbaren Mikroprozessor und austauschbare ROM-Steckmodule. Mit dem Joystick zur Steuerung kam eine weitere Innovation hinzu. Die Leistungsfähigkeit und die Spieleauswahl war jedoch beschränkt, so dass sie mit anderen Geräten derselben Generation – insbesondere mit dem Atari VCS 2600 – trotz eines geringeren Preises nicht konkurrieren konnte. Nachdem die überarbeitete Version Channel F System II ebenfalls gescheitert war, gab Fairchild 1979 seinen Ausstieg aus dem Videospielegeschäft bekannt. Sämtliche Restbestände und technisches Know-how veräußerte Fairchild an Zircon International. Insgesamt wurden mindestens 350.000 Konsolen verkauft. Nach übereinstimmender Meinung vieler Autoren revolutionierte Fairchilds kaum bekannte Konsole die Videospielbranche sowohl in technischer und wirtschaftlicher als auch kultureller Hinsicht. Geschichte 1972 erschien mit der Odyssey von Magnavox die erste Videospielkonsole. Nur zwei Jahre später begannen verschiedene Unternehmen mit den Entwicklungsarbeiten für eine neue Konsolengeneration. Im Gegensatz beispielsweise zur Odyssey mit ihren festverdrahteten diskreten elektronischen Baugruppen sollten diese Geräte über einen Mikroprozessor verfügen und damit programmierbar sein. Den ersten funktionstüchtigen Prototypen dieser neuen Konsolengeneration konstruierte 1974 das US-amerikanische Unternehmen Alpex Computer Corporation. Ihr Gerät Remote Access Video Entertainment oder kurz Raven basierte auf dem ebenfalls 1974 erschienenen Mikroprozessor Intel 8080. Ein Spiel wurde nun nicht mehr durch fest verlötete Transistoren und Logikgatter, sondern durch Programmanweisungen realisiert, die der Mikroprozessor aus einem Speichermedium las und abarbeitete. Auf ein und derselben Konsole konnten damit erstmals verschiedene – auch zukünftig zu erstellende – Spiele ausgeführt werden. Ihr Austausch erforderte lediglich den Austausch des entsprechenden Speichermediums. Alpex wählte dafür robusten Festwertspeicher in Form von elektronischen EPROM-Bausteinen, die auf steckbaren und damit auswechselbaren Platinen verbaut werden konnten. Die Abmessungen und Kosten einer solchen Platine waren im Vergleich zu der in ihrer Gesamtheit auszutauschenden Konsole der alten Generation zudem sehr viel geringer. Durch diese Wandlung von Hard- zu Software eröffneten sich für die Vermarktung von Videospielen völlig neue Möglichkeiten. Entwicklung Auf der Suche nach finanzkräftigen Lizenznehmern stellte Alpex sein patentiertes Gerät nebst zweier Spiele Tennis und Hockey im Jahr 1975 auch dem US-amerikanischen Unternehmen Fairchild Camera and Instrument Corp. vor. Fairchild zeigte sich interessiert, bestand jedoch darauf, die Konsole mit einem Mikroprozessor aus seiner eigenen Halbleitersparte auszurüsten. Die Leitung einer entsprechenden Machbarkeitsstudie mit dem Codenamen Stratos übertrug Fairchild seinem Ingenieur Gerald A. Lawson, der bereits über Erfahrungen mit Arcadeautomaten verfügte. In Zusammenarbeit mit den Konstrukteuren von Alpex modifizierte Lawson und sein Entwicklerteam die Raven-Konsole und ersetzte Intels 8080-System durch Fairchilds Mikroprozessorchipsatz F8. Zudem entfiel die ursprünglich von Alpex vorgesehene Tastatur zugunsten eines von Lawson erdachten neuartigen Bediengeräts. Dieser 8-Wege-Joystick verfügte über wesentlich mehr Steuerungsoptionen als die bis dahin in Konsolen eingesetzten Drehregler. Eine abschließende Einschätzung der im Projekt Stratos gewonnenen Erkenntnisse, die auch eine Studie zur Gehäusegestaltung von Nicholas F. Talesfore enthielt, wurde der Firmenleitung am 26. November 1975 vorgestellt. Auch angesichts der ebenfalls vorgelegten prognostizierten Verkaufszahlen beschloss Fairchild kurz darauf den Bau des Video Entertainment System. Als eine der großen Herausforderungen bei der Überführung in die Produktionsreife erwies sich die Miniaturisierung der elektronischen Komponenten. Technisches Neuland stellte auch die Anfang 1976 begonnene Konstruktion eines sicheren und bedienungsfreundlichen Wechselsystems für die Spieleplatinen dar. Als ebenso schwierig erwies sich die alltagstaugliche Umsetzung des von Lawson vorgeschlagenen Joysticks. Letzte Arbeiten schlossen die Konstrukteure im August 1976 ab und ließen sich anschließend das Gerät mit all seinen neuartigen Komponenten patentieren. Die meisten der technischen Lösungen gehen dabei auf den Maschinenbauingenieur Ronald A. Smith zurück, die Formgebung der Konsolenkomponenten auf den Industriedesigner Nicholas F. Talesfore. Der Abnahmetest zur elektromagnetischen Verträglichkeit durch die US-amerikanische Federal Communications Commission (FCC) wurde im Oktober erfolgreich absolviert – eine maßgebliche Voraussetzung zum Marktzugang des Gerätes in Nordamerika. Vermarktung Vorstellung und Lieferschwierigkeiten Noch während der Entwicklungsarbeiten stellte Fairchild seine Konsole im Juni 1976 auf der damals weltgrößten Unterhaltungselektronikmesse, der Consumer Electronics Show, in Chicago der Weltöffentlichkeit vor. Allerdings handelte es sich dabei um eine bloße Schauattrappe ohne jegliche Funktionalität, so dass das Interesse daran gering ausfiel. Erstes größeres nationales Aufsehen erregte Fairchilds neues Gerät im Juli durch einen Bericht in der auflagenstarken US-Zeitung Business Week, die der Konsole eine Vorreiterrolle im aufkommenden Zeitalter der Mikroprozessoren zubilligte. Die möglicherweise schon zuvor gestartete Vermarktungskampagne oblag der Werbeagentur Peter Chope and Associates. Auf deren Anraten änderte der Hersteller den Konsolennamen in Channel Fun oder kurz Channel F. Bereits auf der Third Pennsylvania Hi Fi/Stereo Expo, die am 18. und 19. Oktober stattfand, stellte Fairchild seine Konsole unter dem neuen Namen vor. Der Hersteller kündigte die Auslieferung erster Geräte für Anfang November 1976 an, der unverbindliche Verkaufspreis sollte 149,95 US-Dollar betragen. Nach dem Verkaufsstart trugen aus unbekannten Gründen nur die Umverpackungen und die Spiele die neue Bezeichnung Channel F. Das Typenschild wies die Konsole dagegen noch als Video Entertainment System aus; ein Umstand, der sich auch später nicht mehr ändern sollte. Eine verkaufsbegleitende Werbebroschüre von 1976 offerierte die Konsole als „wahrhaftes Unterhaltungssystem“ für alle Altersgruppen und Familienmitglieder, denn die neue Steckmodultechnik biete jedem das passende Lern- oder Spielerlebnis. Durch den ebenfalls angekündigten monatlichen Steckmodulnachschub – bei Verkaufsstart waren lediglich drei verschiedene Spiele erhältlich – würde das heimische Fernsehgerät niemals langweilig und das Fernsehzimmer „im Handumdrehen“ in eine Freizeitzentrale verwandelt werden. Die von der FCC vorgeschriebenen individuellen und damit zeitaufwendigen Abnahmen jeder einzelnen Konsole und jedes einzelnen Steckmoduls indes machten eine Auslieferung des Geräts in der nachgefragten Menge unmöglich. Zum Weihnachtsgeschäft 1976 gelangte daher nur ein vergleichsweise kleines Kontingent in den Handel. Die Konsole mit ihren beiden fest eingebauten Spielen Tennis und Hockey kostete Ende 1976 bei der US-amerikanischen Kaufhauskette J. C. Penney 169,95 US-Dollar. Die separat verkauften Spielmodule konnten beim selben Anbieter für 19,95 US-Dollar erworben werden. Lizenzgeschäft in Europa und Dedicated Console Crash 1977 Nach dem US-amerikanischen Verkaufsstart, der von einigen Publikationen auch mit August 1976 angegeben wird, stellte Fairchild seine neue Konsole in Europa vor. Ende November 1976 war das „Fairchild-TV-Spiel“ beispielsweise auf der Technikmesse electronica, die in München stattfand, zu sehen. Als einer der ersten Lizenznehmer kündigte der Schwarzwälder Rundfunkgerätehersteller SABA im April 1977 eine für den deutschen Markt bestimmte Version der Konsole an. Dieser SABA Videoplay genannte Nachbau wurde zusammen mit acht Spielmodulen erstmals im August 1977 auf der Internationalen Funkausstellung in Berlin einem größeren Publikum vorgestellt. SABAs Produktkatalog von 1977 pries das Gerät mit seinen „Videocart-Cassetten“ als „das neue Unterhaltungssystem für die ganze Familie“ und als „ein ganz neues System für aktives Fernsehen“ an. Denn gegenüber „allen bereits auf dem Markt befindlichen Spielen“ hätte es den entscheidenden Vorteil, durch neue Spiele „laufend“ erweitert werden zu können. Für die Produktwerbung bemühte SABA Printmedien wie etwa das Lifestyle-Magazin Playboy und die auf Kinder zugeschnittene Fernsehzeitschrift Siehste. Das Gerät kam Ende 1977 in den Versand- und Einzelhandel und kostete etwa 500 DM, die Spiele jeweils ca. 50 DM. In anderen europäischen Ländern war Fairchilds Konsole unter den Namen Barco Challenger (Belgien), Emerson Videoplay (Italien, Preis Ende 1978 320.000 Lira), Dumont Videoplay (Italien) und Luxor Video Entertainment Computer (Schweden) erhältlich. In vermutlich nur sehr geringer Auflage erschien die Konsole auch in Japan, dort – wie in Nordamerika auch – unter der Bezeichnung Channel F. Marubeni Housing Equipment Sales bot sie 1977 für 128.000 Yen und die Module für jeweils 9.800 Yen an. Während das Lizenzgeschäft in Europa anlief, wurde der Videospielemarkt in den USA zunehmend mit Konsolen älterer Bauart überflutet. Viele Hersteller mussten wegen des Überangebots ihre Geräte zu Preisen anbieten, die teilweise unterhalb der Herstellungskosten lagen. Zu diesem ruinösen Preisverfall, dem Dedicated Console Crash 1977, kam Ende des Jahres mit Erscheinen des technisch überlegenen Atari VCS 2600 zudem noch ein direkter Konkurrent für Fairchilds Channel F in den Handel. Ataris neue Konsole war zwar teurer und verfügte Ende 1977 lediglich über neun Spieletitel, doch konnte Atari dafür mit Umsetzungen beliebter Arcadeautomaten aufwarten. Obwohl Fairchild sein Spieleangebot auf insgesamt 17 Titel ausgebaut hatte, verfiel der Preis ihrer mittlerweile veralteten Konsole zusehends. Auch J. C. Penney senkte bis zum Januar 1978 seinen Verkaufspreis – auf 99,99 US-Dollar. Anfang 1978 hatte Fairchild etwa 250.000 Geräte verkauft und für 1978 die Herstellung von weiteren 200.000 Konsolen geplant. Channel F System II und Übernahme durch Zircon International Angesichts der sich zuspitzenden Konkurrenzsituation überarbeitete Fairchild 1978 seine Konsole, um besser mit dem Atari VCS 2600 mithalten zu können. Das Channel F System II erhielt ein eleganteres Gehäuse mit steckbaren Joysticks und kostengünstigere Elektronikbaugruppen. Im Juni konnte das neue Gerät auf der Consumer Electronics Show besichtigt werden. Im Rahmen der sich ab November anschließenden Werbeoffensive engagierte man den bekannten US-Schauspieler Milton Berle als Markenbotschafter, um die Verkaufszahlen durch humorvolle Zeitungsanzeigen und TV-Werbespots zu steigern. 1978 erschienen mit dem ITT Telematch Processor und dem Nordmende Color TelePlay μP zwei Konsolenvarianten deutscher Lizenznehmer, die auf Fairchilds revisioniertem Gerät basierten. In seinem Gesamtprogramm von 1978/79 betonte ITT Schaub-Lorenz in der Produktbeschreibung, dass für ein „begeisterndes und variationsreiches Lehr- und Unterhaltungsmedium“ „modernste Mikroprozessortechnik“ eingesetzt werde. Der Unterhaltungselektronikhersteller Nordmende hob in seinem Produktkatalog von 1978/79 vor allem die Vielseitigkeit und den Unterhaltungswert seiner Konsole hervor: „Viel mehr als nur Spielerei: Nordmende TelePlay μP – mit einem vielseitigen Mikro-Prozessor, mit dem man spielen und spielend lernen kann“ und „Wenn das Fernsehenprogramm zum Gähnen ist – TelePlay-Kassette einlegen und auf dem Bildschirm wird’s spannend“. Der ITT Telematch Processor kostete Anfang 1979 etwa 490 DM, die Spiele jeweils 48 DM. SABA veröffentlichte mit dem SABA Videoplay 2 eine aktualisierte Version seiner Konsole, die ebenfalls alle Neuerungen von Fairchild enthielt. In anderen europäischen Ländern boten Ingelen (Telematch Processor, Österreich), Luxor (Luxor Video Entertainment Computer, Schweden) und Adam Imports (Adman Grandstand Video Entertainment Computer, 1978, Großbritannien) Lizenzversionen des System II an. Die überholte Konsole mit einem Preis von 125 bis 150 US-Dollar wurde jedoch – vor allem im umsatzstarken Weihnachtsgeschäft 1978 – von den potentiellen Käufern in Nordamerika nicht angenommen. Fairchild gab daraufhin Anfang 1979 sein Engagement im Videokonsolenbereich auf. Restbestände und sämtliches technisches Know-how übernahm das in den USA ansässige Unternehmen Zircon International Inc. Bis zu diesem Zeitpunkt hatte Fairchild laut dem Journalisten Benj Edwards etwa 350.000 Konsolen verkaufen können. Die US-amerikanische Zeitschrift Videogaming Illustrated nennt dagegen 400.000 Geräte. Technische Details Im vorderen Teil des gestuften Plastikgehäuses befindet sich der Aufnahmeschacht für das Steckmodul und ein Tastenpult zur Steuerung des Geräts. Die fest mit dem Gerät verbundenen Joysticks können nach Gebrauch in einer abdeckbaren Gehäusemulde verstaut werden. Das Netzteil und alle elektronischen Komponenten sind im Gehäuseinneren verbaut. Fairchild Channel F mit Joysticks. Zum Identifizieren der einzelnen Komponenten diese mit dem Mauszeiger überfahren und für weitere Informationen ggf. anklicken. Hauptprozessor, Speicher und Systemsoftware Die Spielkonsole basiert auf dem 8-Bit-Mikroprozessor Fairchild 3850. Im Allgemeinen bildet er die zentrale Komponente (CPU) eines Verbunds von weiteren aufeinander abgestimmten Beschaltungsbausteinen, des Mikroprozessorsystems F8. Allerdings sind in Fairchilds Konsole wegen ihrer gewollt einfach gehaltenen Architektur neben dem 3850 lediglich die Festwertspeicher des F8-Systems verbaut. Die CPU dieser einfachsten aller Konfigurationen kann auf einen Adressraum von 65536 Byte zugreifen, was auch die theoretisch mögliche Obergrenze des Arbeitsspeichers von 64 Kilobytes (KB) festlegt. Der Systemtakt in Fairchilds Konsole beträgt 1,8 MHz, bei den in Lizenz produzierten europäischen PAL-Varianten dagegen 2 MHz. Im Gegensatz zu anderen zeitgenössischen Mikroprozessorensystemen wie etwa denen von Intel oder von MOS Technology basiert die Kommunikation der Bestandteile von Fairchilds F8-System auf einer besonderen Technik. Dadurch kann die CPU in ihrem 40-poligen Gehäuse Ein-/Ausgabeoperationen selbst abwickeln und sie beinhaltet zudem 64 Byte Arbeitsspeicher (scratchpad RAM), die für viele zeitgenössische Anwendungen völlig ausreichend waren. Damit entfielen zusätzliche elektronische Bausteine wie beispielsweise für die Ein- und Ausgabe, was wiederum zu einer Kosten- und Platzersparnis führte. Diese Vorteile wurden allerdings um den Preis einer vergleichsweise anspruchsvollen Programmierung des Systems erkauft. Neben den 64 Byte RAM der CPU verfügt die Konsole über weitere 2 KB Video-RAM. Er dient als Framebuffer für die Bildinhalte und ist anderweitig nicht nutzbar. Sollte der von der Konsole bereitgestellte Arbeitsspeicher nicht ausreichen, lässt sich weiterer durch entsprechend konstruierte Steckmodule nachrüsten. Beispielsweise enthält das von SABA produzierte Spiel Schach 2 KB frei verwendbaren Arbeitsspeicher, um die Tiefe der von der Konsole berechneten Spielzüge erhöhen zu können. Unmittelbar nach dem Einschalten des Geräts wird die im Festwertspeicher hinterlegte Systemsoftware (BIOS) aktiviert und die Konsole initialisiert. Ist kein Spielmodul eingesteckt, kann der Benutzer eines der beiden eingebauten Spiele Hockey oder Tennis per Tastenpult starten. Weitere Tasten erlauben in Zusammenarbeit mit dem BIOS das Pausieren oder Verlängern eines Spiels. Das Betriebssystem stellt zudem einige in Spielen häufig benötigte Unterprogramme beispielsweise zum Löschen des Bildschirms und für eine vereinfachte Speicherverwaltung bereit. Darüber hinaus sind auch Zeichenmuster für Ziffern enthalten, die von eingesteckten Spielmodulen abgerufen und auf dem Bildschirm dargestellt werden können. Grafik- und Tonerzeugung Mit der Konsole können insgesamt 64 Bildzeilen zu jeweils 128 Bildpunkten am Fernsehgerät ausgegeben werden. Allerdings ist es nicht sinnvoll, alle Bildpunkte auch zu nutzen, weil es durch die Wölbung zeitgenössischer Bildröhren zu störenden Verzerrungen in deren Randbereich kommt. Aus diesem Grund unterstützt die Systemsoftware der Konsole lediglich einen kleineren Anzeigebereich. Fairchild wählte für diesen rechteckigen Ausschnitt die Größe von 102 horizontalen und 58 vertikalen Bildpunkten. Jedem der Bildpunkte lässt sich eine der acht möglichen Farben zuordnen, wobei pro Zeile höchstens vier Farben gleichzeitig dargestellt werden können. Die grafischen Inhalte werden vom Hauptprozessor zunächst im Video-RAM hinterlegt. Das eigentliche Fernsehbild wird dann durch eine Grafikbaugruppe nebst nachgeschaltetem HF-Modulator aus den Daten im Video-RAM erzeugt. Fairchilds Konsole verfügt dabei über keinen hochintegrierten Grafikbaustein wie etwa Ataris Gerät mit seinem Television Interface Adapter. Vielmehr besteht die Grafikbaugruppe aus elektronischen Standardbauelementen. Ebenso einfach umgesetzt ist die Tonerzeugung. Es sind lediglich Töne in drei verschiedenen Frequenzen über einen in der Konsole eingebauten Lautsprecher abspielbar. Joysticks, Bedienpult und Steckmodule Fairchild selbst bezeichnet in seiner Patentschrift die Bedienelemente der Konsole als „hand controller“, in deren Gehäuse ein beweglich gelagerter „joy stick“ mit aufgesetztem dreieckigem Kontrollknauf eingelassen ist. Der Plastikstab mit dem darauf montierten Knauf kann in acht Richtungen bewegt werden, im Gegensatz zu den Drehreglern der Konsolen älterer Bauart. Zudem lässt er sich in zwei Richtungen etwa fünf Grad drehen, herausziehen, aber auch durch Druck versenken. Da kein gesonderter Feuerknopf vorhanden ist, wurde stattdessen die Druckmöglichkeit des Knaufes beispielsweise zum Schießen von Bällen verwendet. Die Zugfunktion diente dagegen häufig zum Starten und Rücksetzen von Spielen. Es existieren zwei verschiedene Bauarten des Joysticks, die sich hauptsächlich in der Form des Knaufs und der Form des Gehäuses unterscheiden. Bei der revisionierten Variante ist der Knauf nun viereckig und das Gehäuse in „Pilotengriff-Form“ ergonomischer gestaltet. Die auch Cartridge genannten Speichermedien enthalten jeweils eine Platine mit Kontaktzungen, die durch eine bewegliche Plastikabschirmung geschützt werden. Die Plastikabschirmung verhindert zudem unerwünschte elektrostatische Entladungsprozesse beim Einstecken oder Entfernen des Steckmoduls, die zu Beschädigungen an den empfindlichen elektronischen Bauelementen von Konsole und Cartridge führen können. Befindet sich ein Steckmodul in der Konsole, ist gleichzeitig die Plastikabschirmung durch einen speziellen Mechanismus zur Seite geklappt und eine leitende Verbindung mit der Elektronik im Konsoleninneren hergestellt. Damit kann der Mikroprozessor mit dem Auslesen der beiden auf der Steckmodulplatine befindlichen Festwertspeicher beginnen, deren Speicherkapazität jeweils 1 KB beträgt. Eine Ausnahme bildet die Platine des Spiels Schach. Sie enthält 6 KB Festwert- und 2 KB Arbeitsspeicher nebst spezieller Ansteuerungselektronik. Das Design der gelben Steckmodulgehäuse stammt von Nicholas F. Talesfore, die Aufkleber gestaltete der Künstler Tom Kamifuji. Spiele Mit Erscheinen der Konsole waren neben den fest verbauten Hockey und Tennis Ende 1976 bereits drei Steckmodule erhältlich. Jeder der von Fairchild und den Lizenznehmern herausgebrachten Spieletitel wurde deutlich sichtbar mit einer fortlaufenden Nummer versehen. Insgesamt produzierte Fairchild und die Nachfolgefirma Zircon International 26 verschiedene Spiele. Ausländische Lizenznehmer übernahmen einen Teil der Spiele, passten sie aber teilweise jeweiligen nationalen Erfordernissen an oder änderten die Nummerierung. Zudem kamen auch Eigenentwicklungen wie beispielsweise das von SABA hergestellte Spiel Schach auf den europäischen Markt. Auflistung der in Nordamerika und Westdeutschland erschienenen Spiele Rezeption Zeitgenössisch Noch vor Erscheinen der Konsole äußerte sich die US-amerikanische Zeitschrift Popular Electronics zu Fairchilds neuem Gerät. Die Möglichkeit, Spiele als Programm zu laden und damit wechseln zu können, mache die computerbasierte Konsole einzigartig. Dieses neue Konzept werde einen neuen Trend in der Videospielebranche setzen. Es eröffne zudem völlig neue Einsatzfelder für den heimischen Fernseher beispielsweise durch Lernspiele. Die vorstellbaren Gebrauchsmöglichkeiten seien praktisch unbegrenzt. Mit dem Video Entertainment System von Fairchild sei die „zweite Generation“ von Geräten auf den Videospielemarkt gekommen, so der Eindruck von Robert M. Bogursky in einer 1977 veröffentlichten wissenschaftlichen Studie. Er führt weiter aus, dass die mikroprozessorgesteuerte Konsole mit ihren ROM-Steckmodulen die Welt der Fernsehspiele revolutioniert habe. Es sei eine unbegrenzte Anzahl von Spielemöglichkeiten für ein und dasselbe Gerät möglich geworden. Der Buchautor Len Buckwalter schreibt ebenfalls 1977, dass das Gerät nie langweilig werden würde, so wie es noch bei den Konsolen ohne Mikroprozessor der Fall gewesen sei. Zur besseren Illustration für die damalige Leserschaft verglich er Fairchilds Konsole mit einem Schallplattenspieler, bei dem man je nach Geschmack und Interesse nur die Schallplatten auszutauschen brauche. Neben den größtenteils positiven Eindrücken benennt Buckwalter jedoch auch Mängel: Die Bewegungsabläufe in actionlastigen Spielen seien „ruckelig“ und die Controller gewöhnungsbedürftig. Es könne mit ihnen nicht „mit dem nötigen Feingefühl“ gesteuert werden, wie man es noch von den Drehreglern der älteren Konsolen kenne. Anfang 1978 betitelt John Butterfield im Starlog-Magazin das Fairchild Video Entertainment System als den „spektakulärsten Fernsehcomputer“, der als „Spielzeug“ verkauft werde. Man mutiere mit Fairchilds Konsole „ganz plötzlich“ zu einem „Fernsehfreak der nächsten Stufe“, denn nun sei es möglich, aktiv in das vom Fernseher gezeigte Geschehen einzugreifen. Im Vergleich mit dem kurz zuvor erschienenen Atari VCS 2600 sei Fairchilds Gerät in den Augen vieler Benutzer das „komplexere“ und „interessantere“ System. Retrospektiv Nachdem Fairchild sein Engagement im Videospielebereich aufgegeben hatte, spekulierte die US-amerikanische Zeitschrift Radio Electronics bereits 1982, dass es ohne die Verzögerungen bei den FCC-Abnahmen zu einer weitaus größeren Verbreitung der Konsole hätte kommen können. Auf den auch 1983 schon nur geringen Bekanntheitsgrad geht ein Bericht im Computermagazin Video Games ein, der den sprechenden Titel „Channel F: Das System, das niemand kennt“ trägt. Unbekannt sei es zwar, dennoch aber das erste Gerät seiner Art, das für einen „unendlichen Nachschub neuer Steckmodule“ ausgelegt war. Ohne diese Entwicklung sei der neueste Stand der Videospieletechnik undenkbar. Fairchilds Spiele seien 1983 zwar audiovisuell vergleichsweise primitiv, aber einige von ihnen könnten immer noch fesseln, auch wenn die zur Steuerung benötigten Joysticks durch ihre vielen Funktionalitäten schwer zu handhaben seien. Auch Jahrzehnte später wird die Konsole übereinstimmend als erste ihrer Art eingeordnet. Sie hat nach Meinung vieler Autoren zudem weitere Meilensteine in der Videospielgeschichte und -kultur gesetzt. Allerdings sei Fairchilds Gerät auch im Jahr 2012 noch weitestgehend unbekannt, was der Kommunikationswissenschaftler Zach Whalen durch die überspitzte Formulierung „Channel F for Forgotten“ prominent zum Ausdruck bringt. Neben den offensichtlichen Neuerungen wie dem Mikroprozessor und den wechselbaren Steckmodulen konnte mit der Channel F erstmals auch ein Spiel pausiert und Spieleparameter im laufenden Betrieb geändert werden. Zudem konnte ein Spieler nun gegen den Computer antreten – ein Novum in der damaligen Zeit. Die Konsolen älterer Bauart beispielsweise hätten noch einen menschlichen Gegenspieler vorausgesetzt, so der Journalist Benj Edwards im Jahr 2016. Durch die bei ihrem Erscheinen völlig neuartige Technik leide die Konsole jedoch auch an Mängeln, wie Tim Miller bereits im Jahr 2002 schrieb: Die Tonausgabe über den internen Lautsprecher sei suboptimal, der Netzschalter an der schwer zugänglichen Rückseite des Gerätes angebracht und die Joysticks seien nicht von der Konsole durch Steckverbindungen separierbar. Edwards führt im Jahr 2015 zu den Joysticks aus, dass sie trotz ihres „einmaligen Designs“ bei Spielern und Kritikern auf wenig Gegenliebe gestoßen seien, aber für die „einfachen Spiele ihrer Zeit“ völlig ausreichend gewesen wären. Die Sachbuchautoren Winnie Forster und Stephan Freundorfer bezeichnen die „schicken schwarzen Channel-F-Controller“ mit ihrem „ungewöhnlichen Design“ als „multifunktional“, wodurch sie aber auch „umständlich“ und daher „gewöhnungsbedürftig“ seien. In Hinblick auf die wirtschaftshistorische Bedeutung von Fairchilds Konsole merkt Edwards an, dass ihr Erscheinen die Entwicklung auch anderer Konsolen mit Mikroprozessoren wie Studio II von RCA Corporation und Atari VCS 2600 erheblich beschleunigt habe. Den Hauptgrund für die schnell nachlassenden Verkaufserfolge von Fairchilds Gerät sieht Whalen in der gegenüber dem Atari VCS 2600 nur beschränkten Spieleauswahl. Edwards unterstützt diese These und führt darüber hinaus aus, dass der Hersteller das Gerät lediglich als Mittel zum Zweck – für bessere Verkäufe seiner Halbleiterprodukte – auf den Markt gebracht habe. Für Atari dagegen sei stets der „Spaßfaktor“ Maxime des Handelns gewesen. Da Atari im Gegensatz zu Fairchild nicht an einen einzelnen Chiphersteller gebunden war, hätten auch die Preise sehr viel freier gestaltet werden können. Die Ursachen für das wirtschaftlich schlechte Abschneiden von Fairchilds System seien laut Edwards daher in erster Linie beim Hersteller selbst zu suchen. Mit der Einführung der mikroprozessorgesteuerten Spielkonsolengeneration habe sich das Wirtschaften nach dem Rasierklingenmodell auch in der Videospieleindustrie etablieren können. Durch den Verkauf möglichst vieler Konsolen – falls nötig, auch verlustbehaftet – versuchten die Hersteller möglichst schnell eine hohe Marktdurchdringung zu erreichen. Der eigentliche Gewinn komme mit den sich anschließenden margenstarken Verkäufen von Software, die vergleichsweise günstig herstellbar und verteilbar sei, so Edwards und der Kommunikationswissenschaftler Mark D. Crucea. Fairchilds Konsole ist ständiges Ausstellungsstück in verschiedenen Computermuseen, darunter das Computerspielemuseum Berlin und das kalifornische Computer History Museum. Weblinks Ausführliches Interview mit Gerald D. Lawson (englisch) Technische Informationen und Programmierhinweise (englisch) (englisch) mit verschiedenen Channel-F-Spielen Einzelnachweise Spielkonsole
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https://de.wikipedia.org/wiki/2003%20YN107
2003 YN107
{{SEITENTITEL:2003 YN107}} 2003 YN107 ist ein sehr kleiner erdnaher Asteroid, der am 20. Dezember 2003 durch die automatische Himmelsüberwachung LINEAR (Lincoln Near Earth Asteroid Research) entdeckt wurde. Der Durchmesser des Asteroiden beträgt nur zirka 10 bis 30 Meter. Er ist ein Erdbahnkreuzer, wird daher (nach dem namensgebenden Asteroiden Aten) als Aten-Typ klassifiziert und umkreist die Sonne auf einer der Erdbahn sehr ähnlichen, fast kreisförmigen Umlaufbahn. Eine weitere Besonderheit ist, dass seine mittlere Umlaufdauer um die Sonne ungefähr einem siderischen Jahr entspricht. Seine bemerkenswerteste Besonderheit ist jedoch, dass er sich von 1996 bis 2006 niemals weiter als 0,1 AE (ca. 15 Millionen km) von der Erde entfernte und dass er die Erde langsam einmal innerhalb eines Jahres umkreiste. 2003 YN107 war aber kein zweiter Mond der Erde, da er nicht fest an sie gebunden war. Er ist der erste bekannte Vertreter einer schon länger postulierten Gruppe von koorbitalen Objekten, den Quasisatelliten, welche diese Bahneigenschaften aufweisen. Vor 1996 befand sich 2003 YN107 in einer sogenannten Hufeisenumlaufbahn entlang der Erdbahn um die Sonne, welche der des Asteroiden 2002 AA29 sehr ähnlich war. Auch seit 2006 hält er sich wieder für einige Zeit in einer derartigen Umlaufbahn auf. Ein derartiger Orbitwechsel scheint bei diesen koorbitalen Begleitern relativ häufig zu sein, da 2002 AA29 in zirka 600 Jahren ebenfalls für einige Zeit ein Quasisatellit der Erde sein wird. Umlaufbahn Bahndaten Die Umlaufbahn von 2003 YN107 befindet sich mit einem Sonnenabstand zwischen 0,974 AE für das Perihel, den sonnennächsten Punkt, und 1,021 AE für das Aphel, den sonnenfernsten Punkt, zum größten Teil innerhalb der Erdumlaufbahn. Die Bahnen der meisten Asteroiden befinden sich hingegen im Asteroidengürtel zwischen Mars und Jupiter sowie außerhalb der Neptunbahn im Kuipergürtel. Durch Bahnstörungen der großen Gasplaneten, hauptsächlich durch Jupiter, und durch den Jarkowski-Effekt, also die Bahnänderung durch asymmetrische Ein- und Abstrahlung von Infrarotstrahlung, werden Asteroiden ins innere Sonnensystem abgelenkt, wo ihre Bahnen dann durch weitere nahe Vorbeiflüge an den inneren Planeten weiter beeinflusst werden. Bei Ablenkung von Asteroiden ins innere Sonnensystem durch Jupiter und die übrigen Planeten entstehen jedoch meist Umlaufbahnen mit hoher Exzentrizität. 2003 YN107 hat mit einer Exzentrizität von 0,021 jedoch einen ähnlich niedrigen Wert wie die Erde mit 0,0167 und hat somit eine fast kreisförmige Umlaufbahn. Es ist also weniger wahrscheinlich, dass er durch Jupiter oder einen anderen Planeten aus einer Umlaufbahn im äußeren Sonnensystem ins innere Sonnensystem geschleudert wurde. Aufgrund seiner geringen Exzentrizität wird spekuliert, dass er sich schon immer auf einer erdnahen Bahn befand und er oder ein Vorläuferkörper somit in der Nähe der Erdbahn entstand. Eine Möglichkeit wäre in diesem Fall, dass er ein abgesprengtes Bruchstück des Zusammenstoßes eines mittleren Asteroiden mit der Erde oder dem Mond sein könnte. Die mittlere Umlaufdauer von 2003 YN107 beträgt ein siderisches Jahr. Nachdem er ins innere Sonnensystem abgelenkt wurde oder auf einer Bahn in der Nähe der Erdbahn entstand, muss der Asteroid auf eine mit der Erde korrespondierende Bahn geraten sein. Auf dieser Bahn wurde er immer wieder von der Erde derart abgelenkt, dass seine eigene Umlaufdauer sich der Umlaufdauer der Erde um die Sonne anglich. Auf seiner aktuellen Umlaufbahn wird er von der Erde also stets synchron zu ihrem eigenen Umlauf gehalten. Aufgrund seiner leichten Bahnneigung von 4,3° gegen die Ekliptik (Bahnebene der Erde) ist seine Bahn jedoch nicht mit der der Erde deckungsgleich, sondern gegen die der Erde leicht geneigt. Bahnform Betrachtet man den mit der Erdbahn nahezu deckungsgleichen Orbit von 2003 YN107 vom mit der Erdbewegung um die Sonne mitbewegten Bezugssystem aus, stellt man fest, dass er – fast wie ein zweiter Mond – langsam um die Erde kreist; für einen Umlauf braucht er allerdings ein Jahr. Sein langsamer Umlauf um die Erde innerhalb eines Jahres wird durch seine leicht verschiedene Exzentrizität verursacht. Der radiale Bewegungsanteil wird direkt durch die Differenz der Exzentrizitäten zwischen Erde und 2003 YN107 verursacht, während der Bewegungsanteil längs der Erdbahn durch die leicht unterschiedliche Geschwindigkeit im Perihel und im Aphel verursacht wird. Im Perihel überholt er die Erde von innen, während er im Aphel weiter außen in Bezug auf die Erde zurückfällt. Im Laufe eines Jahres wird daraus ein kompletter Umlauf um die Erde. Da er nicht wie der Mond fest an die Erde gebunden ist, sondern hauptsächlich unter dem Gravitationseinfluss der Sonne steht, nennt man diese Körper Quasisatelliten. Dies ist in etwa analog zu zwei Autos, die nebeneinander mit gleicher Geschwindigkeit fahren und sich wechselseitig überholen, jedoch nicht fest aneinander gebunden sind. Siehe hierzu auch die nebenstehende Grafik der zukünftigen Bahn des Asteroiden 2002 AA29, welche der von 2003 YN107 ähneln wird. 2003 YN107 war seit 1996 ein Quasisatellit der Erde und blieb dies noch bis 2006. Aufgrund der Gravitation der Erde trifft er jedoch nach einem Umlauf um die Erde nicht wieder genau am Ausgangspunkt an, sondern beschreibt offene Schleifen um die Erde. So kam er der Erde am 21. Dezember 2003 mit 0,0149 AE (2,23 Millionen km) sehr nahe, was weniger als 6-mal dem Abstand Erde-Mond entspricht. Nach 2006 verließ er die Nähe der Erde und umkreist die Sonne auf einer Hufeisenumlaufbahn entlang der Erdbahn, wobei er der Erde entlang ihrer Bahn vorauseilt. Der Name Hufeisenumlaufbahn wird klar, wenn man vom mit der Erde mitbewegten Bezugsystem aus nur die Relativbewegung von 2003 YN107 betrachtet. Er beschreibt dabei entlang der Erdumlaufbahn einen großen Bogen von 360°, dessen Form an ein Hufeisen erinnert. Bei der Bewegung entlang des Erdorbits windet er sich spiralförmig um diesen, wobei er für eine Spiraldrehung ein Jahr braucht. Diese Spiralbewegung im mit der Erde mitbewegten Bezugsystem kommt durch seine leicht von der Erdbahn abweichende Exzentrizität und Bahnneigung zustande, wobei der Unterschied in der Bahnneigung für den vertikalen und derjenige der Exzentrizität für den horizontalen Anteil der projizierten Spiralbewegung verantwortlich ist. Im Jahr 2066 erreicht 2003 YN107 wieder die Erde auf der anderen Seite von hinten und kommt ihr bis auf zirka 0,026 AE (3,9 Millionen km) nahe. Er gerät wieder unter ihren Gravitationseinfluss und wird so auf eine langsamere Umlaufbahn etwas weiter weg von der Sonne gehoben. Dadurch kann er nun nicht mehr mit der Geschwindigkeit der Erde mithalten, bis diese ihn im Jahr 2120 wieder von vorn erreicht. Bei dieser erneuten Begegnung mit der Erde wird 2003 YN107 ihr allerdings sehr nahe kommen und von ihr sehr stark abgelenkt werden. Sehr wahrscheinlich wird 2003 YN107 dann von der Erde eingefangen und zu einem echten zweiten Mond der Erde. Die Berechnungen werden jedoch chaotisch, so dass man nichts Genaues über die Zeit nach 2120 sagen kann. Berechnet man die Bahn von 2003 YN107 rückwärts in der Zeit, stellt man fest, dass er sich vor 1996 ebenfalls in einer Hufeisenumlaufbahn aufhielt, wobei die Periode für ein volles Vor- und Zurückschwingen 133 Jahre betrug. Diesen Hufeisenorbit kann man bis in das Jahr 1750 zurückberechnen. 1750 kam es zu einem chaotischen Übergang zwischen Quasisatellitenorbit und Hufeisenorbit, so dass man über die Zeit vor 1750 nichts mehr aussagen kann. Physikalische Eigenschaften Über 2003 YN107 ist außer seiner Umlaufbahn recht wenig bekannt. Aus seiner geringen absoluten Helligkeit von 26,2–26,7 und einem vermuteten Albedo (Reflexionsvermögen) von 0,04–0,20 schließt man aber, dass er nur zirka 10–30 m Durchmesser hat und somit ein sehr kleiner Asteroid ist. Nur aufgrund seiner sehr erdähnlichen Bahn vermutet man, dass er ein abgesprengtes Stück von Erde oder Mond sein könnte, welches bei einem Zusammenstoß mit einem mittleren Asteroiden entstand. Ausblick Aufgrund seiner sehr erdähnlichen Bahn ist der Asteroid für Raumsonden relativ leicht erreichbar. 2003 YN107 wäre also ein geeignetes Studienobjekt zur genaueren Untersuchung des Aufbaus und der Zusammensetzung von Asteroiden und der zeitlichen Entwicklung ihrer Bahnen um die Sonne. Aufgrund seiner geringen Größe und der deshalb praktisch vollständig fehlenden Anziehungskraft werden Aufbau und Zusammensetzung dieses Himmelskörpers aber kaum durch Landemissionen bestimmbar sein. Wegen seiner Erdnähe kann man die Bahn von 2003 YN107 mittels Radarastronomie sehr genau verfolgen und vermessen. Dadurch kann man den vorhergesagten Jarkowski-Effekt, der zu einer geringfügigen Bahnänderung führt und kürzlich beim Asteroiden Golevka bestätigt wurde, schon nach relativ kurzer Zeit von wenigen Jahren feststellen und genauer überprüfen. Siehe auch Liste der Asteroiden Cruithne Literatur M. Connors, C. Veillet, R. Brasser, P. Wiegert, P. W. Chodas, S. Mikkola, K. Innanen: Horseshoe Asteroids and Quasi-satellites in Earth-like Orbits. in: 35th Lunar and Planetary Science Conference, 15.–19. März 2004. Lunar and planetary science, abstracts of papers subm. to the Lunar and Planetary Science Conference. Lunar and Planetary Institute, Abstract Nr. 1565. Johnson Space Center, League City, Texas 2004,3. (englisch, PDF; 933 kB) R. Brasser, K. A. Innanen, M. Connors, C. Veillet, P. Wiegert, Seppo Mikkola, P. W. Chodas: Transient co-orbital asteroids. in: Icarus. Elsevier, San Diego Ca 171.2004,1 (Sept), S. 102–109. (Artikel online auf dem Icarus-Server, englisch: ) D. Vokrouhlický, D. Čapek, S. R. Chesley and S. J. Ostro: Yarkovsky detection opportunities. I. Solitary asteroids. in: Icarus. Elsevier, San Diego Ca 2004. (Artikel online auf dem Icarus-Server, englisch: ) 2003 YN107
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https://de.wikipedia.org/wiki/Glantalbahn
Glantalbahn
|} Die Glantalbahn ist eine weitgehend in Rheinland-Pfalz und zu einem kleinen Teil im Saarland verlaufende, nicht elektrifizierte und inzwischen größtenteils stillgelegte Eisenbahnstrecke, die hauptsächlich entlang des Flusses Glan verläuft. Sie wurde um die Wende vom 19. zum 20. Jahrhundert in erster Linie aus strategischen Gründen gebaut. Der Streckenabschnitt Glan-Münchweiler – Altenglan entstand bereits 1868 als Teil der Bahnstrecke Landstuhl – Kusel. In den Jahren 1896 und 1897 folgte der Abschnitt Lauterecken – Odernheim – Staudernheim, zunächst als Fortsetzung der 1883 eröffneten Lautertalbahn. Die übrigen Abschnitte Homburg – Glan-Münchweiler, Altenglan – Lauterecken und Odernheim – Bad Münster wurden 1904 eröffnet. In Odernheim teilte sich die Bahnstrecke in den seit 1897 bestehenden Ast nach Staudernheim und in den nach Bad Münster. Aufgrund der dünnen Besiedlung der Region war der Verkehr außer in den beiden Weltkriegen, in denen der Strecke eine strategische Bedeutung zukam, eher gering. Nach dem Zweiten Weltkrieg wurde das zweite Gleis schrittweise demontiert. Von 1961 bis 1986 wurde der Personenverkehr auf weiten Teilen der Bahnstrecke eingestellt. Seit 1996 ist die Strecke mit Ausnahme des als Teil der Verbindung von Landstuhl nach Kusel befahrenen Abschnitts Glan-Münchweiler – Altenglan stillgelegt. Zwischen Waldmohr und Glan-Münchweiler sowie zwischen Odernheim und Bad Münster ist die Glantalbahn abgebaut. Seit Anfang 2000 bietet auf dem Abschnitt Altenglan – Staudernheim ein Draisinenverleih Draisinen für Selbstfahrer an. Geschichte Erste Initiativen (1850–1865) Obwohl die Topographie einer Bahnstrecke entlang des Glans als Verbindung der Saargegend mit der Region um Bingen förderlich gewesen wäre, erschwerte im 19. Jahrhundert die Aufteilung des Tals auf mehrere Staaten lange Zeit eine Realisierung des Projekts. So verlief die Grenze zwischen Bayern, Preußen und Hessen-Homburg im Glantal zwischen Altenglan und Staudernheim sehr unregelmäßig, was dem Bahnbau nicht entgegenkam. Erste Bemühungen für einen Bahnanschluss des Glantals gingen bis ins Jahr 1856 zurück. Im Zuge der Planungen der Rhein-Nahe-Bahn kam es zwischen Preußen und Oldenburg zu Differenzen um den Streckenverlauf innerhalb des Fürstentums Birkenfeld, einer Oldenburger Exklave. Während Oldenburg für eine Führung über die Stadt Birkenfeld plädierte, bestand die preußische Seite auf einer Streckenführung im Nahetal. Daraufhin bildete sich am 20. Oktober 1856 in Offenbach am Glan ein Komitee, das für eine dritte Variante eintrat. Die entsprechende Trasse sollte bei Boos das Nahetal verlassen und über Lauterecken, Altenglan und Kusel entweder via St. Wendel oder durch das Ostertal nach Neunkirchen führen. Eigens dafür kaufte das Komitee mehrere Aktien der Rhein-Nahe Eisenbahn-Gesellschaft. Aus taktisch-verkehrspolitischen Gründen verhielt sich Preußen gegenüber diesen Bestrebungen zunächst aufgeschlossen, was dazu führte, dass Oldenburg nachgab und die Trassierung entlang der Nahe auch innerhalb seines Territoriums akzeptierte, zumal Preußen eine solche Bahnstrecke in erster Linie innerhalb des eigenen Territoriums sehen wollte. 1860 bildete sich das Komitee Notabeln des Glan- und Lautertales, das sich für eine Bahnstrecke einsetzte, die in Kaiserslautern von der Pfälzischen Ludwigsbahn abzweigen und durch das Lauter- sowie das untere Glantal verlaufen sollte, um in Staudernheim auf die im selben Jahr vollendete Rhein-Nahe-Bahn zu treffen. Preußen verhielt sich abwartend, da es fürchtete, die Nahestrecke könne damit an Bedeutung verlieren. Unterstützung erhielt das Projekt jedoch von Hessen-Homburg, das seine Exklave Meisenheim an das Schienennetz anschließen wollte. Unterstützung hierfür kam von Seiten des Bürgermeisters von Grumbach, der sich eigens dafür an den Regierungspräsidenten wandte. Der hessische Geheimrat Christian Bansa setzte sich 1861 beim preußischen Außenministerium ebenfalls für die geplante Bahnverbindung ein und argumentierte, dass die Nachfrage dafür größer sei als für eine Strecke entlang der Alsenz. Preußen war jedoch lediglich bereit, die 1866 gegründete Gesellschaft der Pfälzischen Nordbahnen bei der Errichtung der 1870 und 1871 eröffneten Alsenztalbahn zu unterstützen, deren nördlicher Endpunkt das damals preußische Münster am Stein war. Sowohl Bayern als auch Preußen hatten kein Interesse, die Zinsgarantie für die 1873 insgesamt auf rund 3,6 Millionen Gulden berechnete Strecke zu übernehmen. Pläne einer strategischen Bahn Die Konzessionierung der 1868 eröffneten Bahnstrecke Landstuhl–Kusel, die von Glan-Münchweiler bis Altenglan dem Lauf des Glans folgt, gab in den 1860er Jahren den Bestrebungen neuen Auftrieb, eine Glantalbahn zu errichten. Bereits die 1863 erschienene Denkschrift, die den Bau ersterer forciert hatte, deutete eine Verknüpfung mit einer späteren Strecke entlang des Glans an. 1865 gründete sich in Meisenheim eine Aktiengesellschaft, die sich mit der Planung dieser Strecke beschäftigte. Jedoch verhinderte der Deutsche Krieg von 1866 zunächst eine Vollendung des Projekts. Nach der Annexion Hessen-Homburgs durch Preußen im selben Jahr reduzierte sich die Zahl der verhandelnden Parteien auf zwei. Im März 1868 erteilte Preußen die Genehmigung für die Projektierung und im Februar des Folgejahres zog Bayern nach. Anfang 1870 begann die Vermessung, ehe der Deutsch-Französische Krieg die weiteren Arbeiten unterbrach. Da 1871 als Folge dieses Krieges das Elsass und der Norden Lothringens in das neu gegründete Deutsche Kaiserreich eingegliedert worden waren, entwickelte sich auf deutscher Seite die Befürchtung, Frankreich würde in einer weiteren militärischen Auseinandersetzung versuchen, die Eingliederung Elsaß-Lothringens rückgängig zu machen. Um dies zu verhindern, gab es gegen Ende des 19. Jahrhunderts vor allem in Südwestdeutschland Interesse an strategischen Bahnen. Innerhalb der Pfalz sowie Preußens war geplant, eine solche Strecke bei Homburg von der Ludwigsbahn abzweigen und dem Flusslauf des Glans folgen zu lassen, wobei von Glan-Münchweiler bis Altenglan die Strecke Landstuhl–Kusel mitbenutzt werden sollte. Am 7. September 1871 traf sich ein Komitee in Meisenheim, um über die von Ingenieuren ausgearbeiteten Pläne für diese Strecke zu beratschlagen. Die ausgearbeitete Trassierung wich jedoch von der später tatsächlich ausgeführten ab; so sollten die Bahnhöfe Ulmet, Meisenheim und Odernheim an anderen Stellen entstehen. Zudem war ihre Streckenlänge kürzer und hätte hohe Geschwindigkeiten erlaubt. Das Komitee gab am 27. Januar des Folgejahres eine Denkschrift heraus, in der es sowohl die wirtschaftliche als auch die militärische Bedeutung einer Bahnlinie entlang des Glans hervorhob. Vor allem die ablehnende Haltung Bayerns aufgrund erwarteter hoher Baukosten verhinderte jedoch vorerst das Vorhaben. Wegen des Grenzverlaufs, der dem Bahnbau ebenfalls hinderlich war, gab es in den Folgejahrzehnten mehrere Pläne, Nebenbahnen im Glantal zu errichten. 1881 berichtete die Pfälzische Zeitung von Plänen, die unter anderem zwei Strecken von Altenglan nach Lauterecken sowie von Lauterecken nach Staudernheim vorsahen. 1891 existierten Bestrebungen, eine Strecke von Altenglan nach Sankt Julian entstehen zu lassen, die ausschließlich auf pfälzischem Terrain verlaufen sollte. Entstehung des Abschnitts Lauterecken–Staudernheim Im Februar 1891 liefen Planungen für eine Strecke von Staudernheim nach Meisenheim, die ausschließlich über preußisches Gebiet verlaufen sollte. Diese sollte Abtweiler und Raumbach passieren, wobei eine Steigung von insgesamt 25 Promille erforderlich gewesen wäre. Im März befürwortete der Meisenheimer Stadtrat dieses Projekt. Ebenso hatte Preußen bereits eine Strecke von Kirn über Becherbach und Breitenheim ausgearbeitet. Durch diese Pläne geriet Bayern schließlich unter Zugzwang. Am 28. Oktober desselben Jahres schlossen beide Länder einen Staatsvertrag, der den Bau und Betrieb einer Strecke von Lauterecken nach Staudernheim durch die Gesellschaft der Pfälzischen Nordbahnen, die seit 1. Januar 1870 Teil der Pfälzischen Eisenbahnen war, als unmittelbare Fortsetzung der 1883 eröffneten Lautertalbahn Kaiserslautern – Lauterecken vorsah. Darüber hinaus erreichte der Eisenbahnunternehmer Jakob von Lavale, dass der Verwaltungsrat die Hälfte der Grunderwerbskosten übernahm. Obwohl der Abschnitt als Lokalbahn erbaut wurde, musste er strategischen Bedürfnissen wie beispielsweise einem entsprechenden Oberbau genügen. Bahnhöfe entstanden jeweils in Medard, Odenbach, Meisenheim, Raumbach, Rehborn und Odernheim. Medard, Raumbach und Rehborn erhielten kleine Empfangsgebäude, die sich stilistisch an diejenigen ihrer Pendants entlang der Lautertalbahn anlehnten. Vor allem die Bahnhofsgebäude von Meisenheim und Odernheim waren entsprechend der Bedeutung der beiden Orte architektonisch anspruchsvoll gestaltet. Zudem bekam Lauterecken einen zusätzlichen Haltepunkt, der der Erschließung des nördlichen Stadtgebiets diente. Außerdem sollte er den Gemeinden im mittleren Glantal den Zugang zur Bahnstrecke erleichtern. Bereits am 16. Juni 1896 war der Abschnitt zwischen Lauterecken und Meisenheim befahrbar; am 26. Oktober desselben Jahres fand schließlich die Eröffnung des Abschnitts Lauterecken – Odernheim statt. Unter den Gästen befanden sich unter anderem Lavale und der bayerische Ministerpräsident Friedrich Krafft von Crailsheim. Der Lückenschluss bis nach Staudernheim verzögerte sich aufgrund von Preisforderungen der betroffenen Grundbesitzer. Die Bauarbeiten, die insgesamt acht Monate und teilweise die Einlegung von Nachtschichten in Anspruch nahmen, begannen gegen Ende des Jahres; am 2. November kam es aufgrund eines Hochwassers und der Unterspülung des Bahndammes bei Odenbach zur Unterbrechung des Verkehrs. Die Reststrecke nach Staudernheim an der Rhein-Nahe-Bahn wurde schließlich am 1. Juli des Folgejahres in Betrieb genommen. Planung Zur selben Zeit revidierte Bayern seine ablehnende Haltung gegenüber einer strategischen Bahnlinie entlang des gesamten Glans, da sich die deutschen Beziehungen zu Frankreich zwischenzeitlich weiter verschlechtert hatten. Dies mündete in einen im November 1900 geschlossenen Vertrag, eine strategische Bahnstrecke entlang des Glans zu bauen, die in Kombination mit einer ebenfalls zu errichtenden Strecke von Gau Algesheim nach Kreuznach sowie von Homburg nach Scheidt die kürzeste Verbindung vom Rhein-Main-Gebiet zur Saargegend sowie weiter in Richtung Metz darstellte. Der Hauptzweck der Strecke sollte geheim gehalten werden; so erhielten die pfälzischen Bezirksämter ein Rundschreiben, das die Verwendung entsprechender Begriffe wie beispielsweise „strategische Strecke“ oder „Militärbahn“ in der Öffentlichkeit untersagte. Trotzdem erschien in der Zeitung Pfälzische Presse zwei Jahre später ein Artikel Die Strategische Bahn in der Pfalz. Finanziert wurde das Bahnprojekt größtenteils durch das Deutsche Kaiserreich, das einen großen Teil der Baukosten übernahm. Die Funktion der Bahnstrecke bestand darin, über eine durchgehende Verbindung von Homburg über Glan-Münchweiler, Altenglan, Lauterecken, Meisenheim und Odernheim bis nach Münster am Stein zu verfügen. Der Abschnitt Odernheim – Münster sollte am rechten Ufer der Nahe fast parallel zur preußischen Rhein-Nahe-Bahn führen, die auf der anderen Seite des Flusses verlief. Dies hatte mehrere Gründe. So waren die Pfälzischen Eisenbahnen bestrebt, den Streckenverlauf möglichst lange über bayerisches Gebiet zu führen. Darüber hinaus wollten sie der Rhein-Nahe-Bahn Konkurrenz machen. Zudem sollte dies im Fall eines Krieges mehr Kapazität zwischen Münster und Staudernheim schaffen. Die Planung sah eine Trassenführung mit einem hohen Bahndamm vor, welcher aufgrund der häufigen Überschwemmungen entlang des Glans als notwendig erachtet wurde. Die strategische Strecke hatte in Scheidt ihren Ausgangspunkt, verlief über Homburg und nutzte zwischen Glan-Münchweiler und Altenglan die bereits bestehende Bahnstrecke Landstuhl–Kusel, ferner zwischen Lauterecken und Odernheim die 1896 eröffnete Strecke. Beide Bestandsstrecken sollten wie die neu zu errichtenden Streckenteile zweigleisig ausgebaut werden, um den militärischen Anforderungen zu genügen. Vorgesehen war außerdem, den Bahnhof Altenglan als Keilbahnhof umzubauen und für diesen ein neues Empfangsgebäude in Betrieb zu nehmen. Der alte Lauterecker Bahnhof, von 1883 bis 1896 nördlicher Endpunkt der Lautertalbahn, war aufgrund seiner Lage am südlichen Stadtrand für eine Verbindung beider Strecken ungeeignet und sollte zum Haltepunkt zurückgestuft werden. Der gleichnamige, seit 1896 existierende Haltepunkt sollte aufgegeben werden, da unmittelbar nördlich davon der neue Bahnhof Lauterecken-Grumbach entstehen sollte. Außerdem erwies es sich als erforderlich, den Bahnhof Münster auf engstem Raum grundlegend umzugestalten. Die Eröffnung der Bahnstrecke war für den 1. April 1904 geplant. Bau und Eröffnung Baubeginn für die Streckenabschnitte Homburg – Glan-Münchweiler und Altenglan – Lauterecken war im Sommer 1902. Ab dem 14. August wurden die Materialien zum Streckenbau auf einer Schmalspurbahn mit Pferdegespannen von Altenglan nach Ulmet gebracht; italienische und kroatische Bauarbeiter bereiteten das Planum von Altenglan nach St. Julian vor. Die Bahngebäude wurden aus Sandstein errichtet, der aus der umliegenden Region bezogen wurde. Am 27. Oktober desselben Jahres begann das Mannheimer Unternehmen Grün & Bilfinger mit den Bauarbeiten für den Streckenabschnitt von Sankt Julian nach Lauterecken. Dazu musste bei Niedereisenbach der Glan sowie eine parallel verlaufende Straße verlegt werden. Das beim Ausheben eines neuen Flussbettes für den Glan angefallene Material wurde für den Bahndamm verwendet, um Überschwemmungen vorzubeugen. Verrichtet wurden die Arbeiten durch Tagelöhner aus Italien. Während der Bauzeit kam es zwischen den Bauarbeitern und der ortsansässigen Bevölkerung zu Spannungen, die sich teilweise in Form von Gewaltverbrechen äußerten. Witterungsbedingt mussten die Arbeiten von Dezember 1902 bis zum Frühjahr 1903 unterbrochen werden. Das Kriegsministerium versuchte eine möglichst schnelle Fertigstellung der Magistrale zu erreichen, da es mit einer kurzfristigen Mobilmachung rechnete. Anfang 1903 begann der Streckenbau zwischen Odernheim und Münster am Stein; damals waren fast alle Hochbauten entlang der beiden anderen Abschnitte bereits fertig gestellt. Bereits 1903 fuhren auf dem offiziell noch nicht eröffneten Abschnitt Homburg – Jägersburg Kohlezüge zur Grube Nordfeld, die über eine Stichstrecke, die Nordfeldbahn, angebunden war. Dennoch wurde die Grube samt dieser Anschlussbahn mangels Rentabilität bereits zwei Jahre später stillgelegt. Die als westliche Fortsetzung konzipierte strategische Bahn Scheidt – St. Ingbert – Rohrbach – Kirkel – Limbach – Homburg wurde bereits am 1. Januar 1904 eröffnet. Zwischen Altenglan und Niederalben-Ratsweiler sowie zwischen Eschenau und Lauterecken war der Oberbau am 21. Januar 1904 größtenteils fertiggestellt, ab dem 13. Februar war der seit 1868 bestehende Streckenteil Glan-Münchweiler – Altenglan durchgängig zweigleisig befahrbar. Am 25. März fand zwischen Homburg und Lauterecken-Grumbach eine Probefahrt statt und fünf Tage später eine in der Gegenrichtung. Schließlich ging die Glantalbahn am 1. Mai 1904 auf der gesamten Länge mit den neu gebauten Abschnitten Homburg – Glan-Münchweiler, Altenglan – Lauterecken und Odernheim – Münster am Stein in Betrieb. Entlang der neuen Bahnstrecke gab es 26 Unterwegsstationen. Anfangszeit (1904–1933) Am 1. Januar 1909 ging die Glantalbahn zusammen mit den übrigen Bahnstrecken innerhalb der Pfalz in das Eigentum der Bayerischen Staatseisenbahnen über. Zu diesem Zeitpunkt befand sich der Abschnitt Homburg – Schönenberg – Kübelberg in der Verwaltung der Betriebs- und Bauinspektion Homburg. Von Elschbach bis St. Julian-Gumbweiler war die Inspektion Kaiserslautern I zuständig, für die Reststrecke Kaiserslautern II. Im Ersten Weltkrieg diente die Strecke wie geplant weitgehend strategischen Zwecken. Bereits vom 9. bis zum 16. August 1914 fuhren über die Glantalbahn und weiter über die Bahnstrecke Mannheim – Saarbrücken täglich zwanzig Militärzüge aus der Region Posen nach Westen. Insgesamt achtmal wurde in diesem Jahr der Fahrplan geändert. Gleichzeitig blieb das Angebot für den zivilen Verkehr während der vierjährigen Kriegszeit eingeschränkt. Zum 1. November 1917 wurden die Bahnhöfe in Eschenau, Wiesweiler und Raumbach wegen Personalmangels vorläufig geschlossen, sie wurden jedoch bereits im Oktober 1918 reaktiviert. In der Nachkriegszeit zeigten sich die Auswirkungen des Krieges vor allem in langen Fahrzeiten. Nachdem Deutschland den Ersten Weltkrieg verloren hatte, kamen Homburg und Jägersburg mit Wirkung vom 10. März 1920 zum neu geschaffenen Saargebiet, das auf Initiative der Siegermächte für die Dauer von 15 Jahren der Kontrolle durch den Völkerbund unterstand und während dieser Zeit französisches Zollgebiet war. Folglich war hierfür die Saareisenbahn zuständig, die aus der vormaligen preußischen Eisenbahndirektion Saarbrücken hervorgegangen war. Daher fanden im Bahnhof Waldmohr – ab 1921 als Jägersburg bezeichnet – Zollkontrollen statt. Mit Gründung der Deutschen Reichsbahn im gleichen Jahr ging die Glantalbahn bis Schönenberg-Kübelberg in deren Eigentum über, die sie zwei Jahre später der neu gegründeten Reichsbahndirektion Ludwigshafen unterstellte. Unter Berufung auf den Versailler Vertrag forderte die Botschafterkonferenz der Alliierten 1922 den Abbau der Strecke Odernheim – Staudernheim und den Rückbau der restlichen Glantalbahn auf ein Gleis. Dies rief Widerstände vor Ort hervor. Sieben Jahre später erreichte die damalige Reichsregierung, dass lediglich der Streckenabschnitt Odernheim – Bad Münster auf ein Gleis reduziert werden musste und die Glantalbahn den Status einer Hauptbahn behielt. Außerdem wurde festgelegt, dass ab dem 1. September 1929 die Rückbaumaßnahmen innerhalb von neun Monaten abgeschlossen sein mussten; entsprechend begannen sie schon am 12. November desselben Jahres, was jedoch keine Auswirkungen auf den Bahnverkehr hatte. In den Jahren 1923 und 1924 übernahm Frankreich infolge der Ruhrbesetzung und des danach von der Reichsregierung ausgerufenen passiven Widerstands die Eisenbahnen in den besetzten Gebieten im Ruhrgebiet und westlich des Rheins in den sogenannten Regiebetrieb. Das Reichsverkehrsministerium forderte die deutschen Eisenbahner auf, nicht mit den Besatzern zu kooperieren, so dass die Franzosen den Bahnverkehr selbst in die Hand nehmen mussten. Da ihnen die Betriebsvorschriften und die Sicherheitseinrichtungen der Anlagen jedoch nicht genügend bekannt waren, gestaltete sich der Bahnbetrieb während dieser Zeit risikoreich. Die Bevölkerung im Glantal versuchte wie in den übrigen besetzten Gebieten während dieser Zeit, die Bahn zu boykottieren. So wurden verstärkt Kraftpostlinien und private Lastkraftwagen als Alternative zum Regiebetrieb eingesetzt. Drittes Reich und Zweiter Weltkrieg (1933–1945) Nach der Wiedervereinigung des Saargebietes mit Deutschland aufgrund der Volksabstimmung von 1935 entfielen die Zollkontrollen zwischen Jägersburg und Schönenberg-Kübelberg. Die bisherige Saareisenbahn firmierte fortan als Reichsbahndirektion Saarbrücken. Zwei Jahre später wurde die Reichsbahndirektion Ludwigshafen aufgelöst, zu der die Glantalbahn bislang gehörte. Bereits ab dem 1. Mai 1936 war der Zuständigkeitsbereich der Saarbrücker Direktion und des Betriebsamtes (RBA) Homburg um den Abschnitt bis Altenglan erweitert worden; die restliche Glanstrecke unterstand ab 1. April 1937 der Direktion Mainz und dem Betriebsamt Bad Kreuznach. In diesem Zusammenhang wurde die Bahnmeisterei Altenglan aufgelöst. 1938 wurde das zweite Gleis zwischen Odernheim und Bad Münster in Vorbereitung auf den Zweiten Weltkrieg wieder verlegt. Ebenso vermittelte der Bau des Westwalls und der Truppentransport der Bahnstrecke eine wichtige Bedeutung im gesamten Kriegsverlauf. Zwischen dem 24. und dem 27. September des Jahres fand eine Wehrübung in der Pfalz statt. Zu den Zielbahnhöfen der Truppenzüge aus Frankfurt am Main gehörten die Bahnhöfe Altenglan, Bedesbach-Patersbach, Glan-Münchweiler, Lauterecken-Grumbach und Schönenberg-Kübelberg. Mit Ausbruch des Zweiten Weltkriegs 1939 wurde das Zugangebot erneut eingeschränkt. Im selben Jahr wurde eine eingleisige strategische Bahnstrecke vom Bahnhof Jägersburg bis Bexbach in Angriff genommen. Sie hatte den Zweck, im Bedarfsfall Homburg umfahren zu können. Bereits im Mai des Folgejahres kamen die Arbeiten zum Erliegen, ohne dass die Verbindung vollendet wurde. Aufgrund ihrer strategischen Bedeutung war die Strecke während des Kriegs vor allem ab 1944 oft Ziel von Luftangriffen der Alliierten. Mehrere Angriffe galten Bad Münster aufgrund seiner Bedeutung als Eisenbahnknotenpunkt. Weitere trafen Medard, Altenglan, Meisenheim, Odenbach, Odernheim, Ulmet, Wiesweiler und Lauterecken, was unter anderem die Zerstörung des dortigen Lokschuppens zur Folge hatte, sowie Offenbach, dessen Bahnhofsgebäude in Mitleidenschaft geriet. In den letzten Monaten des Kriegs wurde zwischen Rammelsbach und Bedesbach im Bereich der heutigen Ortslage Altenglan nördlich des Bahnhofs eine Verbindungskurve gebaut. Damit sollte für den Fall von Kriegsschäden an der Nahetalbahn zwischen Ottweiler und Bad Münster in Kombination mit der 1936 eröffneten Verlängerung der Kuseler Strecke bis Türkismühle eine zusätzliche Umleitungsmöglichkeit geschaffen werden. Tatsächlich wurde sie nur ein einziges Mal befahren und unmittelbar nach Kriegsende wieder abgebaut. Im März 1945 fiel sie an die US Army. Während dieser Zeit befuhren täglich 120 Züge die Strecke, die damals die einzige intakte zweigleisige Verbindung innerhalb der Pfalz war. Nachkriegszeit (1945–1962) Das heutige Saarland, zu dem Homburg und Jägersburg gehören, wurde nach dem Zweiten Weltkrieg erneut vom deutschen Staatsgebiet abgetrennt, so dass die Stationen Jägersburg und Schönenberg-Kübelberg wieder zu Zollbahnhöfen wurden. Die restliche Glantalbahn befand sich innerhalb des neu geschaffenen Bundeslandes Rheinland-Pfalz. Für den Abschnitt Homburg – Jägersburg waren fortan die Saarländischen Eisenbahnen (SEB) beziehungsweise ab 1951 die Eisenbahnen des Saarlandes (EdS) zuständig, während der restliche Teil der Bahnstrecke der Betriebsvereinigung der Südwestdeutschen Eisenbahnen (SWDE) unterstand, die 1949 in die neu gegründete Deutsche Bundesbahn (DB) überging. Bereits 1945 war zwischen Homburg und Jägersburg das zweite Gleis abgebaut worden, da keine betriebliche Notwendigkeit mehr dafür bestand und es für die Reparatur anderer Strecken verwendet werden sollte; trotzdem war es im Bildfahrplan von 1952 noch enthalten. Die Strecke erlebte in den 1950er Jahren einen kurzfristigen Aufschwung, der jedoch in der Folgezeit aufgrund des zunehmenden Individualverkehrs zurückging. Bedingt durch die Abtrennung des Saarlandes verlor vor allem der südliche Abschnitt Homburg – Glan-Münchweiler an Bedeutung, da er die Landesgrenze passierte. Dies bewirkte eine Konzentration der Verkehrsströme in Richtung Kaiserslautern. Die strukturellen Veränderungen hatten unter anderem zur Folge, dass der Abschnitt Homburg – Jägersburg ab dem 2. Mai 1955 offiziell nur noch den Status einer Nebenbahn hatte. Die Glantalbahn war zu diesem Zeitpunkt die am schwächsten frequentierte zweigleisige Strecke in Südwestdeutschland. Mit der wirtschaftlichen Rückgliederung des Saarlandes nach Deutschland 1959 entfielen zwar erneut die Zollkontrollen in Schönenberg-Kübelberg, die in den 1950er Jahren begonnenen Kapazitätseinschränkungen der Strecke setzten sich jedoch weiter fort. So wurde der Bahnhof Jägersburg mit der politischen Wiederangliederung des Saarlandes 1956 für den Personenverkehr stillgelegt und 1960 das zweite Gleis zwischen Jägersburg und Schönenberg-Kübelberg zurückgebaut, weil dafür ebenfalls kein betrieblicher Bedarf mehr bestand. Vom Bund erhielt die DB finanzielle Zuwendungen, die im Zusammenhang mit dem Kalten Krieg auf den Erhalt von Teilen der Strecke aus strategischen Gründen abzielten. Im Oktober 1961 wurde der Abschnitt Odernheim – Bad Münster, der kaum zivile Bedeutung hatte, stillgelegt; in den Jahren 1962 und 1963 wurden die Gleise zwischen Odernheim und dem Anschluss des Kraftwerks Niederhausen abgebaut. Der Oberbau blieb jedoch bis in die 1980er Jahre bestehen. Zur selben Zeit entstanden zwischen Homburg und Glan-Münchweiler mit Sand, Elschbach Ort und Nanzweiler drei neue Haltepunkte. Niedergang (1962–1996) In den 1960er Jahren demontierte die DB auf den restlichen Streckenteilen stufenweise das zweite Gleis. 1968 waren das die Abschnitte Odernheim (Glan)–Altenglan und Glan-Münchweiler–Waldmohr-Jägersburg. Mit der Auflösung der Bundesbahndirektion Mainz wechselte die Gesamtstrecke mit Wirkung vom 1. Juni 1971 in den Zuständigkeitsbereich der Bundesbahndirektion Saarbrücken. In der Folgezeit zeigte sich, dass die unterbliebenen Rationalisierungen die Wirtschaftlichkeit der Glantalbahn zusätzlich infrage stellten, da die meisten Stellwerke und Schrankenposten weiterhin von Hand bedient wurden; die Block- und Sicherungsvorrichtungen stammten überwiegend aus der Anfangszeit der Bahnstrecke. Ab Mitte der 1970er Jahre gab die DB zwischen Homburg und Glan-Münchweiler bis auf Schönenberg-Kübelberg und Dietschweiler alle Zwischenhalte auf, darunter die erst Anfang der 1960er Jahre eingerichteten. Am 30. Mai 1981 erfolgte auf dem Abschnitt Homburg – Glan-Münchweiler die Gesamteinstellung des Personenverkehrs. Zwischen Schönenberg-Kübelberg und Glan-Münchweiler hatte es bereits vorher keinen Güterverkehr mehr gegeben. Vier Jahre später, am 31. Mai 1985, kam für den Verkehr zwischen Altenglan und Lauterecken-Grumbach das Aus. Obwohl faktisch seit Jahrzehnten keine Hauptbahn mehr, wurde der Glantalbahn-Abschnitt Glan-Münchweiler – Odernheim erst zum 29. September 1985 offiziell als Nebenbahn herabgestuft. 1986 stellte die Bundesbahn den Personenverkehr auf dem nördlichen Abschnitt von Lauterecken-Grumbach bis Staudernheim ein. Dadurch waren die Streckenabschnitte Schönenberg-Kübelberg – Glan-Münchweiler, Ulmet – Offenbach-Hundheim und Meisenheim – Odernheim ohne regulären Verkehr. Ab 1987 begann die Demontage des Abschnitts Schönenberg-Kübelberg – Glan-Münchweiler, der seit 1984 stillgelegt war. Am 1. Juli 1989 endete der Güterverkehr zwischen Waldmohr und Schönenberg-Kübelberg. Ab demselben Jahr war der Abschnitt zwischen Glan-Münchweiler und Altenglan ausschließlich eingleisig befahrbar. 1991 folgte der Abbau der Strecke zwischen dem Industriegebiet von Waldmohr und Schönenberg-Kübelberg. Der am 6. Juli 1992 verkehrende Unkrautspritzzug war die letzte durchgehende Zugfahrt zwischen Altenglan und Lauterecken-Grumbach. In den 1990er Jahren kam der Güterverkehr entlang der Glantalbahn, der zuletzt ausschließlich Waldmohr und Meisenheim versorgt hatte, endgültig zum Erliegen. Die Bedienung von Meisenheim endete 1993, die von Waldmohr 1995. 1993 wurde die Trasse des von Bad Münster kommenden Streckenabschnitts bis zur Anschlussstelle Kraftwerk Niederhausen in einen Radwanderweg umgewandelt. Im Zuge der Bahnreform gingen die verbliebenen Streckenabschnitte zum 1. Januar 1994 in das Eigentum der Deutschen Bahn über. Das 1992 eingeleitete Stilllegungsverfahren für den Abschnitt Altenglan – Lauterecken verzögerte sich dadurch bis zum Jahreswechsel 1995/1996. Am 10. Mai 1996 genehmigte das Eisenbahnbundesamt zudem die Stilllegung des nördlichen Glantalbahnabschnitts nach Staudernheim zum 1. Juli des Jahres. Entwicklung seit 1996 Von der ehemals strategischen Bahnstrecke Homburg – Bad Münster ist nur noch der Abschnitt Glan-Münchweiler – Altenglan als Teil der ursprünglichen Strecke Landstuhl – Kusel in Betrieb. Er wird im Personenverkehr von Regionalbahnzügen befahren. Im Jahr 2000 übernahm die private Gesellschaft trans regio den Verkehr. Nach einer erneuten Ausschreibung und mit Beginn des Fahrplanwechsels Ende 2008 betreibt wieder die DB-Tochtergesellschaft DB Regio diese Linie. Bereits 1985 kam ein Gutachten des Karlsruher Unternehmens PTV Planung Transport Verkehr zum Ergebnis, dass eine Reaktivierung des nördlichen Streckenabschnitts 2000 Fahrgäste pro Tag mit sich brächte. Aus Kostengründen lehnten sowohl das rheinland-pfälzische Verkehrsministerium als auch die Landkreise Bad Kreuznach und Kusel eine Wiederinbetriebnahme ab. Um eine endgültige Stilllegung des Glantalbahn-Abschnitts Altenglan – Staudernhein einschließlich des Streckenabbaus zu verhindern, erwogen Studenten der Universität Kaiserslautern, auf diesem Streckenteil einen Betrieb mit Eisenbahn-Draisinen einzurichten. Zu den Unterstützern dieses Projekts gehörte der Kuseler Landrat Winfried Hirschberger. Nachdem die Draisinenstrecken im brandenburgischen Templin – zu diesem Zeitpunkt die einzigen in Deutschland – und bei Magnières in Lothringen begutachtet worden waren, begannen die konkreten Planungen, die Realisierung erfolgte 2000. Bereits im ersten Betriebsjahr verzeichnete das Projekt 7300 Benutzer; damit war der Zuspruch deutlich höher als erwartet. 2007 erwarb der Fremdenverkehrs-Zweckverband Kreis Kusel diesen Streckenabschnitt für 690.000 Euro von der Deutschen Bahn. Die Streckenabschnitte Waldmohr – Glan-Münchweiler und Odernheim am Glan – Bad Münster sind inzwischen abgebaut; auf ersterem sowie auf weiten Teilen der Trasse des abgebauten zweiten Gleises zwischen Odernheim und Glan-Münchweiler wurde von 2001 bis 2006 der Glan-Blies-Weg angelegt. Dabei entstand zwischen Schönenberg-Kübelberg und Elschbach entlang der in dem Bereich als Rad- und Wanderweg dienenden Bahntrasse eine neue Überführung der Landesstraße 356. Der Abschnitt von Homburg bis Glan-Münchweiler wurde außerdem Ende 2011 von Bahnbetriebszwecken freigestellt. 2021 beschloss der Landkreis Kusel eine Machbarkeitsstudie zur Reaktivierung der Glantalbahn zwischen Lauterecken und Staudernheim in Auftrag zugeben. Das Land Rheinland-Pfalz und der zuständige Zweckverband übernehmen je ein Drittel der Kosten, ebenso die Landkreise Kusel und Bad Kreuznach gemeinsam. Streckenverlauf Abschnitt Homburg – Altenglan Der südliche Streckenabschnitt Homburg – Glan-Münchweiler zweigt von der Bahnstrecke Mannheim – Saarbrücken ab und verläuft zunächst durch das Landstuhler Bruch. Dabei durchquert die Bahntrasse den ausgedehnten Jägersburger Wald. In diesem Bereich gibt es eine leichte Steigung, im weiteren Verlauf verliert sie hingegen nahezu kontinuierlich an Höhe. Kurz nach dem Bahnhof Jägersburg passiert die zunächst innerhalb der zum Saarpfalz-Kreis gehörenden Stadt Homburg verlaufende Strecke die Landesgrenze zwischen dem Saarland und Rheinland-Pfalz. Anschließend befindet sie sich im Landkreis Kusel und berührt Waldmohr; unmittelbar nördlich davon ist sie inzwischen abgebaut. Nach wenigen Kilometern erreicht die Strecke dahinter das Glantal, dem sie größtenteils folgt. Zwischen Jägersburg und Schönenberg-Kübelberg liegen die Neigungsverhältnisse bei 1:144. In diesem Bereich verläuft der Glan-Blies-Weg bis Glan-Münchweiler größtenteils auf und stellenweise neben der Bahntrasse. Am Nordrand des Peterswaldes passiert die Strecke Schönenberg-Kübelberg. Nachdem sie den Südrand des Ortsteils Sand gestreift hat, tritt sie in den Landkreis Kaiserslautern ein und erreicht den nordwestlichen Rand von Elschbach. Zwischen Waldmohr und Glan-Münchweiler wird der namensgebende Glan viermal überquert, da er in seinem Oberlauf sehr stark mäandriert; eine seiner Schleifen wird zwischen Elschbach und Dietschweiler mit dem Elschbacher Tunnel abgekürzt. Hinter diesem befindet sie sich erneut im Landkreis Kusel, den sie überwiegend durchquert. Bei Dietschweiler tritt sie in das Nordpfälzer Bergland ein. Kurz vor Glan-Münchweiler unterquert die Trasse die Bundesautobahn 62. Zwischen Schönenberg-Kübelberg und Glan-Münchweiler beträgt die Neigung 1:100. Unmittelbar danach trifft die Trasse auf die aus östlicher Richtung kommende Bahnstrecke Landstuhl – Kusel, mit der sie bis kurz vor Altenglan gemeinsam verläuft. Ab Glan-Münchweiler führt der Glan-Blies-Weg stellenweise parallel auf der Trasse des abgebauten zweiten Gleises. Nach den Haltepunkten Rehweiler und Eisenbach-Matzenbach passiert die Bahn die Orte Gimsbach und Godelhausen ohne Halt. In diesem Bereich wird die Landschaft zunehmend hügeliger. Westlich von Theisbergstegen führt sie auf einer Länge von rund drei Kilometern entlang des Osthanges des Remigiusberges. Östlich des Glans befindet sich der Potzberg mit seinem gleichnamigen Wildpark. Kurz vor Erreichen des Bahnhofs Altenglan biegt die Strecke nach Kusel links ab. Abschnitt Altenglan – Staudernheim/Bad Münster am Stein Die früher von der Glantalbahn benutzten Gleise im Bahnhof Altenglan, die zwischenzeitlich von der Kuseler Strecke abgetrennt wurden, bilden den südlichen Endpunkt der für den Draisinenverkehr benutzten Strecke. Zwischen Bedesbach-Patersbach und Eschenau wird der Glan insgesamt fünfmal überquert. Zwischen Bedesbach-Patersbach und Ulmet beträgt die Steigung 1:1143. Kurz vor dem Bahnhof Niederalben-Ratsweiler überbrückt die Strecke die Steinalp. Nördlich von Eschenau folgt sie dem orografisch linken Glanufer. Kurz vor Lauterecken mündet aus Südosten die Lautertalbahn in den Bahnhof Lauterecken-Grumbach ein. Nördlich von Lauterecken verbreitert sich das Flusstal deutlich, so dass die Anzahl der Brückenbauten dort geringer ist. Nördlich von Odenbach verlässt die Strecke den Landkreis Kusel und befindet sich im Landkreis Bad Kreuznach. Kurz vor Meisenheim überbrückt die Glantalbahn den Jeckenbach und passiert anschließend einen Einschnitt, an den sich unter anderem der Meisenheimer Tunnel anschließt. In nördlicher Richtung nehmen die Weinberge entlang der Strecke zu und sie erreicht das Naheland. In Odernheim gabelt sie sich in den bereits 1897 eröffneten, noch existierenden Zweig, der eine leichte Steigung aufweist und von dem ein Anschlussgleis zu einer Mühle abzweigt. In einem großen Bogen umgeht er den Disibodenberg, überbrückt die Nahe und endet in Staudernheim. Der südliche Zweig, der aus strategischen Gründen eingerichtet wurde und mittlerweile abgebaut ist, passiert zunächst den Mündungsbereich des Glans und danach mit dem Kinnsfelstunnel eine Talenge der Nahe beim Gangelsberg. Am rechten Naheufer verläuft er parallel zur Nahetalbahn am anderen Ufer. Es folgen der Nordrand der Ortsgemeinde Oberhausen an der Nahe und der Stausee Niederhausen, ehe die Strecke nach Überquerung der Nahe in die Nahetalbahn mündet. Kurze Zeit später unterquert diese die Bundesstraße 48, danach kommt von rechts die Alsenztalbahn, ehe der Bahnhof Bad Münster am Stein erreicht wird. Kilometrierung Da der Abschnitt Glan-Münchweiler – Altenglan als Teil der Bahnstrecke Landstuhl – Kusel entstand und der Abschnitt Lauterecken – Staudernheim ursprünglich eine Fortsetzung der Lautertalbahn war, waren die beiden Streckenabschnitte ursprünglich in die Kilometrierung dieser beiden Bahnstrecken einbezogen, sodass sich der jeweilige Nullpunkt in Landstuhl bzw. Kaiserslautern befand. Nach Eröffnung der strategischen Bahn 1904 wurde eine durchgehende Kilometrierung vorgenommen, die westlich des zwischen St. Ingbert und Saarbrücken liegenden Bahnhofs Scheidt begann und über die seit 1879 bzw. 1895 existierende Bestandsstrecke bis Rohrbach verlief, anschließend die seit 1. Januar 1904 bestehende Verbindung über Kirkel und Limbach einbezog und danach für die Glantalbahn galt. Dabei lag der Bahnhof Bad Münster am Stein bei Streckenkilometer 109,7. Da der Abschnitt Scheidt – Homburg als kürzeste Verbindung zwischen Homburg und Saarbrücken Bestandteil der Magistrale Mannheim – Saarbrücken wurde, erfolgte nach dem Zweiten Weltkrieg eine neue Kilometrierung der Glantalbahn bis Altenglan mit dem Nullpunkt in Homburg. Nördlich des Bahnhofs Altenglan behielt man die Kilometrierung ab Scheidt bei, so dass es dort einen Sprung von Kilometer 33,05 auf Kilometer 56,89 gibt. An dieser Stelle befand sich von 1937 bis 1945 zugleich die Direktionsgrenze zwischen Saarbrücken und Mainz. Der Abschnitt Odernheim – Staudernheim besaß ab 1904 zunächst eine eigenständige Kilometrierung und wurde ab 1961 in die bei Scheidt beginnende einbezogen. Der Bahnhof Staudernheim lag fortan bei Kilometer 96,9. Betrieb Personenverkehr Pfälzische Eisenbahnen und Königlich Bayerische Staatseisenbahnen Zwischen Glan-Münchweiler und Altenglan verkehrten ab 1868 dreieinhalb Jahrzehnte lang stets vier Personenzugpaare der Relation Landstuhl – Kusel, davon anfangs zwei als gemischte Züge. Zum Zeitpunkt der Streckeneröffnung des Abschnitts Lauterecken – Odernheim im Jahr 1896 verkehrten vier Zugpaare über die Lautertalbahn nach Kaiserslautern; hinzu kam ein Paar, das ausschließlich zwischen Odernheim und Lauterecken fuhr. Ein Jahr später wurden die Zugleistungen bis nach Staudernheim durchgebunden. Mit der vollständigen Eröffnung der Glantalbahn von Homburg bis Bad Münster fuhren anfangs drei Zugpaare. Der durchgehende Verkehr von Kaiserslautern nach Staudernheim wurde dadurch zunächst nicht mehr angeboten. Zwischen Odernheim und Staudernheim gab es in den Folgejahren ausschließlich Pendelfahrten. In der Folgezeit erhöhte sich die Zahl der Züge auf Teilstrecken. Ebenso wurden vereinzelt Direktzüge der Relation Kusel – Neunkirchen eingeführt, die primär den Arbeitern der dortigen Kohlebergwerke dienten. In den Jahren 1913/1914 kam es zum einzigen Mal in der Geschichte der Strecke vor, dass eine planmäßige Überholung eines Zuges stattfand: So ließ in Glan-Münchweiler an einem Samstagabend ein nach Homburg verkehrender Personenzug einen 1912 eingeführten Eilzug aus Bad Münster überholen. Letzterer wurde mit Beginn des Ersten Weltkriegs eingestellt. Der Fahrplan von 1914 wies Verbindungen auf, die ausschließlich zwischen Lauterecken-Grumbach und Staudernheim bzw. Bad Münster oder Meisenheim und Staudernheim verkehrten. Während des Ersten Weltkriegs reduzierte sich der Fahrplan fast durchgängig. Ein Jahr nach dem Krieg existierte lediglich eine durchgängige Verbindung von Homburg nach Bad Münster. Zudem verlängerten sich die Fahrzeiten. Deutsche Reichsbahn und Saareisenbahn Ab dem 1. Juni 1920 fuhren Züge der Relationen Saarbrücken – Bad Münster, Saarbrücken – Altenglan und Saarbrücken – Kusel. Die nach Neunkirchen fahrenden Züge verkehrten inzwischen bis zur Grube Heinitz. In den Jahren 1926 und 1927 verkehrte mit einem D-Zug von Calais nach Wiesbaden erstmals ein Fernzug über die Glantalbahn, jedoch ausschließlich in Richtung Wiesbaden. Ab Sommer 1930 verkehrte außerdem ein Ausflugszug der Relation Saarbrücken – Bierbach – Homburg – Altenglan – Bingerbrück entlang der strategischen Strecke. Vor allem in den 1930er Jahren gab es mehrere über die Glanstrecke verlaufende Eckverbindungen wie Homburg – Glan-Münchweiler – Ramstein und Kaiserslautern – Lauterecken – Altenglan – Kusel. In den Jahren 1933/1934 blieben einige von Homburg ausgehende Zugläufe auf den innerhalb des Saargebiets verlaufenden Abschnitt bis Jägersburg beschränkt. Die Angliederung des Saargebiets an das Deutsche Reich im Jahr 1935 hatte zur Folge, dass die Zahl der von bzw. nach Saarbrücken verlaufenden Züge zunahm. Zudem verkehrten einige Züge der Relation Lauterecken-Grumbach – Staudernheim. Der Fahrplan von 1936 wies darüber hinaus zwei Züge von Staudernheim bis Kaiserslautern auf. Ein Jahr später existierte an Samstagen ein Zug von Homburg nach Glan-Münchweiler, der bis Elschbach ohne Zwischenhalt durchfuhr. Während dieser Zeit es gab lediglich vier Zugpaare auf dem Abschnitt Odernheim – Bad Münster. Ab November 1942 gab es auf besondere Anordnung ein Schnellzugpaar der Relation Berlin – Kassel– Frankfurt – Altenglan – Homburg – Metz für Fronturlauber. In den Jahren 1945/1946 verkehrte ein letztes Mal ein Schnellzugpaar über die Glantalbahn von Saarbrücken nach Koblenz, das aber für den Zivilverkehr nur eingeschränkt zur Verfügung stand. Dies war der letzte Zug, der durchgehend auf dieser Strecke fuhr und dabei noch den Anfang der 1960er Jahre stillgelegten Abschnitt Odernheim – Bad Münster nutzte. Eisenbahnen des Saarlandes, Deutsche Bundesbahn und Deutsche Bahn Viele Züge befuhren nach dem Zweiten Weltkrieg ausschließlich Teilstrecken, da sich die Verkehrsströme vor allem in Richtung Kaiserslautern orientierten. Nachdem Homburg und Jägersburg als Teil des nun Saarland genannten Territoriums erneut abgetrennt waren, verstärkte sich diese Entwicklung zusätzlich. Die Bergarbeiterzüge der Relation Kusel – Neunkirchen – Heinitz verkehrten bis in die 1960er Jahre und waren zeitweise die einzigen Personenzüge auf dem Abschnitt Homburg – Glan-Münchweiler. Die Stilllegung des Abschnitts Odernheim – Bad Münster im Jahr 1961 verhinderte wirtschaftliche Zugläufe, da Züge in Richtung Bad Kreuznach fortan ebenfalls nach Staudernheim fahren mussten, um dort „Kopf“ zu machen und anschließend entlang der Nahetalbahn zu fahren. Ein Jahr später endete der Sonntagsverkehr auf den Abschnitten Homburg – Glan-Münchweiler und Altenglan – Lauterecken-Grumbach. Ab 1965 fuhren werktags zwei Eilzugpaare der Relation Zweibrücken – Mainz über die Glantalbahn. Ihr Initiator war der damalige Zweibrücker Oberbürgermeister und rheinland-pfälzische Landtagsabgeordnete Oskar Munzinger. Im Volksmund erhielten diese Züge deshalb den Namen „Munzinger-Express“. 1967 kam für kurze Zeit ein weiteres zwischen Homburg und Gau Algesheim hinzu. Ende der 1970er Jahre wurden sie aus dem Fahrplan gestrichen. 1975 folgte auf den Abschnitten Glan-Münchweiler – Altenglan und Lauterecken-Grumbach – Staudernheim die Einstellung des Sonn- und Feiertagsverkehrs. Zwischen Homburg und Glan-Münchweiler existierte zum Zeitpunkt der Einstellung ausschließlich ein Zug in die nördliche Richtung. Der Streckenabschnitt Altenglan – Lauterecken wies in den letzten Jahren vor der Einstellung der Personenbeförderung 1985 an Werktagen drei Zugpaare auf. Zwischen Lauterecken-Grumbach und Staudernheim verblieben sechs Zugpaare, ehe ab 1986 der Personenverkehr auf dem Abschnitt ebenfalls endete. Auf beiden Streckenabschnitten beschränkte sich die Personenbeförderung zuletzt im Wesentlichen auf den Schülerverkehr. Entlang des nördlichen Streckenabschnitts wurden einzelne Züge bis nach Sobernheim durchgebunden. Seit Mai 1996 wird der heute betriebene Abschnitt Glan-Münchweiler – Altenglan als Teil der Strecke Landstuhl – Kusel mindestens stündlich bedient. Ebenso wird der 1975 eingestellte Personenverkehr an Sonntagen wieder angeboten. Die Deutsche Bahn führt sie unter der Kursbuchnummer 671; sie wird im Stundentakt bedient. Meist werden die Züge bis Kaiserslautern durchgebunden. Güterverkehr Lediglich in den ersten Jahrzehnten ihres Bestehens erlangte die Glantalbahn im Güterfernverkehr größere Bedeutung. Von den 1940er und 1950er Jahren abgesehen, fuhren die Kohlezüge aus dem Saargebiet meistens über die Hauptstrecke Mannheim – Saarbrücken in Richtung Oberrheintal und Süddeutschland. Ansonsten beschränkte sich der überregionale Güterverkehr auf Züge mit Lademaßüberschreitung. Dazu wurde meist das Gleis der Gegenrichtung gesperrt, was betrieblich aufgrund des geringen Verkehrs unproblematisch war. Der Nahgüterverkehr entwickelte sich in den ersten Jahrzehnten positiv. Um 1910 fuhren auf der Strecke Güterzüge der Relationen Kaiserslautern – Altenglan – Bad Münster sowie Homburg – Kusel. 1920 verkehrte ein Nahgüterzug vom Bahnhof Ebernburg an der Alsenztalbahn, der die Bahnhöfe zwischen Bad Münster und Lauterecken-Grumbach bediente und anschließend als Durchgangsgüterzug nach Homburg fuhr. Für die Bahnhöfe zwischen Lauterecken-Grumbach und Homburg war ein weiterer Nahgüterzug zuständig. Zwischen Homburg und Altenglan kam ebenfalls ein Durchgangsgüterzug zum Einsatz, der bei Bedarf durch einen zusätzlichen Güterzug von Homburg bis Lauterecken-Grumbach ergänzt wurde. In Odernheim verfügte die örtliche Ölmühle über ein Anschlussgleis, und wurde in Form einer Übergabefahrt bedient. Nachdem auf der Glantalbahn nach dem Zweiten Weltkrieg der Güterverkehr deutlich zurückgegangen war, gab es auf den betreffenden Teilstrecken bis zu deren Aufgabe meist nur noch Übergabezüge von den Knotenbahnhöfen aus. In der Folgezeit stellte die Bundesbahn den Güterverkehr auf mehreren Teilabschnitten ein, so etwa zwischen Schönenberg-Kübelberg und Glan-Münchweiler. Auf dem zwischenzeitlich zum Gleisanschluss degradierten Streckenabschnitt von Bad Münster bis zum Kraftwerk Niederhausen gab es bis zur Stilllegung Ende 1990 Bedienfahrten. Ab 1967 existierte ein Anschlussgleis, das ins Industriegebiet von Waldmohr führte. Anfang 1995 wurde es stillgelegt; es handelte sich um die letzte Güterbedienung entlang der Glantalbahn jenseits des Abschnitts Glan-Münchweiler – Altenglan. Die Bahnhöfe Theisbergstegen, Altenglan, Bedesbach-Patersbach, Sankt Julian und Lauterecken-Grumbach hatten aufgrund umliegender Steinbrüche eine erhebliche wirtschaftliche Bedeutung. Weitere Bahnhöfe mit größerem Güterverkehr waren Jägersburg, Schönenberg-Kübelberg und Odernheim. Draisinenbetrieb Der Draisinenverkehr zwischen Altenglan und Staudernheim wird von März bis Oktober angeboten. Alle früheren Unterwegsbahnhöfe fungieren als Draisinenstation; zwischen Bedesbach und Ulmet kam eine in Erdesbach dazu. An geraden Tagen fahren die Draisinen in Richtung Altenglan, an ungeraden in Richtung Staudernheim. Auch Lauterecken-Grumbach, die Endstation der abzweigenden Lautertalbahn, kann als Startpunkt gewählt werden. Mit Fahrraddraisinen, Konferenzdraisinen, Handhebeldraisinen, Planwagendraisinen und barrierefreien Draisinen sind mehrere Typen im Angebot. Seit Mitte 2013 wurde es durch mit Akkumulatoren angetriebene Elektrodraisinen erweitert; ein Teil der Fahrzeuge erhielt eine rollstuhlgerechte Umrüstung. Fahrzeugeinsatz Dampflokomotiven Zunächst kamen ab 1868 zwischen Glan-Münchweiler und Altenglan vor allem Pfälzische G 1.III zum Einsatz, obwohl sie ursprünglich für Güterzüge konzipiert worden waren, und bis 1879 vereinzelt Crampton-Lokomotiven aus der Anfangszeit des pfälzischen Bahnbetriebs. Erstere dominierten bis kurz vor der Jahrhundertwende das Betriebsgeschehen. In den 1870er Jahren kam die Baureihe P 1.I hinzu. Für den unteren Glantalbahnabschnitt zwischen Lauterecken und Staudernheim fand ab 1896 die T 1 Verwendung, die später auch andere Teilstrecken befuhr. Ab 1911 verkehrten vier Jahrzehnte lang Lokomotiven des Typs P 5, ehe sie im Mai 1954 vollständig ausgemustert wurden. Diese Baureihe war besonders prägend für die Glantalbahn. Zuständig für den Einsatz waren die Bahnbetriebswerke Homburg und Kaiserslautern. Weitere Gattungen auf der Strecke in der Zeit der Pfalzbahn waren die G 2.I und die G 2.II. Unter der Reichs- und später der Deutschen Bundesbahn verkehrten die Baureihen 38.10–40, 50, 55.16–22, 56.2–8, 57.10, 58, 64, 78, 93.0–4, 93.5–12 und 94.5. Der Betrieb mit Dampflokomotiven endete 1975. Diesellokomotiven Für die von 1965 bis 1979 verkehrenden, „Munzinger-Express“ genannten Eilzüge der Relation Zweibrücken – Mainz kamen Diesellokomotiven der Baureihe V 100.20 zum Einsatz, die sogenannte „Silberlinge“ zogen. Vor Güterzügen waren sie ebenso wie die Baureihe V 100.10 nach dem Ende des Einsatzes von Dampflokomotiven anzutreffen. Ab Ende der 1960er Jahre war die Baureihe V 60 für die Übergabezüge zwischen Homburg und Schönenberg-Kübelberg zuständig. Für Dienstzüge entlang der gesamten Glantalbahn fand sie ebenso Verwendung und beim Abbau der Gleise zwischen Waldmohr und Schönenberg-Kübelberg 1991 wurde sie ebenfalls verwendet. Für Schotterzüge aus den Steinbrüchen von Bedesbach und Theisbergstegen wurde die Baureihe 218 herangezogen. Von 1933 bis 1981 leisteten Kleinlokomotiven des Typs Köf II den Verschubdienst an den Bahnhöfen Altenglan und Lauterecken-Grumbach. Von dort aus beförderten sie die Übergabezüge in Nachbarbahnhöfe. Vereinzelt wurden sie auch für Bauzüge eingesetzt. Ab Mitte der 1960er Jahre übernahm die Köf III zunehmend diese Aufgaben. Bis 1995 bediente sie das Industriegebiet von Waldmohr. Triebwagen Von Mitte 1904 bis Mai 1906 pendelten zwischen Odernheim und Staudernheim Dampfmotorwagen der Gattung MBCL. Da sie jedoch die Erwartungen nicht erfüllten, wurden sie bereits nach zwei Jahren ausgemustert; ihr Einsatzgebiet wurde in die Südpfalz verlegt. Von 1926 bis etwa 1940 fuhren zwischen Homburg und Altenglan Wittfeld-Akkumulatortriebwagen. Von 1933 bis 1935 wurden auf dem Abschnitt Homburg – Jägersburg und teilweise weiter bis Glan-Münchweiler auf Initiative der Saareisenbahnen Wismarer Schienenbusse eingesetzt. Ab Mitte der 1950er Jahre übernahmen Uerdinger Schienenbusse aus dem Bahnbetriebswerk Landau den Personenverkehr. Der einmotorige Subtyp VT 95 verrichtete bis 1976 seinen Dienst, der ab etwa 1960 eingesetzte zweimotorige VT 98 blieb bis zur Einstellung des Personenverkehrs zwischen Homburg und Glan-Münchweiler 1981 auf der Glantalbahn. Akku-Triebwagen der Baureihe ETA 150 verkehrten deutlich länger, ihr Einsatz begann ab Ende der 1950er Jahre auf der Strecke nördlich von Glan-Münchweiler und dauerte bis zur Stilllegung des Personenverkehrs zwischen Altenglan und Staudernheim. Ab Ende der 1980er Jahre übernahmen Dieseltriebwagen der Baureihe 628/928 den Verkehr auf der noch heute betriebenen Teilstrecke Glan-Münchweiler–Altenglan. Von 2000 bis 2008 waren es Regio-Shuttles der trans regio. Seit Dezember 2008 kommen Talent-Triebwagen der Deutschen Bahn AG zum Einsatz. Betriebsstellen Homburg (Saar) Hauptbahnhof Bis 1923 hieß der Bahnhof Homburg (Pfalz). Er wurde bereits 1848 für die Pfälzische Ludwigsbahn Ludwigshafen – Bexbach eröffnet, die ein Jahr später vollständig in Betrieb ging. Mit Eröffnung der inzwischen stillgelegten Bahnstrecke Homburg – Zweibrücken 1857 wurde er nach Schifferstadt (1847), Ludwigshafen (1853) und Neustadt an der Haardt (1855) der vierte Eisenbahnknotenpunkt innerhalb der damaligen Pfalz. Am 1. Januar 1904 folgte die Strecke Homburg – Limbach – Kirkel – Rohrbach, die wie die vier Monate später vollendete Glantalbahn aus strategischen Gründen errichtet worden war. Somit war die Bahnstrecke entlang des Glans die letzte, die an den Bahnhof angeschlossen wurde. Während die Personenzüge der Glantalbahn die aus der Ludwigsbahn hervorgegangene Bahnstrecke Mannheim – Saarbrücken niveaufrei unterquerten, gab es für Güterzüge auf dieser inzwischen stillgelegten Strecke ein gesondertes Gleis, das direkt in den Bahnhof führte. Nach dem Ersten Weltkrieg war der Bahnhof Teil des Saargebiets und nach dem Zweiten Weltkrieg Teil des Saarlandes, weshalb er entsprechend umbezeichnet wurde. Als Folge dieser Entwicklung verkehrten die Züge der Bliestalbahn in der Regel nach Homburg anstatt wie zuvor nach Zweibrücken. Der Personenverkehr nach Zweibrücken endete 1989, der ins Bliestal 1991. Neben der Magistrale von Mannheim nach Saarbrücken ist der Bahnhof östlicher Endpunkt der Strecke aus Neunkirchen, die ab Bexbach ebenfalls Teil der historischen Ludwigsbahn ist. Erbach Erbach erhielt ein kleineres Empfangsgebäude. Zusammen mit dem Haltepunkt Sambach an der Lautertalbahn war der Haltepunkt wegen seiner peripheren Lage die unrentabelste Betriebsstelle im Netz der Pfalzbahn. So wurden 1905 lediglich 547 Fahrkarten verkauft und 16,49 Tonnen Güter empfangen beziehungsweise versandt. Der Homburger Hauptbahnhof liegt ebenfalls teilweise auf der Erbacher Gemarkung und sogar näher beim Ort Erbach als die frühere Bahnstation Erbach. Der Bahnhof Erbach wurde bereits 1905, ein Jahr nach der offiziellen Streckeneröffnung, aufgegeben. In der Folgezeit fungierte er als Zwischenblockstelle Erbach Posten Nummer 2904. Heute befindet sich dort das Ria-Nickel-Tierheim Homburg. Jägersburg Bei der Eröffnung hieß der Bahnhof Jägersburg-Waldmohr. Bis 1905 zweigte dort die sogenannte Nordfeldbahn zur Grube Nordfeld ab, die im Frühjahr 1903 freigegeben worden war. In diesem Zusammenhang war der Streckenabschnitt Homburg–Jägersburg bereits inoffiziell für Güterzüge zur Grube freigegeben worden. Die Grube Nordfeld musste bereits zum Jahreswechsel 1904/1905 schließen, womit die Anschlussbahn nach zwei Betriebsjahren ihre Funktion verlor. Schon früh stritten sich die Gemeinden Jägersburg und Waldmohr um den Namen, da der Bahnhof zwar auf der Gemarkung von Jägersburg, jedoch in der Nähe von Waldmohr steht. In der Folgezeit wechselte die Bezeichnung der Anlage ständig: 1905 bis 1912 hieß sie Waldmohr-Jägersburg, von 1912 bis 1921 Waldmohr, von 1921 bis 1936 Jägersburg, von 1936 bis 1947 erneut Waldmohr-Jägersburg, ab 1947 Jägersburg. Durch die temporäre Abtrennung des Saargebiets beziehungsweise des heutigen Saarlandes fungierte er von 1920 bis 1935 sowie von 1947 bis 1956 als Zollbahnhof. Der Bahnhof wurde 1957 aufgelassen und drei Jahre später als Zugfolgestelle aufgegeben. Er ist mit dem dazugehörenden Gelände seit Jahren ungenutzt und hat den schlechtesten Zustand aller ehemaligen Bahnhöfe der Glantalbahn. Im Juni 2012 dienten Gebäude und Umfeld als Kulisse der vom Saarländischen Rundfunk produzierten Tatort-Folge Eine Handvoll Paradies. Anschlussstelle Waldmohr und Ladestelle Fregoma 1967 kam es zwischen der Deutschen Bundesbahn und der Gemeinde Waldmohr zu einem Vertrag mit dem Inhalt, bei Streckenkilometer 6,7 einen Gleisanschluss für das örtliche Industriegebiet einzurichten. Diese Anschlussstelle (Anst.) Waldmohr genannte Betriebsstelle wurde von zwei Unternehmen aus der Stahlbaubranche genutzt. Obwohl sie regelmäßig bedient wurde, hatte sie stets eine untergeordnete Bedeutung. Zuletzt wurde sie sehr selten bedient, ehe der dortige Verkehr Anfang 1995 eingestellt wurde. 300 Meter weiter befand sich auf dem Streckengleis die Ladestelle Frego. Schönenberg-Kübelberg Schönenberg-Kübelberg war stets der wichtigste Bahnhof zwischen Homburg und Glan-Münchweiler. Bedingt durch die temporäre Abtrennung des Saargebiets bzw. des Saarlandes war Schönenberg-Kübelberg von 1920 bis 1935 und von 1947 bis 1959 Zollbahnhof. Aus diesem Grund hielt der in den Jahren 1926 und 1927 in Richtung Wiesbaden über die Glantalbahn verkehrende Calais-Wiesbaden-Express ebenfalls dort. Der Bahnhof hatte einst einen umfangreichen Güterverkehr, der 1989 beendet wurde. Er verfügte über einen Güterschuppen und eine Verladerampe. Er war Unterwegshalt der Eilzüge Zweibrücken – Mainz. Zum Zeitpunkt der Einstellung des Personenverkehrs zwischen Homburg und Glan-Münchweiler 1981 war er nur noch einer von zwei Bahnhalten entlang dieses Streckenabschnitts. Die frühere Bahnhofsanlage mit dem Empfangsgebäude, einem Pissoir, einem Lagergebäude, dem Bahnsteig und einem Bahnhofshotel, ist inzwischen eine Denkmalzone. Sand Der Haltepunkt wurde Anfang der 1960er Jahre auf der Trasse des damals bereits abgebauten zweiten Gleises eröffnet, allerdings 15 Jahre später wieder aufgegeben. Elschbach Der Bahnhof erhielt ein kleineres Empfangsgebäude. Er lag weit entfernt von der gleichnamigen Ortschaft an der Straße nach Gries und diente als gemeinsamer Bahnhof von Elschbach, Gries und Miesau. In unmittelbarer Nähe entstand in der Folgezeit die zu Elschbach gehörende Siedlung Am Bahnhof. Ursprünglich verfügte er über ein Ladegleis, das nach dem Zweiten Weltkrieg nicht mehr existierte. 1961 wurde er in Zusammenhang mit der Inbetriebnahme eines ortsnahen Haltepunktes für Elschbach in Elschbach Bahnhof umbenannt, obwohl er betriebstechnisch nur noch ein Haltepunkt war. 1978, drei Jahre bevor der Personenverkehr zwischen Homburg und Glan-Münchweiler zum Erliegen kam, wurde er im Personenverkehr aufgegeben. Bereits rund ein Jahrzehnt zuvor gab es dort keinen Güterverkehr mehr. Elschbach Ort Der Haltepunkt entstand 1961 auf der Trasse des bereits abgebauten zweiten Gleises unweit des Elschbacher Tunnels. wurde aber 15 Jahre später stillgelegt. Dietschweiler Bis 1912 hieß der Bahnhof Dietschweiler-Nanzweiler und war mit einem größeren Empfangsgebäude ausgestattet. Es hat einen Giebel, der in ein Treppenhaus mündet und einen Anbau mit eineinhalb Stockwerken. Er besaß einen Güterschuppen und ein Ladegleis. Zum Wechsel in den Sommerfahrplan am 23. Mai 1954 wurde der Bahnhof in einen Haltepunkt umgewandelt. Ab den 1960er Jahren war er nicht mehr besetzt. Obwohl die Signale mit ihren entsprechenden Anlagen zunächst bestehen blieben, wurde er durchgeschaltet. Zur selben Zeit endete die Bedienung im Güterverkehr. Im Zuge der Einstellung des Personenverkehrs zwischen Homburg und Glan-Münchweiler 1981 war er mit dem Bahnhof Schönenberg-Kübelberg einer von zwei verbliebenen Unterwegshalten entlang dieses Streckenabschnitts. Nanzweiler Der Haltepunkt wurde 1961 auf der Trasse des bereits abgebauten zweiten Gleises eröffnet und Ende der 1970er Jahre wieder geschlossen. Glan-Münchweiler Der Bahnhof entstand 1868 als Teil der Bahnstrecke Landstuhl – Kusel. Er erhielt ein größeres, zweieinhalbgeschossiges Empfangsgebäude, das sich stilistisch an das anderer, in den 1860er und 1870er Jahren gebauter pfälzischer Bahnhöfe anlehnt. Ein Vorbau aus Holz wurde in den 1990er Jahren demontiert. Von 1943 bis 1947 hieß der Bahnhof Glanmünchweiler. Seit der Eröffnung der Glantalbahn 1904 war er Trennungsbahnhof, womit umfangreiche Gleiserweiterungen verbunden waren. Er besaß zwei Stellwerke. Mit der Einstellung des Personenverkehrs auf dem Streckenabschnitt Homburg – Glan-Münchweiler 1981 und der drei Jahre später erfolgten Stilllegung ab Schönenberg-Kübelberg verlor er seine Funktion als Kreuzungsbahnhof, da der Güterverkehr sich damals ausschließlich von Homburg nach Schönenberg-Kübelberg bewegte. Die Bahnsteige wurden zwischenzeitlich modernisiert, das Empfangsgebäude hat für den Betrieb keine Bedeutung mehr. Rehweiler Als die Strecke nach Kusel 1868 eröffnet wurde, war Rehweiler nur ein Haltepunkt. Er verfügte zunächst über ein Stationsgebäude mit den Toiletten, einer Waschküche und einem Stall. Erst mit dem Bau der Glantalbahn und dem damit verbundenen zweigleisigen Ausbau der Bestandsstrecke Glan-Münchweiler – Altenglan wurde er als Bahnhof umgewandelt. Er erhielt eine Laderampe und ein 163 Meter langes Ladegleis. Aus dieser Zeit stammt das noch bestehende Empfangsgebäude, das sich optisch von den entsprechenden Gebäuden entlang der Strecke Landstuhl – Kusel unterscheidet. Es lehnt sich stilistisch an die Empfangsgebäude an, die auf der benachbarten Glantalbahn an kleineren Bahnhöfen wie Bedesbach-Patersbach, Elschbach, Erbach, Eschenau, Niederalben-Rathsweiler, Niedereisenbach-Hachenbach, Ulmet und Wiesweiler errichtet wurden. Zum Wechsel in den Sommerfahrplan 1954 wurde der Bahnhof in einen Haltepunkt umgewandelt. 1959 verlor der Bahnhof seine Abfertigungsbefugnisse im Expressgut- und Güterverkehr. Als Teil der Verbindung nach Kusel ist er nach wie vor in Betrieb. Eisenbach-Matzenbach Der heutige Haltepunkt wurde bereits 1868 als Haltestelle der Bahnstrecke Landstuhl–Kusel eröffnet. Er verfügte damals über ein 42 Meter langes Ladegleis, an das sich ein Kohlelager anschloss. Er befindet sich zwischen Eisenbach im Westen und Matzenbach im Osten. Diese geografische Lage führte dazu, dass sich beide Orte um seinen Namen stritten. 1907 wurde der Bahnhof in Matzenbach umbenannt, erhielt 14 Jahre später aber wieder seinen ursprünglichen Namen Eisenbach-Matzenbach. Nach dem zweigleisigen Ausbau zwischen Glan-Münchweiler und Altenglan im Zuge der Errichtung der Glantalbahn wurde das Ladegleis auf eine Länge von 52 Metern erweitert; unmittelbar daran schloss sich ein 24 Meter langes Privatgleis an. Sein untypisches Empfangsgebäude erinnert an ein Wohnhaus und wurde mehrfach umgebaut. Im Laufe der Jahrzehnte wandelte es sein äußeres Erscheinungsbild wie kein anderes entlang der Bahnstrecke. Zum Wechsel in den Sommerfahrplan 1954 wurde der Bahnhof in einen Haltepunkt umgewandelt. 1959 verlor der Bahnhof seine Abfertigungsbefugnisse im Expressgut- und Güterverkehr. Anfang der 1980er Jahre wurde er als Haltepunkt zurückgebaut; er wird aber noch angefahren. Theisbergstegen Dieser Bahnhof entstand ebenfalls schon 1868 als Teil der Bahnstrecke Landstuhl – Kusel. Er erhielt ein kleineres Empfangsgebäude, das später umgebaut wurde. 1901 stattete man den Bahnhof mit einer Waage und einem Abstellgleis aus. Im Güterverkehr hatte der Bahnhof aufgrund des benachbarten örtlichen Steinbruchs stets eine große Bedeutung. Von 1892 bis 1907 verfügte eine Thomasschlackenmühle zwischen Theisbergstegen und Rutsweiler am Glan über eine Feldbahn, die zum Bahnhof führte. Der Steinbruch wurde 2004 geschlossen; damals war Theisbergstegen der letzte Bahnhof entlang der Glantalbahn mit Güterverkehr. Für den Personenverkehr wird der Bahnhof noch benutzt, es gibt jedoch keine Kreuzungsmöglichkeit mehr. Altenglan Der Bahnhof wurde schon 1868 an der Bahnstrecke Landstuhl – Kusel errichtet, wobei er zunächst ein größeres Empfangsgebäude erhielt. Mit der Umwidmung als strategische Strecke wurde er als Keilbahnhof umgebaut, was ein neues Empfangsgebäude zwischen den beiden Gleissträngen notwendig machte. Das ursprüngliche Bahnhofsgebäude diente nach Inbetriebnahme der Glantalbahn zur Güterabfertigung und steht jetzt unter Denkmalschutz. Zudem besaß der Bahnhof zwei Stellwerke. Seit Mitte des 19. Jahrhunderts existierte in der Nähe des Schneeweiderhofes ein Steinbruch (Besitzer Hugo Bell), für den eine Feldbahn zum Bahnhof Altenglan gebaut wurde. Nördlich des Bahnhofs entstanden mehrere Ladegleise, im Bahnhofsbereich wurde eine Verladeanlage gebaut; eine Seilbahn beförderte das Material aus dem Steinbruch dorthin. Nach dem Zweiten Weltkrieg wurden die Steinbrüche in der unmittelbaren Umgebung von Altenglan aufgegeben. In Altenglan befindet sich ein Depot der Trans regio, das an andere Bahngesellschaften vermietet ist. Der Bahnhof ist südlicher Ausgangspunkt des jetzt als Draisinenstrecke benutzten Abschnitts der Glantalbahn von Altenglan nach Staudernheim. Bedesbach-Patersbach Bis 1905 hieß der Bahnhof Bedesbach. Er befand sich am südwestlichen Ortsrand der entsprechenden Gemeinde. Auf der anderen Seite des Glans schließt sich Patersbach an. 1938 erhielt der Bahnhof aus militärischen Gründen eine Verladerampe, die längste entlang der gesamten Glantalbahn. Ab 1964 war er nur noch einer von insgesamt zwei Kreuzungsbahnhöfen auf dem Abschnitt Altenglan – Lauterecken-Grumbach. Als Gütertarifpunkt hatte er für den benachbarten Bedesbacher Steinbruch große Bedeutung, der bis 1989 bedient wurde. Anlass für die Kündigung dieses Anschlusses durch die Bundesbahn war, dass eine Erneuerung der entsprechenden Gleisanlagen notwendig gewesen wäre. Bis etwa 1980 bestand für das ebenfalls in der Nähe gelegene NATO-Tanklager ein Anschlussgleis, das jedoch nur selten befahren wurde, so beispielsweise als es im Winter 1963/1964 sehr kalt war und in Südwestdeutschland die Versorgung mit Öl schwierig war. Ulmet Das kleinere Empfangsgebäude steht mit der einstöckigen Lagerhalle einschließlich der Laderampe und dem früheren Abort- und Stallschuppen unter Denkmalschutz. Zum Wechsel in den Sommerfahrplan 1954 wurde der Bahnhof in einen Haltepunkt umgewandelt. 1959 verlor der Bahnhof die Abfertigungsbefugnisse im Güter- und Expressgutverkehr. Bereits ab Anfang der 1960er Jahre war die Station nicht mehr besetzt, die Signalanlagen wurden durchgeschaltet. Da 1962 das zweite Gleis zwischen Bedesbach-Patersbach und St. Julian demontiert wurde, waren fortan keine Zugkreuzungen vor Ort mehr möglich. Nach der Einstellung des Personenverkehrs zwischen Altenglan und Lauterecken-Grumbach 1985 verkehrten noch Übergabezüge bis Ulmet. Der Güterverkehr, bei dem bis zuletzt vor allem die Entladung von Kohle eine Rolle gespielt hatte, hielt sich am Bahnhof bis 1991. Niederalben-Rathsweiler Der Bahnhof, der ein kleineres Empfangsgebäude besaß, hatte eine eher untergeordnete Bedeutung. Er lag etwas außerhalb der beiden namensgebenden Gemeinden Niederalben und Rathsweiler. In den ersten Jahrzehnten seines Bestehens spielte im Güterverkehr vor Ort die Verladung von Baryt eine gewisse Rolle. Zum Wechsel in den Sommerfahrplan 1954 wurde der Bahnhof in einen Haltepunkt umgewandelt. Eschenau (Pfalz) Dieser Bahnhof war von vergleichsweise geringer Bedeutung. Von Ende 1917 bis Ende 1918 musste er vorübergehend aufgelassen werden. Bereits 1922 war seine Existenz erneut gefährdet. 1959 verlor er seine Abfertigungsbefugnisse im Expressgut- und Güterverkehr. Das kleinere Empfangsgebäude ist mit dem früheren Lagerschuppen denkmalgeschützt. 1986, ein Jahr nach Aufhebung der Personenbeförderung, kaufte ein Maler das Gebäude und richtete darin eine Galerie und eine private Akademie ein. Dadurch wurde das Haus als Kunstbahnhof überregional bekannt. St. Julian Bis 1912 hieß der Bahnhof St. Julian-Gumbsweiler. Er besaß zwei Stellwerke. Im Güterverkehr hatte er durch einen benachbarten Steinbruch in Obereisenbach eine gewisse Bedeutung. Nach 1945 wurde der Steinbruch wegen gesunkener Nachfrage geschlossen. Ab 1964 war der Bahnhof einer von nur noch zwei Kreuzungsbahnhöfen auf dem Abschnitt Altenglan – Lauterecken-Grumbach. Er war Unterwegshalt der Eilzüge Zweibrücken – Mainz. Niedereisenbach-Hachenbach Der frühere Bahnhof befindet sich in Niedereisenbach. Er erhielt ein kleineres Empfangsgebäude. Zum Wechsel in den Sommerfahrplan 1954 wurde der Bahnhof in einen Haltepunkt umgewandelt. Bereits ab Anfang der 1960er Jahre war es nicht mehr besetzt. Das Empfangsgebäude aus Sandstein gelangte nach dem Verkauf durch die Bundesbahn in Privatbesitz und wurde restauriert. Es steht inzwischen zusammen mit dem einstöckigen Lagerhaus samt Rampe und dem Aborthaus unter Denkmalschutz. Wie in allen Orten auf dem Abschnitt Altenglan – Staudernheim befindet sich dort heute eine Draisinenstation, die nach der Ortsgemeinde Glanbrücken benannt ist, zu der die beiden Orte im Zuge der rheinland-pfälzischen Verwaltungsreform 1969 zusammengelegt wurden. Bereits bevor der Personenverkehr zwischen Altenglan und Lauterecken-Grumbach 1985 eingestellt wurde, kam der Güterverkehr vor Ort zum Erliegen. Offenbach-Hundheim Der Bahnhof befand sich in der Ortsmitte von Offenbach am Glan. Er bestand aus einem größeren Empfangsgebäude, einem Güterschuppen, einem Aborthaus, einem Stellwerk, einem Ladeplatz, einem Kohlenlager und einer Laderampe. Er verfügte zunächst über drei Hauptgleise. Die Länge der Nebengleise betrug insgesamt 369 Meter. Nachdem auf dem Abschnitt St. Julian – Lautertecken-Grumbach das zweite Gleis stillgelegt worden war, waren in Offenbach-Hundheim noch für kurze Zeit Zugkreuzungen möglich, ehe die Weichen ebenfalls demontiert wurden. Er war Unterwegshalt der Eilzüge Zweibrücken – Mainz. Als letzter Gütertarifpunkt zwischen Ulmet und Lauterecken-Grumbach wurde der Bahnhof Offenbach-Hundheim in der zweiten Hälfte der 1980er Jahre aufgegeben. Das Hauptgebäude dient heute als Wohnhaus, im Güterschuppen befindet sich ein Gewerbebetrieb. Wie an allen Orten zwischen Altenglan und Staudernheim befindet sich dort heute eine Draisinenstation. Auf seiner Straßenseite befindet sich eine Bushaltestelle. Wiesweiler Der Bahnhof befand sich in unmittelbarer Nähe der Ortsmitte von Wiesweiler unweit des orografisch linken Ufers des Glans. Entlang der Glantalbahn war er der letzte Bahnhof, der vollendet wurde. Ihm kam sowohl im Personen- als auch im Güterverkehr eine nur untergeordnete Bedeutung zu. So wurden beispielsweise 1905 nur 4074 Fahrkarten verkauft und 743,81 Tonnen Güter empfangen bzw. versandt. Der Bahnhof konnte während des Ersten Weltkrieges ab November 1917 wegen Personalmangel für die Dauer von elf Monaten nicht bedient werden. Entsprechend seiner Bedeutung fiel das Empfangsgebäude klein aus. Er verfügte über einen Güterschuppen, eine Rampe und ein Ladegleis. Dieses wurde nach dem Zweiten Weltkrieg demontiert und Wiesweiler war nur noch Haltepunkt. Seit 2000 befindet sich an der Stelle des Bahnhofs eine Draisinenstation. Lauterecken-Grumbach Der Bahnhof wurde 1904 eröffnet, da der seit 1883 bestehende Bahnhof Lauterecken sich wegen der Verknüpfung von Lauter- und Glantalbahn in einer ungünstigen Lage befand. Er erlangte im Güterverkehr eine große Bedeutung, da der Steinbruch Holzer eine Feldbahn betrieb, die an einer Verladerampe südlich des Bahnhofs endete. Eine Seilbahn der Steinbrüche Holzmann reichte ebenfalls bis zum Bahnhof. Der letzte Kunde in Lauterecken war die örtliche Textilfabrik, deren Schließung 1993 das Ende des Güterverkehrs innerhalb der Stadt bedeutete. Aufgrund seiner Bedeutung als Kreuzungsbahnhof erhielt er ein größeres Empfangsgebäude als die meisten anderen Bahnhöfe entlang der Glantalbahn. Das frühere Stellwerk im südlichen Bahnhofsbereich ist noch vorhanden und steht unter Denkmalschutz. Medard Bei der Eröffnung verfügte der Bahnhof über vier Weichen, zwei Kopfgleise mit einer Nutzlänge von 123 Metern und eine Verladerampe. Er besaß ein kleineres Bahnhofsgebäude mit eineinhalb Stockwerken und einen angebauten Güterschuppen. 1901 erhielt der Bahnhof eine Brückenwaage. 1946 wurde er um ein Anschlussgleis erweitert, das zu einer Lagerhalle führte und das in den Folgejahrzehnten regelmäßig bedient wurde. Odenbach Der Bahnhof besaß ein großes, zweieinhalbstöckiges Empfangsgebäude. Nach seiner Eröffnung standen ihm insgesamt fünf Weichen und zwei Kopfgleise mit einer Nutzlänge von 100 Metern zur Verfügung, außerdem Nebengleise mit 258 Meter Nutzlänge und eine kleine Verladerampe. Bis Anfang der 1920er Jahre spielte im Güterverkehr die Verladung von Kohle aus benachbarten Bergwerken eine Rolle. Am 9. November 1944 wurde der Bahnhof bei Kampfhandlungen des Zweiten Weltkriegs angegriffen. Meisenheim (Glan) Der Bahnhof Meisenheim wurde bereits im Oktober 1896 eröffnet. Er hatte auf dem Streckenabschnitt zwischen Lauterecken und Odernheim eine gewisse Bedeutung. Er besaß zunächst neun Weichen, eine Kopf- und eine Seitenrampe, ein Überholgleis, einen großen Güterschuppen und mehrere Nebengleise, die insgesamt 297 Meter lang waren. Im Rahmen der Umbauten von 1904 beim Bau der strategischen Glantalbahn wurden die Überholgleise auf über 550 Meter gemäß den Vorgaben für militärische Belange verlängert. Von 1965 bis 1979 war er Unterwegshalt der Eilzüge Zweibrücken – Mainz. Im Güterverkehr war das Aufkommen zwar geringer als an vielen anderen Stationen der Bahnstrecke, jedoch war er ab 1988 der letzte Gütertarifpunkt im nördlichen Teil der Glantalbahn; erst 1993 wurde er geschlossen. Seit 2000 ist der Bahnhof eine Draisinenstation auf der Glanstrecke. Sein markantes Empfangsgebäude, der Güterschuppen und weitere Nebengebäude stehen unter Denkmalschutz. Zudem besaß er zwei Stellwerke. Raumbach Der Bahnhof verfügte über ein Empfangs- und Abortgebäude. Im November 1917 musste der Bahnhof wegen Personalmangel für elf Monate unbesetzt bleiben. Nach dem Zweiten Weltkrieg wurde Raumbach als Haltepunkt zurückgebaut. Der Güterverkehr war bereits vor Einstellung des Personenverkehrs 1986 zum Erliegen gekommen. Rehborn Bei der Eröffnung verfügte der Bahnhof, der ein kleineres Empfangsgebäude erhielt, über vier Weichen, zwei Kopfgleise, deren Nutzlänge 119 Meter betrug, sowie über eine kleine Verladerampe. Zum Wechsel in den Sommerfahrplan 1954 wurde der Bahnhof in einen Haltepunkt umgewandelt. In den letzten Jahren der Personenbeförderung machte der einen sehr naturnahen Eindruck: So war der Bahnsteig mit Rasen überwuchert und Bäume in unmittelbarer Nähe boten Schutz vor Regen. Odernheim (Glan) Von Oktober 1896 bis Juni 1897 war Odernheim Endbahnhof des unteren Glantalbahnabschnitts, der zunächst die Fortsetzung der seit 1883 bestehenden Lautertalbahn bildete. Am 1. Juli 1897 erfolgte die Durchbindung bis Staudernheim. Ab 1904 teilte sich die Glantalbahn in Odernheim in den Abschnitt nach Staudernheim und in den strategischen Abschnitt nach Bad Münster am Stein; letzterer war bis 1961 in Betrieb. Der Bahnhof besaß zwei Stellwerke. Er war Unterwegshalt der Eilzüge Zweibrücken – Mainz. Das frühere Empfangsgebäude ist denkmalgeschützt. Staudernheim Der Bahnhof existiert seit 1859 und war zunächst eine Durchgangsstation der Rhein-Nahe-Bahn und die einzige Betriebsstelle von Hessen-Homburg. Nach der Durchbindung der unteren Glantalbahn bis zum Bahnhof wurde dieser erweitert. Mit Eröffnung der strategischen Strecke nach Bad Münster war das Teilstück zwischen Odernheim und Staudernheim vorübergehend eine Verbindungskurve, nach Stilllegung des Abschnitts Odernheim – Bad Münster 1961 gewann es wieder an Bedeutung. Duchroth Bis 1912 hieß der Bahnhof Duchroth-Oberhausen. Westlich des Bahnhofs besaß der Steinbruch der Firma Krebs & Co. ein Verladegleis, östlich davon gab es Gleise der Kirner Hartsteinwerke und des Kraftwerks Niederhausen. Trotz ihres Namens befand sich diese Bahnstation auf der Gemarkung von Oberhausen an der Nahe, während Duchroth zwei Kilometer entfernt lag. 1961 wurde der Bahnhof in einen Haltepunkt umgewandelt, die Signale unmittelbar danach abgebaut. Die Bevölkerung von Duchroth nahm die Stilllegung des Abschnitts Odernheim – Bad Münster und die Stilllegung des Bahnhofs 1961 positiv auf. Bad Münster am Stein Der Bahnhof entstand 1859 als Unterwegsbahnhof der Nahetalbahn. Mit der durchgehenden Eröffnung der Alsenztalbahn 1871 wurde er Trennungsbahnhof. Die Glantalbahn wurde als letzte Strecke an den Bahnhof angebunden. Dadurch war er Knotenpunkt dreier zweigleisiger Strecken. Aufgrund seiner Bedeutung als strategischer Eisenbahnknotenpunkt wurde er im Zweiten Weltkrieg bombardiert. Bei seinem Empfangsgebäude handelt es sich um ein denkmalgeschütztes Jugendstilgebäude, das teilweise Fachwerk enthält. Es wurde um 1910 im Zuge des strategischen Bahnbaus fertig gestellt. Hinsichtlich seiner Architektur wurde der Tatsache, dass Bad Münster ein Kurort ist, Rechnung getragen. Bereits 1961 wurde der Glantalbahn-Abschnitt Odernheim – Bad Münster stillgelegt, lediglich der in diesem Bereich abzweigende Gleisanschluss zum Kraftwerk Niederhausen wurde noch bis 1992 bedient. Bereits Ende der 1980er Jahre war der Bahnhof als Gütertarifpunkt geschlossen worden. Unfälle Am 16. Januar 1918 ereignete sich auf der Nahetalbahn wegen eines Dammrutsches nach Schneefall und Tauwetter ein Zugunglück, sodass der Abschnitt zwischen Odernheim und Staudernheim bis Oktober gesperrt bleiben musste. Da die Nahestrecke dadurch mehrere Monate lang unbefahrbar blieb, wurde der Verkehr über das Glantal umgeleitet. Durch die daraus resultierende Überlastung der Bahnstrecke ereignete sich am 30. Januar 1918 in Offenbach ein Unfall, der zu einer dreitägigen Sperre der Strecke führte. Im November 1928 wurden durch einen Sturm Bohlen auf die Gleise des Bahnhofs Odernheim geschleudert. Daraufhin entgleisten die Lokomotive und der Packwagen eines Personenzuges, wobei der Lokführer getötet wurde. Am 10. Juni 1929 entgleiste ein Güterzug, als dieser in das Ein- und Ausladegleis des Bahnhofs St. Julian rangiert werden sollte. Der Grund war ein Defekt an einer Weiche. Es entstanden lediglich Materialschäden; Personen blieben unversehrt. Am 11. Mai 1970 entgleiste durch einen vermurten Bahnübergang ein Zug zwischen Altenglan und Theisbergstegen. Dabei starben zwei Menschen, neun wurden verletzt. Die Bahnstrecke musste für mehrere Stunden gesperrt werden. Rezeption Heinz Sturm schrieb 1967 in seinem Werk Die pfälzischen Eisenbahnen, dass bei der Glantalbahn „zwei Komplexe zu erkennen“ seien. So zum einen „ein bayerisches Projekt, das von Altenglan aus den Anschluß an die Nahebahn suchte und eine große strategische Konzeption, zwischen die Endpunkte Bad Münster am Stein und Brebach an der Saar eingespannt.“ Die Anlagen seien inzwischen „veraltet“, dennoch arbeiteten sie „trotz ihres Alters noch betriebssicher und verhältnismäßig störungsfrei“. Albert Mühl charakterisierte die Glantalbahn in seinem 1982 erschienenen Buch Die Pfalzbahn als „Hauptbahnstrecke, die nie eine solche werden sollte“. Bei ihr handele es sich um eine „verkehrswirtschaftlich völlig unsinnige, […] aufoktroyierte Rennbahn“. Klaus-Detlev Holzborn bezeichnete die Glantalbahn als „trauriges Beispiel“ dafür, dass Bahnstrecken aus strategischen Gründen gebaut wurden. Mit der Stilllegung des Personenverkehrs sei eine „landschaftlich schöne Strecke verloren“ gegangen. Diese Einschätzung wurde anderweitig ebenfalls geteilt. Fritz Engbarth spricht von einem „Mythos Glantalbahn“. Im Zuge ihrer Umwandlung in eine Draisinenstrecke sei sie „zu einer äußerst erfolgreichen Touristenattraktion mit Anziehungskraft weit über die Pfalz und das Nahetal hinaus geworden“. Literatur Heinz Sturm: Die pfälzischen Eisenbahnen (= Veröffentlichungen der Pfälzischen Gesellschaft zur Förderung der Wissenschaften. Band 53). Neuausgabe. pro MESSAGE, Ludwigshafen am Rhein 2005, ISBN 3-934845-26-6, S. 233–236. Anmerkungen Weblinks Informationen zur Strecke von Michael Strauß Informationen zur Strecke von Markus Göttert und Marcus Ruch Informationen zur Strecke von Fritz Engbarth Informationen zur Strecke von Lothar Brill Sommerfahrplan Glantalbahn 1917 Einzelnachweise Bahnstrecke in Rheinland-Pfalz Bahnstrecke im Saarland Westpfalz Verkehr (Pfalz)
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https://de.wikipedia.org/wiki/Andrew%20Bonar%20Law
Andrew Bonar Law
Andrew Bonar Law (* 16. September 1858 in Rexton, New Brunswick; † 30. Oktober 1923 in London, England) war ein britischer Politiker der Konservativen Partei und Premierminister des Vereinigten Königreichs von Oktober 1922 bis Mai 1923. In der britischen Kolonie New Brunswick geboren, wurde Bonar Law nach dem frühen Tod seiner Mutter mit zwölf Jahren von Verwandten nach Schottland geholt, wo er in mittelständischen Verhältnissen aufwuchs und früh mit Politikern der Konservativen Partei in Kontakt kam. Nach einer Ausbildung im Bankgeschäft seiner Verwandten wurde er 1885 Teilhaber eines Metallverarbeitungsunternehmens und kam zu Wohlstand. 1900 wurde er für die Konservativen ins britische Unterhaus gewählt. Er schloss sich dem von Joseph Chamberlain geführten Parteiflügel an, der für eine Abkehr vom damals herrschenden Freihandelsdogma und eine politische Union unter den Commonwealth-Staaten warb. Nach der verheerenden Niederlage bei den Unterhauswahlen von 1906 und dem Rückzug Chamberlains stieg er schnell zu einem der führenden Exponenten seiner Partei auf. 1911 wurde er zum Führer der Konservativen im Unterhaus gewählt. In den folgenden Jahren steuerte er seine Partei in immer heftigere politische Auseinandersetzungen um die sozialen Reformvorhaben der regierenden Liberalen. Bei der umstrittenen Frage der Selbstverwaltung Irlands (Home Rule) führte Bonar Laws gemeinsame Agitation mit dem konservativen Demagogen Edward Carson das Vereinigte Königreich bis an den Rand eines Bürgerkriegs, bis der Ausbruch des Ersten Weltkriegs im August 1914 zu einem Stillhalteabkommen in der Parteipolitik führte. 1915 traten Bonar Law und die Konservativen in eine große Koalitionsregierung unter dem liberalen Premierminister H. H. Asquith ein, in der Law Kolonialminister wurde. Nach Differenzen über die Fortführung des Krieges fanden sich Bonar Law, der liberale Kriegsminister David Lloyd George und Carson 1916 zusammen und stürzten Asquith. In der folgenden Koalitionsregierung unter dem neuen Premier Lloyd George avancierte Bonar Law zum zweiten Mann und amtierte bis 1919 als Schatzkanzler sowie als Leader of the House of Commons und Lordsiegelbewahrer, bis ihn 1921 gesundheitliche Gründe zum Rücktritt von der Parteiführung und zum Ausscheiden aus der Regierung zwangen. Im Oktober 1922 kehrte er jedoch auf die politische Bühne zurück und beteiligte sich an der erfolgreichen Parteirevolte gegen die konservative Parteiführung und die weitere Koalition mit den Liberalen um Lloyd George. Daraufhin wurde er zum Premierminister einer neu gebildeten konservativen (Allein)regierung. An Krebs erkrankt, trat er bereits im Mai 1923 zurück und starb nur wenige Monate später. Herkunft Andrew Bonar Law wurde in Rexton (damals noch Kingston genannt) in New Brunswick geboren, welches damals noch kein Teil von Kanada war. Er war der vierte Sohn von Reverend James Law und Elizabeth Annie Kidston Law. Benannt nach Andrew Bonar (einem Vertreter der Free Church of Scotland), wurde er in der Familie immer mit seinem zweiten Vornamen Bonar angesprochen; er selbst unterschrieb zunächst als „A.B. Law“, dann als „A. Bonar Law“. Für seine Zeitgenossen war er immer nur als Bonar Law bekannt. Sein Vater war ein schwermütiger presbyterianischer Geistlicher, der aus der nordirischen Provinz Ulster stammte. Seine Mutter starb, als Bonar Law gerade zwei Jahre alt war. Seine unverheiratete Tante Janet Kidston übersiedelte daraufhin aus dem schottischen Glasgow und übernahm im Haushalt die weibliche Rolle. Als Bonar Law zwölf Jahre alt war, heiratete sein Vater erneut. Janet Kidston entschloss sich daraufhin nach Glasgow zurückzukehren, schlug jedoch vor, dass sie den jungen Bonar Law mit sich nehmen könnte, da die Familie mütterlicherseits finanziell bessergestellt sei. Sowohl James Law als auch sein Sohn stimmten zu und der junge Bonar Law wuchs in der Folge in Schottland bei reichen Cousins aus der im Bankgeschäft tätigen Familie seiner Mutter auf. Sein Vater war 1877 aufgrund schlechter Gesundheit gezwungen, nach Ulster zurückzukehren, wo er regelmäßig von seinem Sohn besucht wurde. Fünf Jahre später starb er. Auf seinen Sohn übten die Besuche in Ulster einen nachhaltigen Eindruck aus; zeitlebens blieb er Ulster emotional eng verbunden und stellte sich später sofort auf die Seite Ulsters, als es um die politische Zukunft Irlands ging. Nach dem Besuch der Gilbertfield-Vorbereitungsschule besuchte Bonar Law die High School of Glasgow, wo er sich unter anderem durch sein Talent in Sprachen auszeichnete. 1875 verließ er die Schule, da seine Cousins ihm einen Posten in ihrem Büro in Glasgow angeboten hatten. Durch sie kam Law auch früh in Kontakt mit diversen Größen der Konservativen Partei, denn die Kidstons waren, im Gegensatz zur Mehrheit ihres Handelsstandes in Glasgow, begeisterte Anhänger der „Tories“. Sein Interesse an Politik stellte er jedoch in den nächsten Jahren zurück, da unter den damaligen Bedingungen finanzielle Unabhängigkeit eine fast unerlässliche Voraussetzung für eine politische Karriere war – politische Ämter waren in fast allen Bereichen nahezu unbezahlt. Seine Verwandten entschlossen sich 1885, sich aus Altersgründen zurückzuziehen, und fusionierten ihre Firma mit der schottischen Clydesdale Bank. Bonar Law, nun ohne Beschäftigung, wurde mithilfe eines Kredits seiner Cousins daraufhin Teilhaber eines schottischen Metallverarbeitungsunternehmens, welches schnell prosperierte und bald zu einem der profitabelsten Unternehmen im Eisenhandel in Schottland avancierte. Ehe und Familie, Persönlichkeit und Lebensart Im Jahr 1890 lernte Bonar Law Annie Pitcairn Robley kennen, die er im März 1891 heiratete. Seine Frau, Tochter des Glasgower Kaufmanns Harrington Robley, wird als lebensfrohe Person beschrieben, die auf den als nüchtern und hart beschriebenen Charakter ihres Mannes einen mildernden Einfluss hatte und ihn erstmals für soziale Anlässe wie Tanzveranstaltungen und Bälle verpflichten konnte. Bonar Law selbst, ein starker Raucher und ein Abstinenzler in Fragen des Alkoholkonsums, verbrachte ansonsten seine Freizeit vor allem mit Schach und Golf. Von seinen Biografen wird er ausnahmslos als ein nüchterner, frugaler und stark melancholischer Charakter geschildert, der einem vorsichtigen Skeptizismus den Vorzug gab und eine Abneigung gegen gesellschaftliche Anlässe hatte, zu denen er später als Parteiführer widerwillig verpflichtet war. Obwohl der Sohn eines Pfarrers, war er selbst nicht religiös und glaubte in keiner Weise an ein Weiterleben nach dem Tod. Sebastian Haffner charakterisierte ihn in seiner Churchill-Biografie als einen „harten und hölzernen Mann“. Aus der Ehe gingen sieben Kinder hervor, von denen das erste eine Totgeburt war: James Kidston (1893–1917), Isabel Harrington (1895–1969), Charles John (1897–1917), Harrington (1899–1958), Richard Kidston (1901–1980) und Catherine Edith (1905–1992). Charles wurde als Infanteriesoldat im Ersten Weltkrieg bei der Zweiten Schlacht um Gaza im April 1917 getötet; im September 1917 fiel auch sein besonders geliebter Sohn James an der Westfront. Der jüngste Sohn Richard trat in die Fußstapfen seines Vaters und wurde später konservatives Unterhausmitglied und Minister. Die Tochter Isabel heiratete Frederick Sykes, nachdem sie eine zuvor bestehende Verlobung mit Keith Murdoch (dem Vater Rupert Murdochs) gelöst hatte. Die jüngste Tochter Catherine war zweimal verheiratet, zunächst mit Kent Colwell, danach mit George Archibald. 1909 verstarb seine Frau nach einer Operation an der Gallenblase. Der Verlust war ein persönlicher Schicksalsschlag für Bonar Law, von dem er sich nie ganz erholte. Er blieb für den Rest seines Lebens Witwer. Nach dem Tod seiner Frau entwickelte er ein engeres Verhältnis zu seiner Schwester Mary, die sich nun anstelle seiner Frau um seine Familie kümmerte und für ihn zu einer engen Vertrauten wurde. Zudem begann er eine enge Freundschaft mit Max Aitken (später geadelt als Lord Beaverbrook), mit dem er seine Herkunft und viele andere biografische Ähnlichkeiten teilte. Zunehmend vertraute er einem kleinen Kreis enger Freunde und Verwandter; vor allem mit Aitken und später auch mit J. C. C. Davidson pflegte er engen Kontakt, so sehr, dass die beiden von einem Parteifreund als Bonar Laws unvermeidliche Begleiter beschrieben wurden. Im Unterhaus 1897 erhielt Bonar Law die Anfrage, ob er ein Kandidat der Konservativen Partei für das britische Unterhaus werden wolle. 1898 wurde er offiziell als Kandidat für einen der sieben Wahlkreise von Glasgow (Blackfriars und Hutchestown) vorgestellt, der als von der Arbeiterklasse dominiert galt und seit 1884/1885 in liberaler Hand war. Bei den vorzeitig ausgerufenen Unterhauswahlen im Jahr 1900 setzte sich Bonar Law gegen den bisherigen Amtsinhaber Andrew Provand durch und vertrat daraufhin den Wahlkreis als Abgeordneter im Parlament. Seine erste Rede im Parlament hielt er im Februar 1901. Während die meisten Tories der damaligen Zeit eher einen klassischen Werdegang und somit die Eliteschulen und renommierten Universitäten durchlaufen hatten, war Bonar Law mit seiner rein wirtschaftlichen Ausbildung beinahe sofort prädestiniert für ein Amt mit ökonomischem Hintergrund; von 1902 bis 1905 wurde er parlamentarischer Staatssekretär im Handelsministerium. Bonar Law schloss sich schnell dem protektionistischen Flügel der Partei an, der von Joseph Chamberlain angeführt wurde und den er offen bewunderte. Chamberlain propagierte eine Abkehr vom Freihandelsdogma und die Errichtung von Zollhandelsschranken, von denen die Dominions (unter dem Schlagwort „Imperiale Präferenz“) ausgenommen sein sollten. Dahinter stand seine Vision einer weitergehenden Union zwischen Großbritannien und seinen Dominions (Kanada, Südafrika, Australien und Neuseeland), die er mit einer Zollunion begründen wollte; diese würde in seinen Augen irreversibel sein und schrittweise über eine ökonomische und militärische auch zu einer politischen Union führen. Eine solche Union würde zudem auf lange Sicht allen Klassen immense Vorteile bieten, dazu wäre Großbritanniens machtpolitischer Status auch in der Zukunft abgesichert. Bonar Law war sofort offen für die Idee von Zollschranken und wurde zu einem starken Befürworter von Chamberlains Ideen. Als Chamberlain sich 1906 aufgrund eines schweren Schlaganfalls aus der Politik zurückzog, führte Law zusammen mit Chamberlains Sohn Austen diesen Parteiflügel an. Während Chamberlains Ideen innerhalb der Konservativen Partei binnen weniger Jahre zur maßgeblichen Strömung avancierten und von den meisten konservativen Unterhausmitgliedern befürwortet wurden, war das Thema bei Wahlen niemals mehrheitsfähig. Bei einem großen Teil der Arbeiterklasse waren Zölle sehr unbeliebt, da sie die Zufuhr günstiger Lebensmittel eingeschränkt hätten. Ebenso fühlten sich die Rentner der Mittelschicht von der Idee bedroht, da sie eine Verminderung der Kaufkraft ihrer fixen Renten befürchteten. Außerdem einte Chamberlains Kampagne die zuvor zerstrittene Liberale Partei, traditionell ein starker Befürworter des Freihandels. Bei den Wahlen von 1906 – der letzten Unterhauswahl, die sich noch über mehrere Wochen erstreckte –, errangen die Liberalen einen erdrutschartigen Sieg. Bonar Law selbst unterlag in seinem Glasgower Wahlkreis dem Labour-Kandidaten und späteren Parteivorsitzenden George Nicoll Barnes, der später ein Ministerkollege von Law werden sollte. Als wichtiger Parteigänger fand Law aber schnell einen anderen – für die Konservativen sicheren – Wahlkreis in Dulwich im Süden Londons, wo er im Mai durch eine Nachwahl bestätigt wurde und erneut ins Unterhaus einzog. In den folgenden Jahren entwickelten sich heftige politische Auseinandersetzungen zwischen Liberalen und Konservativen. Die Liberalen versuchten eine sozialliberale Reformgesetzgebung in Gang zu bringen, trafen dabei jedoch auf den energischen Widerstand der Konservativen. Der Führungszirkel der Konservativen, von der verheerenden Niederlage (dem größten Linksruck in der britischen Wahlgeschichte) bei der Unterhauswahl geschockt, sah die eigene Partei in einer existenziellen Krise und griff zunehmend zu radikalen Gegenmaßnahmen. Neben einer immer radikaleren Rhetorik benutzten die Konservativen ihre große Mehrheit im Oberhaus (House of Lords), um die im Unterhaus verabschiedeten Gesetzesentwürfe der Liberalen zu blockieren. Dadurch kam es zu einer Verfassungskrise, die im Januar 1910 und erneut im Herbst des gleichen Jahres zu Neuwahlen führte. Vor diesem Hintergrund folgte Law im Herbst 1910 dem Ruf der Partei, gab seinen sicheren Sitz in Dulwich auf und trat im umkämpften Wahlkreis von Nordwest-Manchester an, um als Spitzenkandidat die Position der Tories in Lancashire zu stärken. Er forderte den liberalen Winston Churchill heraus, der zuvor bis 1908 diesen Wahlkreis vertreten hatte, gegen ihn in einem Kampf um den Parlamentssitz anzutreten – der Verlierer sollte sich in einem Gentleman’s Agreement bereitfinden, sich während der ganzen folgenden Parlamentssession aus der Politik zurückzuziehen. Churchill lehnte dies jedoch ab. Auch wenn die Tories in Lancashire Boden gutmachen konnten, verlor Law in Nordwest-Manchester gegen den liberalen Amtsinhaber George Kemp. Sechs Wochen später kandidierte Law jedoch erfolgreich bei einer Nachwahl im Wahlkreis Bootle und zog erneut ins Unterhaus ein. Auch wenn die Konservativen im Vergleich zu 1906 deutlich an Boden gewonnen hatten, blieben sie im Unterhaus weiter in der Minderheit. Die liberale Regierung unter Premierminister H. H. Asquith konnte nach den zwei gewonnenen Neuwahlen König Georg V. überreden, notfalls durch einen Peers-Schub die Mehrheitsverhältnisse im Oberhaus zugunsten der Liberalen zu ändern und so das konservative Veto zu brechen. Nun vor die Aussicht gestellt, dass das Oberhaus durch massenhafte Nobilitierungen eine liberale Mehrheit erhalten würde, stimmte eine von Lord Curzon angeführte Gruppe konservativer Peers am 10. August 1911 mit der liberalen Minderheit, sodass der Parliament Act 1911 das Oberhaus passieren konnte. Hierdurch konnte das Oberhaus Gesetze nur noch maximal zwei Jahre verzögern, nicht aber gänzlich zurückweisen. Wahl zum Parteiführer Nach drei verlorenen Unterhauswahlen wurde in der Partei starke Kritik an ihrem Führer Arthur Balfour laut, der auch die Verabschiedung des Parliament Act nicht hatte verhindern können. Balfour galt vor allem dem rechten Flügel als zu moderat und wenig konfliktbereit. Eine Gruppe um Lord Halsbury formierte sich mit dem Ziel, Balfour zu stürzen und fand für ihre Forderungen schnell auch Unterstützung in der konservativen Presse. Unter dem Slogan B.M.G. – Balfour must go (deutsch: Balfour muss gehen) agitierten prominente Tories wie Halsbury, F. E. Smith, Edward Carson und Lord Robert Cecil gegen Balfours Führung. Um einen möglichen Bruch der Partei zu verhindern, gab Balfour am 8. November 1911 seinen Rücktritt bekannt. Bei der eilig terminierten Nachfolgewahl standen sich mit Austen Chamberlain und Walter Long zwei aussichtsreiche Kandidaten in einer Pattsituation gegenüber. Obwohl als chancenloser Außenseiter angesehen, gab Bonar Law in dieser Situation ebenfalls seine Kandidatur bekannt. Hauptzweck seiner Kandidatur war, seine höheren Ambitionen kundzutun. Sowohl Long als auch Chamberlain waren jedoch entschlossen, den jeweils anderen als Sieger der Wahl zu verhindern, weshalb es zu einer Übereinkunft kam. Beide verständigten sich darauf, ihre Kandidatur zurückzuziehen und sich auf Bonar Law als Kompromisskandidaten festzulegen, um eine offene Kampfkandidatur zwischen den Flügeln und mögliche bleibende Zerwürfnisse zu verhindern. Infolgedessen wurde Bonar Law am 13. November 1911 beim Treffen im Londoner Carlton Club einstimmig von den anwesenden 232 konservativen Unterhausmitgliedern zum neuen Parteiführer gewählt. Parteiführer der konservativen Partei Bonar Laws Aufstieg an die Spitze der Tories kam zu einem Zeitpunkt, als das britische Parteiensystem in einer Krise schien und der normale parlamentarische Prozess zunehmend kritisch hinterfragt wurde. Diverse große Problemfelder schienen das Parteiensystem vor unlösbare Aufgaben zu stellen: Militante Gewerkschaften, die eine Serie von großen Streiks initiierten, radikale Suffragetten, die auf zum Teil militanten Wegen ein Frauenwahlrecht erzwingen wollten, die schwebende Frage um die irische Selbstverwaltung, dazu zunehmende internationale Krisen und das andauernde Flottenwettrüsten mit dem aufstrebenden Deutschen Reich. All dies sorgte für den Ruf nach ungewöhnlichen Lösungen. So hatte es teils die Idee einer großen Koalition gegeben; im März 1910 hatte Lloyd George diese auch im Rahmen überparteilicher Gespräche nach dem Tod von König Eduard VII. vorgeschlagen, war jedoch schließlich von Balfour zurückgewiesen worden. Gleichzeitig gab es, propagiert von rechten Pressure Groups und Publikationen, den Ruf nach einem Cäsarismus, der sich auf die Person Alfred Milners projizierte und dem zugetraut wurde, als eine Art charismatischer Herrscher mit Sondervollmachten die Probleme lösen zu können. Nach drei verlorenen Wahlen in Folge war die Unruhe besonders in der Konservativen Partei groß und führte zu einer teilweisen Radikalisierung des rechten Parteiflügels, der zunehmend nach radikaleren Maßnahmen strebte und auch außerparlamentarische Proteste und Aktionen befürwortete, um die Gesetzgebungsmaßnahmen der Liberalen zu bekämpfen. Die beiden Parteiführer Bonar Law und Lord Lansdowne konnten sich dadurch ihrer Position nicht sicher sein. Obwohl nun Führer der Konservativen im Unterhaus, musste Bonar Law sich die Parteiführung mit Lord Lansdowne (dem Führer der Konservativen im Oberhaus) teilen. So war auch die personelle Auswahl des Schattenkabinetts eine Angelegenheit beider Führer: Lansdowne nominierte die Peers im Schattenkabinett, Bonar Law wählte die Commoners aus. Dabei beförderte er vor allem prominente junge Parteimitglieder wie F.E. Smith und Lord Robert Cecil. Bei den einfachen Parteimitgliedern wurde er bald populär, da er – im Gegensatz zu Balfour, der oft eher zu vergeistigten Ausführungen neigte – im Unterhaus einen harschen, kämpferischen Ton anschlug und die liberale Regierung hart anging. Inwieweit dies wirklich Bonar Law entsprach, ist unklar. Sein Biograf Robert Blake charakterisiert ihn einerseits als einen Kämpfer; auf der anderen Seite sieht er es als naheliegend an, dass Bonar Laws neuer harter Ton zum Teil auch angenommen war. So beschrieb Asquith eine Episode zu Beginn der Parlamentseröffnung im Februar 1912, als beide von der Thronrede des Königs ins Unterhaus zurückkehrten und Bonar Law sich entschuldigend äußerte: „Es tut mir leid, aber ich muss mich in dieser Session sehr brutal zeigen, Mr. Asquith. Ich hoffe, sie verstehen dies.“ Bereits ab Januar 1912 kam es zu einer ersten großen Konfrontation, als die Liberalen die Entstaatlichung der walisischen Kirche – ein wichtiges liberales Reformprojekt – im Unterhaus ankündigten. Sie folgten damit der Forderung von Dissentern und Nonkonformisten der walisischen Anglikanischen Kirche ihren Status als Staatskirche zu entziehen, da in Wales lediglich ein geringer Teil der Bevölkerung der Anglikanischen Kirche angehörte. Ein solcher Schritt war auch schon 1869 in Irland erfolgt, was eine ähnliche Lösung für Wales als logisch erscheinen ließ. Bonar Law und die Konservativen sahen in dem konkreten Liberalen Gesetzentwurf (der das vom Staat ausgestattete Eigentum der Staatskirche umwandeln sollte) für Wales allerdings einen Angriff auf das Privateigentum. Bonar Law klagte die Liberalen deshalb „destruktiver Gewalt“ an und verurteilte ihren Angriff auf die Besitztümer der Staatskirche scharf. Dank ihrer Mehrheit im Oberhaus blockierten die Konservativen das Gesetz zunächst für die üblichen zwei Jahre. Der Streit um die irische Selbstverwaltung und um Ulster Der Streit um die Frage der irischen Home Rule, das eine Selbstverwaltung Irlands vorsah, war für Bonar Law eine Herzensangelegenheit; er war ein erbitterter Gegner dieser umstrittenen Vorlage. Austen Chamberlain vertraute er einige Jahre nach dem Ende des Ersten Weltkriegs an, vor dem Krieg habe es nur zwei politische Sachfragen gegeben, die ihn wirklich interessierten, die Zollfrage und die irische Selbstverwaltung. Für seinen Biografen Robert Blake ist das Thema Home Rule die absolut wichtigste politische Sachfrage in Bonar Laws Leben, ohne die seine Karriere nicht verstanden werden und auch sein Platz in der Geschichte nicht final bewertet könne. In den Augen Blakes wurde die Auseinandersetzung um die irische Selbstverwaltung aber auch für das parlamentarische Leben in Großbritannien insgesamt zu einer beherrschenden Obsession, wie sie vorher oder nachher niemals übertroffen wurde. Hintergrund: Home Rule im 19. Jahrhundert Bei der Unterhauswahl vom November 1885 waren die irischen Nationalisten um den protestantischen Grundbesitzer Charles Stewart Parnell mit 86 Sitzen ins Unterhaus eingezogen und hielten dort mit ihrem Block an Abgeordneten die Balance inne. Sie forderten eine irische Selbstverwaltung. Der liberale Premierminister William Ewart Gladstone war durch den Wahlerfolg der irischen Nationalisten überzeugt, dass Irland nunmehr eine Selbstverwaltung zustehe. Am 8. April 1886 stellte er im Unterhaus seine Gesetzesvorlage des Home Rule Bill vor, welches in ihrer Konzeption Irland eine weitgehende Selbständigkeit innerhalb des Vereinigten Königreiches zubilligte. Eine Gruppe Liberaler, die in Gladstones Initiative eine Gefahr sahen, wandten sich von den Liberalen ab und bildeten als Liberale Unionisten eine eigenständige Fraktion im Unterhaus. In Verbund mit der konservativen Partei brachten sie Gladstones Gesetzesvorlage zu Fall. Somit führte Gladstones Initiative zur Spaltung der Liberalen Partei und einem Ende der liberalen Dominanz. Das radikale Gebaren irischer Extremisten alarmierte Teile der britischen Mittelschicht. Ein weiterer Anlauf Gladstones im Jahr 1893 scheiterte am Veto des Oberhauses (House of Lords) und brachte das Thema vorläufig zu einem Ende. Nach den beiden Unterhauswahlen von 1910 waren die Liberalen aufgrund ihrer reduzierten Mehrheit auf die Unterstützung der irischen Nationalisten der Irish Parliamentary Party um ihren neuen Führer John Redmond angewiesen und das Thema kam erneut auf die Tagesordnung. Asquith war auch bereit, einen neuen Anlauf zu unternehmen. Im Februar 1912 kündigte der König in seiner Thronrede die Absicht der liberalen Regierung an, ein neues Home-Rule-Gesetz einzubringen. Gegen dieses Anliegen wehrten sich jedoch die anglo-irischen Lords. Diese verfügten in Irland über umfangreichen Landbesitz und über großen Einfluss besonders in der konservativen Partei; sie waren überzeugt davon, dass die Home Rule letztlich zu ihrer Enteignung führen würde. Außerdem opponierte auch die schottisch-protestantische Bevölkerung, die seit Jahrhunderten die Mehrheit in der nordirischen Provinz Ulster stellte und für sich im Fall einer Selbstverwaltung Irlands eine eigenständige Lösung, also eine Abtrennung Ulsters vom Rest Irlands, geltend machte. Dies wollten jedoch die irischen Befürworter einer irischen Selbstverwaltung nicht akzeptieren, da sie unbedingt die Einheit Irlands beabsichtigten. Auch die Befürworter innerhalb der Liberalen Partei lehnten eine Teilung Irlands ab, da ohne den Wohlstand aus dem industriell geprägten Belfast und Umgebung der Rest Irlands ökonomisch zum Scheitern verurteilt schien. Drittes Home-Rule-Gesetz 1912 Bonar Law identifizierte sich stark mit Ulster und fand sich im Slogan Home Rule is Rome Rule! (deutsch: Home Rule bedeutet päpstliche Herrschaft) wieder, der in der protestantischen Bevölkerung Englands großen Anklang fand und die Abneigung gegen das Fußfassen der katholischen Kirche widerspiegelte. Dabei war er insgeheim bereit, sich auf einen Kompromiss einzulassen, falls Asquith ein Angebot über eine Sonderlösung für Ulster machen sollte. Hier wich er von den Extremisten in seiner Partei ab, die Home Rule auch für den südlichen Teil Irlands nicht akzeptieren wollten. Die Extremen wurden durch zwei radikale rechte Pressure Groups, die Union Defense League und die British League for the Support of Ulster and the Union, repräsentiert, die zunehmend an Einfluss gewannen. Während erstere von Walter Long 1907 gegründet worden war, war letztere durch Lord Willoughby de Broke (einem extrem rechtsgerichteten Peer) ins Leben gerufen worden. 1910 war Edward Carson zum Führer der Union Defense League aufgestiegen. Carson, aus Dublin stammend und ein begnadeter Demagoge, begann bald, seine Gefolgsleute auf einen Konflikt mit der liberalen Regierung einzustellen. Für den Fall des Inkrafttretens des Home-Rule-Gesetzes wollte er eine provisorische Regierung in Ulster ausrufen und nötigenfalls der neuen Dubliner Lokalregierung bewaffneten Widerstand leisten. Am 9. April 1912 (Ostersonntag), unmittelbar bevor Asquith das Gesetz einbringen wollte, nahm Bonar Law in Belfast an einer großen Kundgebung teil, wo er sich eine Plattform mit Carson teilte. 100.000 irische Unionisten marschierten in militärischer Formation auf. Asquith, der die schweren möglichen Folgen zu diesem Zeitpunkt noch nicht überblickte, brachte das dritte Gesetz zur Selbstverwaltung Irlands zwei Tage später im Unterhaus ein. Bonar Law als Oppositionsführer antwortete einige Tage äußerst feindselig und nahm Bezug auf die Kundgebung in Belfast, die er als „Ausdruck der Volksseele“ bezeichnete. Im Juli 1912 reiste Asquith nach Irland, wo er ein Referendum über Home Rule rundweg ablehnte sowie den Widerstand der Konservativen als destruktiv und chaotisch in ihren Methoden bezeichnete. Die irischen Nationalisten um John Redmond wiesen Carsons Aktionen als einen reinen Bluff zurück und drängten weiterhin auf Home Rule für alle Provinzen Irlands. Am 29. Juli nahm Bonar Law vor Blenheim Palace an einer Kundgebung teil. In Anwesenheit von 120 Parlamentariern aus den Reihen der Unionisten und etwa 40 Peers wählte er extreme Worte: Er klagte die Regierung an, despotische Züge anzunehmen und sich auf einen korrupten Handel eingelassen zu haben; im Fall von Home Rule hätte Ulster das Recht auf bewaffneten Widerstand und die Unterstützung der konservativen Partei. Sein Biograf Robert Blake sieht hier eine radikale Haltung, die seit den Debatten im Langen Parlament zu Zeiten des Englischen Bürgerkrieges nicht mehr offen geäußert worden war und sich besonders für den Anführer der Partei, die traditionell für Recht und Ordnung einsteht, seltsam ausnimmt. Carson brachte im September 1912 die Ulster-Erklärung auf den Weg, die von über 500.000 Menschen unterzeichnet wurde und gegen das Gesetz protestierte. Parallel dazu wurde von Anhängern Carsons bereits im Geheimen an einer Verfassung für eine provisorische Regierung Ulsters gearbeitet. Im November 1912 stachelte Bonar Law auch den König bei einem Bankett an, dass er entweder die königlichen Prärogativen nutzen müsse, um eine Neuwahl zu erzwingen und so Home Rule zu verhindern, oder die Hälfte der Bevölkerung gegen sich aufbringen würde. Andererseits deutete er Kompromissbereitschaft an, falls Asquith dazu bereit wäre. Dabei sehen ihn sowohl Robert Blake als auch Daniel Ziblatt im Verlauf der sich immer weiter zuspitzenden Krise zunehmend in seiner radikalen Rhetorik gefangen, da andere Führungsfiguren in der konservativen Partei (wie Lord Lansdowne, Walter Long, Lord Curzon und die Cecils) zu keinen Zugeständnissen bereit waren und Ulster nur als Vorwand benutzen wollten, um Home Rule als Ganzes zu verhindern. Carsons wachsende Bereitschaft, auch unverhohlen mit Gewalt zu drohen, machte es Bonar Law immer schwieriger, Kompromisse zu finden; zudem musste er zunehmend intern um seine Führungsposition fürchten. Dazu gründeten sich in Ulster Logen und „Clubs“ mit paramilitärischem Charakter, die sich auf bewaffneten Widerstand vorbereiteten und 1913 dann in der Gründung der Ulster Volunteer Force gipfelten. Ziblatt sieht auch eine Gefahr für die parlamentarische Grundordnung, die sich hier zu entwickeln begann. Das Home-Rule-Gesetz wurde vom Oberhaus erwartungsgemäß zurückgewiesen, was die Krise in einem andauernden Schwebezustand hielt, der sich zu einem Nervenkrieg auswuchs. Vermittelnde Versuche des Königs scheiterten an der Unvereinbarkeit beider Seiten: Während auch die moderaten Unionisten zumindest Ulster in jeglicher Form vom Gesetz ausschließen wollten, war Asquith nicht bereit, mehr anzubieten als das, was auch Redmond zusagte und lediglich eine zeitlich begrenzte Exklusion Ulsters gewesen wäre. Nachdem das Gesetz zwei Mal vom Oberhaus zurückgewiesen worden war, konnte es (infolge des Parliament Act von 1911) Mitte 1914 jedoch auch ohne die Zustimmung der Lords passieren. Am 14. März 1914 hielt Churchill eine drastische Rede, die in Ulster bereits als Kriegserklärung gewertet wurde. Darin klagte er Bonar Law als eine „öffentliche Gefahr“ an, der die Regierung terrorisieren wolle. Um dem Gesetz in Ulster Geltung zu verschaffen, schien die Unterstützung der Armee zunehmend unerlässlich. Bonar Law war nun bereit, einen Eckpfeiler der britischen Verfassung auszuhebeln: Seit 1688 war alljährlich der Army Annual Act erneuert worden, der formell für das nächste Jahr die Existenz der Armee legalisierte. Bonar Law wollte das Gesetz nun mit einem Zusatzartikel so abändern, dass ein Einsatz der Armee in Ulster nicht mehr möglich wäre; erst durch den Curragh-Vorfall wich er von diesem Vorhaben ab. Die Unterstützung der Armee, die stark von Ulsterianern durchsetzt war, erschien zunehmend unsicher und musste nach dem Curragh-Vorfall völlig in Frage gestellt werden: Der Kriegsminister J. E. B. Seely wies ebenfalls am 14. März 1914 den Kommandeur des Stützpunkts Curragh, Sir Arthur Paget, an, Truppen vom Armeelager Curragh nach Ulster zu versetzen, um die Provinz bereits unter militärische Kontrolle zu bringen, falls es dort zu Unruhen von Loyalisten gegen die Selbstverwaltung kommen sollte. Daraufhin stellte Paget auf eigene Verantwortung seinen Offizieren frei zurückzutreten; 57 von 70 Offizieren gingen auf dieses Angebot ein, um einer möglichen Konfrontation mit den Ulster-Loyalisten zu entgehen. Nach Bekanntwerden des Vorfalls klagten die Konservativen im Unterhaus Seely und Churchill an, mit der Order eine militärische Eskalation beabsichtigt zu haben. Seely musste daraufhin zurücktreten und Asquith die Geschäfte des Kriegsministers persönlich übernehmen. Während Asquith im Juni 1914 die Möglichkeiten auslotete, einen Kompromiss herbeizuführen, begann durch das Attentat von Sarajevo mit der Julikrise eine internationale europäische Krise, die Ulster zunehmend in den Hintergrund drängte. Die Inkraftsetzung von Home Rule und mögliche folgende Implikationen wurden letztlich durch den Beginn des Ersten Weltkrieges im Sommer 1914 verhindert. Robert Blake sieht es durch Bonar Laws Haltung und seiner ganzen Korrespondenz mit Carson als wahrscheinlich an, dass ohne diesen Fall (und ein Einlenken Asquiths) es in Ulster zu der von Carson angedrohten Eskalation gekommen wäre. Erster Weltkrieg Mit dem Ausbruch des Ersten Weltkriegs einigte sich Bonar Law mit Asquith, dem Parteiführer der regierenden Liberalen, auf eine nichtkonfrontative Politik für die Dauer des Krieges. Infolge der Munitionskrise des Frühjahrs 1915 (shell crisis) und dem durch die sogenannte Dardanellenstrategie (mit dem Ziel, das Osmanische Reich vorzeitig aus dem Krieg zu drängen) verursachten Rücktritt des Ersten Seelords John Fisher kam dieses Stillhalteabkommen allerdings an seine Grenzen. Bonar Law warnte Asquith, dass er bei weiteren Krisen seine Zurückhaltung aufgeben würde. Fishers Rücktritt infolge von Unstimmigkeiten mit Churchill bewirkte in der Folge eine schwere Kabinettskrise und Asquith willigte im Mai 1915 in die Bildung einer Koalitionsregierung ein. Während Law von einigen einfachen Parteimitgliedern (erfolglos) bestürmt wurde mit Bitten um ein Amt, verzichteten er und andere namhafte Parteigänger darauf, mit Asquith um wichtige Posten zu kämpfen, und gaben sich im Interesse der Sache mit weniger wichtigen Kabinettsposten zufrieden. Von den vier wichtigsten Ämtern erhielten sie lediglich die Admiralität. Dazu wurde die Munitionsversorgung aus dem Ressort von Kriegsminister Herbert Kitchener abgetrennt; Asquith stellte sicher, dass Bonar Law der Zugriff auf das neugeschaffene Ministerium verwehrt wurde und stattdessen Lloyd George nun Munitionsminister wurde. Bonar Law selbst erhielt den untergeordneten Posten des Kolonialministers (Secretary of State for the Colonies) im Colonial Office, ferner wurde er Mitglied des Dardanellen-Komitees, welches den maßgeblichen Kriegsrat darstellte. Umgekehrt forderten Law und die Konservativen das Ausscheiden von Churchill und Asquiths Freund Richard Haldane aus dem Kabinett. Nach dem Osteraufstand in Dublin Ende April 1916 kam Asquith zum Schluss, dass das dortige bestehende Regierungssystem zusammengebrochen war. Er gab die Aufgabe an Lloyd George weiter, mit den beiden Antipoden Carson und Redmond eine Form von Home Rule auszuhandeln. Das informelle Übereinkommen sah für die Dauer des Krieges eine provisorische Form von Home Rule für den Süden Irlands mit Ausnahme von Ulster vor. Allerdings wurde das Übereinkommen von den Unionisten scharf kritisiert, vor allem Lansdowne und Walter Long zeigten sich unnachgiebig. Bonar Law und die große Mehrheit der Konservativen lehnte zudem aus konstitutionellen Gründen für den Fall des Inkrafttretens einen weiteren Verbleib der irischen Nationalisten im Unterhaus ab. Im Fall von Home Rule sahen sie es als inakzeptabel an, dass die irischen Nationalisten weiterhin im Unterhaus das Zünglein an der Waage spielen durften. Redmond dagegen zeigte sich ebenso unnachgiebig, da er Ulster nur provisorisch, nicht aber permanent aufgeben wollte. Aufgrund dieser Pattsituation musste im Juli 1916 das alte System wiederum erneuert werden. Asquith geriet im Verlauf des Krieges zunehmend in die Kritik; seine charakteristische abwartende Haltung sorgte für großen Ärger bei Politikern wie Lloyd George, die für einen radikaleren Ansatz in der Handhabung des Krieges waren. Seine politischen Gegner warfen Asquith Entscheidungsschwäche und Indifferenz vor. Lloyd George hatte Asquith bei anderen Regierungsmitgliedern zum ersten Mal Mitte 1915 kritisiert, da dieser Initiative vermissen lasse. Grundsätzliche Mängel in der Handhabung des Krieges wurden nicht behoben; so machten andauernde langwierige Diskussionen und zahlreiche interne Intrigen einen schnellen Entscheidungsprozess im Kabinett nahezu unmöglich. Der personell aufgeblähte Kriegsrat verlor durch die Koalitionsbildung seine entscheidende Machtbefugnis. In der Praxis wurden alle dort getroffenen Entscheidungen erneut im Kabinett diskutiert. Zwischen Konservativen und Liberalen herrschte auch nach der Koalitionsbildung ein großes Misstrauen, was ein Resultat aus den heftigen politischen Auseinandersetzungen der Jahre vor dem Beginn des Krieges war. David Lloyd George erwarb sich – im Kontrast zu Asquith – zuerst als Munitions- und dann als Kriegsminister eine Reputation als äußerst energischer und tatkräftiger Akteur. Nachdem im Juni 1916 Kriegsminister Kitchener bei einem Schiffsuntergang umkam, verständigten sich Bonar Law und Lloyd George darauf, dass letzterer den Posten übernehmen solle. Bonar Law suchte in Begleitung seines Freundes Max Aitken deshalb Asquith in dessen Haus in Sutton Courtenay auf, wo dieser laut den Erinnerungen von Lord Beaverbrook eine Partie Bridge spielte und beide deshalb warten ließ. Bonar Law zeigte sich über Asquiths Unbeschwertheit in der vorliegenden Krisensituation schockiert. Im Verlauf des Jahres ging Bonar Law, der lange Lloyd George misstraute und Asquith als unverzichtbaren Mann hoch schätzte, zunehmend in das Lager von Asquiths Gegnern über. Hatte er sich lange bemüht, Asquith zu stützen und die bestehende Koalition zu bewahren, begann er nun, nach Alternativen zu suchen. Mit Lloyd George verständigte er sich im Herbst 1916 darauf, dass ein kleineres Kriegskabinett, bestehend aus vier Personen mit Lloyd George an der Spitze, gebildet werden, Asquith diesem aber nicht angehören sollte. Asquith akzeptierte den Vorschlag zunächst, zog sein Einverständnis allerdings wieder zurück, als in der Londoner Times ein gut informierter Artikel über den Vorgang erschien, der ihn als aus dem kleineren Kriegskabinett ausgegrenzt darstellte. Er forderte nun selbst die Parteiführung für sich ein. Daraufhin reichte Lloyd George seinen Rücktritt ein. Da Bonar Law jedoch Lloyd George unterstützte und den Rücktritt aller konservativen Minister aus dem Kabinett androhte, sah Asquith keine andere gangbare Option mehr und trat am 5. Dezember 1916 selbst zurück. Bonar Law wurde unmittelbar nach Asquiths Rücktritt vom König eingeladen, eine Regierung zu bilden. Jedoch hatte er sich mit Lloyd George bereits im Vorfeld darauf verständigt, dass er nur dann versuchen würde, eine neue Regierung zu bilden, wenn er Asquith dazu überreden könne, dieser in einer untergeordneten Position beizutreten. Nachdem Asquith es ablehnte, einen Kabinettsposten zu übernehmen, wurde einen Tag später Lloyd George Chef der neuen Koalitionsregierung. Der als Premierminister verdrängte Asquith ging nun mit seinen Anhängern in die Opposition, während ein (kleinerer) Teil der Liberalen unter dem neuen Premierminister Lloyd George an der Koalition festhielt. In dessen Regierung wurde Law Schatzkanzler und zugleich Mitglied des inneren Kriegskabinetts. Gleichzeitig übernahm er die Rolle des Leader of the House of Commons. Während Lloyd George sich auf die unmittelbare Kriegspolitik konzentrierte, organisierte Law die meisten übrigen Politikfelder. Zwischen Premierminister Lloyd George und Bonar Law entwickelte sich in den kommenden Jahren schnell eine produktive Zusammenarbeit. Während der flamboyante, ideenreiche Lloyd George als Ideengeber fungierte, war Bonar Law der hemmende Bedenkenträger, der die Konzepte des Premierministers auf ihre Machbarkeit hin kritisch hinterfragte. Als Schatzkanzler brachte er Erhöhungen der Einkommenssteuer und der auf Kriegszeiten beschränkten Übergewinnsteuer auf den Weg, um weiterhin die finanziellen Belastungen des Kriegs finanzieren zu können. Im Verlauf des Krieges wurden seine beiden älteren Söhne im Krieg getötet; Law, zuvor bereits durch den Tod seiner Frau tief getroffen, erholte sich niemals von diesem Verlust, verblieb jedoch aus Pflichtgefühl im öffentlichen Leben. Weiterführung der Koalition Die bestehende Koalition gewann die Britische Unterhauswahl 1918, bei der zum ersten Mal allen Männern über 21 Jahren und Frauen über 30 Jahren das Wahlrecht gewährt worden war. Diese Wahl wird auch als „Coupon-Wahl“ bezeichnet, da die Regierung zuvor Schreiben (coupons) an bestimmte Politiker der Liberalen und Konservativen gesandt hatte, die sie als Anhänger der bestehenden Koalition auswies. Dies verschärfte die bereits bestehende interne Spaltung der Liberalen Partei und versetzte ihr einen schweren Schlag. Die Koalitionsregierung gewann bei der Wahl eine deutliche Mehrheit mit den Konservativen als Hauptgewinner, die Liberalen unter Asquith schrumpften dagegen zu einer Rumpfpartei. Auch die Koalitionsliberalen befanden sich nun deutlich in der Minderheit; die Koalition bestand zu drei Vierteln aus Konservativen und einem Viertel aus Liberalen auf der Seite Lloyd Georges, während Asquiths Liberale von der aufstrebenden Labour Party als die führende Oppositionspartei abgelöst worden waren. In Irland gewann die radikale Partei Sinn Féin, die für die Loslösung Irlands aus dem Vereinigten Königreich eintrat, auf Kosten der moderaten Irish Parliamentary Party erstmals 73 Sitze. Anfang 1919 trat Bonar Law aufgrund der hohen Arbeitsbelastung als Schatzkanzler zurück und übernahm stattdessen zusätzlich zum Amt des Fraktionsführers der Regierungskoalition den Posten des Lordsiegelbewahrers, ein sinekures Amt. Er nahm an der Pariser Friedenskonferenz teil, trat dabei allerdings kaum in Erscheinung. Als Teil der britischen Delegation unterzeichnete er ebenfalls den Friedensvertrag von Versailles. Gespräche zwischen den Koalitionsliberalen und der Konservativen Partei über eine Fusion scheiterten 1920/1921 am Widerstand der Koalitionsliberalen. Die Beliebtheit der Koalition sank zunehmend. Das vordrängende Problem waren die wirtschaftlichen Probleme des Landes. Ein kurzer wirtschaftlicher Nachkriegsboom in Großbritannien war Ende 1920 deutlich abgekühlt. Im Dezember stieg die Arbeitslosenzahl von 300.000 auf 700.000 Menschen an; bis Mitte 1921 wuchs die Zahl der Arbeitslosen weiter auf über zwei Millionen Menschen an. Es kam zu einer Serie von Streiks, die vor dem Hintergrund der Russischen Revolution die Angst vor dem Bolschewismus schürten, von Bonar Law allerdings als Alarmismus abgetan wurden. Bonar Law übernahm für die Regierung die Aufgabe des Mediators. Rücktritt Im März 1921 zwang ihn sein schlechter Gesundheitszustand zum Rücktritt aus der Regierung und als Parteichef; sein Arzt hatte anhaltend gefährlich hohen Blutdruck attestiert. Er behielt lediglich seinen Sitz im Unterhaus, zog sich aber für einige Monate zurück und reiste zur Rekonvaleszenz zunächst nach Cannes, dann nach Le Touquet und Paris. Austen Chamberlain übernahm sein Amt als konservativer Führer im Unterhaus. Sein Freund Beaverbrook hielt Bonar Law über die politischen Vorgänge auf dem Laufenden. Im September 1921 war seine Gesundheit wiederhergestellt und er kehrte nach London zurück. Eine aktive Rolle lehnte er zunächst ab und blieb auf den Hinterbänken. In seiner Abwesenheit hatte sich die Situation in der Irland-Frage zugespitzt; obwohl Sinn Féin dabei war, den Bürgerkrieg zu verlieren, hatte die Koalitionsregierung entgegen früherer Aussagen mit Friedensgesprächen begonnen. Im Rahmen der Verhandlungen bot Lloyd George entgegen aller früheren Absprachen in einer plötzlichen Volte auch Ulster als Teil der Verhandlungsmasse an. Daraufhin warnte Bonar Law, dass er unter diesen Umständen die Masse der konservativen Unterhausmitglieder gegen den Premier in Stellung bringen würde, worauf dieser sofort umschwenkte und Ulster im Friedensvertrag wiederum bei Großbritannien verblieb. Die Koalition zeigte in dieser Phase erste Risse und wurde innerhalb der Konservativen Partei zunehmend in Frage gestellt. In den lokalen Parteiorganisationen wuchs die Unzufriedenheit. Vor allem gegen Lloyd George hegten die Hinterbänkler bereits seit vielen Jahren ein starkes Misstrauen, ein Resultat aus den Vorkriegsjahren, als er neben Asquith der Exponent der Liberalen Regierung gewesen war und eine führende Rolle während der Auseinandersetzungen um den Parliament Act 1911 gespielt hatte. Zudem stand er im Ruf, ein selbstsüchtiger Politiker zu sein, der immer seine eigenen Interessen an vorderste Position stellte. Austen Chamberlain, der Lloyd George sehr ergeben war, übte bei weitem keine so enge Kontrolle über die Hinterbänkler aus wie Bonar Law. Lloyd George verließ sich im Umgang mit der Konservativen Partei auf einen engen Zirkel von Vertrauten und gab sich keine Mühe, bei den Hinterbänklern für sich und seine politischen Anliegen zu werben. Dadurch kam es in der Konservativen Partei zu einer Entfremdung zwischen den führenden Ministern (wie Austen Chamberlain, Lord Birkenhead, und Arthur Balfour), die loyal zu Lloyd George standen und an der Koalition unter allen Umständen festhalten wollten, und der Masse der Hinterbänkler und der lokalen Parteiorganisationen auf der anderen Seite. Im Verlauf der Chanakkrise schrieb Law Anfang Oktober 1922 einen Leserbrief an die Times, in dem er äußerte, dass Großbritannien nicht der alleinige Weltpolizist sein könne. Damit versetzte er der Koalition einen so schweren Schlag, dass Robert Blake ihn als den „Todesstoß“ für die Koalition charakterisiert. Bonar Law wurde nun mit Briefen unzufriedener Hinterbänkler bombardiert, die ihn baten, aktiv auf die politische Bühne zurückzukehren und die Partei aus der Koalition herauszuführen. Mit seinem offenen Brief an die Times hatte er bereits implizit signalisiert, dass ein alternativer konservativer Parteiführer bereitstehen könnte. Drei Tage später kam das Kabinett überein, eine Unterhauswahl anzusetzen und diese erneut gemeinsam zu bestreiten. Am 15. Oktober teilte Chamberlain dem konservativen Chief Whip Leslie Wilson seinen Entschluss mit, ein Treffen aller konservativen Unterhausmitglieder einzuberufen, um sich das Vertrauen als Parteiführer aussprechen zu lassen. Obwohl er sich der internen Opposition bewusst war, sah Chamberlain sich und seinen Führungszirkel zu diesem Zeitpunkt weiter als unentbehrlich an und war fest davon überzeugt, dass seine internen Gegner nicht in der Lage sein würden, eine andere Regierung zu bilden. Bonar Law kam nun eine Schlüsselrolle zu; es war allgemein unumstritten, dass sein Votum die Mehrheitsverhältnisse entscheidend beeinflussen würde. Er wurde in kurzer Abfolge von mehreren Parteifreunden (unter anderem auch Curzon und Austen Chamberlain) besucht, die ihn für eine der beiden Seiten gewinnen wollten. Er zögerte lange mit seiner Entscheidung, die aus seiner Sicht entweder aus einem kompletten Rückzug ins Private oder einem Kampf gegen die Koalition hinauslief. Erst am Vorabend, nach langen Konsultationen mit seiner Schwester Mary, erklärte er sich bereit, teilzunehmen. Seine Biografen sehen als Hauptgrund seine Sorge um die Einheit der Partei, die durch die Belastung der Koalition drohte, sich in zwei Teile zu spalten – einen linken Teil, der mit Lloyd George und seinen Anhängern zu einer Zentrumspartei fusionieren würde, und eine reaktionäre Restpartei. Beim Carlton-Club-Treffen am 19. Oktober 1922 wurde Bonar Law bei seinem Eintreffen mit Jubel empfangen. Nachdem Chamberlain in seiner Rede die Koalition mit Lloyd George verteidigt und der aufstrebende Stanley Baldwin sich gegen die Koalition ausgesprochen hatte, folgte Bonar Law. Er warnte in seiner Rede vor einer Fortsetzung der Koalition, die ein Auseinanderbrechen der Konservativen Partei zufolge haben würde. In dieser Situation sei für ihn die Einheit der Partei aber wichtiger als die nächste Wahl. Wie schon 1846, als der Streit um die Korngesetze die Partei Robert Peels gespalten hatte, würde es eine ganze Generation dauern, ehe die Konservative Partei wieder zu dem Einfluss zurückfinden würde, der ihr zustehe. Das Votum im Anschluss fiel mit 187 zu 87 Stimmen eindeutig gegen die Koalition aus. Nach Bekanntwerden des Ausgangs trat Premierminister Lloyd George noch am gleichen Tag zurück, was Bonar Law als den profiliertesten Politiker der stärksten Partei im Unterhaus zum prädestinierten Nachfolger machte. Der König schickte seinen Sekretär Lord Stamfordham zu Bonar Law und lud ihn dazu ein, eine neue Regierung zu bilden. Dies lehnte Bonar Law zunächst mit dem formellen Hinweis ab, dass er kein Parteiführer sei. Am 23. Oktober wurde er jedoch einstimmig zum Parteiführer der Konservativen gewählt und begann nun schnell damit, eine neue Regierung zu bilden. Premierminister Nach dem Rücktritt von Lloyd George beriet sich Chamberlain mit seinen Anhängern und schloss sich bald Lloyd George an. Die Gruppe – neben Chamberlain auch Balfour und Lord Birkenhead, Sir Robert Horne und der Earl of Crawford – baute darauf, dass ohne sie keine Regierung gebildet werden könne. Durch diese Weigerung vieler prominenter Koalitionsanhänger, in die neue Regierung einzutreten, stützte sich Bonar Law bei seiner Kabinettsbildung vor allem auf Außenminister George Curzon und Stanley Baldwin als Schatzkanzler. Dazu beförderte er einige ehemalige Juniorminister aus der letzten Regierung, die gegen die Koalition gestimmt hatten und hauptsächlich dem linken Flügel der Konservativen zuzurechnen waren. Zudem suchte er einen internen Fraktionsausgleich und berief mit Lord Salisbury den Anführer des aristokratischen rechten Parteiflügels, der reaktionären Gruppe, als Lordpräsident des Rates (Lord President of the Council) in sein Kabinett. Da nicht nur die Cecils, sondern mit Cavendish und Stanley auch zwei andere große Adelshäuser repräsentiert waren, hatte das Kabinett in seiner Außenwirkung einen starken aristokratischen Anstrich. Nachdem Chamberlain und seine Anhänger die Regierungsbildung boykottiert hatten, war Bonar Laws Kabinett insgesamt nur mit wenigen erfahrenen Politikern besetzt. Der zusammen mit Lloyd George gestürzte Winston Churchill nannte die Regierung deshalb abschätzig „eine Regierung der zweiten Elf“, während Lord Birkenhead die Riege der Minister „als zweitklassige Köpfe“ abtat. Im Wahlkampf für die kurzfristig angesetzte Unterhauswahl versprach das Wahlmanifest Bonar Laws die Abkehr von Unsicherheit und Rücksichtslosigkeit in der Außenpolitik sowie eine Rückkehr zu Ruhe und Stabilität in der allgemeinen Regierungspolitik. Der Ausgang der Unterhauswahl am 15. November 1922 wurde zu einem großen Erfolg für die Konservativen, die noch einmal 12 Sitze zu ihrer bereits bestehenden Mehrheit hinzugewannen. Bereits müde und oft unwohl, überließ Bonar Law als Regierungschef von Anfang an wichtige Aufgabenfelder den Ministern der Ressorts. So zeigte er sich – im Gegensatz zu Lloyd George, der die Außenpolitik für sich reservieren wollte – zufrieden, Curzon die Außenpolitik allein zu überlassen. Da dieser jedoch im Nachgang zur Chanakkrise auf der Konferenz von Lausanne die britischen Interessen vertrat, musste sich Bonar Law zumindest mit der Frage der deutschen Reparationen auseinandersetzen; der französische Präsident Raymond Poincaré drängte auf eine Lösung und drohte anderenfalls mit einer Besetzung des Ruhrgebiets. Bei zwei Konferenzen der alliierten Mächte zunächst in London, dann in Paris, versuchte Bonar Law eine Begrenzung der deutschen Reparationen zu erreichen, scheiterte jedoch an Poincarés Widerstand, der sich bereits auf eine französische Ruhrbesetzung festgelegt hatte. Ein weiteres drängendes Problem war die Frage der interalliierten Kriegsschulden. Einerseits war Großbritannien bei den USA hochverschuldet; gleichzeitig hatte Großbritannien bei seinen anderen Kriegspartnern wie Frankreich und Italien umfangreiche Außenstände, die insgesamt das Vierfache der britischen Schulden bei den USA betrug. Ende Januar 1923 wurde das Problem drängend, da die USA auf einer Einigung bestanden. Schatzkanzler Baldwin reiste deshalb Ende Januar nach Washington, D.C., um dort zu verhandeln. Großbritanniens war hier in einer heiklen Lage, da seine Schuldner maximal 25 Millionen Pfund an Rückzahlungen jährlich aufbringen konnten, die USA jedoch ihrerseits deutliche höhere Rückzahlungen im Jahr (46 Millionen Pfund jährlich) verlangten. Dies wurde von den Wirtschaftsexperten des Schatzamts für die britische Wirtschaftslage als ruinös angesehen. Baldwin, noch äußerst unerfahren als Schatzkanzler und in Verhandlungen mit seinen amerikanischen Verhandlungspartnern, ließ sich unter dem Hinweis der nahenden amerikanischen Kongresswahlen zu einem schnellen Abschluss der Verhandlungen drängen, ohne sich vorher mit dem Kabinett oder Bonar Law abgestimmt zu haben. Die Vereinbarung sah Rückzahlungen in Höhe von 40 Millionen Pfund im Jahr vor. Zudem machte er gleich bei seiner Rückkehr in Southampton die Vereinbarung öffentlich. Bonar Law war über Baldwins Vorgehen entsetzt; bestärkt von Wirtschaftsexperten wie John Maynard Keynes lehnte er die Einigung rundweg ab und dachte an Rücktritt, da das Kabinett einen Bruch des Vertrags als noch schädlicher ansah als ein Festhalten an den ungünstigen Bedingungen. Von Freunden wie Max Aitken überredet, blieb er im Amt, schickte jedoch einen anonymen Leserbrief an die Times, in dem er gegen die Vereinbarung protestierte. Auch mit grundlegenden innenpolitischen Problemen wie der großen Arbeitslosigkeit wurde Law in dieser späten Phase seines politischen Schaffens nicht mehr fertig. In der Zwischenzeit war er an inoperablem Kehlkopfkrebs erkrankt; nicht mehr in der Lage, im Unterhaus zu sprechen, trat er am 20. Mai 1923 zurück. Nachfolge Die Vorstellung Bonar Laws war es von Anfang an, nur etwa ein Jahr als Premierminister zu verweilen; in dieser Zeit sah er es als seine Hauptaufgabe an, eine Aussöhnung mit der Gruppe um Austen Chamberlain zu erreichen. Die Einheit der Partei – ein bestimmendes Leitmotiv seiner ganzen Zeit als Parteiführer – sollte so wiederhergestellt und die Gruppe, unter denen sich einige der talentiertesten Politiker der Partei befanden, wieder eingebunden werden. Danach wollte er den Stab an Chamberlain weiterreichen. Sein verfrühter Rücktritt machte diese Berechnungen jedoch zunichte, weshalb die Nachfolgediskussion sich auf Curzon und Baldwin beschränkte. Bonar Law verweigerte es, dem König einen formellen Rat über seinen geeigneten Nachfolger zu geben, da er fürchtete, dass die unvermeidliche Wahl Curzon sein würde, den er nicht als seinen Nachfolger sehen wollte. Der König entschied sich letztlich für Baldwin. Tod Ende Oktober 1923 zog Bonar Law sich als Resultat seiner Erkrankung eine septische Lungenentzündung zu; wenige Tage später, am 30. Oktober 1923, verstarb er. Seine Urne wurde in der Westminster Abbey beigesetzt. Der anwesende Asquith äußerte dabei, es sei „passend, dass der unbekannte Premierminister gleich neben dem unbekannten Soldaten beerdigt werde“. Forschungsgeschichte Aufgrund seiner kurzen Zeit von nur 209 Tagen als Premierminister gilt Bonar Law heute als vergessener Premierminister. Im Jahr 1932 erschien erstmals eine Biographie von H. A. Taylor über ihn (The Strange Case of Andrew Bonar Law, London, 1932), die ebenfalls schnell in Vergessenheit geriet. 1955 gab Lord Beaverbrook als Nachlassverwalter den Anstoß für Robert Blakes Biografie über Andrew Bonar Law. Als Titel seiner hochgelobten Biographie (The Unknown Prime Minister) wählte Blake Asquiths abschätziges posthumes Urteil. Blake attestierte, dass Bonar Law weder ein brillanter noch besonders origineller Kopf gewesen sei. Dennoch sei er dank einer schnellen Auffassungsgabe und einer klaren Darstellungskraft, vor allem aber auch seiner Fähigkeit, Respekt und Zuneigung durch seine Zeitgenossen zu gewinnen, als Politiker der höchsten Klasse anzusehen. Zudem habe er in seiner späteren Karriere die Debatten im Unterhaus dank seiner Debattenstärke mit zunehmender Kraft beherrscht. R.J.Q. Adams zeichnete 1999 in seiner Biographie ein wohlwollendes Bild Bonar Laws, dessen völlig vergessene Reputation er zu rehabilitieren versuchte. Dick Leonard sieht ihn entgegen Asquiths Epithet als beachtliche Figur. Nicht nur habe er zehn lange Jahre die Konservativen geführt, er spielte auch jeweils eine instrumentale Rolle beim Aufstieg Lloyd Georges zum Premierminister 1916 und bei seinem nachfolgenden Sturz 1922. Alan J. P. Taylor nannte Bonar Law angesichts seiner jeweils entscheidenden Rolle beim Sturz von Asquith und Lloyd George einen „formidablen Gigantenmörder“. Ewen Green würdigte Bonar Law in einer Kurzbiographie 2004, seine Verdienste lägen vor allem in seiner Rolle als Parteiführer: insbesondere habe Law dazu beigetragen, die Konservative Partei wieder als Regierungspartei zu etablieren. Mit ihm als erstem Parteiführer der Konservativen nicht-adliger Herkunft (vom extravaganten Benjamin Disraeli als „Sonderfall“ abgesehen) sei es unter seiner Führung zu einer „rapiden Urbanisierung“ der Partei gekommen, sowohl in Bezug auf ihre Zusammensetzung als auch auf ihre politischen Prioritäten. Laws nüchterner Führungsstil und Geradlinigkeit seien zudem insbesondere in der Zeit nach dem Ersten Weltkrieg von großen Teilen der Partei geschätzt worden. 2006 schrieb Andrew Taylor in seiner Kurzbiographie, Bonar Law habe den Grundstein für die konservative Dominanz zwischen 1924 und 1964 gelegt; dazu habe er eine instrumentale Rolle bei der Zerstörung zweier Premierminister (Asquith und Lloyd George) gespielt. In einer Umfrage der BBC aus dem Jahr 2000 unter Historikern, Politikern und politischen Kommentatoren, bei der die Abstimmenden den besten Premierminister des 20. Jahrhunderts wählen sollten, belegte Bonar Law Rang 13 von 19. Literatur Biographien R.J.Q. Adams: Bonar Law. Stanford University Press, 1999, ISBN 978-0-8047-3716-6. Robert Blake: The Unknown Prime Minister: The Life and Times of Andrew Bonar Law, 1858–1923. Eyre and Spottiswoode, London 1955. Andrew Taylor: Bonar Law. (20 British Prime Ministers of the 20th Century). Haus Publishing, London 2006, ISBN 978-1-904950-59-2. Sil-Vara: Englische Staatsmänner. Ullstein, Berlin 1916, S. 183–191 Sonstige Literatur Robert Blake: The Conservative Party from Peel to Major. Faber and Faber, London 1997, ISBN 0-571-28760-3. Roy Jenkins: Mr. Balfour’s Poodle. Bloomsbury Reader, London 2012 (Erstveröffentlichung 1954), ISBN 978-1-4482-0320-8. Michael Kinnear: The Fall of Lloyd George: The Political Crisis of 1922. Macmillan, London 1973, ISBN 1-349-00522-3. David Powell: British Politics, 1910–1935: The Crisis of the Party System. Routledge, Abingdon 2004, ISBN 978-0-415-35106-5. Daniel Ziblatt: Conservative Parties and the Birth of Democracy. Cambridge University Press, Cambridge 2017, ISBN 978-0-521-17299-8. Enzyklopädieartikel Weblinks Anmerkungen Britischer Premierminister Lordsiegelbewahrer (Vereinigtes Königreich) Kolonialminister (Vereinigtes Königreich) Parteiführer der Conservative Party Abgeordneter des House of Commons (Vereinigtes Königreich) Mitglied des Privy Council (Vereinigtes Königreich) Politiker (20. Jahrhundert) Brite Politiker (Glasgow) Geboren 1858 Gestorben 1923 Mann
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https://de.wikipedia.org/wiki/Stra%C3%9Fenbahn%20Gmunden
Straßenbahn Gmunden
|} Die Straßenbahn Gmunden ist eine meterspurige Straßenbahn im oberösterreichischen Gmunden. Die am 13. August 1894 eröffnete Bahn firmierte ursprünglich als Elektrische Lokalbahn Gmunden, kurz ELBG, und wurde nach dem Anschluss Österreichs 1938 zu einer Straßenbahn umkonzessioniert. Ursprünglich betrug ihre Streckenlänge 2,543 Kilometer. 1975 wurde der Abschnitt zwischen dem Rathausplatz und dem Franz-Josef-Platz stillgelegt, ab diesem Zeitpunkt war sie nur noch 2,315 Kilometer lang. Mit dieser Streckenlänge galt sie als die kleinste Straßenbahn der Welt. Ferner ist die Gmundner Elektrische mit zehn Prozent maximaler Steigung eine der steilsten Adhäsionsbahnen der Welt. Sie ist eine touristische Attraktion und ein Wahrzeichen der Stadt, jährlich werden über 300.000 Fahrgäste befördert. Eigentümer war im ersten Betriebsjahr Stern & Hafferl, bevor im Jänner 1895 die neu gegründete Gmundner Elektrizitäts-Aktiengesellschaft, kurz GEAG, diese Aufgabe übernahm. Aus ihr wurde 1938 die Gmundner Elektrizitätsgesellschaft mbH, kurz GEG. 2000 erfolgte die Umbenennung in GEG Elektrobau GmbH, heute heißt das Unternehmen GEG Elektro und Gebäudetechnik GmbH. Für die Betriebsführung war anfangs ebenfalls Stern & Hafferl zuständig. Nachdem die GEAG den Betrieb 30 Jahre lang selbst führte, ist seit 1925 wiederum Stern & Hafferl damit beauftragt. Am 1. September 2018 wurde die Straßenbahn betrieblich mit der benachbarten Traunseebahn zur „Traunseetram“ verknüpft. Geschichte Vorgeschichte Am 23. Oktober 1877 erhielt Gmunden durch die Salzkammergutbahn Anschluss an das Eisenbahnnetz. Zuvor hatte eine 1875 eingesetzte Kommission zu erreichen versucht, dass die Strecke nicht zu nah an die auf Ruhe bedachte Kurstadt heranführte, aber auch nicht zu weit entfernt verlief. Der Bahnhof Gmunden befand sich folglich in Altmünster, erst in späteren Jahren wurde das Areal Gmunden zugesprochen. Letztlich erwies sich die Entfernung vom Zentrum zum damaligen Rudolfsbahnhof, benannt nach der Kronprinz Rudolf-Bahn Gesellschaft, aber doch als zu weit. Beschwerden von Bürgern und Besuchern waren die Folge. Deshalb beschloss die Stadt den Bau einer gemeindeübergreifenden Lokalbahn zwischen Rathausplatz und Bahnhof. Projektierung Der Bau der Lokalbahn stand in einer Reihe von Modernisierungen unter Bürgermeister Alois Kaltenbruner, nicht zuletzt dadurch motiviert, mit der Kaiserresidenz Bad Ischl mithalten zu können. Zuvor war etwa eine Wasserversorgung aufgebaut worden. Da Bad Ischl bereits seit 1890 über elektrisches Licht verfügte, sollte nun auch in Gmunden ein Elektrizitätswerk errichtet werden. Jedoch wäre die Stromerzeugung für die Stadt alleine – ohne den Großabnehmer Lokalbahn – nicht rentabel gewesen. Deswegen wurde das Angebot der Internationalen Elektrizitäts-Gesellschaft aus Wien vom Gemeinderat am 22. Oktober 1892 abgelehnt. Gleiches galt für die 1893 vorgebrachte Idee einer Wiener Akkumulatoren-Fabrik, ein kleines Kraftwerk für den Fremdenverkehr zu errichten. Erst durch den Bahnbau konnten beide Projekte wirtschaftlich betrieben werden. Grundsätzlich kam nur eine elektrische Bahn in Frage, weil die Bürgerschaft eine Dampfstraßenbahn wegen der Lärm- und Geruchsbelästigung ablehnte. Der Ingenieur Josef Stern hatte sich schon 1892 bei der Schafbergbahn für einen elektrischen Betrieb samt Kraftwerk interessiert. Mit seinem Bauunternehmen Stern & Hafferl OHG konnte Gmunden eine Firma mit gewissen Kenntnissen im elektrischen Fach gewinnen. Auch war das Unternehmen bereit, die Finanzierung zu übernehmen. Hierzu konnte sich die Stadt selbst, infolge der zuvor angefallenen Kosten für die Wasserversorgung, nicht durchringen. Es wurde vereinbart, dass sich die Gemeinde später beteiligen könnte und wie üblich die Garantie für einen Betriebsgewinn abgab. Der Vertragsabschluss zwecks Garantie und Zurverfügungstellung öffentlichen Grundes mit der Stadt erfolgte im Jänner 1894. Der Grundkauf für die zentralen Anlagen war um 5120 Gulden erfolgt. Das Linzer Volksblatt berichtete Anfang Jänner 1894: Bau Der Bau durch das Unternehmen Egger & Co. begann am 25. Februar 1894 und stand unter Aufsicht von Josef Stern. Beschäftigt waren neu eingestelltes Personal und von der Salzkammergut-Lokalbahn her bewährte Akkordanten. Die Installation der Masten und der Oberleitung begann im April und stand unter Aufsicht der Ingenieure Ernst Egger und Ferdinand Wessel. Die Arbeiten dauerten etwa vier Monate. Es entstanden eine Kraftstation zur Stromerzeugung, ein Beamtenhaus, ein Dienerhaus und eine Remise. Die beiden Personalhäuser wurden 2006 zugunsten eines neuen Kreisverkehrs abgerissen. Auf dem Gelände der Kraftstation befindet sich heute die Energie AG Oberösterreich. Einziges erhaltenes Gebäude ist die 1994 renovierte Remise. Die Rillenschienen (in der Straßenfahrbahn) stammten von der Phoenix AG für Bergbau und Hüttenbetrieb und wogen 33,6 Kilogramm je Meter. Auf freier Strecke fanden 21,8 kg/m schwere Vignolschienen auf Holzschwellen Verwendung. Sie stammten – wie die Weichen – von der Österreichisch-Alpinen Montangesellschaft. Der Fahrdraht bestand aus hartgezogenem Kupfer und wurde mittels 33 Masten aus Gusseisen und 57 Holzmasten mit schmiedeeisernen Auslegern abgespannt. Zusätzlich wurden acht Abspannmasten aufgestellt. Die Entfernung zwischen zwei Masten betrug etwa 35 Meter, die Fahrdrahthöhe etwa 5½ Meter über Schienenoberkante. Ursprünglich war zwischen der Kraftstation und der Ausweiche eine Speiseleitung verlegt worden, um den Spannungsabfall zu reduzieren. Außerdem waren die Schienen zwecks besserer Stromrückleitung an den Stößen mit Kupferverbindungen gebrückt. Dies diente der Vermeidung von abirrenden Rückströmen. Sie wären für metallische Einbauten im Erdreich, etwa Gas- oder Wasserrohre, schädlich. Bei Volllast, also bei zwei gleichzeitig bergauf fahrenden Wagen, betrug der Leitungsverlust zehn Prozent. Inbetriebnahme Die Bahn wurde meterspurig errichtet, denn bei einer normalspurigen Strecke hätte das Militär ein Mitspracherecht gehabt. Die auf Stern & Hafferl in Wien ausgestellte Konzessionsurkunde vom 13. Juni 1894 wurde im Reichsgesetzblatt Nummer 152 veröffentlicht. Die Linzer Tages-Post berichtete damals: Am frühen Nachmittag des 13. August 1894 erfolgte die offizielle Eröffnung. Während der Probefahrt am Morgen des Tages waren Reit- wie Zugpferde entlang der Strecke postiert worden, um die Tiere visuell wie akustisch an die Bahn zu gewöhnen. Nach der Lokalbahn Mödling–Hinterbrühl und der Straßenbahn Baden war sie die dritte elektrische Bahn Österreichs. Vorerst hatte von insgesamt neun Stationen nur die Haltestelle Stadtpark ein Wartehäuschen. Der Streckenabschnitt ab Kuferzeile war zum Zeitpunkt der Bahneröffnung nicht gepflastert. Neben Personen wurden auch Gepäckstücke zum ehemaligen Hotel Post und zum Hotel Schwan transportiert. Die Fahrzeit betrug etwa 15 Minuten. Abends verkehrten aus wirtschaftlichen Gründen Pferdeomnibusse im Schienenersatzverkehr. Im ersten Betriebsjahr transportierte die Bahn 116.018 Personen und 3452 Kolli Gepäck. Die Höchstleistung in den Sommermonaten Juni bis August lag bei 12.000 bis 21.000 Personen monatlich. Die geringste Leistung erbrachte die Bahn in den Wintermonaten November bis März mit nur 4000 bis 5600 Personen monatlich. Schon damals waren am Hotel Bellevue ein Abzweig nach Altmünster und eine Verlängerung zum Klosterplatz geplant. Die beiden Gründer von Stern & Hafferl, Josef Stern († 1924) und Franz Hafferl († 1925), verstarben allerdings, bevor sie diese Vorhaben ausführen konnten. Weitere nie realisierte Projekte waren eine Verlängerung nach Traundorf einschließlich einer eigenen Strecke für den Güterverkehr und eine Stichstrecke nach Kranabeth, die ebenfalls für den Gütertransport vorgesehen war. Kraftstation Im Maschinenhaus der Kraftstation wurden zwei liegende Einzylinder-Dampfmaschinen mit je 40 Pferdestärken Leistung eingebaut. Der Dampf wurde in zwei Kesseln des Systems Babcock & Wilcox von je 43 Quadratmetern Heizfläche mit einem Arbeitsdruck von acht Atmosphären erzeugt. Kessel und Maschinen stammten von der Ersten Brünner Maschinenfabrik. Über Flachriemen trieben die Dampfmaschinen Dynamoscheiben mit 30 Kilowatt Leistung an. Zum Ausgleich des Spannungsabfalls in der Oberleitung waren die Dynamos bei Volllast mit Übercompoundierung versehen. Im Leerlauf gaben sie bei 665 Umdrehungen in der Minute eine Spannung von 500 Volt, bei Volllast und gleicher Drehzahl aber 550 Volt ab. Zum Ausgleich auftretender Spitzenbelastungen wurde 1897 ein großer Akkumulator aufgestellt. Eine moderne Schalt- und Regeleinrichtung sowie eine – 1894 noch als Attraktion geltende – elektrische Beleuchtung in allen Gebäuden vervollständigten die Kraftstation. Der Schlot stand etwas abseits des Maschinenhauses, die Rauchgase des Kessels wurden ihm unterirdisch zugeführt. Schon anlässlich der Einführung der elektrischen Beleuchtung im Jahr 1895 wurde ein wesentlich leistungsfähigerer Hauptmaschinensatz zusammen mit einem kleinen aufgestellt. Die Gleichrichteranlage wurde 1948 auf ELIN-Glaskolben für je 210 Ampere umgebaut. 1969 wurde die Kraftstation mit Glaskolben-Umrichtern ausgerüstet. Oberleitungssystem Wie die meisten elektrischen Bahnen jener Zeit, war auch die Anlage in Gmunden für den Betrieb mit Rollenstromabnehmern und Luftweichen ausgelegt. Aufgrund der Nachteile dieser Betriebsform wurden sie im Laufe der Zeit durch Lyra-Stromabnehmer ersetzt. Später erfolgte die Umrüstung auf Scherenstromabnehmer. Der Fahrdraht der Lokalbahn bestand anfangs aus hartgezogenem Kupfer mit einem Querschnitt von 5,35 Millimetern und war an den Aufhängungen mittels Hartgummi- und Porzellan-Isolatoren doppelt getrennt. Auf einer seitlichen Konsole an der Mastspitze wurde die zweipolige Leitung für das Streckentelefon geführt. Später wurden die gusseisernen Masten in der Innenstadt entfernt, da die Bürger sie als optisch störend empfanden. Alternativ brachte man an den Gebäuden Oberleitungsrosetten an, die Aufhängung des Fahrdrahts erfolgte fortan mittels Querdrähten. Erster Weltkrieg Der Ausbruch des Ersten Weltkriegs führte zu einem starken Rückgang der Beförderungszahlen. Weiter endete zum 1. Juli 1914 die Steuerfreiheit für die Lokalbahn, auch dies wirkte sich nachteilig auf das Betriebsergebnis aus. 1915 musste der Akkumulator der Kraftstation demontiert und für Kriegszwecke abgegeben werden. 1917 folgten die Dampfmaschinen, womit keine Reserve mehr vorhanden war. Erstmals kamen Schaffnerinnen zum Einsatz, die nach dem Krieg wieder entlassen wurden. Wegen Kupfermangels musste der Fahrdraht auf den Abschnitten Stadtplatz–Kuferzeile und Kraftstation–Bahnhof demontiert werden. Der als Ersatz gelieferte Eisen-Draht wurde erst Ende der 1920er Jahre wieder durch Kupferfahrdraht ersetzt. 1918 stieg die Zahl der beförderten Personen wieder auf 217.616. Die Anlagen und Fahrzeuge waren allerdings wegen des Ersatzteilmangels stark beansprucht. Dank der Bahnstromerzeugung mittels Wasserkraft war die Bahn zumindest nicht vom Kohlemangel betroffen, wie es bei zahlreichen Betrieben mit Stromerzeugung in Wärmekraftwerken der Fall war. Allerdings verhinderte der Krieg alle Ausbaupläne der Lokalbahn. Zwischenkriegszeit Der Kohlemangel in der Nachkriegszeit führte zu einer Einschränkung des Zugverkehrs auf der Salzkammergutbahn und somit zu hohen Verlusten bei der Lokalbahn. Erst nach der 1932 erfolgten Elektrifizierung der Normalspurstrecke stiegen auch die Beförderungszahlen der Lokalbahn wieder an. Der Bau des Gmundner Strandbads sorgte gleichfalls für neue Fahrgäste. 1927 waren die Rillenschienen aus dem Eröffnungsjahr so stark verschlissen, dass die Betriebssicherheit nicht mehr gewährleistet schien. Darauf folgte eine Gleiserneuerung zwischen Rathausplatz und Franz-Josef-Platz, bei gleichzeitiger Herstellung von Betonlangschwellen. 1928 kam es zu einem Aufschwung, in jenem Jahr wurden 230.216 Personen, 871 Hunde, 20.528 Gepäckstücke und 818,2 Tonnen Güter befördert. Der Zeitungstransport von der Salzkammergut-Druckerei zum Bahnhof erfolgte ebenfalls auf diese Weise. Dem Rechnung tragend wurde 1928 in der Kraftstation eine Quecksilberdampf-Gleichrichteranlage von Brown, Boveri & Cie eingebaut, die aus zwei Glasgefäßen mit je 165 Ampere bei 550 Volt bestand und durch einen Transformator mit einer Leistung von 250 Voltampere gespeist wurde. Der wesentlich unwirtschaftlicher arbeitende Umformer verblieb als Reserve. 1929 wurde bei der Kraftstation eine Ausweiche errichtet, die im Verspätungsfall einen flexiblen Betrieb ermöglichen sollte. Der stadtwärts fahrende Zug befuhr die Gerade, die talseitige Weiche war schlüsselgesperrt. Die beiden Linksweichen gehörten der Lokalbahn Gmunden–Vorchdorf, für deren Benützung musste jährlich ein Pachtzins von 250 Österreichischen Schilling entrichtet werden. Die überflüssig gewordene Ausweiche bei Kilometer 0,6 wurde gleichzeitig aufgelassen. In der „Vereinigten Gesellschafts-Werkstätte“ erfolgten die Umbauten und Reparaturen aller Stern & Hafferl-Fahrzeuge, soweit sie die Möglichkeiten der Betriebswerkstätten überstiegen. Bis die 1970er Jahre gab es dort auch eine Ankerwicklerei. Infolge der neuerlichen Wirtschaftskrise erreichten die Beförderungszahlen 1934 einen historischen Tiefpunkt. Nur noch 92.561 Fahrgäste, 541 Hunde, 8157 Gepäckstücke und 318,8 Tonnen Güter wurden befördert. „Anschluss“ Österreichs und Zweiter Weltkrieg Die Tausend-Mark-Sperre verhinderte das erneute Aufkommen des Fremdenverkehrs, erst durch den im März 1938 erfolgten „Anschluss“ Österreichs an das Deutsche Reich erholten sich die Fahrgastzahlen wieder. 1938 wurden 142.816 Passagiere befördert, 1939 waren es 208.851. Ab 1938 wurde die Bahn nach der in Deutschland bis heute gültigen Verordnung über den Bau und Betrieb der Straßenbahnen (BOStrab) betrieben, die zum 1. April 1938 in Kraft trat. Äußerlich machte sich dies an den nachgerüsteten Fahrtrichtungsanzeigern sowie der fortan verwendeten Linienbezeichnung G bemerkbar. Der Buchstabe G für Gmunden wurde dabei analog zu F für die Florianerbahn, P/H für St. Pölten–Harland und Y für Ybbs zugewiesen und war an den Fahrzeugen in weißer Schrift auf schwarzem Grund angeschrieben, dieses Liniensignal konnte bei Dunkelheit beleuchtet werden. Ebenso führte man damals genormte Haltestellentafeln mit einem grünen „H“ auf gelbem Grund ein. Parallel zu Gmunden wurden auch die beiden Schwesterbetriebe Unterach–See und Ebelsberg–St. Florian zu Straßenbahnen umgewidmet. Die drei Bahnen wurden auch nach Kriegsende weiterhin als Straßenbahn geführt. Die weitere politische Entwicklung Österreichs führte in diesem Fall nicht zu einer juristischen Wiederherstellung des Vorkriegszustands. 1939 wurde der Gepäckverkehr eingestellt, fortan wurden nur noch Personen, Hunde und Güter befördert. Da es kaum private Kraftfahrzeuge gab, stiegen die Fahrgastzahlen 1944 auf 586.404 beförderte Personen an. Auch den Zweiten Weltkrieg überstand die Gmundner Straßenbahn ohne größere Schäden. Nach dem Zweiten Weltkrieg 1946 wurde mit 736.898 Fahrgästen ein bis heute gültiger Rekord aufgestellt. Ein Jahr später wurde die Vereinigte Gesellschafts-Werkstätte als Hauptwerkstätte aufgelassen und nach Vorchdorf verlegt. Einige Arbeiten, wie das Wickeln von Motorankern, wurden aber weiterhin in Gmunden durchgeführt. 1951 wurde die Streckengeschwindigkeit auf 25 Kilometer pro Stunde angehoben, allerdings gab es örtliche Einschränkungen. In den Jahren 1956 und 1957 wurde die Strecke saniert; zudem erfolgte eine Trassenkorrektur und der Austausch der alten Rillenschienen. Ab 1957 wurde die Straßenbahn nur mehr zu jenen Früh- und Spätzügen der Österreichischen Bundesbahnen betrieben, deren Umstiegsfrequenz einen Anschluss rechtfertigte. Ursprünglich wurde zu allen Zügen gefahren. 1960er Jahre 1961 wurde die nicht mehr benötigte Normalspurweiche beim Bahnhof abgetragen und der Rollwagen, der zum Transport von normalspurigen Triebfahrzeugen in die OKA-Werkstätte diente, verschrottet. 1962 beförderte die Straßenbahn 494.862 Personen und 14,7 Tonnen Güter. Die Popularität der Straßenbahn stieg somit wieder, der Gütertransport verlor allerdings zunehmend an Bedeutung. Mit der Übersiedlung der Salzkammergut-Druckerei endete im selben Jahr auch der Zeitungstransport mit der Straßenbahn. Ein Jahr später wurde die Oberleitung auf das vollelastische System Kummler & Matter umgebaut, weshalb die alten Masten im Zentrum ersetzt wurden. Im gleichen Jahr erfolgte auch der Umbau der Ausweiche bei der Kraftstation. Einstellungsdiskussion Der zunehmende Individualverkehr ließ die Straßenbahn in der Innenstadt immer stärker zum Verkehrshindernis werden. Infolge des in Seitenlage verlegten Schienenstranges kamen die aus Richtung Bahnhof kommenden Bahnen auf dem besonders engen Abschnitt Franz-Josef-Platz–Rathausplatz den Straßenverkehrsteilnehmern frontal entgegen. Am 6. Juni 1975 wurde dieser daher zugunsten des Kfz-Verkehrs stillgelegt. Das Gleis wurde noch 1975 überteert, was teilweise bis 2015 sichtbar war, da der Straßenbelag bis dahin nicht erneuert wurde. Ebenso war die Oberleitung noch vorhanden. Seit der Verkürzung sind die Fahrgastzahlen rückläufig, was zu einer ersten Einstellungsdiskussion führte. Am 3. Juli 1978 wurde der wirtschaftliche Einmannbetrieb eingeführt. Die Kreuzungsvereinbarung erfolgt seitdem über Sprechfunk. Im gleichen Jahr wurden außerdem ölverzögerte Rückfallweichen bei der Haltestelle Tennisplatz eingebaut. 1989 stand die Straßenbahn erneut kurz vor der Einstellung. Um dies zu verhindern, startete der bereits mit der Planung des Busverkehrs beauftragte Leiter der Verkehrsabteilung von Stern & Hafferl, Otfried Knoll, auf eigene Initiative eine Befragung der Bevölkerung, ob die Straßenbahn wieder bis zum Rathausplatz geführt werden solle. Dazu wurde der Triebwagen GM 5 zwei Wochen lang als Eintragungslokal für das „Straßenbahn-Volksbegehren“ vor dem Rathaus aufgestellt. Mehr als 6000 Unterstützungserklärungen mit Name, Adresse und Unterschriften langten in kurzer Zeit ein. Der Erfolg war, dass sich die Gemeinde ernsthaft mit der Zukunft der Straßenbahn auseinandersetzen musste. Der damalige Bürgermeister Erwin Herrmann gründete zusammen mit dem Geschäftsführer der GEG den Verein Pro Gmundner Straßenbahn. Seine Idee war, mit den Mitgliedsbeiträgen der Unterzeichner die Deckung des Betriebsabganges der Straßenbahn zu bewerkstelligen. Stattdessen startete aber der als geschäftsführender Obmann wirkende Knoll eine Sympathiekampagne zwecks Bewusstseinsbildung für die Straßenbahn. Auch der in der Nähe von Gmunden lebende Schriftsteller Thomas Bernhard setzte sich kurz vor seinem Tod für die Straßenbahn ein, sein letztes öffentlich bekanntes Schriftstück war ein diesbezüglicher Leserbrief in einer Tageszeitung. Im gleichen Jahr fanden in der Adventzeit erstmals planmäßige Nostalgiefahrten mit dem Triebwagen GM 5 statt. In einem Gutachten wurde 1990 erneut die Wiederverlängerung empfohlen. Aber auch wenn das Gleis zum Rathausplatz wieder freigelegt worden wäre, hätte es ausgetauscht werden müssen, weil die Schienen zuvor durch Straßen- und Kanalbauarbeiten mehrfach beschädigt wurden. Eine 1992 erfolgte Neuvermessung der Strecke ergab, dass die Steigung zehn und nicht wie ursprünglich angenommen 9,5 Prozent beträgt. Im September 1993 wurde die Straßenbahn in den Verkehrsverbund Gmunden (VVG) integriert. Seither fungiert die Stadt als Besteller der Verkehrsleistungen und bekommt im Gegenzug alle Einnahmen. 1994 wechselte die Zuständigkeit für die Straßenbahn vom Bund zum Land Oberösterreich. 1994 wurden an allen Stationen historische Haltestellenschilder aufgestellt, die der Verein Pro Gmundner Straßenbahn nach einem Original hatte anfertigen lassen. Modernisierung Am 26. November 1999 erfolgte die Einrichtung der provisorischen Haltestelle SEP bei der Ausfahrt des Salzkammergut Einkaufsparks. Gleichzeitig begann man zu untersuchen, ob eine Stichstrecke auf das SEP-Gelände gebaut werden kann. Hierfür wurden Detailpläne ausgearbeitet und das Projekt bereits einmal ausgeschrieben. Zwar konnte dieses Vorhaben aus finanziellen Gründen nicht realisiert werden, jedoch verlegte man alternativ die Haltestelle Kraftstation etwas nach Norden. Sie wurde als Ausweiche ausgeführt und in Gmundner Keramik umbenannt. Dadurch konnte die Betriebsausweiche Kraftstation entfallen. Die neue Anlage ging am 15. Oktober 2005 in Betrieb. 2004 war der Streckenabschnitt in der Kuferzeile wegen Sanierungsarbeiten komplett gesperrt. Neben der Gleiserneuerung und der Sanierung der Haltestellen erfolgte auch die Installation einer zeitgemäßen Sicherungstechnik. Die Haltestelle Keramik wurde umgebaut und erhielt eine Ausweiche. Die Ausweiche bei der Remise wurde dadurch entbehrlich und noch im gleichen Jahr abgetragen. 2005 später wurden die Remisenoberleitungsmasten erneuert und Sicherungsanlagen installiert. Im Juni 2006 wurde das Gleisbett in der Kuferzeile zwecks Schalldämmung an vier Stellen durchtrennt. Zum 1. Juli 2006 wurde die Straßenbahn in den Oberösterreichischen Verkehrsverbund (OÖVV) integriert. Der Verkehrsverbund Gmunden besteht aber bis heute, so gibt es beispielsweise eine spezielle Familien-Jahreskarte, die nur in Gmunden gilt. Zwischen 1. November und dem 7. Dezember 2007 wurde das Gleis zwischen Kuferzeile und Franz-Josef-Platz vollständig erneuert und mit einem Masse-Feder-System versehen. Außerdem erfolgte eine Verlängerung und Erhöhung der Bahnsteige. 2008 fand mit der Sanierung der Haltestellen Tennisplatz und Rosenkranz die bislang letzte große Baumaßnahme statt. Am 7. und 8. Feber wurde hierzu ein Großteil der neben dem Wartehaus befindlichen Bäume entfernt. Nach Abschluss der mehrwöchigen Vorbereitungsarbeiten wurde der Betrieb vom 10. bis zum 29. März eingestellt. Bei diesen Bauarbeiten kamen auch drei Zweiwegfahrzeuge zum Einsatz. Die Haltestelle Rosenkranz erhielt einen neuen verlängerten Bahnsteig. Zudem wurde ein Oberleitungsmast durch einen neuen Betonmast ersetzt und ein Zaun zum angrenzenden Grundstück errichtet. Bei der Haltestelle Tennisplatz erfolgte die Abtragung des Gleisbetts, außerdem wurde ein Teil der neben der Ausweiche liegenden Wiese durch eine Stützmauer gesichert. Anschließend wurden die Trasse neu eingeschottert und die Schienen erneuert, wobei die bergwärts liegende Weiche nach oben versetzt wurde. Danach erfolgte die Aufstellung neuer Betonmasten samt neuer Ausleger und das Spannen eines neuen Fahrdrahts. Das Wartehäuschen der Haltestelle wurde erneuert, daneben ein neues Unterwerk errichtet, das am 18. Juni in Betrieb ging. Zwischen den beiden Gleisen der Ausweiche wurde ein neuer – im Vergleich zum alten Mittelbahnsteig längerer und breiterer – Bahnsteig errichtet. Daneben wurde ein neuer Verteilermast aufgestellt, er gewährleistet die Versorgung der drei Speiseabschnitte. Beim Umbau der beiden Haltestellen wurde großer Wert auf die Barrierefreiheit gelegt. Die Kosten für die Erneuerung des Esplanadengleises und dem Umbau der Haltestellen Rosenkranz und Tennisplatz betrugen 1,5 Millionen Euro. Am 24. April 2008 fand ein Eröffnungsfest bei der Haltestelle Tennisplatz statt, bei dem die symbolische Freigabe der neuen Ausweiche nach einer Nostalgiefahrzeugparade durch Vize-Landeshauptmann Erich Haider erfolgte. Im August erhielt die Haltestelle Bezirkshauptmannschaft erstmals ein Wartehäuschen. Anlässlich der Oberösterreichischen Landesausstellung 2008 zum Thema Salzkammergut, bei der die Hauptausstellung in Gmunden war, wurden während des gesamten Ausstellungszeitraums Nostalgiefahrten angeboten. Um der Gmundner Bevölkerung vorzuführen, wie ein moderner Straßenbahn- und Lokalbahnbetrieb aussehen könnte, organisierte der Verein Pro Gmundner Straßenbahn in Zusammenarbeit mit der Firma Siemens und Stern & Hafferl einen Probebetrieb mit einem aus Nordhausen angemieteten Combino-Niederflurtriebwagen. Vom 30. Juni bis zum 6. Juli 2003 wurde der Combino 107 der Straßenbahn Nordhausen auf dem Netz der Gmundner Straßenbahn und anschließend auf der Lokalbahn Gmunden – Vorchdorf erprobt. Er wurde per Tieflader angeliefert und auf den Gleisen vor der Remise abgeladen. Die Triebwagen GM 9 und 10 mussten für diesen Zeitraum auf dem bereits verwilderten, ehemaligen Umladegleis beim Bahnhof abgestellt werden, da der Combino allein eines der beiden Remisengleise in Anspruch nahm. Der Wagen verkehrte auch auf der Lokalbahn Gmunden–Vorchdorf. Im Gegenzug fuhr im Jahr 2004 der GM 100 für zwei Monate während der dortigen Landesgartenschau in Nordhausen. Die Transportkosten übernahm Siemens. Zwischen dem 5. September und dem 1. Oktober 2008 wurden mit dem Cityrunner 305 der Innsbrucker Verkehrsbetriebe Testfahrten durchgeführt. Das Fahrzeug wurde in der Nähe der Haltestelle Bezirkshauptmannschaft abgeladen. Es erfolgten unter anderem Belastungstests, bei denen der Wagen mit 10,5 Tonnen Sandsäcken beladen wurde, um einen voll besetzten Zug zu simulieren. Alle Versuchsfahrten wurden von Mitarbeitern der Elin EBG und Bombardier Transportation überwacht. Nachdem die Tests erfolgreich abgeschlossen wurden, erfolgten Schulungsfahrten für das Gmundner Personal. Am 12. September wurde ein Fest anlässlich der ersten Fahrt des Cityrunners im Fahrgastbetrieb gegenüber der Haltestelle Franz-Josef-Platz veranstaltet. Dabei wurden unter anderem kostenlose Pendelfahrten mit dem Cityrunner zwischen Franz-Josef-Platz und Bezirkshauptmannschaft angeboten. Am 2. Oktober 2008 wurde der Triebwagen nach Innsbruck abtransportiert, wo er kurz darauf im Linienbetrieb eingesetzt wurde. Zum Fahrplanwechsel am 14. Dezember 2014 wurde die Haltestelle „Grüner Wald“ aufgehoben. In der Nacht 9./10. August 2017 fuhren im Rahmen von Probefahrten erstmals seit 1975 Straßenbahnen mittels der in der Theatergasse neu verlegten Oberleitung mit eigener Kraft auf den Rathausplatz und weiter geschoben durch das Trauntor. Auch der GM 8 und der GM 5 (von 1911, für touristische Zwecke vorgesehen) wurden erstmals durch das Trauntor geschoben, einer Passage mit besonders engem Kurvenradius. Am 26. März 2017 wurde ein mehrwöchiger Testbetrieb mit einem Niederflurfahrzeug des Typs Vossloh Tramlink V3 begonnen. Betrieb vor dem Zusammenschluss mit der Traunseebahn Die Betriebsspannung beträgt 600 Volt Gleichspannung, die Strecke ist für eine Höchstgeschwindigkeit von 40 Kilometern in der Stunde und acht Tonnen Achslast ausgelegt. Die Höchstgeschwindigkeit wird abschnittsweise durch kleine Tafeln vorgegeben, die an der Oberleitung angebracht sind (Geschwindigkeitstafel). Eine rot umrandete „2“ bedeutet beispielsweise, dass der nachfolgende Abschnitt mit maximal 20 km/h befahren werden darf. Inklusive der beiden Endstationen werden insgesamt acht Haltestellen bedient, alle sechs Zwischenstationen sind dabei sogenannte Bedarfshalte. Der mittlere Haltestellenabstand beträgt 331 Meter. Die Fahrgastzahlen blieben in den letzten Jahren konstant im Bereich von 300.000 bis 320.000 Fahrgästen, 2006 waren es beispielsweise 318.393. An Schultagen befördert die Straßenbahn dabei bis zu 1400 Fahrgäste täglich. Die Fahrpreise werden vom Gmundner Gemeinderat festgelegt. Es gab bisher noch nie einen Unfall mit Personenschaden. Lediglich kleine Sachschäden bei Zusammenstößen mit Kraftfahrzeugen waren zu verzeichnen. Im Winter erfolgt die Schneeräumung je nach Schneelage mittels Schneepflug oder Bürste, welche am Triebwagen GM 5 angebaut werden. Nostalgiefahrten Neben dem regulären Betrieb werden zu bestimmten Feiertagen und Veranstaltungen auch Nostalgiefahrten durchgeführt. Im Juli und August finden diese jedes zweite Wochenende statt. Bei Schönwetter fährt der offene Sommertriebwagen GM 100, ansonsten GM 5. Für die Fahrten gilt ein Sondertarif, hierzu fährt ein Schaffner mit. Mitglieder von Pro Gmundner Straßenbahn dürfen kostenlos mitfahren. Personal Die Straßenbahn beschäftigt sechs Mitarbeiter. Sie sind für die Bedienung der Triebfahrzeuge, den Fahrkartenverkauf sowie für Wartungsarbeiten und Reparaturen zuständig. Die Ausbildung zum Triebfahrzeugführer wird bei Stern & Hafferl durchgeführt. Sie dauert zwei Monate und beinhaltet Signal- und Fahrdienstvorschriften, Grundlagen der Elektrotechnik, elektrischer und mechanischer Aufbau der Fahrzeuge, Bremssystem, Bahnstromversorgung, Sicherheitseinrichtungen und Schulungsfahrten. Fahrplan Bis zum Zusammenschluss mit der Traunseebahn verkehrte die Straßenbahn ganztätig in einem angenäherten 30-Minuten-Takt. Von Montag bis Freitag gab es in den Hauptverkehrszeiten einzelne Zusatzfahrten. Betriebsbeginn war montags bis freitags etwa um 5 Uhr, samstags um 6 Uhr und sonntags um 7 Uhr. An allen Tagen endete der Betrieb um 21 Uhr. Grundlage für die Fahrplangestaltung der Straßenbahn war der Bahnverkehr auf der Salzkammergutbahn. Deren Züge kreuzen sich im Bahnhof Gmunden etwa zur Minute 30. Die Straßenbahn kam einige Minuten vorher am Bahnhof an und fuhr kurz nach der Zugkreuzung wieder von dort ab. Auf diese Weise wurde im Sinne eines ITF-Vollknotens ein Anschluss für alle Fahrgäste ohne längere Wartezeiten gewährleistet. Der Verkehr wurde dabei überwiegend von einem Triebwagen allein abgewickelt, lediglich in den Hauptverkehrszeiten waren zwei Kurse gleichzeitig unterwegs. Planmäßig wurde bei der Ausweiche Tennisplatz und zeitweise auch an der Ausweiche Gmundner Keramik gekreuzt. Bei Verspätungen von ÖBB-Zügen konnte die Kreuzung am Tennisplatz ebenfalls zur Keramik verlegt werden. Die Fahrt über die Gesamtstrecke dauerte neun Minuten, die mittlere Reisegeschwindigkeit betrug 14 km/h. Alle Zwischenhaltestellen waren Bedarfshalte. Als Besonderheit wurden die Fahrten – ungewöhnlich für eine Straßenbahn – mit Zugnummern im Fahrplan aufgeführt. Die Kurse in Richtung Franz-Josef-Platz trugen dabei ungerade Nummern, die Kurse in Richtung Bahnhof wurden mit geraden Nummern bezeichnet. Linienbezeichnung Der Linienbuchstabe G für die Kurse zwischen Bahnhof und Franz-Josef-Platz diente vor allem der Abgrenzung von den Stadtbuslinien 1 bis 3. Obwohl in diesem Abschnitt nur eine Linie verkehrte, wurden alle Straßenbahnwagen konsequent mit „G“ beschildert. Ferner diente der Buchstabe G auch zur Unterscheidung von den anderen Stern-&-Hafferl-Strecken, bei denen die Linienbezeichnung jedoch nicht angeschrieben wurde. Beispielsweise stand „GV“ für Gmunden–Vorchdorf, „LH“ für Lambach–Haag am Hausruck, „LILO“ für die Linzer Lokalbahn, „LVE“ für Lambach–Vorchdorf-Eggenberg und „VA“ für Vöcklamarkt–Attersee. Die 2014 eingeführten durchgehenden Züge zwischen Gmunden Klosterplatz und Vorchdorf verkehren als Linie 161, wobei 161 die Streckennummer der Traunseebahn im Österreichischen Eisenbahn-Kursbuch ist. Der Tramlink verkehrte im Zuge eines Testbetriebs als Linie 174 auf der Straßenbahn. Auch hierbei handelte es sich um die Kursbuchstrecke. Betrieb heute Aktuell wird werktags ein annähernder Viertelstundentakt zwischen dem Bahnhof Gmunden und Engelhof geboten, darüber hinaus verkehren halbstündlich Züge weiter nach Vorchdorf. Fahrzeuge Geschichte Anfangs standen der Lokalbahn vier zweiachsige Triebwagen zur Verfügung. Die achtfenstrigen Fahrzeuge mit offenen Plattformen stammten von J. Rohrbacher aus Wien und hatten eine elektrische Ausrüstung der Union-Elektricitäts-Gesellschaft aus Berlin. Zwei Wagen waren mit einem Gepäckabteil ausgestattet. 1911 wurde aufgrund des gestiegenen Verkehrsaufkommens der mit geschlossenen Plattformen versehene Triebwagen GM 5 bei der Grazer Waggonfabrik und den Österreichischen Siemens-Schuckert-Werken beschafft, er sollte bis 1962 das letzte Neubaufahrzeug der Gmundner Straßenbahn sein. Weil die Ersatzteilbeschaffung kriegsbedingt immer schwieriger wurde, blieb der Triebwagen 2 von 1915 bis 1927 abgestellt. Zwischen 1933 und 1938 wurden die Ursprungsfahrzeuge umgebaut: 1933: Umbau von Wagen 1 in Wien: Kobelverglasung der offenen Plattformen, danach trug er den Spitznamen „Aquarium“ 1935: Umbau von Wagen 2: neuer Wagenkasten, acht Fenster, Oberlichtklappen, Tonnendach, Kobelverglasung und Trittbretter 1938: Umbau von Wagen 3: neuer Wagenkasten, acht Fenster, Oberlichtklappen, Tonnendach, Kobelverglasung und Trittbretter, Gepäckabteil entfernt Der Wagen 4 wurde wegen der rückläufigen Fahrgastzahlen nicht mehr umgebaut und aufgrund von Platzmangel in Vorchdorf abgestellt, wo man ihn 1950 verschrottete. 1941 kamen zwei Fahrzeuge der normalspurigen Pressburger Bahn nach Gmunden. Der ehemalige Triebwagen Cmg 1612 kam nach seinem Umbau auf der Lokalbahn Vöcklamarkt–Attersee zum Einsatz. Der Umbau des Wagens 1534, ursprünglich ein Beiwagen, zögerte sich hingegen kriegsbedingt hinaus. Gegen Ende des Krieges war der Einsatz eines zusätzlichen Triebwagens dringend notwendig, eine Neubeschaffung jedoch nicht möglich. Alternativ wurde der Triebwagen 2 der Straßenbahn Unterach–See herangezogen, er verkehrte dort nur in den Sommermonaten und war ursprünglich sogar für Gmunden gebaut worden. Er wurde in GM 6 umbenannt und am 30. Juli 1943 in Betrieb genommen. Der ursprünglich crème lackierte Triebwagen erhielt die rot-weiße Gmundner Farbgebung. Der GM 2 war seither nur noch Reserve. 1946 wurden die Triebwagen GM 5 und 6 mit Scherenstromabnehmern ausgestattet. 1951 konnte der GM 4 (II) fertiggestellt werden. Bei ihm wurden erstmals die auf der in Fahrtrichtung Rathausplatz gesehen rechten Seite nicht benötigten Einstiege verschlossen. Bei den anderen Fahrzeugen wurden die Trittstufen und Türöffnungen auf dieser Seite mit Planen abgedeckt. Im Laufe der Zeit wurde dann bei allen Wagen auf der bahnsteiglosen Seite ein Noteinstieg eingebaut. Die Trittbretter verblieben zunächst noch, wurden aber später entfernt. Das Fahrzeug war mit Fahrschaltern des Typs SPII und TS70-Motoren von Ganz ausgerüstet und trug von Anfang an einen Scherenstromabnehmer. Neben einer gewöhnlichen Feststellbremse verfügte der Triebwagen über eine Schienenbremse der Bauart Jores-Müller. Er hatte vier große Seitenfenster und bot bei einem Sitzteiler von 2+1 24 Sitzplätze. Am 2. Juli 1951 erfolgte die vorläufige Inbetriebnahme, am 31. Juli die amtliche Abnahmefahrt. Darüber hinaus konnte 1951 ein weiterer Neuzugang verzeichnet werden. Da die Straßenbahn Unterach–See eingestellt wurde, gelangte der Triebwagen SM 1 nach Gmunden und wurde als GM 7 eingereiht. Der Triebwagen unterschied sich vom GM 6 durch die in der Seitenwand befindliche Tür, die durch zwei Fenster ersetzt wurde. Ab dem 30. Mai 1952 stand der GM 7 für den Plandienst zur Verfügung. Die immer stärker werdende Konkurrenz durch den Individualverkehr veranlasste das Unternehmen einen modernen vierachsigen Großraumwagen zu beschaffen. Er sollte entscheidend zur Modernisierung der Straßenbahn beitragen. Am 19. Jänner 1962 wurde das neue Fahrzeug in Betrieb genommen und als GM 8 bezeichnet. Der GM 6 wurde dadurch entbehrlich und verkehrte fortan als Beiwagen auf der Attergaubahn. Ab 1969 übernahmen die Triebwagen GM 5 und 8 den Verkehr, die Wagen GM 4 und 7 waren nur noch Reserve. Zwecks weiterer Modernisierung kaufte man 1974 die drei Duewag-Großraumwagen 340, 341 und 347 von den Vestischen Straßenbahnen an. Während der Wagen 340 nach dem Ausbau aller brauchbaren Ersatzteile im April 1978 verschrottet wurde, gelangten die Wagen 347 im Jahr 1977 als GM 9 und 341 im Juli 1983 als GM 10 in Betrieb. Die beiden Fahrzeuge unterscheiden sich bezüglich ihrer Inneneinrichtung, so verfügen sie beispielsweise über unterschiedliche Sitze. Bei beiden wurden die Türen auf der nicht mehr benutzten Fahrzeugseite verschlossen. Anlässlich des hundertjährigen Jubiläums der Bahn kam 1994 der Sommerbeiwagen 101 der ehemaligen Straßenbahn Klagenfurt nach Gmunden. Zusammen mit dem Triebwagen GM 5 fanden zahlreiche Nostalgiefahrten statt, erstmals gab es damit bei der Gmundner Straßenbahn einen Beiwagenbetrieb. 1995 gelangte der GM 100 der Pöstlingbergbahn nach Gmunden. Der Klagenfurter Wagen 101 war ein weiteres Mal zu Gast, in Erinnerung an die Pferdeeisenbahn Budweis–Linz–Gmunden fungierte er als Pferdebahnwagen. Die bis zum Zusammenschluss eingesetzten Fahrzeuge befinden sich im Besitz der GEG Elektro und Gebäudetechnik, lediglich der GM 100 gehört der Stadt Gmunden. Meist waren die Wagen GM 8 und 10 im Einsatz, während der GM 9 als Reserve diente. Alle Fahrzeuge sind mit Steckkupplungen – die aber nur im Störfall Verwendung fanden – und Sandstreuern ausgestattet. Die Sandkästen befinden sich im Fahrgastraum und fassen 80 Kilogramm. Der verwendete Quarzsand wird in einem Silo neben der Remise gelagert. Der GM 100 verfügt als einziger über einen Lyra-Stromabnehmer, dieser muss bei jeder Fahrtrichtungsänderung manuell gedreht werden. Eine Rückspeisung von Bremsenergie in das Fahrleitungsnetz besteht nicht, da die alten Triebwagen nicht über die hierfür notwendigen Einrichtungen verfügen. Der GM 10 verfügte als einziges Fahrzeug über eine Spurkranzschmierung. Obwohl es sich um Zweirichtungsfahrzeuge handelt, besitzen die drei Plandienstfahrzeuge nur auf einer Seite Einstiege. Dies ist nur deshalb möglich, weil alle Bahnsteige auf der gleichen Seite angeordnet sind, nämlich in Fahrtrichtung Franz-Josef-Platz gesehen links. Diese recht seltene Betriebsform kann heute unter anderem noch bei der Kirnitzschtalbahn, der Drachenfelsbahn oder der Bahnstrecke Triest–Opicina beobachtet werden. Tabelle gegenwärtiger Bestand Tabelle ehemaliger Fahrzeuge und Arbeitswagen Nummerierung Stern & Hafferl nummerierte die Fahrzeuge bis 1943 generell mit zwei Buchstaben und einer Zahl, dabei gab der erste Buchstaben den Betrieb an (G für Gmunden, S für Seetram Unterach, E für Ebelsberg, V für Vorchdorf usw.), der zweite den Fahrzeugtyp (M für Motorwagen, P für Personenwagen, G für Güterwagen usw.) und die Zahl war eine fortlaufende Nummer. Das 1942 eingeführte Nummerierungsschema wurde nur für die Eisenbahnen verwendet, bei den Straßenbahnen blieben die bisherigen Nummern bestehen. Gelegentlich wurden Nummern ein zweites Mal besetzt, in Gmunden gilt dies für GM 4. Der offene Triebwagen GM 100 (ex Pöstlingberg IV) ist ein Sonderfall, er wurde auf Wunsch des Vereins Pro Gmundner Straßenbahn so bezeichnet. Die beiden Rollwägelchen GM 601 und 602 sind nach dem Schema anderer Stern & Hafferl-Bahnen nummeriert, da bei der Straßenbahn nur Nummern für Triebwagen vorgesehen sind. Das GM vor der Nummer der beiden „Bahnwagerl“ soll auf die Zugehörigkeit zur Gmundner Straßenbahn hinweisen. Infrastruktur Strecke Die ursprüngliche Strecke der Gmundner Straßenbahn ist durchweg eingleisig. Nur die beiden Haltestellen Keramik und Tennisplatz verfügen über Ausweichgleise. An den beiden Endhaltestellen endete die Strecke bis 2015 stumpf ohne Ausweichgleis. Anfangspunkt der Straßenbahn war bis 2015 die auf dem Bahnhofsvorplatz gelegene Haltestelle Bahnhof, seither ist sie in den Bahnhof integriert. Bis vor einigen Jahren hieß diese bei der Straßenbahn noch Hauptbahnhof, obwohl die Staatsbahn ihn nur zwischen 1944 und 1946 als Hauptbahnhof führte. Für die Fahrtzielanzeigen der Triebwagen gilt dies bis heute. An die Haltestelle Bahnhof schloss das ehemalige Umladegleis an, das stumpf endete. Vom Bahnhof aus folgte die Strecke der Bahnhofstraße rechtsseitig und passierte kurz vor der Haltestelle Grüner Wald den mit 40 Metern Radius engsten Gleisbogen. Hier mündet die Neubaustrecke vom Bahnhof ein. Die Haltestelle Grüner Wald wurde bereits 2014 aufgehoben. An dieser Stelle durfte nur mit maximal 15 Kilometern in der Stunde gefahren werden. Beim Kreisverkehr nach der Haltestelle Gmundner Keramik (alt: Kraftstation) wechselt die Bahn in die Alois-Kaltenbruner Straße, welche sie kurz darauf auch überquert. Dort befindet sich auch der Kulminationspunkt der Strecke. Anschließend folgt der steilste Streckenabschnitt. Bei der Einmündung der Arkadenstraße endet der eigene Bahnkörper, ab dort ist das Gleis im Straßenplanum verlegt. Später folgt die Straßenbahn der Kuferzeile – die eine Einbahnstraße ist, von der Straßenbahn aber in beide Richtungen befahren werden darf. In der Innenstadt biegt sie dann schließlich nach links in die Esplanade ein, wo die Straßenbahn wiederum unabhängig vom Individualverkehr trassiert ist, wenngleich auch dort Rillenschienen verwendet werden. Am Franz-Josefs-Platz beginnt seit 2015 der zweigleisige Abschnitt. Die Haltestelle Franz-Josef-Platz ist beidseitig als Seitenbahnsteig ausgeführt. Die Strecke verläuft (seit September 2018) in weiterer Folge im Mischverkehr entlang der Theatergasse zur Haltestelle Rathausplatz und entlang der Kammerhofgasse bis zum Trauntor. Nach dessen Durchfahrt überquert die Straßenbahn den Abfluss des Traunsees und biegt rechts in die die Inselhaltestelle Klosterplatz ein. Sie folgt der Traunsteinstraße bis zum ebenfalls als Inselhaltestelle ausgeführten Seebahnhof. Ab dort folgt sie der Strecke der Traunseebahn bis Gmunden Engelhof, wo seit 2018 die Systemgrenze zwischen Straßenbahn und Vorortsbahn liegt. Auf der ursprünglichen Straßenbahnstrecke bis zum Franz-Josefs-Platz sind sechs Weichen vorhanden, davon vier Rückfallweichen im Bereich der beiden Ausweichen und zwei manuell zu stellende im Remisenbereich. Alle sind mit einer Weichenheizung ausgestattet. Die beiden Ausweichen werden im Linksverkehr befahren. Es werden Rillenschienen des Typs Ri 60, Vignolschienen der Typen S 33 und S 49 und Schienen des Typs XXIV verwendet. Fünf der acht Haltestellen verfügen über Wartehäuschen verschiedener Bauarten. Mit der Eröffnung der neuen Endstelle am Bahnhof kam eine siebte Weiche dazu. Die doppelspurige Neubaustrecke beginnt mit der als Rückfallweiche ausgeführten Rillenschienen-Spaltweiche vor der Haltestelle Franz-Josefs-Platz. Am Klosterplatz ist ein Gleiswechsel mit zwei Rillenschienenweichen vorhanden. Bei der Ausfahrt Seebahnhof führt eine Rückfallweiche die Doppelspur wieder zu einer Einspur zusammen. An der Einfahrt Gmunden Engelhof führt die erste Weiche die städtischen Kurse ins Stumpfgleis 1. Die Züge Richtung Vorchdorf fahren über eine weitere Weiche ins Gleis 3. Das Gleis 2, das noch eine Weiche zu einem Abstellgleis beinhaltet, dient normalerweise den Zügen von Vorchdorf, es kann aber auch als Wendegleis für die Fahrten der historischen Triebwagen verwendet werden. Nach der Rückfallweiche, die Gleis 2 und 3 zum Streckengleis zusammenführt, folgt die Trennstelle, ab der die alten Straßenbahnwagen nicht mehr weiterfahren dürfen. Insgesamt hat der Bahnhof Engelhof 4 Weichen, vom Bahnhof bis zur Trennstelle sind es 15. Remise In der Remise in der Alois-Kaltenbruner-Straße 47 werden kleine Reparaturen durchgeführt, für größere werden die Triebfahrzeuge via Tieflader in die Hauptwerkstätte nach Vorchdorf gebracht. Dies kam bisher nur zweimal vor – zur Hauptuntersuchung und Hauptausbesserung von GM 8. Um Reparaturen an der Unterseite der Fahrzeuge durchführen zu können, verfügt die Remise über eine Werkstattgrube. Arbeiten am Dach der Fahrzeuge können nur mit Hilfe von Leitern durchgeführt werden. Die Remise beinhaltet neben der Abstellhalle für die Fahrzeuge auch einen Gemeinschaftsraum, sanitäre Einrichtungen, ein Nostalgie-Zimmer und ein Magazin, in dem sämtliche Ersatzteile sowie Lacke und Schmieröl gelagert werden. Außerhalb des Gebäudes wurden die beiden Schneeräumer sowie ein betriebsfähiger Scherenstromabnehmer gelagert. Die Remise musste bereits zweimal verlängert werden: Das war erstmals 1911 der Fall, denn der neue Triebwagen GM 5 war bedeutend länger als die älteren Fahrzeuge der Gmundner Straßenbahn. 1974 erfolgte der zweite Ausbau. Im Dezember 2006 wurden kleinere Ausbesserungsarbeiten an der Rückseite des Gebäudes vorgenommen. Neben Wartungsarbeiten wird die Remise auch gelegentlich für Feste genutzt. Immer wieder forderten Anrainer, die Remise in einen ansehnlicheren Zustand zu versetzen. Bei der Generalversammlung von Pro Gmundner Straßenbahn im Jahr 2005 wurde dieser Vorschlag angenommen. Oberleitung und Unterwerk Die gegenüber ihren Aufhängungspunkten zweifach isolierte Einfachfahrleitung besteht aus einer Kupfer-Silber-Legierung. Die Aufhängung erfolgt mittels 37 an Gebäuden und Straßenlaternen montierten Querdrähten und 59 Masten; darunter 24 grüne Siemens-Masten, fünf Holzmasten, 17 modernisierte Gusseisenmasten mit neuen Auslegern, ein Metallmast und sieben Betonmasten (Stand 2010). Im Oktober 2010 wurde der Fahrdraht teilweise erneuert. Anfang August 2018 wurden die fünf noch vorhandenen Gusseisenmasten von 1894 gegen neue Masten ersetzt. Die Stromversorgung der Bahn erfolgt durch ein Unterwerk an der Haltestelle Tennisplatz, der Strom wird von der Energie AG Oberösterreich bezogen. Bei der Ausweiche Tennisplatz und bei der Remise befinden sich Trennstellen. Die Strecke ist in die drei Speiseabschnitte Franz-Josefs-Platz–Tennisplatz, Tennisplatz–Remise und Remise–Bahnhof unterteilt. Darüber hinaus können auch die Ausweiche Tennisplatz und die Remisenoberleitung selbst separat eingeschaltet werden. Die Stromzufuhr kann entweder zentral vom Unterwerk geschaltet werden oder abschnittsweise an zwei Schaltmasten, die sich neben der Ausweiche Tennisplatz und der Remise befinden. Letzterer ist mit einem Schloss gesichert. Sicherungstechnik Die vier Rückfallweichen sind mit einem blauen Weichensignal gesichert. Dieses leuchtet, wenn sich die Weiche in geschlossenem Zustand befindet, das heißt geradeaus gestellt ist. Zusätzlich wird die Stellung der Weichen durch die Weichensignale angezeigt. Die Abzweigweiche zur Remise ist zusätzlich abgesichert, die Weichenzungen werden dabei in der Stellung „Fahrtrichtung gerade“ festgehalten. Die Stellung der Weiche kann auch bei Betätigung des Handstellgewichts nicht verändert werden, sie ist durch eine ergänzende Sperre gesichert. Die Streckenabschnitte bei der Remise und in der Kuferzeile sind mit Sicherungsanlagen ausgestattet. In der Nähe der Remise sind sechs Signale angebracht, die zu blinken beginnen, wenn ein Wagen einen Schienenkontakt passiert. Auf der Kuferzeile sendet ein Oberleitungskontakt einen Impuls an das Signal, das kurz darauf zu blinken beginnt und vor einem nahenden Triebwagen warnt. Dort sind drei solcher Signale vorhanden. Alle anderen Bahnübergänge sind entweder gar nicht gesichert, oder verfügen über ein Vorfahrtsschild mit einem zusätzlichen Straßenbahnsymbol. Verein Pro Gmundner Straßenbahn Seit seiner Gründung im Jahr 1989 engagiert sich der Verein Pro Gmundner Straßenbahn für den dauerhaften Erhalt der Strecke. Er wurde auf private Initiative hin gegründet, als die Einstellung der Straßenbahn diskutiert wurde. Ziele sind die Modernisierung von Anlagen und Fahrzeugen, der Neubau einer Remise, die Wiederverlängerung zum Rathausplatz und die Verknüpfung mit der Traunseebahn. Generell möchte der Verein eine Bewusstseinsbildung für den öffentlichen Verkehr in der Region erreichen. Obmann des Vereins ist seit 1995 Otfried Knoll, er war bereits seit der Gründung 1989 geschäftsführender Obmann. Pro Gmundner Straßenbahn hatte 2007 etwa 400 Mitglieder und wird vorwiegend durch Mitgliedsbeiträge und Spenden finanziert. Alle zwei Jahre findet eine Generalversammlung statt. Verlängerung/Zusammenschluss Planungen Seit den 1990er Jahren ist geplant, die Strecke zum Rathausplatz zu reaktivieren. Diese Maßnahme würde laut einer Studie dazu beitragen, das Zentrum vom Individualverkehr zu entlasten. Im Juni 1996 wählte der Arbeitskreis „Verlängerung zum Rathausplatz“ des Vereines Pro Gmundner Straßenbahn eine von mehreren Varianten aus. Noch im gleichen Monat erfolgte die Zustimmung der Bundesstraßenverwaltung zu einer zweigleisigen Trassierung in diesem Bereich. Im September 1997 übernahm das Verkehrsministerium die gesamten Planungskosten für den Ausbau. Darüber hinaus soll die Straßenbahn via Klosterplatz und Traunsteinstraße mit der mit 750 Volt Gleichspannung betriebenen Lokalbahn Gmunden–Vorchdorf zu einer Regionalstadtbahn verknüpft werden. Dieser ebenfalls zweigleisige Lückenschluss wäre circa 650 Meter lang. 2000 erfolgte hierzu im Auftrag des Vereines Pro Gmundner Straßenbahn eine erste Studie durch die Technische Universität Wien, im April 2003 stimmte der Gemeinderat dem Vorhaben zu. Gleichzeitig wurde der Neubau der Remise erwogen. Bürgermeister Heinz Köppl, der auch Beirat des Vorstands des Vereins „Pro Gmundner Straßenbahn“ ist, legte Anfang 2007 folgendes Bekenntnis ab: „Wenn wir die Straßenbahn erhalten wollen, brauchen wir den Anschluss zur Vorchdorfer Bahn. Dabei ist es zweitrangig, mit welchen Garnituren gefahren wird. Eine durchgehende Verbindung wäre eine deutliche Verbesserung für unsere Bevölkerung.“ Im Frühjahr 2007 wurde eine Machbarkeitsstudie über den Zusammenschluss in Auftrag gegeben. Die Kosten wurden zu 25 Prozent von der Stadt und zu 75 Prozent vom Land Oberösterreich getragen. Zum Koordinator ernannte die Stadt im September 2007 Otfried Knoll, den Obmann des Vereins Pro Gmundner Straßenbahn. Anfang 2008 wurde geprüft, ob die Traunbrücke hinreichend belastbar, die Passage des Trauntors möglich ist und ob die Straßenbahn im Verkehrsfluss mitschwimmen könnte. Im November 2008 bestätigte die Grazer Ingenieurgemeinschaft Kaufmann–Kriebernegg die Machbarkeit des Projekts. Im nächsten Schritt sollten die Stadt Gmunden und das Land Oberösterreich eine Trassensicherung vornehmen. Für den Ausbau nach dem Projekt Weyer galt ursprünglich folgender Zeitplan: 2008/2009: Verlegung des Seebahnhofs, Planung der Remise und Sicherung der Trassenführung bis Weyer 2012: Fertigstellung sämtlicher Projekte Für die gleichzeitig geplante Erneuerung des Fahrzeugparks standen Niederflurwagen des Typs Bombardier Flexity Outlook zur Diskussion. Ihre Wartung sollte in der Stern & Hafferl-Hauptwerkstatt in Vorchdorf erfolgen, nachdem zunächst vorgesehen war, eine neue Remise beim Gmundner Bahnhof zu errichten. Dort wäre im Böschungsbereich ein neues Gebäude mit Parkdeck entstanden. Die diesbezüglichen Planungen waren bereits abgeschlossen. Kritik Gegen den Zusammenschluss mit der Traunseebahn hatten sich manche Parteien und diverse Bürgerinitiativen positioniert. Kritisiert wurden unter anderem der Baulärm, mögliche Fassadenschäden während der Bauarbeiten und des Betriebs, die Größe der vorgesehenen Fahrzeuge sowie höhere Kosten im Vergleich zu Buslinien. Im Oktober 2020 veröffentlichte der Rechnungshof einen Bericht über das Traunseetram-Projekt und urteilte »modern, leistungsfähig, aber zu wenig Fahrgäste und daher teuer«. Umsetzung Im Feber 2013 beschloss der Gemeinderat der Stadt Gmunden die Verknüpfung der Straßenbahn mit der Lokalbahn Gmunden–Vorchdorf, die Straßenbahnwagen sollen künftig auch bis Vorchdorf fahren. Die Verlängerung soll inklusive der Platzneugestaltungen 25 Millionen Euro kosten, wovon das Land Oberösterreich 80 Prozent übernimmt. Gelder kommen auch von Stern & Hafferl, dem Verein „Pro Gmundner Straßenbahn“, von zwei Ministerien sowie von den Gemeinden Vorchdorf, Kirchham und Gschwandt. Gmunden kann außerdem wegen der Straßenbahnverlängerung einen Citybus einsparen. Die Erneuerung des Kanals in der Innenstadt sowie die Errichtung einer neuen Traunbrücke sind mit dem Projekt gekoppelt und werden von der Landesregierung mitfinanziert. Effektiv reduziert sich dadurch der Kostenanteil für die Stadtgemeinde Gmunden auf 1,5 Millionen Euro. Das Projekt wird unter der Bezeichnung StadtRegioTram Gmunden umgesetzt. Am 27. Jänner 2014 bestellte Stern & Hafferl bei Vossloh Kiepe elf neue Niederflurgelenkwagen vom Typ Tramlink, wovon drei Triebwagen für die Attergaubahn bestimmt sind. Die verkehrten zunächst auf der Traunseebahn und seit der Fertigstellung der Verknüpfung bis zum Bahnhof Gmunden. Die Fahrzeuge sind fünfteilig, 2,4 Meter breit, 32 Meter lang und bieten Platz für 183 Fahrgäste. Produziert wurden sie bis 2017 im spanischen Werk von Vossloh Kiepe in Valencia, das seit 2016 der Firma Stadler gehört. Der Ausbau gliederte sich in zwei Baulose. Das Baulos 1, die Verlängerung der Traunseebahn vom verlegten und modernisierten „Seebahnhof“ zum Gmundner Klosterplatz, wurde 2014 fertiggestellt. Es wurde feierlich am 13. Dezember 2014 eröffnet. Im Rahmen des Neubaus des städtischen Bahnhofs wurde die Straßenbahnhaltestelle näher zum Bahnhofsgebäude verlegt – seit Mai 2015 hält die Straßenbahn an einem separaten Mittelbahnsteig innerhalb des Bahnhofs. Anfang September 2015 begannen die Bauarbeiten zum Baulos 2. Dabei wurde die Straßenbahntrasse vom Franz-Josefs-Platz bis zur Kreuzung Am Graben (bis November 2015) und weiter zum Rathausplatz (bis Juli 2016) verlängert. In weiterer Folge wurde sie bis zum Trauntor geführt (bis November 2016) und auf der anderen Traunseite wurde der Abschnitt Klosterplatz–Linzerstraße gebaut (bis November 2016). Mit der Fertigstellung der neuen Traunbrücke wurde die Straßenbahn schlussendlich mit der ersten Überquerung der Traunbrücke am 6. August 2018 mit der Traunseebahn verbunden. Am 1. September 2018 wurde der Zusammenschluss mit der Lokalbahn Gmunden–Vorchdorf feierlich eröffnet. Seither verkehren direkte Züge von Gmunden Bahnhof über den Franz-Josef-Platz, Klosterplatz zum Seebahnhof und weiter nach Vorchdorf. Auf der Gesamtstrecke besteht seitdem an Wochentagen ein Halbstunden- und an den Wochenenden ein Stundentakt. Der dichtere Straßenbahnfahrplan im Stadtgebiet von Gmunden wurde bis Engelhof ausgedehnt. Literatur Filme SWR: Eisenbahn-Romantik – Lokalbahnidylle im Salzkammergut (Folge 453) SWR: Eisenbahn-Romantik – Auf Kaisers Spur – Bahnidylle Salzkammergut (Folge 628) Mit Bahn & Schiff durch das Salzkammergut, Teil I Bahnorama: Bahn & Schiff im Salzkammergut Weblinks Stern & Hafferl Verkehrsgesellschaft Verein Pro Gmundner Straßenbahn Einzelnachweise Gmunden Gmunden, Strassenbahn Bahnstrecke in Oberösterreich Spurweite 1000 mm Verkehr (Salzkammergut) Stern & Hafferl Verkehrsgesellschaft Gmunden
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https://de.wikipedia.org/wiki/Indogermanische%20Ursprache
Indogermanische Ursprache
Die indogermanische Ursprache (oder: indogermanische Grundsprache bzw. Urindogermanisch) ist die nicht belegte, aber durch sprachwissenschaftliche Methoden erschlossene gemeinsame Vorläuferin der indogermanischen Sprachen. Für diese Sprachfamilie ist (vor allem international) auch die Bezeichnung „Indoeuropäisch“ üblich, dementsprechend wird die Ursprache dann auch als Proto-Indoeuropäisch (PIE) bezeichnet. Die Bezeichnung „indogermanisch“ ist so gemeint, dass die Sprachfamilie in einem Gebiet vorkommt, das von dem germanischen Verbreitungsgebiet im Westen bis nach Indien im Osten reicht; tatsächlich sind aber die meisten „indogermanischen“ Sprachen weder germanisch noch indisch, und auch die Ursprache steht in keinem besonderen Zusammenhang mit speziell den germanischen oder indischen Tochtersprachen. Ebenso wenig soll die Bezeichnung „indoeuropäisch“ bedeuten, dass diese Ursprache unbedingt in Europa entstanden sein müsse (siehe hierzu auch im Artikel Indogermanische Sprachen#Bezeichnung). Es ist eine der bedeutenden Leistungen der Sprachwissenschaftler seit dem Beginn des 19. Jahrhunderts, aus der Untersuchung der Gemeinsamkeiten und der systematischen Unterschiede der indogermanischen Sprachen weitgehend das Vokabular und die grammatische Struktur dieser Ursprache plausibel rekonstruiert zu haben. Bei der Rekonstruktion stützt man sich vor allem auf Gemeinsamkeiten der grammatischen Formen und auf verwandte Wörter (Kognaten). Eine hohe Anzahl an Kognaten weist auf eine Verwandtschaft hin, wenn der zu vergleichende Wortschatz aus dem Grundwortschatz stammt. Datierung und Verortung des Urindogermanischen Aufgrund des gemeinsamen Vokabulars der Folgesprachen, wozu zum Beispiel die Wörter für „Rad“, „Achse“ und weitere wichtige Begriffe der Wagenbautechnik gehören (vgl. dazu auch den Abschnitt Wortschatzanalyse), gehen die meisten Forscher von einer Sprachtrennung nicht vor 3400 v. Chr. aus. In diese Zeit datiert die Archäologie die erste gesicherte Benutzung von Rädern, auch im angenommenen Sprachgebiet. Der Grad der Verschiedenheit der in Sprachdenkmälern ab dem zweiten Jahrtausend v. Chr. nachgewiesenen Folgesprachen lässt einen Trennungszeitpunkt nach etwa 3000 v. Chr. nicht mehr plausibel erscheinen. Die geographischen und zeitlichen Einordnungen dieser Sprache sind unsicher. Die in der Karte (Bild 1) abgebildete Darstellung gilt in der Fachwelt als möglich, es wurden aber auch andere Gebiete vorgeschlagen. Gemeinsamkeiten der Folgesprachen Da die indogermanische Ursprache nicht direkt überliefert ist, wurden alle Laute und Wörter durch die vergleichende Methode (Sprachrekonstruktion) erschlossen. Viele Wörter in den heutigen indogermanischen Sprachen stammen durch regelmäßigen Lautwandel von diesen Urwörtern ab. In früheren Formen dieser Sprachen ist das noch wesentlich deutlicher. Auch die grammatikalischen Strukturen der Sprachen zeigen große Übereinstimmungen (vor allem bei den älteren Sprachstufen). Nachdem in der ersten Hälfte des 19. Jahrhunderts Forscher wie Franz Bopp und Jacob Grimm die Gemeinsamkeiten detailliert dargelegt hatten, versuchte August Schleicher 1861 die Rekonstruktion der angenommenen gemeinsamen Wurzel. Seither und bis heute wird diese Rekonstruktion aufgrund neuer Entdeckungen und Analysen fortlaufend revidiert. August Schleicher folgend, markiert man rekonstruierte Formen mit einem Sternchen (Asterisk): *wódr̥ ‚Wasser‘, *ḱwṓ(n) ‚Hund‘ oder *tréyes ‚drei‘. Zur ersten Illustration der Gemeinsamkeiten soll die folgende Tabelle dienen, die einige Zahlwörter in verschiedenen Folgesprachen und in der indogermanischen Rekonstruktion zeigt. (Die Schreibweise der rekonstruierten Wörter wird weiter unten erklärt.) Nicht nur Wortgleichungen, sondern auch grammatikalische Strukturen zeigen in den indogermanischen Sprachen derartig große Gemeinsamkeiten, dass man von einem gemeinsamen Ursprung dieser Sprachen ausgehen muss. Das Gegenmodell eines Sprachbundes, also einer Gruppe ursprünglich voneinander unabhängiger Sprachen, die sich durch gegenseitige Beeinflussung einander angenähert hätten, wird angesichts der Art der beobachteten Phänomene ausgeschlossen. Gleichwohl wäre es verfehlt, sich das Urindogermanische als eine einzelne, genau so von einer Gruppe von Menschen gesprochene Sprache vorzustellen. Zum einen ist von Sprachelementen auszugehen, die in keiner der Folgesprachen Spuren hinterlassen haben und daher nicht rekonstruiert werden können, zum anderen ist zu beachten, dass die Rekonstruktion ein räumlich ausgedehntes Dialektkontinuum und einen Zeitraum von vielen Jahrhunderten umfasst. Sprachgruppen und ihre ältesten Überlieferungen Aus dem Kontinuum der indogermanischen Ursprache gliederten sich zu unterschiedlichen Zeitpunkten einzelne Dialektfamilien aus. Die sprachliche Isolierung lässt sich an Eigenheiten im Lexikon und der Morphologie sowie an spezifischen Lautgesetzen ablesen. Die Rekonstruktion des Urindogermanischen beruht auf Sprachdenkmälern der verschiedenen indogermanischen Sprachgruppen. Naturgemäß sind besonders frühe Sprachdenkmäler von vorrangigem Interesse. Die Tabelle gibt einen Überblick über die Sprachgruppen aus der Sicht der Beschäftigung mit der Ursprache. Mehr über die Sprachgruppen selbst und ihre Weiterentwicklung findet man in den Einzelartikeln sowie im Hauptartikel Indogermanische Sprachen. Daneben gibt es noch einige alte, nur in geringem Umfang überlieferte Einzelsprachen, die sich (meist mangels Materials) keiner der bekannten Gruppen zuordnen lassen, zum Beispiel die in der Mitte des ersten Jahrtausends v. Chr. gesprochene, in Inschriften in griechischer Schrift überlieferte phrygische Sprache, dann auch Thrakisch, Makedonisch, Illyrisch, Venetisch oder Lusitanisch. Typologie Indogermanisch war eine flektierende Sprache. Vieles deutet darauf hin, dass sich die Flexion erst im Laufe der Zeit in der Sprache entwickelt hat. In den Folgesprachen wurde die Flexion unterschiedlich stark wieder abgebaut – nur wenig in den baltoslawischen Sprachen, am stärksten im Englischen, im Neupersischen und im Afrikaans, die bis auf Flexionsreste stark in die Nähe der isolierenden Sprachen gerückt sind. Nach W. Lehmann (1974) war der Wortstellungstyp SOV (d. h. das Prädikat stand in Aussagesätzen am Ende des Satzes) mit den typischerweise damit verbundenen Eigenschaften (Postpositionen, vorangestellte Attribute und Relativsätze usw.). In den Folgesprachen haben sich andere Typen entwickelt: VSO im Inselkeltischen, SVO im Romanischen. Im Sinne der sogenannten relationalen Typologie war Indogermanisch (wie die meisten heute gesprochenen Sprachen) eine Akkusativsprache. Lehmann nimmt an, dass eine frühere Sprachstufe den Charakter einer Aktivsprache hatte. Viele der modernen indoarischen Sprachen (zum Beispiel Hindi) haben den Typus der Split-Ergativität angenommen. Phonologie und Phonetik Man rekonstruiert für die indogermanische Ursprache die im Folgenden dargestellten Phoneme. Zurückgehend auf Karl Brugmann verwendet man Varianten eines Systems aus lateinischen Buchstaben mit einigen Hoch- und Tiefstellungen sowie diakritischen Zeichen zur schriftlichen Darstellung. Konsonanten Die Nasale m und n sowie die Approximanten (Nähelaute) – die Liquiden (Fließlaute) l und r und die Anguste (Engelaute) y und w – werden als Resonanten bezeichnet. Sie besitzen die Fähigkeit, in Umgebung anderer Konsonanten silbisch zu werden. Zwischen Plosiven werden auch die Frikative h₁, h₂, h₃ silbisch (sie erscheinen dann im Griech. als e, a, o, im Indoiran. als i, im Slaw. als o und sonst als a) oder schwinden ganz (ved. pitā́ ‚Vater‘, gegenüber avest. ptā aber Dat. fədrōi). Der Laut, der nach Brugmann als y notiert wird, wurde (vermutlich) als wie in Deutsch ja, w als in Englisch water ausgesprochen, auch in Diphthongen (Brugmann: ey, aw; IPA [], [], also wie in engl. paper, dt. Pause). Zur phonetischen Realisierung der Palatale ḱ, ǵ und ǵʰ vgl. [] (wie in britisch engl. cube), zu der der Labiovelare kʷ, gʷ und gʷʰ vgl. italien. cinque ‚fünf‘ [] (mit gerundeten Lippen ausgesprochenes k). Die stimmhaften aspirierten Plosive des Indogermanischen kommen in den modernen europäischen Sprachen nicht vor; in indischen Sprachen (z. B. Hindi) sind sie noch erhalten. Die Bezeichnung „Laryngal“ für die mit h₁, h₂, h₃ bezeichneten Laute wurde historisch ohne eine Basis in der Rekonstruktion gewählt. Es handelt sich um drei unbekannte Laute (manche Forscher schlagen auch vier oder mehr Laryngale vor). Es gibt verschiedene Vermutungen über mögliche Aussprachen dieser Laute (siehe z. B. bei Lehmann oder Meier-Brügger). Die Laryngaltheorie wurde von Ferdinand de Saussure 1878 in die Indogermanistik eingeführt, benötigte aber etwa 100 Jahre, bis sie generell akzeptiert wurde. Das s war stimmlos (), hatte aber vor stimmhaften Lauten ein stimmhaftes Allophon, z. B. *ni-sd-ó- ‚Nest‘ (eigentlich ‚das Niedersetzen, Niedersitzen‘), phonetisch dann /nizdos/ (vgl. lat. nīdus, dt. Nest). Die sogenannte Glottalhypothese revidiert dieses klassische Rekonstruktionssystem in Hinblick auf die Verschlusslaute in großem Ausmaß. Die Revision bezieht sich wesentlich auf die Phonetik, also die vermutete Aussprache der Laute; das phonologische System (die Bezüge der Laute zueinander) als Ganzes wird von ihr nicht verändert. Es gibt keine Stimmhaftigkeit und keine Aspiration mehr; anstelle von stimmlos – stimmhaft – stimmhaft aspiriert tritt fortis – glottal – lenis; die Reihe *p *b *bʰ wird dann z. B. mit *p *p' *b (Vennemann; Gamqrelidse u. Iwanow) oder mit *p: *p' *p (Kortlandt) notiert. Anlass für die Glottalhypothese lieferten das seltene Auftreten des Phonems /b/ sowie die ungewöhnliche, unter den Sprachen der Welt praktisch einmalige Konstellation aspirierter stimmhafter Plosive bei Abwesenheit aspirierter stimmloser Plosive. Diese Theorie wird heute noch diskutiert, ist aber nicht die Mehrheitsmeinung der Experten. Die Rekonstrukten werden meist phonologisch dargestellt. Die teilweise unaussprechlich erscheinenden Konsonantenhäufungen lassen vermuten, dass die Phonetik der Sprache Sprossvokale (z. B. das „Schwa secundum“), Assimilationen und ähnliche Phänomene beinhaltete. Auftreten der Konsonanten Entwicklung der Konsonanten in einigen Folgesprachen Eines der bekanntesten Beispiele für einen Lautwandel, der von der Ursprache zu den Einzelsprachen geführt hat, ist die Entwicklung der drei Gaumenlaut-Reihen (palatal, velar und labiovelar, früher Gutturale, heute Tektale genannt): In fast allen Folgesprachen sind diese drei Tektalgruppen zu zweien zusammengefallen. Nach der verbreitetsten Theorie wurden in den so genannten Kentumsprachen (nach lat. centum ‚Hundert‘, auch „Labiovelarsprachen“) die Palatale aufgegeben; diese fielen so mit den einfachen Velaren zusammen; die Labiovelare blieben erhalten. Dagegen entfiel in den Satemsprachen (nach avest. satəm, auch „Palatalsprachen“) die Lippenrundung der Labiovelare; diese fielen so mit den einfachen Velaren zusammen; die Palatale blieben erhalten. Weiter entwickelten sich in den Kentumsprachen die Labiovelare oft zu Labialen (z. B. im Keltischen und teilweise im Griechischen; bisweilen ist nur die Lippenrundung erhalten, z. B. in nhd. w- und ne. wh- im Anlaut der Fragewörter). In den Satemsprachen entwickelte sich aus dem Palatal oft ein Frikativ (z. B. im Urindoiranischen, in den slawischen Sprachen oder im Armenischen). Vor der Entdeckung der tocharischen Sprachen sah man hier die Nachwirkung zweier indogermanischer Dialektgruppen, Kentum im Westen (Italisch, Keltisch, Germanisch, Griechisch) und Satem im Osten (Baltisch, Slawisch, Indoiranisch, Armenisch). Da aber sowohl das Anatolische als auch die weit östlich lokalisierten tocharischen Sprachen Kentumsprachen sind, geht man heute von unabhängigen Entwicklungen in den einzelnen Sprachgruppen aus. Die Bezeichnung Kentum- oder Satem-Sprache hat also heute nur noch phonologische Bedeutung. Darüber hinaus erfuhren ja auch die übrigen für die Ursprache erschlossenen Laute mehr oder weniger starke Veränderungen: Die stimmlosen Plosive blieben in den Folgesprachen weitgehend unverändert, außer im Germanischen und Armenischen, wo Lautverschiebungen hin zu Frikativen und Aspiraten stattfanden. Auch die stimmhaften Plosive erfuhren nur im Germanischen und im Tocharischen Änderungen (sie wurden stimmlos). Die stimmhaften aspirierten Plosive blieben nur in den indoarischen Sprachen erhalten (meist bis in die Gegenwart) und verloren in den anderen Sprachen meist ihre Aspiration oder ihre Stimmhaftigkeit (so im Griechischen). Vokale, Diphthonge, silbische Resonanten und Laryngale Die fünf Vokale /a/, /e/, /i/, /o/, /u/ kamen im Indogermanischen in kurzer und in langer Form vor. (Das lange /iː/ und das lange /uː/ werden von manchen nicht anerkannt, sondern auf Kombinationen der entsprechenden Kurzvokale mit Laryngalen zurückgeführt.) Die Vokale /e/ und /o/ in kurzer und langer Form nehmen hier den weitaus größten Raum ein. Auch die Resonanten /m/, /n/, /r/, /l/, und die Laryngale kamen in vokalischer Verwendung vor. Die entsprechenden Resonanten werden dann oft mit einem kleinen Kreis unter dem Vokal markiert. Beziehungen zwischen Kurz- und Langvokalen, konsonantischen und silbischen Resonanten und Laryngalen ergeben sich morphophonologisch aus Ablautphänomenen. Die Diphthonge waren /ey/, /oy/, /ay/, /ew/, /ow/, /aw/, und seltener mit Langvokal /ēy/, /ōy/, /āy/, /ēw/, /ōw/, /āw/. Statt der vielleicht etwas verwirrenden Schreibweise mit den Halbvokalen y und w werden auch die Vollvokalsymbole i und u in der Diphthongbezeichnung verwendet (/ei/, /oi/, /ai/, /eu/, /ou/, /au/); allerdings entstehen so gelegentlich Verwechslungsmöglichkeiten mit Kombinationen zweier Vollvokale. Die hier gewählte Halbvokalschreibweise macht deutlich, dass der Schwerpunkt der Diphthonge immer auf dem ersten Bestandteil lag. Laryngale blieben nur im Hethitischen direkt erhalten (dort findet man ein ḫ und ein ḫḫ). In den anderen Sprachen finden sich aber Reflexe in benachbarten Vokalen, am deutlichsten im Griechischen, wo /h₁/ zwar auf e keine Wirkung ausübt, aber (durch Umfärbung) /h₂/ ein a und /h₃/ ein o bewirkt haben. Beispiele *g̑ʰáns ‚Gans‘, *mā-tér ‚Mutter‘ (Anm.: das Wort wird aber auch als *meh₂tḗr rekonstruiert), *nébʰe-l-eh₂ ‚Wolke, Nebel‘, *ph₂tḗr ‚Vater‘, *ni-sd-ó- ‚Nest‘, *weys- (Gen. *wisos) ‚Gift‘ (vgl. avest. vīša), *gʰos-ti- ‚Gast‘, *wédōr ‚Wasser‘, *h₁rudʰ-ró- ‚rot‘, *nú(± n) ‚jetzt, nun‘, *deyk̑- ‚zeigen‘, *h₁óy-nos ‚eins‘, *káykos ‚blind, einäugig‘ (vgl. air. caech, got. háihs, lat. caecus), *téw-te-h₂ ‚Volk‘ (vgl. dt. deutsch), *lówk-o- ‚Lichtung‘ (vgl. lat. lūcus, ahd. lōh), *(s)tawr-o- ‚Stier‘ (vgl. griech. ), Dativendung *-ōy (vgl. griech. -), athematischer Nom.Sg. *dy-ḗw-s in ved. dyáuḥ, griech. , dazu aus dem Vok.Sg. *dy-éw lat. Iū-(p)piter, davon als Vr̥ddhi-Bildung *dey-w-ós ‚Himmelsgott‘ (lat. deus, dīvus = ved. deváḥ = engl. Tues-day), *(d)k̑m̥t-ó-m ‚hundert‘, Vorsilbe *n̥- (dt. Vorsilbe un-), mr̥-tó- ‚tot‘ (vgl. dt. Mord), ml̥d-ú- ‚weich‘ (vgl. dt. mild). Entwicklung in den Folgesprachen Die Vokale blieben im Griechischen zunächst unverändert erhalten (bis auf die erwähnte Färbung durch ehemalige Laryngale). Das (das griechische Ypsilon) wurde allerdings zur Zeit Homers oder kurz danach zu . Im ionischen und attischen Dialekt wurde das lange ā zu einem (griechisches Eta). In späteren Entwicklungen des Griechischen vereinfachte sich das Vokalsystem stark durch Zusammenfall vieler Vokale und Diphthonge, meist zu (vgl. Itazismus), wobei auch die Unterscheidung zwischen langen und kurzen Vokalen verloren ging. Auch die italischen Sprachen, darunter Latein, erhielten die Vokale. Im Indoiranischen fielen die Vokale *e, *o und *a zu a zusammen (jeweils in der kurzen und der langen Form). Im Germanischen wurde der idg. Kurzvokal *o zu a und fiel dadurch mit dem alten *a zusammen; später wurde der indogermanische Langvokal *ā zu ō verdunkelt (ū in Endsilben) und fiel seinerseits mit dem aus der Grundsprache ererbten *ō zusammen. Urslawisch – Entwicklung der Vokale. Kurzvokale: *e und *o blieben erhalten. *a und *ə fielen mit o zusammen. *i und *u wurden zu den Halbvokalen ь und ъ. Langvokale: *ā und *ī blieben als a und i erhalten. *ō wurde zu a, *ē wurde zu ě, *ū wurde zu y [ɨ]. Diphthonge im Urslawischen. i-Diphthonge: *ai und *oi wurden zu ě, in auslautenden Silben kann i als Vertreter von *oi erscheinen. *ei wurde zu i. u-Diphthonge: *au und *ou fallen zu u zusammen. *eu wird palatalisierendes 'u. Silbische Resonanten im Urslawischen. *l̩ und *r̩ bleiben erhalten, *m̩ und *n̩ werden zu nasalem ę. Die Kurzdiphthonge werden im Griechischen fortgesetzt, *ow wurde dabei zu (aber noch als Diphthong ου geschrieben), *ey (Epsilon + Iota) zu einem langen (ebenfalls als Diphthong ει- ei geschrieben). Die Langdiphthonge fielen mit ihren Anfangsvokalen zusammen (in der Schrift ist der ehemalige Diphthongcharakter noch erkennbar im Iota subscriptum: ). In der Entwicklung zum Neugriechischen hin wurden auch die restlichen Diphthonge monophthongisiert. Im vedischen Sanskrit wurden die Kurzdiphthonge *ey, *oy und *ay zunächst zu ai, dann zu einem langen e, entsprechend entstand aus *ew, *ow und *aw über au das lange o. (Kurze e und o kommen nicht vor). Aus den Langdiphthongen wurden dann die einfachen Diphthonge ai und au. Die silbischen Resonanten haben in den meisten Folgesprachen die silbische Eigenschaft verloren. Es entwickelten sich Sprossvokale, die mitunter auch den ursprünglichen Resonanten ganz verdrängten. So wurde die Vorsilbe *n̥- im Lateinischen zu in-, im Germanischen zu un- und im Griechischen und Indoiranischen zu a-. Das silbische *r̥,auch l̩, hat sich im Indoiranischen und im Slawischen noch erhalten (im Vedischen auch *l̥ mit willkürlicher Verteilung sowohl aus ererbtem *r̥ als auch aus ererbtem *l̥, ebenso im Slawischen *l̩ = l̩), entwickelte aber später ebenfalls einen Sprossvokal i (daher die Aussprache Sanskrit für den Sprachennamen, auf Sanskrit saṃskṛtám ‚zusammengefügt‘ *se/om-s-kʷr̥-tó-m). Akzent Der Wortakzent ist in den Veden und im Griechischen in der Schrift gekennzeichnet. In einigen anderen Sprachen (z. B. vielen slawischen und baltischen Sprachen) hat sich das indogermanische Akzentsystem im Prinzip erhalten. (Viele einzelne Akzente haben sich aber verschoben, systematische Akzentverlagerungen fanden statt, auch kamen zusätzliche Regeln auf, wie die Einschränkung auf die drei letzten Wortsilben im Griechischen.) Dennoch kann man die urindogermanischen Akzente oft nicht sicher rekonstruieren. Ziemlich sicher ist, dass in der Spätphase des Indogermanischen vor der Trennung in die Folgesprachen der Akzent melodisch, nicht dynamisch war. Darüber hinaus war er beweglich, das heißt, dass die Akzentposition pro Wort frei war und nicht festen Regeln (die sich z. B. wie später im Lateinischen aus der Silbenlänge ergaben) unterworfen war. Die Akzentposition war bedeutungsunterscheidend: griech. < *bʰór-o-s ‚Darbringung‘ : < *bʰor-ó-s ‚tragend‘, oder < *dʰrógʰ-o-s ‚Lauf, Laufbahn‘ : < *dʰrogʰ-ó-s ‚Läufer, Rad‘. Viele Wörter waren enklitisch: Sie trugen keinen eigenen Akzent, sondern verschmolzen prosodisch mit den davor stehenden Worten. Die finiten Verbformen wiesen die außergewöhnliche Besonderheit auf, dass sie im Hauptsatz enklitisch waren, im Nebensatz aber den Akzent trugen (so durchgängig im Vedischen). Die Akzentposition hatte vor allem beim Substantiv auch morphologische Bedeutung und diente (neben anderen Mitteln wie Endungen und Ablaut) zur Kennzeichnung der Fälle. Im Germanischen und im Italischen wurde der mobile Akzent bald durch eine feste Betonung der Anfangssilbe abgelöst. Damit verbunden waren lautliche Veränderungen der unbetonten Vokale, aus denen man heute z. B. Rückschlüsse auf die ursprüngliche indogermanische Akzentposition ziehen kann (Vernersches Gesetz im Germanischen). Im Lateinischen wurde die Anfangsbetonung zum klassischen Latein hin noch einmal durch die heute bekannten Akzentregeln abgelöst; im Germanischen entwickelte sich die Anfangsbetonung zum späteren Prinzip der Stammsilbenbetonung weiter. Morphologie und Morphosyntax Das Wort Ein typisches indogermanisches Wort hat einen Aufbau, der in der traditionellen Beschreibung in „Wurzel“, „Suffix“ und „Endung“ zerlegt wird; Wurzel und Suffix gemeinsam heißen Stamm (der traditionell hier verwendete Begriff des Suffixes steht also in einem engeren Sinn als sonst nur für Derivations-Suffixe). „Endungen“ sind mit anderen Worten also Flexionsaffixe, und dementsprechend nur bei flektierbaren Wortarten wie zum Beispiel Substantiven, Verben oder Adjektiven einschlägig. Eine vergleichbare Bildung im Deutschen ist zum Beispiel in les-bar-e (Texte) zu finden: Die Wurzel „les“, die auch in Lesung, Lese, lesen, leserlich vorkommt, das Suffix „-bar-“, das dem Verbstamm nachfolgt und die Möglichkeit zur Ausführung der jeweiligen Handlung bezeichnet, sowie die Endung „-e“, die hier für den Nominativ Plural steht. In der Wurzel ist der lexikalische Bedeutungsgehalt kodiert; sie ist aber nicht auf eine Wortart festgelegt. Wurzeln sind fast immer einsilbig und besitzen in aller Regel den Aufbau Plosiv / Resonant / Frikativ – (± Resonant) – Vokal – (± Resonant) – Plosiv / Resonant / Frikativ. Die „±-Resonanten“ dürfen dabei wegfallen. Bei einer kleineren Anzahl rekonstruierter Wurzeln wird vielleicht Lautsymbolik erkennbar, also die Nachahmung der Handlung mit einer Lautgeste, wie *kap oder *pak̑ ‚ergreifen, schnappen‘, *ses 'schlafen‚ oder *h₁eh₁ ‘hauchen'. Beispiele für rekonstruierte Wurzeln: *h₁es ‚sein, existieren‘; *ped verbal ‚treten‘, nominal ‚Fuß‘; *gʷem neben *gʷeh₂ ‚einen Schritt tun, kommen‘; *dʰeh₁ 'stellen, setzen, legen‚; *steh₂ ‘sich stellen', *deh₃ ‚geben‘, *bʰer ‚bringen‘, tragen‘ *pekʷ ‚kochen‘, *p(y)eh₃ ‚trinken‘, *melh₂ ‚mahlen‘, *yewg ‚anschirren‘, wekʷ ‚sprechen‘, *mlewh₂ ‚sprechen‘, *bʰeh₂ ‚sprechen‘, *leyp ‚kleben‘ oder *dʰwer 'Tür‚ u. v. a. m. Vereinzelt bestehen Anlaut oder Auslaut auch aus Konsonanten-Kombinationen ohne Resonant, z. B. *h₂ster ‘Stern' oder *sweh₂d ‚süß‘. Manchmal sind Wurzelerweiterungen erkennbar, denen auch eine ungefähre Bedeutung zugeschrieben werden kann. Beispiele: *-lo- Verkleinerung (vgl. lateinisch -(u)lu-s, -(u)lu-m), *-ko-, *-iko-, *-isko-: Herkunft, Material (lat. bellum „Krieg“, bellicus „kriegerisch“), althochdeutsch diut-isc zum Volk gehörig (hieraus das heutige Wort Deutsch). Vorsilben (Präfixe) kamen zunächst nur vereinzelt vor. Ein wichtiges Beispiel ist die Verneinungsvorsilbe *n̥- (siehe Alpha privativum). Ferner gibt es das Augment, ein vorangestelltes *h₁é-, das in Verben die Vergangenheit bezeichnet. Es ist allerdings nur im Griechischen, Armenischen und Indoiranischen belegt. Reduplikation, nämlich die Verdopplung des Anlautes einer Wortwurzel, kann in einem abstrakten Sinn ebenfalls als Präfix eingeordnet werden. Beispiele sind im Lateinischen: Präsens po-sc-ō ‚ich fordere‘, Wurzel po- (im Lat. in dieser Lautumgebung aus *pr̥k̑-), dazu Perfekt po-po-sc-ī, im Griechischen ‚ich gebe‘. Die Reduplikation kommt in der Konjugation oft zur Kennzeichnung des Perfekts, aber auch des Präsens vor. In späteren Sprachstufen kamen Vorsilben durch Komposition mit Präpositionen und Adverbien vermehrt auf; sie blieben meist auch in den Folgesprachen klar vom Wortstamm abgegrenzt, während die Suffixe meist bis zur Unkenntlichkeit mit dem Wortstamm oder der Wortendung verschmolzen sind. Ablaut Wurzel, Suffix und Endung des indogermanischen Wortes waren der Ablautbildung unterworfen. Das Ablautsystem unterschied fünf Stufen: Die vokallose Nullstufe, die Vollstufen auf *-e- und *-o- und die Dehnstufen auf *-ē- und *-ō-. Andere Vokale entstanden durch sekundäre Bildungen in Verbindung mit diesen fünf Vokalen und Laryngalen, sowie vor allem aus den „Halbvokalen“ *y und *w, die in der Nullstufe zu *i und *u werden. Auch *m, *n, *l und *r und die Laryngale wurden in der Nullstufe zu den silbischen Lauten mit vokalischer Rolle gelängt. Einige elementare *a (z. B. in den Wurzeln *albʰ ‚weiß‘, *kan ‚singen‘, *(h₁)yag̑- ‚verehren‘, *bʰag ‚zuteilen‘, *magʰ 'vermögen‚ oder *gʰayd ‘Ziege'), ebenso elementare -o-Wurzeln wie *pot ‚mächtig‘, *gʰos 'essen‚ oder *gʷow ‘Rind', dazu vielleicht elementares *ū in *mūs ‚Maus‘, sind bekannt. Andere Grundvokale als *e im Ablaut mit *o sind aber eher selten. Der Wurzel *swād 'süß' liegt sicher *sweh₂d voraus, wie das Tocharische zeigt, wo das Adjektiv in der Nullstufe *suh₂d-ró- vorliegt (*-uh₂- urtocharisch > *-wa-), also lautgesetzlich (*d schwindet vor Konsonant) urtoch. *swarë > toch. B swāre ‚süß‘; die Wurzel *swād ist also kein Beispiel für einen Grundvokal *ā. Der Ablaut war ein wichtiges Element der Wortbildung (griech. ‚ich spreche‘, ‚Wort‘), aber auch der Flexion, wo er neben Akzentposition und Endung zur Unterscheidung von zum Beispiel Person, Aspekt, Kasus diente. Bei wenigen sind alle Ablautstufen belegt; ein solches Beispiel liefert das Verwandtschaftssuffix *-(h₁)ter- im griechischen Wort für „Vater“: Zwischen Konsonanten und im Anlaut vor Konsonant werden Resonanten und Laryngale in der Nullstufe silbisch, also y > i, w > u, m > m̥, n > n̥, l > l̥, und r > r̥, ein Laryngal wird zu einem Schwa, in der Regel notiert als *ə. Die Nullstufe ergibt sich häufig bei Diphthongen: *trey- ‚drei‘: *tri-tó-s 'der dritte‚ *k̑weyd- ‘weiß': *k̑wid-ó-s niederländ. niederdt. ‚witt‘ *g̑ʰew- 'gießen‚: *g̑ʰu-tó-m ‘Gott' (Bedeutung übertragen aus Trankopfer oder Libation) *dewk- ‚ziehen‘ : *dúk-s lat. dux ‚Feldherr‘ (Wurzelnomen); *duk-ó-no- (oder *-o-nó-) gezogen Bei sogenannter ‚Vollstufe II‘ ergibt sich derselbe Effekt: *(h₁)yag̑- 'verehren': *(h₁)ig̑-tó- ved. iṣṭá- ‚verehrt‘ *swep- 'schlafen': *sup-nó-s griech. ‚Schlaf‘; hethit. šupp(tt)a(ri) ‚er schläft‘ *sup-ó. Nicht als Diphthonge bezeichnet werden *em, *en, *el und *er trotz ihres strukturell gleichen Verhaltens: *meg̑h₂- 'groß': *m̥g̑h₂-éh₂-m griech. ‚sehr‘ *nés 'wir‚: *ń̥s ‘uns'; ebenso *wés ‚ihr‘: *ús 'euch‚ (Wurzelnomina; dt. ‘euch' zusammengesetzt aus *us + wés + ge) *g̑ʰel- ‚gelb‘: *g̑ʰl̥-tó-m 'Gold‚ (Substantivierung durch Akzentverschiebung auf *-l̥- ) *wert- ‘wenden': *wr̥t-ó-no- (oder *-o-nó-) ge-worden (dt. -d- statt -t- nach dem Präsensstamm) In den Folgesprachen gab es unterschiedliche Entwicklungen. Im Griechischen findet man alle Stufen vor, im Vedischen sind *e und *o zu a zusammengefallen, so dass nur noch drei quantitative Stufen übrig blieben (in der Sanskritgrammatik als Grundstufe, guṇa und vṛddhi bekannt), die aber noch zahlreicher auftreten als im Griechischen. In den germanischen Sprachen hat sich der Ablaut in den Verben zu der bekannten bunten Vokalvielfalt mit zahlreichen und vor allem im Deutschen immer zahlreicher werdenden Ablautmustern (39 im Neuhochdeutschen) entwickelt. Nach Rix (1976, S. 33f.) liegt der Ursprung des Ablautes in phonetischen Effekten, die phonologisiert und morphologisiert wurden. Danach folgt die Paradigmenbildung der anerkannten Grundregel *-é- unter Akzent, ‚Null‘ unter Nichtakzent, *-o- wenn *-é- sekundär unter Nichtakzent (vgl. oben Akk. Sg. eupátora ‚gut als Vater, einen guten Vater habend‘). Der Schwierigkeit, dass deshalb der „schwache“ Teilstamm durch die Häufung der Nullstufen schwer aussprechbar wird, begegnet die Sprache dadurch, dass sie teilweise anlautende Konsonanten ganz weglässt (vedisch turī́ya- ‚der vierte‘ ohne anlautendes *kʷ-), sekundäre Sprossvokale bildet (*-e- in glbd. griech. , *-a- in glbd. lat. quārtus) oder zu den Mitteln þorn oder -n-Infix greift. Zu solchen sekundär zum Zwecke der Ausspracheerleichterung neugestalteten „schwachen“ Teilstämmen können dann – um ein phonologisch und morphologisch stimmiges Paradigma zu erzielen, vgl. oben phonologisiert und morphologisiert – „starke“ Teilstämme wieder neu hinzugebildet werden, die jetzt – allerdings nur scheinbar – der anerkannten Grundregel widersprechen. So wird z. B. der „schwache“ Teilstamm des Wortes ‚Fuß‘, im Gen. Sg. *pd-és, ausspracheerleichtert durch *péd-os und *pod-és, mit neuen „starken“ Teilstämmen (Nom. und Akk. Sg.) *pḗd-s / *péd-m̥ (so lat.; vedisch auch im Akk. Sg. *pḗd-m̥) bzw. (Nom. und Akk. Sg.) *pṓd-s / *pód-m̥ (so griech. und german.) zu einem jeweils lautlich in sich stimmigen Paradigma ergänzt. Die parallele Entwicklung im Verbalparadigma, z. B. bei der Wurzel *h₁ed 'essen', bestätigt diese phonologisch-morphologische Entstehungshypothese: *h₁d- in Zahn (*h₁d-ónt-), *h₁ḗd-ti / h₁éd-(o)nti letztlich in lateinisch ēst und edunt, *h₁ṓd-mi / h₁od-(é)nti in armenisch owtem ‚ich esse‘ und im deutschen Kausativum ich ätze *h₁od-é-ye-. Ähnlich ist es im Deutschen (und in geringerem Maß im Englischen) mit dem vom Ablaut unabhängigen Effekt des Umlautes geschehen (man – men, Mann – Männer, ich laufe, du läufst), der aus einem Vokalharmonieeffekt entstanden ist und später zur Unterscheidung grammatikalischer Formen diente. Themavokal Ein häufiges Suffix, aber ohne fassbare Bedeutung, ist der sogenannte Themavokal *-e-/*-o-. Tritt er zwischen Stamm und Endung, nennt man die entsprechenden Flexionsparadigmen „thematisch“, anderenfalls „athematisch“. Die athematischen Flexionen sind vor allem wegen der lautlichen Effekte zwischen Stamm und Endung komplizierter als die thematischen. Im Laufe der Zeit gingen in den Folgesprachen immer mehr Verben von den athematischen in die thematischen Klassen über. Beim Substantiv ist die thematische Klasse im Lateinischen und Griechischen die o-Deklination. Die athematischen Verben im Griechischen sind die „Verba auf (-mi)“ (zum Beispiel: ‚ich gebe‘ < *dé-doh₃-mi), im Lateinischen einige wenige unregelmäßigen Verben wie esse ‚sein‘, velle ‚wollen‘ oder īre ‚gehen‘. Die sogenannte „konsonantische“ oder „3. Konjugation“ des Lateinischen (z. B. dīcere ‚sagen‘ *déyk̑-o-) ist nicht etwa athematisch, sondern eine kurzvokalische e-Konjugation im Unterschied zur langvokalischen ē-Konjugation (z. B. monēre ‚mahnen‘ *mon-é-yo-; vgl. im folgenden Text), und die direkte Fortsetzung der indogermanischen thematischen Konjugation. Nach dem synchronen Rekonstruktionsbefund hält sich der Themavokal *-e-/*-o- nicht an die Ablautregeln und ist auch gegen Schwund in unbetonter Silbe immun. Dem Vorschlag Rasmussens, der Themavokal *-o- trete immer dann auf, wenn die darauffolgenden Laute stimmhaft seien, zum Beispiel *bʰér-e-si ‚du trägst‘, *bʰér-e-ti ‚er trägt‘, aber *bʰér-o-mes ‚wir tragen‘ und *bʰér-o-nti ‚sie tragen‘, stehen zu viele gegenteilige Fälle der Realisierung des Themavokals entgegen, z. B. der Nom. Sg. der thematischen Stämme auf *-o-s (nicht *-o-z) oder der pronominale Genitiv etwa lat. cuius aus *kʷó-syo (nicht *kʷó-zyo). Der Wechsel zwischen *e und *o kann tatsächlich nicht unmittelbar auf Ablaut zurückgeführt werden. Rix (1976) erwägt allerdings zu Recht eine Herleitung des Themavokals im Nomen aus der athematischen Endung des Gen. Sg. *-és (interpretiert als *-é-s und auf die übrigen paradigmatischen Formen übertragen) und im Verbum aus der athematischen Endung der 3. Person Plural *-énti (in gleicher Weise interpretiert als *-é-nti und auf die übrigen paradigmatischen Formen übertragen). Akrostatische und proterokinetische Flexionstypen (zu den Termini vgl. unten 6.4.4.2 Akzent- und Ablautklassen) erzeugten regelhaft die ablautmäßig korrekten Endungen Gen. Sg. *-os und 3. Pl. *-onti, interpretiert als Themavokalvarianten *-o-s und *-o-nti. Beide Varianten wurden dann entsprechend dem rekonstruktionellen Befund im Paradigma verteilt. Die langvokalischen Konjugationsklassen im Lateinischen haben unterschiedliche Ursprünge. Die lat. ē-Konjugation („2. Konjugation“) besteht aus Wurzelverben (z. B. -plēre ‚füllen‘, nēre ‚spinnen‘), Kausativ-Iterativa auf *-é-ye- (z. B. monēre ‚mahnen‘ *mon-é-ye-, vgl. altindisch mānáyati, oder docēre ‚lehren‘), Stativverben auf *-éh₁-ye- (z. B. sedēre ‚sitzen‘, vidēre ‚sehen‘), Denominativa auf *-é-ye- / *-e-ye- (z. B. fatērī ‚bekennen‘, salvēre ‚gesund sein‘), und Denominativa auf *-és-ye- (z. B. decēre ‚sich ziemen‘ zu decus ‚Zierde‘ oder augēre ‚vermehren‘ zu *h₂éwg-os in lat. augus-tus ‚erhaben‘ und altindisch óyas ‚Kraft‘). Auch einige Verben der ā-Konjugation („1. Konjugation“) haben ihren Ursprung in Kausativ-Iterativ-Bildungen, wobei (wurzelauslautend) *h₂ folgendes *e zu *a umfärbt, z. B. tonāre ‚donnern‘ *tonh₂-á-ye- < *tonh₂-é-ye- oder domāre ‚zähmen‘ *domh₂-á-ye- < *domh₂-é-ye-. Daneben gibt es ererbte Faktitiva von Adjektiven auf *-éh₂-(ye-) / *-eh₂-(ye-), z. B. novāre ‚erneuern‘ oder aequāre ‚gleichmachen‘. Die Hauptquelle der ā-Konjugation, deren Muster für die Entwicklung der regulären Paradigmata der ā-Konjugation ausschlaggebend war, sind Denominativa auf *-éh₂-ye- / *-eh₂-ye-, die von den Bildungen der Kollektiva ableitbar sind. Auch in der ā-Konjugation gibt es Wurzelverben wie nāre ‚schwimmen‘, flāre ‚blasen‘ oder fārī ‚sprechen‘. Die Verbalsuffixe *-yé-/-yó- bzw. *-ye-/-yo-, die im Altindischen die 4. Verbalklasse bilden und die auch in anderen indogermanischen Sprachen weit verbreitet sind, führen zur Ausbildung der ī-Konjugation („4. Konjugation“), allerdings nur nach „schwerer“ Silbe (audīre ‚hören‘); nach „leichter“ Silbe werden die entsprechenden Verben in die „3. Konjugation“ eingegliedert (capere ‚ergreifen‘). Zur ī-Konjugation gehören auch Weiterbildungen mit spezieller Semantik, z. B. das Suffix -urīre, das immer die Beabsichtigung einer Handlung ausdrückt: ēsurīre „essen wollen“ d. h. „jemandem ähneln, der isst“ (zu edō ‚essen‘). Diese Muster wurden im Laufe der Entwicklung des Lateinischen verallgemeinert. Substantive Substantive wurden nach Numerus und Kasus flektiert und nach Genus klassifiziert. Numerus Es gab drei Numeri: Singular, Dual und Plural. Der Dual bezeichnet dabei eine Zweizahl von Objekten. Es wird (vor allem wegen der Abwesenheit des Dual im Hethitischen) angenommen, dass der Dual in früheren Sprachstadien noch nicht vorhanden war und dann über die Bezeichnung natürlicher Paare (zum Beispiel paariger Körperteile) und der an den zwei Personen ich und du orientierten Dialogsituation entstand. In den Folgesprachen ist der Dual fast überall ausgestorben; am längsten hat er sich naheliegenderweise in der Flexion von Wörtern wie „zwei“ oder „beide“ gehalten. Im Vedischen sieht man den Dual als Numerus zur generellen Bezeichnung der Zweizahl, im Griechischen wurde er nur für natürliche Paare verwendet. Auch die altgermanischen Sprachen wie das Gotische, Altnordische oder Althochdeutsche erhalten den Dual noch restehaft. Im Gotischen ist er dabei sogar – wenn auch eingeschränkt – noch in der Verbalflexion vorhanden. Die altnordischen Personalpronomina Nominativ vit, Genitiv okkar, Dativ / Akkusativ okkr „wir beide“ und N. þit, G. ykkar, D. / A. ykkr „ihr beide“ haben entsprechende Pendants u. a. im westsächsischen Dialekt des Altenglischen (wit – uncer – unc – unc; ȝit – incer – inc – inc) und auch Gotischen (wit – *ugkara – ugkis – ugkis; *jut – igqara – igqis – igqis). Im Althochdeutschen ist hingegen nur der Genitiv der ersten Person, unkēr, ein einziges Mal belegt. Formal lebt aber die Formenreihe der 2. Person Dual in einigen deutschen Mundarten (Bairisch und Südwestfälisch), allerdings in pluralischer Bedeutung, weiter (Beispiel: bair. ees – enker – enk – enk). Auch das Isländische hat die Dual-Formenreihe erhalten. Allerdings kam es auch hier zur Umdeutung hin zu Pluralpronomina. Es wird für die frühe indogermanische Ursprache ein weiterer Numerus zur Bezeichnung von Kollektiven angenommen, also zur Bezeichnung einer Vielheit von Objekten als eine Einheit (etwa „Menschheit“ im Unterschied zu „Menschen“). Als Relikt finden sich im Lateinischen die beiden Pluralformen locī (z. B. ‚Stellen in Büchern‘) und loca (‚Gegend‘) von locus (‚Ort‘), oder im Griechischen (‚einzelne Räder‘) und (‚Räderwerk, Satz Räder‘) von (‚Rad‘), wobei loca und jeweils den Kollektiv bezeichnen. Kasus Ausgehend von den acht Kasus des Vedischen, nimmt man auch acht Kasus für das Urindogermanische an. Diese sind der Nominativ (Subjekt des Satzes), der Vokativ (angeredete oder angerufene Person), der Akkusativ (direktes Objekt des Satzes, Ziel der Bewegung), der Instrumental (Mittel, Werkzeug), der Dativ (indirektes Objekt, Nutznießer), der Ablativ (Ausgangsort der Bewegung, Grund), der Genitiv (nominales Attribut, Zugehörigkeit, Bereich), und der Lokativ (Ort des Gegenstandes, Angabe der Zeit). Ein eventueller neunter Kasus, der Direktiv oder Allativ (Ziel der Bewegung), wird angesichts einiger Spuren im Althethitischen diskutiert. In den Folgesprachen ist die Anzahl der Kasus zurückgegangen. So fielen zum Beispiel im Lateinischen der Instrumental, der Lokativ (bis auf vereinzelte Spuren) und der Ablativ zu einem einzigen Kasus „Ablativ“ zusammen. Im Slawischen findet man noch sieben Fälle, hier ist der Ablativ mit dem Genitiv verschmolzen. Einen Sonderfall bilden die beiden tocharischen Sprachen, bei denen die Anzahl der Fälle sogar zugenommen hat. Allerdings gehen nur vier der Fälle auf das Indogermanische zurück; die anderen sind Innovationen, die von agglutinierenden Nachbarsprachen ausgelöst wurden. Genus Im Indogermanischen gab es drei Genera, Maskulinum, Femininum und Neutrum. Aufgrund des hethitischen Befundes nimmt man an, dass in der Frühphase die Einteilung in Maskulina und Feminina nicht existierte. Stattdessen gab es Animata und Inanimata, also belebte Subjekte und unbelebte Objekte. Aus den Inanimata wurden die Neutra, während sich die Einteilung zunächst der Animata in Maskulina und Feminina vermutlich in Verbindung mit einer Einteilung in männliches und weibliches Geschlecht mit der Zeit bildete. Die Inanimata (Neutra) konnten nicht Subjekt eines Satzes sein, folglich gab es für sie keinen Nominativ. Dies ist noch in den Folgesprachen bei den Neutra zu beobachten, wo der Akkusativ (bzw. im Hethitischen ein auf den Instrumental zurückgehender Kasus) die Rolle des Nominativs übernimmt. Es wird angenommen, dass Inanimata nur den Kollektivplural hatten. Eine Spur hiervon wäre das Phänomen des Griechischen, dass bei einem Subjekt im Neutrum Plural das Verb im Singular steht. Deklination Endungsschemata Die folgende Tabelle zeigt rekonstruierte Endungsschemata einschließlich der charakteristischen Suffixe. Über den Dual kann kaum eine Aussage gemacht werden, außer dass die Endung im Nominativ/Vokativ/Akkusativ *-h₁ oder *-e gewesen sein dürfte. Die *-i- und *-u-Stämme verhalten sich wie andere athematische Substantive auch und bilden noch keine eigentlichen eigenen Deklinationsklassen. In vielen Folgesprachen haben sie allerdings durch Lautverschmelzungen und Analogiebildungen ein Eigenleben entwickelt. Bei der thematischen (*-o-)Deklination haben sich die Endungssätze über die Zeit hin mehr und mehr von den athematischen Endungen entfernt. Auffällig ist das Genitiv-ī im Lateinischen und Keltischen, das zu der (heute verworfenen) Annahme einer italo-keltischen Untergruppe der Indogermanischen Sprachen geführt hat. Die (athematischen) *-eh₂-Feminina sind der Ursprung der ā-Deklinationen der verschiedenen Folgesprachen (im Vedischen ist die thematische *o-Deklination zu der hiermit nicht zu verwechselnden a-Deklination geworden, die Feminina enden auf langem ā). Da diese Stämme oft die weiblichen Versionen männlicher Wörter der *o-Stämme bilden, kam es zu Angleichungen der Endungsschemata in den Folgesprachen. Eine Variante der *-eh₂-Feminina sind die *-yeh₂-Feminina, die zu der großen Gruppe der -ī́-Feminina (z. B. devī́ ‚Göttin‘) im Vedischen geführt hat. Die lateinischen maskulinen Berufsbezeichnungen auf -a (poēta ‚Dichter‘, agricola ‚Bauer‘, nauta ‚Matrose‘, scrība ‚Schreiber‘) folgen durchweg dem Deklinationsschema der ā-Deklination, ebenso viele männliche Personennamen (z. B. Sulla, Cinna, Catilīna oder Caligula). Im Griechischen jedoch erhalten solche Berufsbezeichnungen und Personennamen im Nom. Sg. zusätzlich ein -s und übernehmen im Gen. Sg. die Endung -ou aus der -o-Deklination, z. B. ‚Diener‘, ‚Bürger‘, ‚Richter‘ bzw. , oder . Akzent- und Ablautklassen Zusätzlich zu den Endungen werden die Kasus der athematischen Substantive durch die Position des Akzents und die Ablautstufe der Elemente Wurzel, Suffix und Endung markiert. Dieses ältere System ist im Vedischen und im Griechischen noch deutlich, im Lateinischen noch ansatzweise im Unterschied zwischen Nominativstamm und dem Stamm der anderen Kasus in der konsonantischen Deklination (zum Beispiel Lat. nomen, nominis) erkennbar. Hierzu wird zwischen starken Kasus und schwachen Kasus unterschieden. Die starken Kasus sind Nominativ, Vokativ und Akkusativ im Singular und Dual, Nominativ und Vokativ im Plural; alle anderen Kasus sind schwach. Der Lokativ Singular ist meist (und wohl ursprünglich) stark; er kann aber auch als schwacher Kasus auftreten. Die vier hauptsächlichen Deklinationsklassen werden als akrostatisch, proterokinetisch, hysterokinetisch und amphikinetisch bezeichnet. Statt -kinetisch wird auch der Terminus -dynamisch verwendet; es gibt auch weitere Deklinationsklassen wie z. B. mesostatisch. Die folgende Tabelle enthält typische Beispiele. Die leeren Felder bezeichnen die unbetonte Nullstufe. Eine besonders häufige Deklinationsklasse ist die mesostatische (Akzent sowohl im „starken“ als auch im „schwachen“ Teilstamm durchgehend auf dem Suffix), z. B. ai. matíḥ, Gen. matéḥ ‚Gedanke‘ *mn̥-tí-s, Gen. mn̥-téy-s, oder ai. víḥ, Gen. véḥ ‚Vogel‘ *h₂w-í-s, Gen. *h₂w-éy-s (vgl. auch im folgenden Abschnitt die Beispiele für Wurzelnomina). Die Deklinationsklasse gilt als produktive Bildung und daher nur in Einzelfällen als archaisch. Bei den sogenannten Wurzelnomina steht die Wurzel in der Nullstufe, trägt aber den Akzent (z. B. lat. nix ‚Schnee‘ *snígʷʰ-s, dt. Burg *bʰŕ̥g̑ʰ-s). Sie haben häufig ein ebenfalls in der Nullstufe stehendes Suffix (z. B. lat. portus *pr̥-tú-s ‚Hafen‘ mit -tú-Suffix, dt. Ge-burt *bʰr̥-tí-s mit -tí-Suffix), das dann gewöhnlich den Akzent trägt. Sie kommen mit (meso-)statischem (wenn das Suffix im „schwachen“ Teilstamm in der akzentuierten -é- oder -ó-Stufe steht, z. B. Gen.Sg. ‚des Hafens‘ *pr̥-téw-s, der Ge-burt *bʰr̥-tóy-s) und mobilem (= amphikinetischen, wenn im „schwachen“ Teilstamm die Endung betont ist, z. B. Gen.Sg. ‚des Schnees‘ *snigʷʰ-és, der Burg *bʰr̥g̑ʰ-és) Akzent vor. Adjektive Adjektive wurden wie die Substantive nach Numerus und Kasus, aber anders als diese auch nach Genus dekliniert. Die Formen sind dabei dieselben wie die der Substantive (und ein Adjektiv konnte auch als Substantiv verwendet werden). Die Großzahl der Adjektive folgt im Maskulinum und Neutrum der *o-Deklination, im Femininum der *eh₂- oder *yeh₂-Deklination. Auch *i- und *u- oder konsonantisch-stämmige Adjektive kamen vor; das Femininum wurde manchmal durch das *yeh₂-Suffix, manchmal gar nicht gesondert bezeichnet. Adjektive können zusätzlich gesteigert werden. Der Komparativ wird durch das amphikinetische Suffix *-yos (Ablautformen *-yōs *-is) (latein. maior ‚größer‘) oder das thematische Suffix *-tero- (griech. ‚weiser‘) bezeichnet. Der Superlativ hat die Suffixe *-(m̥)mo- (latein. minimus ‚der kleinste‘) oder *-is-to- (griech. ‚der größte‘). Die latein. Superlativendung -issimus geht auf eine Kombination des Komparativsuffix *-is- mit dem Superlativsuffix *-(m̥)mo- zurück. Pronomina Die Rekonstruktion der verschiedenen Formen der Pronomina ist nur unvollständig möglich. Personalpronomina Die Personalpronomina der ersten und zweiten Person (für die dritte Person siehe unter Demonstrativpronomina) hatten keine Genusunterscheidung. Es gab Singular, Dual und Plural; dabei muss aber beachtet werden, dass „wir“ nicht in genau demselben Sinne der Plural von „ich“ ist wie „Personen“ der Plural von „Person“, da die Rollen des Sprechers und des Angesprochenen sich nicht ohne weiteres in diese Kategorien einbeziehen lassen. Entsprechend gibt es auch im Singular ganz andere Wortwurzeln als im Plural. Die Personalpronomina hatten jeweils eine betonte und eine enklitische Form. Im Griechischen und Indoiranischen hat sich diese Unterscheidung gehalten; in anderen Folgesprachen hat sich der Formenbestand der beiden Typen vermischt. Die enklitische Form kam nicht in allen Kasus vor. Reflexivpronomen Vom Reflexivpronomen *swe/*se lassen sich die Dativform *soj und der enklitische Akkusativ *se rekonstruieren. Demonstrativpronomina Wie auch in den modernen Sprachen gab es verschiedene Demonstrativpronomina, die verschiedene Arten bzw. Grade der Demonstrativität ausdrückten. (Vgl. er, dieser, jener, derselbe). Das Pronomen *só/*séh₂/*tó- (‚er‘/'sie‚/‘es') wurde – in attributiver Verwendung – auch Ausgangspunkt des bestimmten Artikels im Griechischen, in gewissem Sinne auch im Vedischen, viel später auch im Deutschen. Die hier dargestellten Formen sind hauptsächlich aufgrund des vedischen Bestands rekonstruiert: Dieses Pronomen findet man zum Beispiel im deutschen das, im griechischen Artikel ὁ ho, ἡ hē, τó tó, und im vedischen Pronomen sá, sā́, tád. Ein zweites Demonstrativpronomen *i- (Ablaut *ey-) entspricht dem lateinischen is, ea, id, Sanskrit ayám, iyám, idám Interrogativ-, Indefinit-, Relativpronomina Als Fragepronomen wird substantivisch *kʷí- (*kʷí-s lat. Nom. mask. fem. quis? ‚wer‘ = griech. , *kʷí-d lat. Nom. Akk. neutr. quid? ‚was?‘ = griech. ) und adjektivisch *kʷó- rekonstruiert. Daraus, dass das Fragepronomen eine eigene Form für das Neutrum, aber keine Genusunterscheidung zwischen Maskulinum und Femininum kennt, schließt man auf das hohe Alter dieser Formen. Allerdings kennt das Vedische den Stamm *kʷí- nur in einer einzigen Form, nämlich den Nom. Akk. neutr. kím? ‚was?‘; die übrigen Formen (die dann in kád? = kím? ‚was?‘ ein alternatives Neutrum haben) gehen exakt wie das Demonstrativpronomen tá-. In enklitischer Form hatten die Fragepronomina indefinite Bedeutung („wer auch immer“). Das Relativpronomen geht ebenfalls auf das Fragepronomen zurück und entwickelt z. T. eigene Formen. Ein weiterer Relativstamm war *yo-, eventuell mit einleitendem Laryngal (h₁); dieser ist im Sanskrit als Relativpronomen yád, im Griechischen als , im Keltischen als yo bekannt. Interrogativpronomina und Relativpronomina lassen sich rekonstruktionell umfassend dadurch darstellen, dass man fürs Interrogativpronomen in der oben stehenden Tabelle des Demonstrativpronomens *t- durch *kʷ- und fürs Relativpronomen *t- durch *(h₁)y- ersetzt. Es gibt aber im Interrogativpronomen die erwähnten, offenbar älteren „Zusatzformen“ vom Pronominalstamm *kʷí-. Besonders interessant scheint in diesem Zusammenhang die Instrumentalbildung *kʷí-h₁, die bis heute in lat. quī? ‚wie?‘ und engl. why? ‚warum?‘ erhalten ist. Weitere pronomiale Bildungen Es wurden dem Possessivpronomen entsprechende Adjektive rekonstruiert. Der Genitiv des Personal- bzw. Demonstrativpronomens übernimmt aber meist diese Funktion. Weitere Wörter (ein anderer, keiner, die Zahlwörter etc.) passen von der Rolle wie der Flexion her in das System der Pronomina. Verben Das indogermanische Verb wurde nach Numerus, Person, Aspekt, Tempus/Modus und Diathese flektiert. Zusätzlich gab es mehr oder weniger produktive Verfahren, die (meist durch ein geeignetes Suffix) die Bildung neuer abgeleiteter Verben (zum Beispiel Kausativ, Desiderativ) ermöglichten. Andere Suffixe erlaubten die Bildung von Verben aus Substantiven/Adjektiven (Denominativ) oder umgekehrt die Bildung von Adjektiven/Substantiven aus Verben (Partizip, Gerundivum, Gerundium usw.). Es wird angenommen, dass in einer Vorform des Indogermanischen die Suffixe für Tempus, Aspekt, Aktionsart etc. freier miteinander kombinierbar waren, sodass nicht zwischen Wortbildung und Flexion getrennt werden kann. Daraus entwickelte sich das „klassische“ indogermanische Verbalsystem, das in seiner vollen Ausprägung vor allem im Griechischen und im Indoiranischen feststellbar ist. In manchen Folgesprachen (zum Beispiel Latein, entfernter schon Germanisch) kann man einen späteren Umbau dieses Systems feststellen, im Fall des Hethitischen geht man eher davon aus, dass sich das klassische System erst nach der Abspaltung der Sprache entwickelt hat. Numerus und Person entsprechen dem, was aus modernen indogermanischen Sprachen bekannt ist, wobei natürlich der Numerus des Duals dazu kommt. Aspekt Die wichtigste Kategorie des indogermanischen Verbs ist nicht etwa das Tempus (wie die Bezeichnung „Zeitwort“ für „Verb“ vermuten lassen könnte), sondern der Aspekt. Der Aspekt drückt die zeitliche Haltung des Sprechers zum berichteten Ablauf aus: der perfektive Aspekt sieht den gesamten Handlungsablauf in seiner Einordnung in den Berichtsablauf („abgeschlossene Handlung“), im imperfektiven Aspekt liegt der berichtete Zeitpunkt innerhalb des Handlungsablaufs, und im resultativen Aspekt ist der Bericht auf das Ergebnis des Ablaufs konzentriert. Den drei Aspekten entsprechen die indogermanischen Formengruppen Präsens (imperfektiv), Aorist (perfektiv), und Perfekt (resultativ); (die Bezeichnung „Tempus“ sollte hier vermieden werden). Das Perfekt nimmt allerdings aufgrund seiner Entstehungsgeschichte (vgl. im Folgenden die Erklärung der Faktiv-Endungen des Plusquamperfekts sowie die Perfekt-Medium-Darstellung im Abschnitt Das Verb in den Folgesprachen: Griechisch) eine Sonderstellung ein. Zur Entwicklung der spezifischen semantischen Besonderheiten der Aspekte vgl. die Ausführungen im folgenden Absatz Tempus/Modus. Man vermutet, dass es in einer früheren Sprachstufe zwei Arten von Verben (bzw. eigentlich zwei verschiedene Wortarten) gab: die Faktivverben und die Stativverben. Die Faktivverben denotieren einmalige Ereignisse und Handlungen, die Stativverben längerfristige Zustände. Die Faktivverben sind transitiv, die Stativverben intransitiv. Es gibt Spekulationen, die die Faktivverben mit den animaten Substantiven, die Stativverben mit den inanimaten Substantiven in Verbindung bringen. Die Faktivverben haben den Formen- und Endungsbestand des späteren Präsens und Aorists (ohne Medium), die Stativverben haben den Formen- und Endungsbestand des späteren Stativs und Mediums. Das spätere Perfekt hat den Formenbestand der Faktivverben und den Endungsbestand der Stativverben. Abweichungen von der Zuordnung Faktivverben : Faktivendungen und Stativverben : Stativendungen sind zahlenmäßig selten; sie betreffen aber wichtige Einzelverben, Tempora und Verbalgruppen, z. B. einerseits (Stativverben mit Faktivendungen) lat. est ‚ist‘, it ‚geht‘ oder fit ‚wird‘ (im Lat. aber Semideponens) oder die griech. Passivaoriste, andererseits (Faktivverben mit Stativendungen) transitive Deponentien wie ved. sácate = griech. = lat. sequitur ‚folgt‘, oder den Singular der hethit. ḫi-Verben. Diese sind Semideponentien mit einer einzigartigen, aber in dieser Einzelsprache regelhaft grammatikalisierten Verteilung der Faktiv- und Stativendungen. Durch diese Grammatikalisierung kommt es zu der erstaunlichen Erscheinung, dass ausgerechnet die hethit. Faktitiva ḫi-Verben sind. In visionärer Weise identifizierte Pedersen bereits 1933 die Faktivverben bzw. die Stativverben in ihren für die Erkenntnis der verbalen Verhältnisse in der indogermanischen Ursprache eminent wichtigen Eigenschaften und versah sie mit dem Terminus mi-Konjugation bzw. H-Konjugation. Eine allgemeinere, aber aussagekräftige Bezeichnung ist Uraktiv bzw. Urmedium. Morphologisch wird der Aspekt durch die Bildung separater Stämme für Präsens, Aorist und Perfekt aus der Wortwurzel ausgedrückt. Die Bildungsverfahren sind verschiedene Kombinationen von Ablautstufen, Reduplikation und speziellen Suffixen. Das Perfekt zeichnet sich darüber hinaus durch einen separaten Satz von Endungen aus. Tempus/Modus Innerhalb einer Aspektgruppe (im Perfekt aber nicht voll ausgebildet) gibt es fünf Tempus/Modus-Kategorien: Die Gegenwart (fehlt in der Aoristgruppe aus logischen Gründen, da ein gegenwärtiger Ablauf noch nicht vollständig ist), die Vergangenheit, den Konjunktiv (der die Zukunft oder die Absicht bezeichnete), den Optativ (Wunsch, Möglichkeit), den Imperativ (Befehl, nicht in der ersten Person). Zur Kennzeichnung dienten die Endungssätze: die sogenannten primären oder hīc-et-nunc-Endungen für Gegenwart und Konjunktiv, die sekundären Endungen für Vergangenheit und Optativ, ein spezieller Endungssatz für den Imperativ; das Augment zur Kennzeichnung der Vergangenheit (wird als rein griechisch-armenisch-indoiranische Besonderheit angesehen); spezielle Suffixe: *-e-/*-o- bzw. *-é-/*-ó- (der Themavokal) für den Konjunktiv, *-yéh₁-/*-ih₁- für den Optativ. An Stelle des sprachtypologisch nicht möglichen „Aorists der Gegenwart“ steht der Injunktiv, d. h. ein augmentloser Aorist, der eine außerzeitliche Betrachtung des aoristischen Sachverhalts darstellt, d. h. eine Handlung mit „Zeitdauer Null“ (entspricht dem perfektiven Aspekt). Diese Handlung kann nicht sprachwirklich dargestellt werden, da die Aussage eine längere Zeitdauer erfordert als die Handlung (z. B. der Ballon platzt). Die jeweilige Verbalform kann somit nicht die Gegenwart ausdrücken; sie kann entsprechend keine Primärendungen haben. Sprachwirkliche Darstellungen des aoristischen Sachverhalts sind hingegen in den Vergangenheitstempora, im Futur und in den Modi möglich (der Ballon platzte / ist geplatzt / war geplatzt / wird platzen / kann platzen / wenn er platzt, erschrecken wir). Auch die Iteration ist sprachwirklich (mehrere Ballons platzen nacheinander; jetzt mit imperfektivem Aspekt); zum Ausdruck dieser Iteration bilden Aoristwurzeln häufig Präsensstämme mit ikonischer Reduplikation. Die iterierte Form entspricht dann der iterierten Semantik; die Primärendung kann problemlos antreten (vgl. hier im Beitrag „Vedisch und Sanskrit“ ved. jáṅ + gan + ti ‚er kommt‘ *gʷém + gʷom + ti; die Aoristwurzel *gʷem ‚einen Schritt tun‘ vermag durch die Iterierung dann als ursprüngliche Bedeutung auszudrücken: ‚er tut Schritte‘). Geschehene aoristische Handlungen können wegen ihrer „Zeitdauer Null“ rückblickend immer nur als Gesamthandlung betrachtet werden. Daraus entwickelt sich die Bedeutung des Aorists als Gesamtschau auch länger andauernder vergangener Handlungen. Das Präsens bezeichnet dann semantisch entsprechend die Verlaufsschau, d. h. Handlungen, die (häufig während andere Handlungen eintreten) gerade ablaufen. Der Terminus Aspekt bezieht sich auf die Unterscheidung von „Gesamtschau“ und „Verlaufsschau“. Diathese Wir kennen aus den modernen indogermanischen Sprachen die Diathese Aktiv-Passiv, die sich in den einzelnen Sprachzweigen unabhängig gebildet hat. Ein formal eigenes Passiv war aber in der Ursprache nicht existent; stattdessen gab es ein Medium, das die Intransitivität bezeichnete (lat. abdor ‚ich bin ...‘ bzw. '… liege versteckt'), ebenso die Reziprozität (lat. abduntur ‚sie verstecken einander‘), und weiterhin, dass das Subjekt des Satzes zusätzlich direktes oder indirektes Objekt ist (lat. abdor ‚ich verstecke mich selbst‘ bzw. 'ich verstecke mir selbst' – letztere Bedeutung, die des Interesses, ist im Lat. allerdings nicht mehr erkennbar). Aus diesen medialtypischen Inhalten konnten sich dann Bedeutungen wie (gerundivisch) lat. abdor ‚ich lasse mich verstecken‘ oder (passivisch) lat. abdor ‚ich werde versteckt‘ entwickeln. Endungsschemata Beim Versuch, die formale Beschaffenheit der grundsprachlichen Verbalendungen zu erschließen, ist davon auszugehen, dass – in den Einzelsprachen z. T. auf völlig verschiedene Weise – chronologische Abstufungen, Änderungen und Weiterentwicklungen es praktisch unmöglich machen, die Verbalendungen in einer einzigen Tabelle darzustellen. Dennoch sind einige Fakten hinsichtlich des überlieferten „Endungs-Materials“ ziemlich gesichert: 1. Die ursprünglichen Endungssätze sind weitgehend bekannt; sie lauten – mit der Einschränkung weitgehend – für die Faktivendungen 1.Sg *m, 2.Sg. *s, 3.Sg. *t, 1.Du. *wé, 1.Pl. *mé, 2.Pl. *té, 3.Pl. *ént, für die Stativendungen 1.Sg *h₂e, 2.Sg. *th₂e, 3.Sg. *e, 1.Du. *wé, 1.Pl. *mé, 2.Pl. *é, 3.Pl. *ŕ̥. 2. Sogenannte hīc-et-nunc-Markierungen machen diese „Sekundärendungen“ zu „Primärendungen“ (zu deren Verwendungsweise vgl. z. B. unter Aspekt und Tempus/Modus). Diese Markierungen sind offensichtlich *i, *s, *h₂ und u. U. auch *r (wenn dieses in andere Stativendungen eindringt). Die allgemein und weithin anerkannte Verteilung der Markierung führt tentativ zu folgenden Primärendungen: Faktivendungen 1.Sg *mi, 2.Sg. *si, 3.Sg. *ti, 1.Du. *wés, 1.Pl. *més, 2.Pl. *th₂é, 3.Pl. *énti, Stativendungen 1.Sg *h₂ey, 2.Sg. *th₂ey, 3.Sg. *ey, 1.Du. *wés, 1.Pl. *més, 2.Pl. *éy, 3.Pl. *ŕ̥s. 3. Die Endungen sind teilweise ablautresistent; wenn sie ablauten, werden sie häufig unabhängig und ohne Bezug auf die gültige Akzent-Ablaut-Zuordnung verwendet. 4. Die 3.Pl. *ŕ̥ des Stativendungssatzes nimmt einen auffälligen Entwicklungsweg: Im Griech. und German. wird sie völlig ausgemerzt, im Vedischen dringt sie z. T. in die 3.Pl. des Wurzelaorists ein. Im Hethit. erscheint sie in allen 3.-Pl.-Formen des Präteritums und wird teilweise (und variabel) auf andere Endungen des Mediums und Passivs übertragen. Im Lateinischen findet diese Übertragung fast vollständig, im Tocharischen durchgehend statt. Es kann davon ausgegangen werden, dass solche Übertragungen einzelsprachlich sekundär vorgenommen werden. In der folgenden Tabelle der Endungen wird daher *-ŕ̥ nur in die 3.Pl. des Mediums gesetzt. 5. Die Stativendungen erleiden ihre stärksten Änderungen bzw. Einbußen dadurch, dass sie aus dem ursprünglich einheitlichen Stativ ins Medium und (später) ins Perfekt abgegeben werden (wobei ausgerechnet das Perfekt noch die ursprünglichste Form der Stativendungen beibehält). Z. B. erscheint die 3.Sg. *e im Medium als *ó (sīc!) und unter dem Einfluss der daneben liegenden Faktivendung 3.Sg. *t als *tó (die 2.Sg. dann entsprechend als *só statt *th₂é, die 3.Pl. z. B. als *-ń̥to *-statt *-ŕ̥ usw.). Diese 3.Sg.-Endung *tó wird im Lateinischen (s. o.) zusätzlich mit *r versehen und erhält so die uns vertraute Form *-tur. Heth. šupp(tt)a(ri) ‚er schläft‘ zeigt diesen Vorgang parallel in derselben Einzelsprache: šuppa *sup-ó, šupptta *sup-tó, šuppttari mit *r plus hīc-et-nunc-Markierung. 6. Endungen „starker“ Teilstämme sind nicht akzentuiert, weil der „starke“ Teilstamm von der Typologie her bereits den Akzent trägt. Das gilt für die Faktivendungen des Aorists und Präsens und für die Stativendungen des -é-Stativs und des Perfekts (und ausnahmslos natürlich ebenso für die Nominalendungen im Nominalsystem). Das Medium des Aorists und Präsens entsteht dadurch, dass der ursprünglich einheitliche Stativ seinen „schwachen“ Teilstamm in den Aorist und ins Präsens abgibt (vgl. oben unter 5.). Durch die jetzt notwendige Auffüllung des Medialparadigmas kommt es zu der einmaligen Erscheinung, dass im Medium Starkstammendungen akzentuiert sind (also jetzt 1.Sg. *h₂é, 2.Sg. *th₂é, 3.Sg. *é; vgl. z. B. unten im Abschnitt Das Verb und die Folgesprachen, Griechisch die Medialform z. B. 1.Sg. *dʰe-dʰh₁-h₂éy ‚bin gesetzt‘ bzw. 'bin gesetzt worden'). Die gleiche Erscheinung tritt naturgemäß beim nullstufigen Stativ auf, d. h. in den Fällen, in denen beim Stativ nicht die -é-Stufe, sondern die Nullstufe einheitlich im ganzen Paradigma durchgeführt wird. 7. Eine Besonderheit stellt die 1.Sg. der thematischen Verben auf *-ō dar. Bei der traditionellen Herleitung aus *-o-h₂ (h₂ aber nicht sicher) fällt auf, dass ausgerechnet diese häufige und wichtige Form keine hīc-et-nunc-Markierung hat. Ferner gilt für alle sicher rekonstruierten Endungen ausnahmslos, dass die Sekundärendung die Primärendung minus hīc-et-nunc-Markierung ist (also z. B. *si – *i = *s). Die Sekundärendung der 1.Sg. auch der thematischen Verben lautet aber *m. Es erscheint möglich, dass *-ō eine Kontinuante aus *-o-mh₂ ist. Die thematische 1.Sg. hätte dann die hīc-et-nunc-Partikel *h₂, und es gälte *mh₂ – *h₂ = *m. Im Einsilbler könnte die Kontinuante tatsächlich *-ó-m lauten (lat. sum ‚ich bin‘ dann aus *h₁s-ó-mh₂ statt **sō; lat. dō ‚ich gebe‘ ist kein „echter“ Einsilbler, sondern eine Präsensreduplikation, vgl. re-d-dō ‚ich gebe zurück‘). 8. Ein „-s-Zusatz“ für die Stativendungen 1.Pl. *-mé + dʰh₂ und 2.Pl. *-dʰw + é (so in Tichy-2000, S. 86) wird nicht angenommen. Die nur griech. Endung der 2.Pl. des Mediums, , ist abstrahiert aus der Narten-Form der Wurzel *h₁es ‚sein‘, ‚ihr sitzt‘ *h₁ḗs-dʰwe, interpretiert als *h₁ḗ-sdʰwe (im Griech. ist dann bereits im ganzen Paradigma nur noch der Stamm *h₁ḗ- durchgeführt, mit Ausnahme der bezeichnenden Doppelform 3.Sg. Imperfekt und .) 9. Viele einzelsprachliche Endungen lauten formal anders; man versucht jedoch, die Entwicklungsgeschichte schlüssig nachzuvollziehen. Die 1.Pl. der Faktiv-Primärendungen lautet griech. ; hier ersetzt *n die hīc-et-nunc-Partikel *s. Im Hethit. lautet sie -u(u)eni (mit gleicher hīc-et-nunc-Markierung wie im Griech.); hier ist *w aus der 1.Du. übertragen und die hīc-et-nunc-Partikel *i nochmals angesetzt. Die 1.Sg. der Stativ-Sekundärendungen lautet griech. ; die Zusammensetzung ist so vorstellbar: *m + *h₂a + Laryngal (welcher?) + erwähnte (hier bedeutungswidrige) hīc-et-nunc-Partikel *n. In der 2.Pl. der Stativendungen im Latein. ersetzt eine Infinitiv-Endung (Infinitiv im Sinne einer Aufforderung) -minī die ererbte Endung usw. usf. 10. Die in der Tabelle herausgehobenen Teile der Sekundärendungen bestätigen die Verbindung mit den Perfektendungen. Unter diesen Einschränkungen und sehr schwierigen Voraussetzungen könnte eine Endungstabelle wie folgt aussehen: Die eingeklammerten Endungen müssen als ziemlich spekulativ gelten. Für den Imperativ lassen sich nur die Singularendungen im Aktiv sicher rekonstruieren. Endung der zweiten Person Singular Imperativ ist ‚Null‘ für thematische, *-dʰí für athematische Verben (‚Null‘ kommt aber vereinzelt auch ‚athematisch‘ vor, z. B. lat. ī! ‚geh!‘ *h₁éy : *h₁i-dʰí in ved. ihí, altavest. idī, griech. oder hethit. īt). In der 2.Sg. und 3.Sg. gibt es die Endung *-tōd für Aufforderungen in der Zukunft, z. B. lat. petitō! ‚du sollst verlangen‘, ‚er soll verlangen‘ *pét-e-tōd. Für die Formen der übrigen Personen, Numeri und Diathesen wurden jeweils die entsprechenden Injunktivbildungen verwendet. Die Perfektendungen sind (vgl. oben) im Ursprung identisch mit denen des Mediums, haben aber (aufgrund der Entstehungsgeschichte des Perfekts) aktivische Funktion. Tichy-2000, S. 89f. nimmt auch Primärendungen 1.Sg *-h₂ey, 2.Sg. *-th₂ey, 3.Sg. *-ey, 1.Pl. *-més und 3.Pl. -ŕ̥s an. Die folgenden Endungen sind dann Sekundärendungen; sie lassen sich mit sehr hoher Sicherheit wie folgt rekonstruieren: Die Vergangenheit des Perfekts, das Plusquamperfekt, hat die Faktiv-Sekundärendungen *-m, *-s, *-t usw. Wenn man davon ausgeht, dass das Perfekt aus dem (reduplizierten) Präsens entstanden ist, indem die Stativendungen anstelle der Faktivendungen eingeführt wurden, zeigt das Plusquamperfekt tatsächlich noch den ursprünglichen Endungsbestand. Infinitive gibt es in der Grundsprache nicht; die Einzelsprachen verwenden für die Bildung ihrer Infinitive nominale Suffixe, meist mit den Kasusformen des Akkusativs, Dativs, Lokativs usw. Augment Im Griechischen, Indoiranischen, Phrygischen und z. T. Armenischen (siehe auch unter Balkanindogermanisch) taucht in den Vergangenheitstempora als Markierung für die Vergangenheit ein spezielles Präfix, das sogenannte Augment, auf; vgl. griech. é-phere = ved. á-bharat ‚er trug‘ (Imperfekt) oder in der armenischen Aoristform e-ber ‚er trug‘ (in der 1. Person Singular aber beri ohne Augment). In den übrigen idg. Sprachen, wie Latein oder Germanisch, fehlt jedoch das Augment. Zudem war die Augmentierung im älteren Indoiranischen sowie im homerischen Griechisch nicht obligatorisch (diese nicht-augmentierten Vergangenheitsformen werden als Injunktive bezeichnet). Für das Urindogermanische führt Meier-Brügger ein Adverb *(h₁)é damals an, das fakultativ vor den entsprechenden Verbformen in der Vergangenheit stehen konnte. Das oben angeführte griechische (é-phere) und vedische Beispiel (á-bharat) wird bei Meier-Brügger somit als *h₁é *bʰéret, zusammengezogen als *h₁é-bʰeret, rekonstruiert. Stammbildungen Präsens Die Bildungen für Präsensstämme im Indogermanischen sind mannigfaltig. Hier seien daher nur die wichtigsten genannt: *-yé-/-yó- bzw. *-ye-/-yo-: Dieses Suffix, welches einen thematischen Stamm ergibt, kann wohl als das produktivste im Indogermanischen überhaupt gelten. Die Wurzel ist entweder in der Nullstufe, wenn die Verben meist Intransitiva sind, oder in der Vollstufe, was meist Transitiva ergibt. Weiters wird das Suffix häufig zur Bildung von Denominativa benutzt. *-é-ye-/-é-yo-: Diese beiden Suffixe dürfen Varianten des obigen sein. Die Wurzel pflegt in der o-Stufe zu stehen und die Bedeutung entweder kausativ oder iterativ zu sein. *-sk̑é-/-sk̑ó-: Dieses thematische Suffix wird an die Nullstufe der Wurzel gehängt und ergibt Stämme iterativer Bedeutung. Beispielsweise gehen die Inchoativa des Lateinischen, die mit -sc- aktionsartspezifiziert sind, auf diese Bildung zurück, ebenso die Iterativa mit *-sk̑é-/-sk̑ó- im Griechischen und Hethitischen. *-h₁s(y)é-/-h₁s(y)ó- bzw. *-h₁s(y)e-/-h₁s(y)o-: Dieses Suffix tritt entweder an die reduplizierte Wurzel (zum Beispiel *dʰedʰh₁- von *dʰeh₁-) oder an die *e-Stufe an und hat desiderative Bedeutung. Es ist der Ursprung einiger indogermanischer Futurbildungen, so grammatikalisiert im Griechischen. „Nasalpräsens“: In die Nullstufe der Wurzel wurde ein Infix *-né- (im „starken“ Teilstamm), ablautend mit *-n- (im „schwachen“ Teilstamm), vor dem letzten Konsonanten eingefügt. Der sich ergebende Stamm war ursprünglich athematisch, wurde aber in den Folgesprachen auf mannigfaltige Weise thematisiert. Das Nasalpräsens ist u. a. noch im Lateinischen vorhanden (vincere mit Perfekt vīcī ‚(be-)siegen‘; ‚(be-)siegte‘ bzw. ‚habe (be-/ge-)siegt‘). Aorist Die Folgesprachen der indogermanischen Ursprache zeigen vier verschiedene Aoristbildungen, den Wurzelaorist, den -s-Aorist, den thematischen Aorist und den reduplizierten (ebenfalls thematischen) Aorist. Die neben dem Wurzelaorist einzige der Ursprache zugehörige Aoristbildung ist der -s-Aorist (vgl. zum Beispiel den -s-Aorist im Vedischen = -σ-Aorist im Griechischen = -s-Perfekt im Lateinischen). Das *-s- tritt direkt an die Wurzel an. Ohne Themavokal, d. h. athematisch, folgen die Sekundärendungen. Die Wurzel steht dabei im Aktiv durchgehend in der -ḗ-Dehnstufe, im Medium jedoch in der Nullstufe, bei Wurzeln auf -y und -w in der -é-Vollstufe. Aufgrund von Befunden aus dem Tocharischen und Hethitischen ist umstritten, ob das s-Suffix in allen Personen ursprünglich ist oder zunächst nur der 3.Sg. angehört (zum hethit. *-s- in der 3.Sg des Präteritums der ḫi-Verben vgl. aber den Beitrag hier unter Anatolische Sprachen). Das Vorhandensein eines Augments ist aufs Griechisch-Armenisch-Indoiranische begrenzt und deshalb auch für die übrigen Einzelsprachen, soweit sie den Aorist (noch) haben, fraglich. Perfekt Der Perfektstamm besteht meist nur aus der reduplizierten Wurzel. Als Vokal der Reduplikationssilbe tritt gewöhnlich *e auf (im Vedischen auch *ē, *i und *u, im Lateinischen auch *u, ein Mal parallel zueinander in ved. tutóda ~ lat. tutudī ‚stieß‘, beide wohl *stu-stówd- / stu-stud-´), die Wurzel steht im Aktiv Singular in der -ó-Stufe, sonst in der Nullstufe. Im Lateinischen hat das Reduplikationsperfekt häufig überdauert, neben *stu-stud-´ z. B. noch bei dare ‚geben‘, Perfekt dedī aus dem „schwachen“ Teilstamm *de-dh₃-´, oder bei cadere ‚fallen‘, Perfekt cecidī aus *k̑e-k̑ód-h₂e + y (~ ved. glbd. śaśā́da). Eine nicht sehr häufige Ausnahme durch das Fehlen der Reduplikation stellt die sehr alte Bildung 1. Sg. *wóyd-h₂e ‚ich weiß‘, 1. Pl. *wid-mé ‚wir wissen‘ von der Wurzel *weyd (‚sehen‘, ursprünglich eigentlich ‚finden‘, vgl. lat. vidēre ‚sehen‘) dar (s. a. Präteritopräsentia). Das Verb in den Folgesprachen Im Vedischen und im Griechischen findet man das dargestellte Verbsystem am deutlichsten wieder. Das ist insofern kein Wunder, als die Rekonstruktion des Urindogermanischen vor allem auf diesen beiden Sprachen beruht (sogenanntes graeco-arisches Rekonstruktionsmodell). Die Gültigkeit dieses Ansatzes ist angezweifelt worden; bislang konnte aber kein Alternativmodell geliefert werden. Anatolisch Von den anatolischen Sprachen wird angenommen, dass sie sich vor der Bildung der meisten „graeco-arischen“ Merkmale abgespalten haben. Das – am besten überlieferte – hethit. Verbalsystem ist dadurch gekennzeichnet, dass es den Aorist aufgegeben und das Perfekt – im Gegensatz zu den anderen Einzelsprachen – noch nicht entwickelt hat. Dadurch ist das Verbalsystem viel einfacher; es gibt Gegenwart (ausgedrückt durch das Präsens) und Vergangenheit (= Präteritum; ausgedrückt durch das Imperfekt), Aktiv und Mediopassiv (das Medium hat auch Funktionen eines Passivs übernommen). Thematische Verben spielen so gut wie keine Rolle. Verben mit -o-Vokalismus (malli ‚mahlt‘ *mél-molh₂-e + y, dāi ‚nimmt‘ *déh₃-e + y), die -šša-/-šš-Imperfektiva (*-sóh₁-/-sh₁-´), die -aḫḫ-Faktitiva (*-eh₂-) und die -anna-/-anni-Durativa (*-n̥h₂-óy-/-n̥h₂-i-´; nach Kloekhorst-2008, S. 175f. *-otn-óy-/otn-i-´) werden zu Semideponentien mit Stativendungen im Singular und Faktivendungen im Plural grammatikalisiert (= ḫi-Konjugation). Alle Formen der 3. Pl. des Präteritums erhalten die Stativendung *r̥, alle Formen der 3. Sg. des Präteritums der ḫi-Konjugation die Endung *-s-t, am wahrscheinlichsten übertragen vom sehr häufigen *h₁és-t ‚er war‘. Die Stativverben geben ihren ursprünglichen paradigmatischen Ablaut -é-Stufe : Nullstufe auf und führen (wie das Vedische und Griechische) entweder die -é-Stufe oder die Nullstufe jeweils im ganzen Paradigma durch (ki-tta(ri) ‚er liegt‘ = ved. śáye = griech. *k̑éy-e + y bzw. šupp(tt)a(ri) ‚er schläft‘ *sup-(t)ó ± ri ~ ved. duhé ‚sie gibt Milch‘ *dʰug̑ʰ-é + y; alle Formen mit jeweils einzelsprachlich regelhafter Umbildung der Endung). Als archaisches Charakteristikum gilt, dass das Hethitische ohne Futur und mit Ausnahme des Imperativs ohne Modi auskommt. In der Fachwelt gilt es mittlerweile (s. o.) als mehr als weitgehend sicher, dass die anatolische Sprachgruppe mit weitem zeitlichen Abstand als erste aus dem Gesamtverband der Sprecher der indogermanischen Ursprache ausgetreten ist. Zu zahlreich sind die Merkmale, die das Anatolische nicht hat, aber alle anderen Sprachgruppen aufweisen, z. B. die nur ansatzweise durchgeführte nominale und verbale Thematisierung, das Perfekt, die Modi, den Dual, das -tó-Partizip, den -yos-Komparativ oder die Tatsache, dass das -nt-Partizip ein passives Partizip ist. Uranatolisch ist damit eigentlich eine Schwestersprache des Urindogermanischen mit einer ungewöhnlich großen Anzahl an sprachlich ungemein wichtigen Archaismen, unter ihnen der einzigartige lautliche Erhalt von *h₂ und *h₃ als -ḫ-/-ḫḫ-, und die sprachhistorisch sensationelle Tatsache, dass – im Phoneminventar des Luwischen und Lykischen – noch alle drei Tektalreihen (palatal, velar und labiovelar) unterschieden werden (Kloekhorst-2008, S. 17f.). Tocharisch Die tocharische Sprachgruppe ist offenbar sehr früh nach Osten abgerückt. Tocharisch besitzt vielfältige, einschneidende und sonst nicht vorkommende Neuerungen, z. B. ein System von sieben Sekundärkasus, die Gruppenflexion, einen eigenen Numerus Paral zur Bezeichnung natürlicher Paare (im Gegensatz zum Dual, der die zahlenmäßige Zweiheit bezeichnet), eine fundamentale Verbalstamm-Opposition Normalverb : Kausativ, und eine Thematisierung, die von der Endung *-o (der 3.Sg. der Stativendungen) ausgeht. Griechisch Im Griechischen sind die Funktionen der verschiedenen Verbformen am klarsten ausgeprägt. Zu den Aspektstämmen Präsens (mit Imperfekt), Aorist und Perfekt (mit Plusquamperfekt) ist ein Futurstamm (mit Futur exakt im Passiv) hinzugetreten, der oft, aber nicht immer durch ein s-Suffix gekennzeichnet ist. Der vollständig ausgebildete Formenbestand des Perfekts Medium widerlegt – zusammen mit dem Vedischen; in beiden als sehr archaisch geltenden Sprachzweigen ist das Perfekt Medium rekonstruktionell identisch – die Ansicht, ein Perfekt Medium habe es, wenn überhaupt, erst spät gegeben. Entscheidend für die Beurteilung der Stellung des Perfekts Medium ist die bahnbrechende und richtige Einschätzung bei Jasanoff, »the perfect evidently originated within PIE as a kind of … reduplicated present«. Das bedeutet, das Teilstamminventar des Präsens wurde (mit allen Reduplikationsarten) ein zweites Mal verwendet und mit den Stativendungen versehen, um präzise die vorliegende resultative Bedeutung des Perfekts zu erzielen: Ergebnis (Stativendung) einer abgeschlossenen Handlung (Präsens). Präsens Medium und Perfekt Medium wurden dadurch formal identisch (da das Präsens Medium die Stativendungen ja schon hatte). Zum Zwecke der Differenzierung regelt das Griechische die Verteilung der Reduplikationsvokale einheitlich wie folgt: Präsens immer -i- (vedisch sowohl -i- als auch -e-), Perfekt immer -e- (vedisch sowohl -i- als auch -e-), und Aorist immer -e- (vedisch sowohl -i- als auch -e-). Griech. 3.Sg. heißt also (Präsens) ‚ist gesetzt‘, (Perfekt) ‚ist gesetzt worden‘. Das Vedische differenziert hier nicht über den Reduplikationsvokal, sondern über die Endung (3.Sg. dhatté ‚ist gesetzt‘ *dʰe-dʰh₁-téi gegenüber dadhé ‚ist gesetzt worden‘ *dʰe-dʰh₁-éi) oder über die Silbentrennung des Laryngals (2.Sg. dhatsé ‚bist gesetzt‘, dadhiṣé ‚bist gesetzt worden‘, ursprünglich identisch *dʰe-dʰh₁-séi). Wenn beides nicht möglich ist, bleibt die Verbalform gleichlautend: 1.Sg. dadhé ‚bin gesetzt‘ und ‚bin gesetzt worden‘ *dʰe-dʰh₁-h₂éi. Den Diathesen Aktiv und Medium gesellt sich im Aorist und Futur ein formal unterschiedenes Passiv hinzu. Im Präsens, Imperfekt, Perfekt und Plusquamperfekt drückt das Medium weiterhin die Bedeutungsinhalte des Passivs aus. Die geneuerte Differenzierung im Aorist und Futur beruht auf einer Univerbierung mit dem Aorist der Wurzel *dʰeh₁ ‚tun, machen‘ in der Narten-Form (Narten = Fachbegriff für den Zusatz einer More sowohl im starken als auch im schwachen Teilstamm), also stark *dʰḗh₁, schwach *dʰéh₁; ‚wurde erzogen‘ bedeutet also eigentlich ‚wurde + erzogen + gemacht‘. Da der Passivaorist die Aktivendungen hat, also ein Statofaktiv-Verb ist (vgl. oben im Unterabschnitt „Aspekt“), wird er (nur im Singular) gleichlautend mit dem aktiven Aorist des Verbums ( = ved. á-dhām *(h₁)é *dʰéh₁-m); zur Differenzierung wird der aktive Aorist (nur im Singular) zu einem -k-Aorist umgestaltet (ἔϑηκα é-thē-k-a). Im Griechischen hat die athematische Konjugation zugunsten der thematischen bereits etwas an Boden verloren. Vedisch und Sanskrit Im Vedischen, das viele genaue Entsprechungen im Uriranischen aufweist, ist die Formenvielfalt noch reichhaltiger als im Griechischen. Jedoch sind die Bedeutungsnuancen deutlich auf dem Rückzug. Der Unterschied zwischen Aktiv und Medium ist oft kaum fassbar. Allerdings bilden sich semantisch eindeutige Passivformen heraus (ein *-yó-Passiv mit Stativendungen und ein in Ursprung und Endung nicht ganz geklärter Passivaorist nur in der 3. Sg. mit -ó-stufiger Wurzel und der Endung -i (ákāri ‚wurde gemacht‘ *(h₁)é *kʷór-i; auch ohne Augment jáni ‚wurde geboren‘ *g̑ónh₁-i). Auch die Aspektunterschiede sind bereits im Rigveda oft nicht mehr zu erkennen. In der Nische einer nur indoiranischen Aktionsartkategorie Iterativ-Intensiv vermag eine archaische Bildung zu überleben, die einen athematischen Präsensstamm von einer Aoristwurzel durch direkte Verdopplung dieser Aoristwurzel aufweist (jáṅ + gan + ti ‚kommt‘ *gʷém + gʷom + ti). Diese Bildung zeigt den Ursprung des wurzelhaften *-ó- in hethit. malli ‚mahlt‘, thematisiert lat. glbd. molō = dt. mahle, mit in diesen Einzelsprachen regelhaft entfallender Reduplikation und folgender Akzentuierung des *-ó- aus *mél-molh₂ (vedisch mármartu ‚soll zermalmen‘). Im späteren klassischen Sanskrit werden Imperfekt, Perfekt und Aorist als Vergangenheitsformen ohne Bedeutungsunterschied verwendet. Auch im Sanskrit sind Verbformen hinzugekommen: ein Futur (ebenfalls mit s-Suffix), ein Passiv (hier mit medialen Endungen und ohne Zusammenhang mit dem Griechischen) und eine Reihe produktiver abgeleiteter Verbformen wie Desiderativ oder Kausativ. Der alte Konjunktiv ist nur noch in den Formen des „Imperativs der ersten Person“ erhalten. Italisch In den italischen Sprachen (zum Beispiel Latein) ist das Konjugationssystem unter Verwendung der vorhandenen Bausteine stark umgebaut worden; das Ergebnis ist ein symmetrischeres und durchschaubareres System. Die athematischen Verben sind (mit der Ausnahme einiger weniger Verben aus dem Grundwortschatz, s. o.) verschwunden. Die thematischen Verben formierten sich durch Inkorporation verschiedener Suffixe zu den bekannten Konjugationsklassen (a, e, „konsonantische“, i). Zur ā-Konjugation führte zum Beispiel Verbalisierung von Nomina auf -a (cūrāre ‚Sorge tragen‘ von cūra ‚Sorge‘), ein faktitives *eh₂-Suffix (novāre ‚erneuern‘ aus *new-eh₂-), oder ein Intensivsuffix (canere > cantāre ‚singen‘). Die ē-Konjugation geht auf ein Kausativsuffix *-é-ye- (monēre ‚mahnen‘ aus *mon-é-ye- ‚zum Denken bringen‘) und ein Stativsuffix *-éh₁-ye- / *-eh₁-ye- (alb-ē-re ‚weiß sein‘, sed-ē-re ‚sitzen‘) zurück. Die ī-Konjugation geht auf eine Reihe von Suffixen sowie durch Verbalisierung von Nomina auf -i- und -o- zurück. Die konsonantische Konjugation schließlich setzt die thematische Konjugation des Urindogermanischen fort. Das Medium hat sich zu einem Passiv gewandelt. Von den drei Aspektsystemen sind Perfekt und Aorist zum Perfektsystem zusammengefallen. Dabei finden sich Formelemente des alten Perfekts (Endungen, vereinzelt Reduplikation) als auch des Aorists (im -s-Perfekt, zum Beispiel dūcō – dūxī ‚ich führe‘ – ‚ich führte‘ bzw. ‚ich habe geführt‘). Beide Aspektfunktionen finden sich, sowohl der perfektive Aspekt („Vorzeitigkeit“, dt. also eher ‚ich führte‘) als auch der resultative („Ergebnis einer abgeschlossenen Handlung“ dt. also eher ‚ich habe geführt‘). Das Tempus ist nun vom Modus getrennt. Das alte Imperfekt ist spurlos verloren gegangen. Ein neues Imperfekt mit dem Suffix -bā- tritt an seine Stelle (*bʰwéh₂- ‚sein, werden‘). Ein Futur bildet sich aus dem alten Konjunktiv mit Vollstufe der Wurzel und dem Themavokal *-e-/-o- (bei den thematischen Verben und in der ī-Konjugation gedoppelt zu einheitlich *-e- + *-e- = *-ē-). Das Verbalparadigma wird durch die Kreuzung dieser Bildungen vervollständigt: Das Futur erō ‚ich werde sein‘ erhält ein neues Imperfekt eram ‚ich war‘ vom Suffix -bā-, die Imperfekta auf -bā- erhalten parallel die thematische Endung des Futurs -ō usw. und damit ein geneuertes -bō-Futur für die ā- und ē-Konjugation. Der Konjunktiv geht (in einem Teil der Formen) auf den alten Optativ zurück. Tempus, Modus, Aspekt sind kombinierbar, allerdings gibt es keinen Konjunktiv im Futur. Germanisch Der seit 200 Jahren unangefochten gültige rekonstruktionelle Befund der germanischen starken Verben erfährt durch neuere Arbeiten (beginnend mit Prokosch-1939) einschneidende Änderungen und Modifizierungen in Richtung auf einen höheren Übereinstimmungsgrad mit den verbalen Verhältnissen der übrigen Einzelsprachen (Mailhammer-2007 im Titel: „New System“). Germanische Grundverben wie beißen oder gießen finden häufig -n-infigierte Entsprechungen in anderen Einzelsprachen, z. B. zu beißen lat. findō ‚ich spalte‘ und zu gießen lat. glbd. fundō. Die Annahme, dass *bʰid-ó- bzw. *g̑ʰud-ó- der gemeinsame Ausgangspunkt für einerseits (german.) *bʰ +e+ yd-ó- / *g̑ʰ +e+ wd-ó- und andererseits (lat.) *bʰi +n+ d-ó- / *g̑ʰu +n+ d-ó- gewesen sein könnte, wird unterstützt vom – äußerst seltenen – Vorhandensein wurzelhafter verbaler Nullstufen in got. digan ‚kneten‘ *dʰig̑ʰ-ó- (lat. fingō ‚ich bilde‘ *dʰi +n+ g̑ʰ-ó-) und ais. vega ‚kämpfen‘ *wik-ó- (lat. vincō ‚ich siege‘ *wi +n+ k-ó-). Wichtige philologische Vorarbeiten bei Seebold-1970 zeigen zudem, dass das germanische starke Verbum zwar den Vokalismus des „Typs bhárati“ (also betonte -é-Vollstufe der Wurzel), jedoch den Konsonantismus des „Typs tudáti“ (also Nullstufe der Wurzel mit betontem Themavokal) aufweist (Mailhammer-2007, S. 133: ...significant discovery... mit Hinweisen auf die Auswirkungen auf die traditionelle Lehrmeinung). Das Wurzelvokalismusschema der starken Verben wäre also nicht – am Beispiel der II. starken Verbalklasse – (Präs.) *éw (Prät.Sg.) *ów (Prät.Pl.) *u (Pz.Prät.) *u, sondern (in der angegebenen Reihenfolge) *u – *ów – *u – *u. Das germanische starke Verbum wäre dann im Präsensstamm nicht grundständig -é-stufig und „proterokinetisch“, sondern nullstufig und „hysterokinetisch“. Kroonen-2013 fügt der traditionellen Reihe als praktisch regelhaft ein athematisches *-néh₂-/-nh₂-´-Intensivum (mit nullstufiger Wurzel) hinzu. Zusammen mit der Kausativ-Iterativ-Bildung auf *-é-yo- hätte jedes starke Verbum dann sechs Realisierungsformen, also zur Wurzel *dewk ‚ziehen‘: *déwk-o- *de-dówk- *de-duk-´ *duk-ó- *dowk-é- *duk-néh₂-/-nh₂-´ (dt. ziehe *zoch zogen ge-zogen zeugen zucken/zücken), oder zur Wurzel *wreyd ‚kerben‘: *wrid-ó- *we-wróyd- *we-wrid-´ *wrid-ó- *wroyd-é- *wrid-néh₂-/-nh₂-´ (dt. reißen *reiß rissen ge-rissen reizen ritzen). Nicht immer bildet jeder german. Einzeldialekt die Formenreihe vollständig aus, jedoch sind quer durch das ganze german. Dialektgebiet solche sich ergänzende Beispiele sehr zahlreich. Im Vergleich mit dem als sehr ursprünglich geltenden hethitischen Verbum besitzt das Germanische zusätzlich nur das Perfekt (die einzige nichtperiphrastische Vergangenheit) und den *-yéh₁-/-ih₁-Optativ (der sich zum Konjunktiv entwickelt). Im Anatolischen gelten weitere Kategorien wie der thematische Konjunktiv oder die graeco-arische Formenvielfalt als „noch nicht aufgebaut“, im Germanischen gilt das Verbalsystem jedoch als „stark vereinfacht“. Es ist vielleicht revolutionär, aber naheliegend, dass sich das Germanische in dieser Beziehung eher wie das Anatolische verhält. Verben, für die ursprünglich kein ererbtes Perfekt existierte, werden als schwache Verben bezeichnet. Sie bilden ihre Vergangenheit mit einem neuen Suffix *-d-, das sehr wahrscheinlich auf das Perfekt des Verbs tun zurückgeht (*dʰe-dʰóh₁- / dʰe-dʰh₁-´). Ein Mediopassiv ist im Gotischen noch erhalten, schließlich aber in dieser Form – bis auf wenige Reste z. B. im Altenglischen – in allen germanischen Sprachen ausgestorben. Passivformen werden periphrastisch neu gebildet, und viele weitere Formen werden, wie in vielen anderen Folgesprachen auch, durch periphrastische Bildungen (Hilfsverbkonstruktionen) ersetzt. Slawisch In den slawischen Sprachen wird Aspekt lexikalisch ausgedrückt. Der Begriff des Aspektes (als Sicht des Sachverhalts, im Gegensatz zur Aktionsart als Art des Sachverhalts) stammt übrigens ursprünglich aus der Untersuchung der slawischen Sprachen. Satzsyntax Über den Satzbau der Ursprache können weniger deutliche Aussagen gemacht werden als über die Formenlehre, da man ein Mittel wie die Analyse der sich typischerweise sehr regelmäßig verhaltenden phonetisch/phonologischen Entwicklungen, aus denen man Schlüsse auf die Morphologie ziehen kann, auf der Satzebene nicht zur Verfügung hat. Es bleibt, typische Satzmuster der frühen Formen der Folgesprachen zu sammeln und vorsichtig Schlüsse zu ziehen, inwiefern diese bereits in der indogermanischen Ursprache bestanden haben könnten. Aus dem Deutschen sind wir gewohnt, dass ein Hauptsatz wenigstens ein Subjekt und ein Prädikat enthält. Anders zum Beispiel im Lateinischen: Hier darf ein Pronomen der ersten oder zweiten Person nur verwendet werden, wenn es betont ist, sodass Sätze ohne formales Subjekt entstehen. Diese Situation wird auch für die Ursprache angenommen. Allerdings haben wir durch die Verbform immer noch ein durch Person und Numerus vorgegebenes implizites Subjekt; übrigens ist in manchen nicht-indogermanischen Sprachen nicht einmal das erforderlich. Auch vollständige Sätze mit rein nominalem Prädikat waren üblich: Die Kopula, die Subjekt und Prädikatsnomen als formales Verb verbindet (Der Mann ist schön; die Frau ist Handwerkerin; Mutter ist daheim), kommt zum Beispiel im modernen Russisch nicht vor. Es wird angenommen, dass solche Nominalsätze (Mann schön, Frau Handwerkerin, Mutter daheim) im Indogermanischen üblich waren. Die Verben *h₁es- (existieren), *bʰew- (werden) und andere tauchen schon in den Folgesprachen als (oft fakultative) Kopula auf (vgl. er ist, ich bin). Das Verb stand normalerweise am Ende des Satzes, allerdings konnten beliebige Satzglieder zur Hervorhebung an den Satzanfang gezogen werden (lateinisch habent sua fāta libellī ‚es haben ihre Schicksale die Bücher‘, das Deutsche verlangt noch das „es“ vor dem Verb). In den inselkeltischen Sprachen ist die Verbfrontstellung zum Standard geworden. Syntaktische Beziehungen zwischen Substantiven, Adjektiven, Pronomina und Verben wurden durch Kongruenz der Flexionsformen hergestellt. Zur Gliederung von Sätzen und Satzfolgen dienen Enklitika: nachgestellte Partikel (oder auch flektierte Wörter), deren Akzent dann auf das davor stehende Wort übergeht. Beispiele sind das lateinische -que (= griechisch , vedisch -ca, indogermanisch *-kʷe), griechische Satzgliederungspartikel wie – mén … dé ‚zwar … aber‘, oder die enklitischen Pronomina. Solche Enklitika finden sich besonders gern an der zweiten Position des (Haupt- oder Teil-)Satzes (Wackernagels Gesetz). Ketten enklitischer Partikel an dieser Stelle sind für das Hethitische besonders typisch. Fragesätze sind durch die Verwendung von Fragepronomina oder Frage-Enklitika (zum Beispiel lat. -ne) gekennzeichnet, Verneinung durch das Adverb *ne und den Wortpräfix *n̥-. Relativsätze verwenden das Relativpronomen und gehen dem Hauptsatz voraus. Man nimmt an, dass sich in der Ursprache diese wie im Sanskrit nicht direkt auf die Substantive, sondern auf separate Demonstrativpronomina im Hauptsatz bezogen. (Im Deutschen ist dieser Unterschied durch die Artikel etwas verwischt; im Lateinischen besteht die entgegengesetzte Situation, dass Relativsätze sowohl als Subjekt- wie als Attributsätze kein Bezugspronomen benötigen.) Die zwei Typen von Relativpronomina (*kʷí-/*kʷó- und *(h₁)yó-) entsprechen den beiden Typen von Relativsätzen (explikativen und restriktiven). Andere Typen von Nebensätzen, zum Beispiel durch Konjunktionen eingeleitete Kausalsätze, können nicht rekonstruiert werden. In den Folgesprachen kennt man eine absolute Partizip-Konstruktion, zum Beispiel den lateinischen Ablativus absolutus, den griechischen Genitivus absolutus, den altindischen Locativus absolutus oder den altkirchenslawischen Dativus absolutus. Es ist nicht ganz klar, ob diese Konstruktionen auf eine gemeinsame grammatische Struktur zurückgehen oder Innovationen der Einzelsprachen sind. Die ursprüngliche Konstruktion war am ehesten (auch semantisch naheliegend) die mit Locativus absolutus (so in modernen Sprachen wieder aufgenommen, z. B. engl. with things being the way they are, dt. „bei ausgeschalteter Ampel“). Die einzelsprachliche Verteilung der Konstruktion ist am plausibelsten dem jeweiligen Kasussynkretismus geschuldet. Lexikon Im Bereich des grundsprachlichen Lexikons ist die sehr umfassende Materialsammlung von Pokorny (1959) bis heute unübertroffen (Beispiele im Artikel Indogermanische Wortwurzeln). Außer lautlich unausweichlichen Schwas gibt Pokorny allerdings keine Laryngale an; diese sind jedoch gewöhnlich leicht zu ergänzen. Wortbildung Lehnwörter Das Urindogermanische hat vermutlich, wie alle Sprachen, Wörter aus anderen Sprachen übernommen. Es sind heute aber keine Beispiele von Wörtern bekannt, die eindeutig in urindogermanischer Zeit aus benennbaren Nachbarsprachen entlehnt wurden. Einige Wörter sind allerdings aufgrund ihrer untypischen Gestalt mit großer Wahrscheinlichkeit Lehnwörter; bekannte Beispiele sind *h₂éb-ōl ‚Apfel‘ oder *angh₁-lo- (etwa) ‚Götterbote‘ (über griech. in dt. ‚Engel‘). Ein anderes ist *peleḱus ‚Axt‘ (vgl. altgriech. pélekys, osset. færæt, skt. paraśú), das man früher mit dem Akkadischen pilakku in Verbindung brachte, bis sich dessen Bedeutung als ‚Spindel‘, nicht ‚Axt‘, herausstellte. Suffixe Das wichtigste Mittel der Wortbildung aus Wurzeln und anderen Wörtern waren die bereits erwähnten Nachsilben. Die Tabelle zeigt einige wichtige Wortbildungssuffixe: Akzent/Ablautverschiebung Der Wechsel von einer Akzent-/Ablautklasse in eine andere war ein Wortbildungsmittel. Ein Beispiel aus einer proterokinetischen Flexion ist *bʰléǵʰ-men- (heiliges Wort, vgl. skr. bráhmaṇ-), aus einer amphikinetischen bzw. hysterokinetischen Flexion *bʰleǵʰ-mén- ‚Priester‘ (skr. brahmán- mit Vr̥ddhi brāhmaṇa-). Eine nur vereinzelt vorkommende Variante der wortbildenden Verwendung des Ablautes bei Nomina ist im Sanskrit sehr produktiv geworden: die sogenannte Vṛddhi-Bildung. Hier wird aus einem Grundsubstantiv ein abgeleitetes Substantiv dadurch gebildet, dass die Wurzelsilbe in die Dehnstufe gebracht wird. Beispiele kennt man aus der religiösen Terminologie: Ein Anhänger des Gottes Vishnu ist ein Vaishnava (ai ist im Sanskrit die Dehnstufe zu i), ein Anhänger des Shiva ein Shaiva, ein Anhänger des Jina ein Jaina (daher die beiden Bezeichnungen Jinismus und Jainismus für diese Religion). Komposition Wortbildung durch Komposition, wie sie ja auch für das Neuhochdeutsche typisch ist, wird auch für das Urindogermanische angenommen, allerdings in deutlich geringerem Umfang als später im Griechischen oder gar im Sanskrit. Substantive wurden aneinander gehängt, das Hinterglied wurde flektiert. Nicht in allen Folgesprachen waren Substantivkomposita häufig, im Lateinischen findet man sie selten, im Hethitischen praktisch gar nicht. Verknüpfung mit Adverbien und Präpositionen führte zu den Verbalvorsilben der Folgesprachen. Typisch sind Personennamen (*h₁néh₃-mn̥-), die aus zwei religiös/gesellschaftlich bedeutsamen Komponenten aufgebaut sind: griechisch Themisto-klḗs (Gesetz-Ruhm), althochdeutsch Ans-elm (Gott-Helm), tschechisch Bohu-slav (Gott-Ruhm), gallisch Catu-rīx (Schlacht-König) oder irisch Fer-gus (Held-Kraft). Wortschatzanalyse Aus dem gemeinsamen Wortschatz versucht man, Schlüsse auf die Zivilisation und Kultur der Sprachgemeinschaft des Urindogermanischen zu ziehen. Ein wichtiges Beispiel ist der Stamm *kʷ-kʷlh₁-ó-,*kʷe-kʷlh₁-ó-, *kʷé-kʷlh₁-o- oder *kʷó-kʷlh₁-o-, der uns in der Bedeutung ‚Rad‘ (oder in ähnlichen, sich davon ableitenden Bedeutungen) in vielen Folgesprachen überliefert ist: urindogermanisch *kʷ-kʷlh₁-ó-: → hethitisch kugullaš urindogermanisch *kʷe-kʷlh₁-ó-: → vedisch cakrá- → avestisch čaxra- → tocharisch A kukäl ‚Wagen‘ → tocharisch B kokale ‚Wagen‘ → altenglisch hweowol, hweogol urindogermanisch *kʷé-kʷlh₁-o-: → urgermanisch *hweh(w)ulaz → altnordisch hvēl, hjōl → isländisch hjól → altenglisch hwēol → englisch wheel urindogermanisch *kʷó-kʷlh₁-o-: → griechisch ‚Kreis‘ → slawisch kolo → litauisch kãklas ‚Hals‘ Auch die Etymologie dieses Wortstamms ist erklärbar: Es handelt sich offensichtlich um eine Reduplikation der verbalen Wurzel *kʷelh₁ (mit der Bedeutung ‚sich drehen‘), die hier in ihrem thematisierten „schwachen“ Teilstamm *kʷlh₁-kʷlh₁-ó- mit den Reduplikativvarianten *kʷ-/*kʷe-/kʷé-/kʷó- realisiert ist, wobei die Reihenfolge wohl einer zeitlichen Abfolge entspricht. Diese Verdoppelung stellt semantisch eine ikonische Darstellung der wiederholten Drehbewegung des Rades dar. Da sich aus den Folgesprachen ein gemeinsames Wort sowohl für ‚Haus‘ als auch für ‚Tür‘ rekonstruieren lässt, darf man annehmen, dass bereits die Sprecher der indogermanischen Ursprache sesshaft, also keine Nomaden, waren. Einzelsprachliche Beispiele des Wortes für Haus sind: urindogermanisch *dem (mit einem hocharchaischen Gen.Sg. *dém-s) in den einzelsprachtypischen Ablautstufen und mit einer -u-Erweiterung des Stamms *dom-ú-: → vedisch Gen.Sg. dán *dém-s = griechisch in ‚Herr des Hauses‘ → vedisch dámaḥ *dém-o-s → griechisch *dom-ó-s → armenisch town [tūn] *dṓm-s, Gen. tan *dm̥-és → lateinisch domus *dom-ú-s = altkirchenslawisch domŭ Einzelsprachliche Beispiele des Wortes für ‚Tür‘ sind: urindogermanisch *dʰwer (ursprünglich nur im Dual, Hinweis auf „Türflügel“; einzelsprachlich häufig im Plural): → vedisch Nom.Pl. dvấraḥ *dʰwḗr-es (*-ṓ-? *-ó-?), mit Verlust der Aspiration wohl nach dvấ ‚zwei‘ → griechisch *dʰúr-eh₂ → armenisch Nom.Pl. durkʿ *dʰúr-es → lateinisch Nom.Pl. forēs *dʰwór-es → gotisch daúr, althochdeutsch tor, neuhochdeutsch Tor *dʰur-ó-m (Weiterbildung zum -i-Stamm in Deutsch Tür) Insgesamt lässt der rekonstruierte Wortschatz auf eine neolithische Agrarkultur schließen, die das Melken, Kühe, Schafe, Pferde kannte. Ein besonders wichtiges Argument für diese Hypothese ist die Rekonstruktion des Verbs ‚pflügen‘ (welches jedoch in den indoiranischen Sprachen fehlt): einfach *h₂erh₃- (vgl. tocharisch AB āre ‚Pflug‘ *h₂érh₃-o-s, *h₂érh₃-o-m oder (neutraler -s-Stamm) *h₂érh₃-os): → hethitisch ḫarrai ‚reißt auf, zerdrückt‘ *(h₂ér-)h₂orh₃ (archaisches Intensivum, stets → ḫi-Konjugation) → griechisch (wohl nullstufig *h₂r̥h₃-ó-) mit -yo-Erweiterung *h₂erh₃-yé/ó-: → litauisch ariù → altkirchenslawisch orjǫ → lateinisch arō (-āre) (wohl nach arātrum ‚Pflug‘) → mittelirisch airim → gotisch arjan, altenglisch erian, althochdeutsch erien, erran Weiters ist das Verb ‚melken‘ für die Ursprache rekonstruierbar, die Rekonstruktion von ‚Milch‘ jedoch umstritten. Zur klaren Feststellung der Urheimat reichen die Hinweise aus dem Wortschatz allerdings nicht aus. Im Artikel Lachsargument wird ein Fallbeispiel einer derartigen Analyse beschrieben. Am intensivsten wurden im gemeinsamen Wortschatz die Verwandtschaftsbezeichnungen studiert. Charakteristische Eigenschaften sind hierbei zum Beispiel, dass zwischen älteren und jüngeren Geschwistern nicht unterschieden wird, und die merkwürdige Tatsache, dass „Neffe“ und „Enkel“ mit demselben Wort bezeichnet werden. Mehr zu den aus dem Wortschatz gewonnenen Aussagen über die Sprecher findet man in den Artikeln Indogermanen, Urheimat, Kurgankultur. Rekonstruktionsmethoden Vergleichende Methode Diese historisch-vergleichende Methode (auch Komparativmethode genannt) wurde im 19. Jahrhundert anhand der indogermanischen Sprachen entwickelt und wurde zum Standardverfahren der historischen Linguistik bei der Rekonstruktion der Vorformen in Sprachgruppen. Sie funktioniert am besten (aber nicht ausschließlich) auf dem Gebiet der Phonologie, da Lautwandel typischerweise sehr systematisch sind. Man bildet aus potentiellen Wortgleichungen Entsprechungsregeln, die an anderen Verwandten geprüft und gegebenenfalls angepasst werden. Auf der Basis dieser regelmäßigen Entsprechung modelliert man plausible ursprachliche Ausgangsformen und lautgeschichtlich plausible Entwicklungswege von den Urformen zu den einzelsprachlichen Lauten. Auf diese Weise rekonstruiert man ursprachliche Wortwurzeln und grammatikalische Formen. Die Möglichkeiten und Grenzen dieser Methode kann man am Vergleich der aus den romanischen Sprachen erschlossenen Protosprache mit dem überlieferten Latein erkennen. Die Existenz des lateinischen h lässt sich aus den romanischen Sprachen nicht schließen, da der Laut bereits vor der Trennung in die Folgesprachen im Latein verloren gegangen ist. Ebenso ist in keiner romanischen Sprache das synthetische Passiv des Lateinischen (laudor, laudāris, laudātur usw.) erhalten. Interne Rekonstruktion Diese Methode betrachtet nur eine einzige Sprache, typischerweise die bereits rekonstruierte Ursprache selbst. Man stellt eine Regelmäßigkeit in der Sprache fest, zu der es aber Ausnahmen gibt. Ausgehend von der Annahme, dass die Ausnahmeformen in einer früheren Sprachform auch regelmäßig waren, modelliert man das frühere Regelsystem und die Änderungsprozesse, die zu den Ausnahmen führten. Verwandtschaftsberechnungen: Lexikostatistik und Glottochronologie Mit lexikostatistischen Methoden wird seit Beginn des 20. Jahrhunderts versucht, die Verwandtschafts- und Ausgliederungsverhältnisse auch der indogermanischen Sprachen zu berechnen. Die Glottochronologie versucht darüber hinaus, über die Annahme zeitlich mehr oder weniger stetiger Ersetzungen in einer universalen Begriffsliste (Swadesh-Liste) auf das Alter der verschiedenen Sprachstufen zu schließen. Die in manchen Beispielen belegten relativ stetigen Änderungen werden aber in vielen anderen Fällen durch bekannte oder unbekannte, gerade nicht regelhafte, da soziohistorisch bedingte Ereignisse verfälscht. Trotz mehrfacher Versuche, diese Verfälschungen zu berücksichtigen, konnten bisher keine wirklich überzeugenden Ergebnisse vorgelegt werden. Typologische Verfahren Man stellt aufgrund der Beobachtung vieler Sprachen der Welt fest, dass gewisse syntaktische Eigenschaften von Sprachen typischerweise gemeinsam auftreten. So schloss Winfred P. Lehmann, aufbauend auf der Wortstellungstypologie von Theo Vennemann, darauf, dass in der Ursprache das Verb am Satzende stand (Subjekt-Objekt-Verb). Davon ausgehend konnte er weitere syntaktische Eigenschaften der Ursprache postulieren. Der Ansatz ist umstritten: Manche lehnen ihn ganz ab, andere sind vorsichtig wohlwollend. Zeittafel der Forschungsgeschichte Beispieltexte Von der indogermanischen Ursprache – einer Rekonstruktion – sind keinerlei Texte überliefert, dennoch wurde versucht, Texte auf Urindogermanisch zu verfassen. Besonders prominent ist bis heute „Avis akvāsas ka“, eine von August Schleicher von 1868 konstruierte indogermanische Fabel (vgl. dort neuere Übertragungsversuche); gemäß dem Stand der Sprachwissenschaft wurde diese Fabel wiederholt an die jeweils aktuellen Hypothesen zum Aufbau der indogermanischen Ursprache angepasst. So wurde aus Schleichers „Avis akvasas ka“ in einer aktuelleren Version von 1979 „Owis eḱwōskʷe“; 2013 würde man vielleicht am ehesten „*h₃éw-i-s h₁ék̑-wo-es-kʷe“ sagen, in zukünftigen Jahren wieder anders. Die Rekonstruktion ganzer Texte gilt allerdings in der Sprachwissenschaft grundsätzlich als sehr spekulativ. Für das Computerspiel Far Cry Primal wurden verschiedene konstruierte Versionen der indogermanischen Ursprache vertont. Anmerkungen Literatur David W. 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https://de.wikipedia.org/wiki/Parforceheide
Parforceheide
Die Parforceheide zwischen dem Süden Berlins und dem Osten Potsdams ist eines der letzten größeren zusammenhängenden Waldgebiete in der Metropolregion Berlin-Brandenburg. Obwohl in Brandenburg gelegen, befindet sich ein Teil des Waldes im Eigentum des Landes Berlin. Die Grundlage hierfür schuf der Dauerwaldvertrag oder auch Jahrhundertvertrag von 1915. Ein rund 2350 Hektar umfassendes Gebiet ist seit 1997 als Landschaftsschutzgebiet Parforceheide ausgewiesen. Die Schutzverordnung verfolgt unter anderem das Ziel, „die Funktion des Gebietes als klimatische Ausgleichsfläche im Süden des Ballungsraumes Berlin“ zu bewahren. Der Name geht auf Parforcejagden zurück, für die König Friedrich Wilhelm I. 1730 im Wald das Jagdschloss Stern errichten ließ. Geografie und Geologie Lage Die nördliche Begrenzung der Parforceheide bildete bis zum Beginn des 20. Jahrhunderts das Bäkefließ, das weitgehend im Teltowkanal aufgegangen ist. Die historische Karte von 1903 neben dem Inhaltsverzeichnis verzeichnet am oberen Bildrand noch das Bäkefließ (mit seinem alten Namen Teltefließ). Seit seinem Bau zwischen 1900 und 1906 schließt der Teltowkanal den Wald nach Norden ab, noch weiter nördlich auf der anderen Kanalseite folgen die Wälder von Dreilinden. Zwischen den Teltowkanal und den Wald schiebt sich östlich der schmale Berliner Streifen Albrechts Teerofen, der hier nach Brandenburg hineinreicht, sodass ein schmaler Waldstreifen entlang des Kanals auf Berliner Gebiet liegt. Nach Osten wird das Waldgebiet zum einen von der weiträumigen Parklandschaft des Südwestkirchhofs Stahnsdorf und des Wilmersdorfer Waldfriedhofs Stahnsdorf abgeschlossen, deren Gebiet bis zur Anlage der Friedhöfe 1909 bzw. 1920 zur Parforceheide zählte. Zum anderen begrenzt das einzige Dorf in unmittelbarer Nachbarschaft des Waldes, Güterfelde, das ehemalige Gütergotz, die Parforceheide nach Osten. Die auf manchen Karten eingezeichnete Güterfelder Heide wird vom zuständigen Forstamt Nudow der Parforceheide zugerechnet. Die westliche Begrenzung bildet die Straße, die Berlin mit der ehemaligen Exklave Steinstücken verbindet und die auch heute noch zu Berlin gehört. Westlich von Steinstücken schließen sich die Potsdamer Neubaugebiete Drewitz, Am Stern und Kirchsteigfeld an; ab Stern verläuft die Westbegrenzung parallel zur Autobahn A 115. Zuvor durchschneidet die Autobahn den Wald, der mit zwei Fußgängerbrücken über der Fahrbahn verbunden ist; ein 2004 neu gebauter Rastplatz an der A 115 trägt den Namen Parforceheide. Den südlichen Abschluss findet das Waldgebiet im Schnittpunkt der Straßen Güterfelde-Philippsthal und Drewitz-Ludwigsfelde. Weitere kleinere Waldparzellen liegen außerhalb der umrissenen Begrenzung und werden hier zugunsten der Übersichtlichkeit nicht genauer spezifiziert. Erwähnenswert ist die knapp 22 Hektar umfassende Ackerfläche Wüste Mark, die mitten in der Parforceheide liegt und bis 1988 als Exklave von einem Berliner Bauern aus Zehlendorf bewirtschaftet wurde. Eiszeit, Sand und Kiefer Die Parforceheide gehört geologisch zur Berlin-brandenburgischen Landschaft Teltow, dessen Name auf den ursprünglichen Begriff „Telte“ für das Bäkefließ zurückgeht. Der Teltow ist eine typische Platte nördlich der Brandenburger Eisrandlage. Er entstand vor etwas mehr als 20.000 Jahren in der Weichseleiszeit. Größtenteils wird er von flachwelligen Grundmoränenflächen eingenommen. Das besondere an der Parforceheide ist, dass der für Grundmoränen typische Geschiebemergel weitgehend fehlt und deshalb ältere Ablagerungen, Schmelzwassersande aus der Vorstoßphase des Inlandeises an der Erdoberfläche anstehen. Sie sind im Durchschnitt 15 bis 20 Meter mächtig. Auf den Sanden entwickelten sich in der Nacheiszeit Braunerden, die jedoch nur eine geringe Ertragsfähigkeit aufweisen. Die für den Teltow typischen trockenen Sandböden prägen den Charakter des Waldes Parforceheide, der die nur in Ostdeutschland für grundwasserferne Waldstandorte gebräuchliche Bezeichnung „Heide“ erhielt. Mit seinem lichten Kiefernbestand bot der Wald ideale Bedingungen für das Bedürfnis von König Friedrich Wilhelm I., die für die Parforcejagd nötigen breiten Schneisen durch das Holz zu ziehen. Geschichte Parforcejagd und Stern Die Parforcejagden, die seit dem 16. und 17. Jahrhundert an den europäischen Höfen mit Leidenschaft betrieben wurden, gaben der Parforceheide den Namen. Die Jagdform erfordert möglichst ebene und freie Wege in einem möglichst lichten Wald mit wenig Unterholz, da die Reiter den Hundemeuten folgen müssen, die das Wild bis zur Erschöpfung hetzen. Diese Hetzjagd ist in Deutschland inzwischen verboten und wurde selbst in England, dem Land mit einer besonders gepflegten Jagdtradition und einer einflussreichen Jagdlobby, im Jahr 2005 untersagt. Die Jagd galt in der Parforceheide vor allem dem Schwarzwild und zu einem kleinen Teil dem Damwild. Rotwild soll es in den berlinnahen Wäldern schon damals nur noch in kleinen Beständen gegeben haben. Die in Brandenburg vorhandenen Jagdanlagen waren für diese Jagdform nicht geeignet. Zu Beginn des 18. Jahrhunderts fand der „Soldatenkönig“ Friedrich Wilhelm I. mit der – seit diesem Jahr so bezeichneten – Parforceheide ein ideales Gelände und ließ zwischen 1725 und 1729 einen Raum von rund einhundert Quadratkilometern für die Parforcejagd herrichten. In rund sieben Kilometer Entfernung vom königlichen Stadtschloss entstand ein zentraler Platz, von dem sternförmig 16 schnurgerade doppelte Schneisen (Gestelle) in den Wald geschlagen wurden – mit Namen wie Priestergestell, Breites Gestell, Turmgestell oder Weg nach Kohlhasenbrück. Dieser Stern ist noch vorhanden, allerdings sind lediglich acht radial wegführende Wege beziehungsweise Straßen erhalten. Er gehört heute zum nach ihm benannten Potsdamer Ortsteil Stern. Früher gab es auch die Bezeichnung Großer Stern – nicht zu verwechseln mit dem gleichnamigen Großen Stern an der Siegessäule in Berlin. Jagdschloss Stern Der Schriftsteller Theodor Fontane durchwanderte 1869 die Parforceheide über den Stern bis nach Güterfelde: Allerdings ist das Jagdschloss Stern, das der preußische Monarch 1730 im Wald bauen ließ, eher ein kleineres Landhaus denn ein Schloss. Fontane zufolge war das Haus Ein Charakter, von dem Fontane alles andere als angetan ist, denn der Anblick der Paneele mit ihren Jagdtrophäen im Speisesaal lassen den Dichter der Mark einen „tiefe[n] und plötzliche[n] Verfall der Kunst“ beklagen, „jenseits lag die Kunst, diesseits die Barbarei.“ Das königliche Schlafzimmer erinnerte Fontane „an die Lagerstätten einer alten Schiffskajüte“ und kam ihm wie eine unheimliche Höhle vor. Dass es sich bei dem Schlösschen um ein repräsentatives Beispiel für die „im Gegensatz zu seinen prunkliebendem Vorgänger […] spartanisch einfache Lebensführung“ des Soldatenkönigs handelt, erfahren wir von Adelheid Schendel in der 1987 von der Schlösserverwaltung herausgegebenen Broschüre Jagdschloss Stern. Danach handelt es sich um ein schlichtes holländisches Haus auf märkischem Boden. Während noch der Saal anspruchsvoll gestaltet ist, „ein wichtiges der ohnehin raren Beispiele für die Raumkunst aus der Epoche zwischen Schlüter und Knobelsdorff“, „weisen die übrigen Räume des Schlösschens die schlichte Zweckmäßigkeit holländischer Bürgerhäuser auf“. Realitätsnäher als Fontane beschreibt Adelheid Schendel auch das Bett: „Das in eine Holzwand zwischen Treppentüren eingefügte Bett im Schlafzimmer erinnert an Schiffskojen oder Bettladen in friesischen Fischer- und Seemannshäusern.“ In den 1980er-Jahren erhielt das Jagdschloss eine grundlegende Sanierung, war allerdings 2005 wegen erneuter Renovierungsarbeiten wieder geschlossen. Neben dem Hauptgebäude, an dem sich das Holländische Viertel in Potsdam orientierte, blieb noch das alte Kastellanhaus erhalten, das wahrscheinlich bereits 1714 errichtet wurde. Nach Einstellung der Parforcejagden unter Friedrich dem Großen und ihrer Wiederbelebung unter Friedrich Karl von Preußen kam diese Jagdform zu Beginn des 20. Jahrhunderts endgültig zum Erliegen. Berliner Besitz in Brandenburg Berliner Luft – Der Dauerwaldvertrag Stern und Jagdschloss liegen heute unmittelbar neben der Autobahn 115 und sind mit Sicht- und Lärmschutzblenden vom hohen Aufkommen der sechsspurigen Verkehrsader abgeschirmt. Eine ehemalige Schneise führt per Tunnel unter der Autobahn hindurch Richtung Osten in die Parforceheide, westlich schließen sich die Neubauviertel im Ortsteil „Stern“ an, die mitten in die Parforceheide hineingebaut wurden. Dass trotz der unmittelbaren Randlage zu den Großräumen Berlin und Potsdam und trotz massiver, nicht mehr wieder gut zu machender Eingriffe in das Landschaftsschutzgebiet mit Bauten wie der autobahnähnlichen Nuthe-Schnellstraße und dem Autobahnkreuz Potsdam große Teile der Waldlandschaft erhalten blieben, geht nicht zuletzt auf einen Beschluss der Berliner Stadtväter in den Jahren 1915 und 1920 bei der Gründung des Großraums Berlin zurück. Der Dauerwaldvertrag, auch als Jahrhundertvertrag bezeichnet, den der kommunale Zweckverband Groß-Berlin 1915 mit dem Königlich-Preußischen Staat abschloss, schrieb fest, dass die Parforceheide als Luftquelle für Berlin bestehen bleiben muss. Der Zweckverband kaufte für 50 Millionen Goldmark große Waldteile, insgesamt rund 10.000 Hektar, der Förstereien Grunewald, Tegel, Grünau, Köpenick und Potsdam vom Preußischen Staat und verpflichtete sich, die erworbenen Waldflächen weder zu bebauen noch weiterzuverkaufen, sondern auf Dauer für die Bürger als Naherholungsfläche zu erhalten. Hintergrund der Ankäufe war neben den schon zu dieser Zeit bedeutsamen ökologischen und Erholungsaspekten die Sicherung der Wasserversorgung für die rapide wachsende Bevölkerung im Großraum Berlin sowie die Eindämmung der ausufernden Bodenspekulation. Rückgabe durch die Treuhand 1995 Teile der Parforceheide gehörten zu der angekauften Fläche, die 1920 auch formalrechtlich zum Berliner Besitz kam, als der Zweckverband in den Rechtsnachfolger Stadtgemeinde Groß-Berlin überging. Juristisch hat dieser Waldteil den Status „Privatbesitz der Berliner Forsten im Land Brandenburg“. Nach der endgültigen Deutschen Teilung und Gründung der DDR 1949 war West-Berlin von der außerhalb liegenden Parforceheide abgeschnitten. Auch Ost-Berlin verlor den Besitz an der Parforceheide, als 1952 alle außerhalb Berlins gelegenen Wälder zum Volkseigentum erklärt wurden und in die Verwaltung des Landes Brandenburg beziehungsweise des Bezirks Potsdam kamen. Nach der Wiedervereinigung der getrennten Stadtteile und nach der Rückgabe der im Umland liegenden Waldgebiete durch die Treuhandanstalt 1995 gehört ein Teil des Waldes wieder der Stadt Berlin und wird von der Revierförsterei Dreilinden bewirtschaftet. Von rund 29.000 Hektar Berliner Gesamtwaldfläche befinden sich heute 16.000 Hektar in Berlin und 13.000 Hektar außerhalb in Brandenburg. Der Berliner Teil der Parforceheide liegt überwiegend im Gebiet zwischen Albrechts Teerofen, Kohlhasenbrück, Steinstücken und dem Südwestkirchhof Stahnsdorf, der gleichfalls Berliner Gebiet in Brandenburg ist (Besitz der Evangelischen Kirche). Daneben gibt es verstreute kleinere Berliner Flächen, wie beispielsweise am Güterfelder Haussee. Neben dem Berliner Teil der Parforceheide und neben dem brandenburgischen Teil, für den die Revierförsterei Nudow (vormals Forsthaus Ahrensdorf) zuständig ist, gibt es als dritten Besitzer die Bundesrepublik Deutschland, die ehemalige Militärflächen der DDR in der Waldregion bei Güterfelde als Bundesforst hält. Ökologie I: Flora und Fauna Da die „Teilung der Berliner Forsten in einen Ost- und einen Westteil […] weniger als eine Baumgeneration währte“, sind die Unterschiede in der Waldentwicklung laut Reiner Cornelius trotz unterschiedlicher Positionen „nicht so gravierend“ und können auf dem heute eingeschlagenen Weg zu naturnäheren Bestandsformen relativ problemlos ausgeglichen werden. Zudem waren die DDR-Richtlinien zur Waldbewirtschaftung noch bis 1975 vergleichsweise moderat und bei der folgenden intensivierten wirtschaftlichen Waldnutzung in Ostdeutschland erfuhren die Berliner Wälder, auch außerhalb, eine schonende Sonderbehandlung. Erheblich größeren Schaden erlitt der Wald vor der deutschen Teilung. Der Wald Parforceheide In Berlin und in der umgebenden brandenburgischen Region gibt es keine natürlichen Waldgesellschaften mehr, auch die Parforceheide gehört zu den künstlich begründeten Forstgesellschaften. Bereits die ersten Urbarmachungen und Trockenlegungen nach der Gründung der Mark Brandenburg in der Mitte des 12. Jahrhunderts veränderten das natürliche Waldgefüge. Der Druck der wachsenden Städte ließ Pechbrennereien wie Albrechts Teerofen entstehen, das Holz des Waldes wurde für Hausbau und Feuerung extensiv genutzt. Auch der spätere kurfürstlich-königliche Jagdbetrieb blieb nicht ohne Einfluss auf den Zustand des Waldes. Dem nachhaltigsten Raubbau während des Zweiten Weltkrieges und in den Notzeiten der ersten Nachkriegsjahre fielen rund 45 % der Wälder zum Opfer. Die Wiederaufforstung der Kahlflächen fand um 1950 zu einem erheblichen Teil mit der schnellwüchsigen Kiefer statt. Daher besteht die Parforceheide heute zu einem relativ hohen Anteil aus rund 50-jährigen Kiefern-Reinbeständen. Hinzu kommen ältere, noch erhaltene Kiefernrestbestände, denn die Kiefer fand schon in den Jahrhunderten zuvor die Förderung der Forstwirtschaft, da sie auf dem nährstoffarmen, aber lockeren Sandboden des Teltow gut gedeiht und die rentabilitätsorientierten Bepflanzungen schnellnutzbaren Hauptbaumschichten den Vorzug gaben (Der Nadelwald wächst schnell ins Geld). Die natürlichen Waldgesellschaften vor dem Jahr 1200 bestanden auf den Hochflächensanden des Berliner Urstromtals aus Kiefer-Eichenwäldern. Der Anteil der Kiefer lag dabei deutlich unter 50 % – ihr heutiger Anteil beträgt im Großraum Berlin-Brandenburg rund 70 %, in der Parforceheide laut Auskunft der jeweiligen Forsthäuser im brandenburgischen Teil 80 bis 85 % und im Berliner Teil um 90 %. Mit ihren ebenfalls geringen Ansprüchen an die Nährstoff- und Wasserversorgung ergänzen vor allem Eichen, Buchen und Birken den Kiefernwald. Auwaldreste und Gewässer Neben diesen Beständen verfügt die Parforceheide am Hirtengraben, vor allem in dem Wiesen- und Pfuhlgebiet der Großen Rohrlake, über kleinere Restbestände wertvoller Bruch- und Auenwälder, die allerdings nach Angabe der Försterei absterben. Der Grund liegt vornehmlich in der Austrocknung des Hirtengrabens in seinem oberen Verlauf, für die wiederum die Absenkung des Wasserspiegels am Güterfelder Haussee ursächlich ist. Haussee und Hirtengraben Der flache Eiszeitsee liegt östlich am Rand des Waldes direkt vor dem Dorf Güterfelde, seine Fläche beträgt knapp 5 Hektar. Dem wegen seiner Waldlage und seinem Badestrand als „Perle der Parforceheide“ bezeichneten Haussee drohte nach der Aufgabe der nahen ausgedehnten Rieselfelder Ende der 1980er-Jahre die Verlandung. Zwar stoppte im Jahr 2003 eine 1,2 Mio. Euro teure Sanierung des Sees diesen Prozess, verhinderte jedoch nicht, dass der Wasserspiegel heute immer noch um mehr als einen Meter zu niedrig liegt. Der Hirtengraben als natürlicher Abfluss des Sees erhält damit keine Einspeisung mehr. Da der Hirtengraben das einzig größere Fließ in der Parforceheide darstellt und den gesamten Wald von Ost nach West durchquert, sind die Folgen für dessen Wasserhaushalt dramatisch und führen zum Absterben der letzten, auf hohe Feuchtigkeit angewiesenen Bruchwälder. Durch Regeneinspeisung führt der Graben auf seinen letzten Metern in der Parforceheide ein wenig Wasser. Er verläuft unter der Autobahn hindurch nach Drewitz (selten verzeichneter Fußweg rechts und links) in das individuell gestaltete und von einem internationalen Architektenensemble nach der Wende hochgezogene Neubauviertel Kirchsteigfeld. Hier hat der Hirtengraben noch heute Fließcharakter – sehr zum Vorteil dieses Vorzeigeobjektes der architektonischen Postmoderne, das den Hirtengraben als einen zentralen Bestandteil der landschaftsprägenden Elemente in das Projekt einbezog. Durch einen beidseitig angelegten Park verläuft der Hirtengraben weiter bis zum ebenfalls erst in jüngerer Zeit angestauten und geschützten Biotop „Der Teich“. Der weitere, zur Zeit unterirdische Lauf durch die Altstadt Drewitz soll freigelegt werden. Das letzte Stück Hirtengraben fließt wieder offen und mündet in die Nuthe, die knapp zwei Kilometer westlich des Waldes parallel in Süd-Nord-Richtung zur Havel fließt. Bruchwald am Teltowkanal Neben dem Haussee gibt es an stehenden Gewässern verschiedene kleine Pfuhle und Tümpel. Das einzige größere Gewässer im Einzugsbereich der Parforceheide, der Teltowkanal, hat durch seine nördliche Randlage lediglich auf einen begrenzten, parallel zum Kanal verlaufenden Waldstreifen wasserökologischen Einfluss. Hier gibt es noch Sumpfstreifen des ehemaligen Bäketals mit alten Eichenbeständen und Auwäldern. Am Ende des Teltowkanals bei Kohlhasenbrück (siehe dort) ist nur wenige Meter hinter dem Waldrand seit 1988 das Naturschutzgebiet Bäkewiese ausgewiesen, das zwischen Kanal und Griebnitzsee eine eindrucksvolle Kormorankolonie beheimatet. Sonstige Flora Eine natürlich herausgebildete Krautschicht und eine reich strukturierte Gehölzschicht mit der entsprechenden Fauna ist in den Berlin-brandenburgischen Wäldern und auch in der Parforceheide nicht mehr vorhanden. Laut Auskunft von Revierförster Bernd Krause entwickeln sich in den letzten Jahren allerdings ausgedehnte Heidekrautflächen, daneben sei eine deutliche Rückkehr der Blaubeere zu verzeichnen. An höhergewachsenen Sträuchern sind in nennenswertem Umfang die Späte Traubenkirsche und der Faulbaum anzutreffen. Dem Faulbaum, der bis zu sechs Meter hoch werden kann, liegen die sauren Lehm-Tonböden des Teltow, dessen trockene und nährstoffarme Sandflächen ferner anspruchslosen Gräsern wie Schafschwingel sowie Flechten genügen. Fauna Rotwild gab es bereits zur Zeit der kurfürstlichen Parforcejagden kaum noch. Es kommt heute überhaupt nicht mehr vor; zwischen 1980 und 1990 gab es kurzzeitig noch einmal einiges Damwild. Im 21. Jahrhundert hat die Parforceheide einen hohen Bestand an Reh- und Schwarzwild. Laut Auskunft von Bernd Krause liegt das Aufkommen des Rehwildes bei rund acht Stück pro 100 Hektar, das der Wildschweine bei rund sechs Stück pro 100 Hektar. Bezogen auf die Gesamtfläche des Landschaftsschutzgebietes Parforceheide mit 2350 Hektar errechnet sich eine Gesamtzahl von rund 190 Rehen und 140 Wildschweinen. Trotz intensiver Bejagung nehmen die Bestände zu. Gelegentlich kommen Berliner Importe aus dem Grunewald hinzu: Im Februar 2005 durchschwamm eine Rotte Schwarzkittel den nahegelegenen Griebnitzsee und verwüstete zum Ärger der Brandenburger 1300 m² Wiesenfläche am Wald. Die ohnehin hohe Zahl an Füchsen steigt weiter, Dachs und Steinmarder bleiben in ihrem Bestand stabil mit leicht ansteigender Tendenz und die Zahl der Iltisse geht zurück. An Vögeln sind Habicht, Sperber und vor allem der Schwarzspecht anzutreffen, Reptilien sind mit der Blindschleiche, Amphibien in hoher Zahl mit der Erdkröte vertreten, deren Population sich in den vielen kleinen Tümpeln gut entwickelt. In der Gruppe der Insekten nimmt die Nestzahl der größten europäischen Faltenwespen, der Hornissen, deutlich zu, während die Staaten der Roten Waldameise auch in der Parforceheide weiter zurückgehen. In älteren Eichenbeständen in der Nähe des Teltowkanals findet sich der gefährdete Große Eichenbock oder Riesenbock, den die Forstwirtschaft lange als Schädling eingestuft hatte. Der imposante Bockkäfer, dessen nach hinten gebogene Fühler beim Männchen eine Länge von zehn Zentimetern erreichen können, ist heute nach der FFH-Richtlinie der EU streng geschützt. Ökologie II: Verordnung Landschaftsschutzgebiet Seit den 1990er-Jahren arbeiten die Forstämter daran, schädliche Entwicklungen zu bremsen und naturnah ausgebildete Flächen zu gewinnen. Dazu setzen sie auf Maßnahmen wie das behutsame Zurückdrängen der florenfremden Baumarten, den Verzicht auf Kahlschläge, die Erhöhung des Totholzanteils und den Verzicht auf Düngemittel und Pestizide. Seit 1994 gibt es das Novum einer länderübergreifenden forstlichen Rahmenplanung (FRP) von Berlin und Brandenburg mit dem Ziel, die Nutz-, Schutz- und Erholungsfunktionen des Waldes abzustimmen und nachhaltig zu sichern. Diese Planung fand 1997 zum Teil ihren Niederschlag in der Verordnung zum rund 2350 Hektar großen Landschaftsschutzgebiet, in der ausdrücklich – ganz im Sinne des Zweckverbandes von 1915 – die Funktion des Gebietes als klimatische Ausgleichsfläche im Süden des Ballungsraumes Berlin als Schutzzweck betont wird. Die Verordnung über das Landschaftsschutzgebiet Parforceheide des Landes Brandenburg vom 12. November 1997, die auch für den Berliner und Bundesteil der Parforceheide gilt, stellt folgende weitere Schutzzwecke sowie Pflege- und Entwicklungsmaßnahmen „dieser pleistozän geprägten Landschaft“ heraus: Schutzzwecke Auszüge aus § 3 der Verordnung: Erhaltung und Wiederherstellung des Naturhaushaltes in Bezug auf die Funktionsfähigkeit der Böden, die Funktionsfähigkeit des Wasserhaushaltes sowie die naturnahe Entwicklung der Fließgewässer, eine weiträumige, strukturreiche und teilweise ungestörte Landschaft als Lebensraum einer artenreichen Tier- und Pflanzenwelt, den Erhalt der weitgehend kulturunabhängigen, vielfältigen Biotope, die Erhaltung der naturnahen, zusammenhängenden Wälder, […] die Bedeutung als Pufferzone für die vom Gebiet umschlossenen Naturschutzgebiete, die Erhaltung, Wiederherstellung und Entwicklung der Schönheit, Vielfalt und Eigenart eines typischen Ausschnitts der Jungmoränenlandschaft des Norddeutschen Tieflandes, die nachhaltige Sicherung der Erholungsfunktion. Pflege- und Entwicklungsmaßnahmen Unter § 6 werden beispielsweise Maßnahmen angeführt wie die Erhaltung von Feuchtwiesen durch Entbuschungen, Mahd bzw. Weide und die Überführung von Wiesen auf Niedermoorstandorten in extensive Bewirtschaftungsformen. Kleingewässer, Pfuhle und Teiche sowie Gräben, soweit sie ehemalige Bachläufe ersetzt haben, sollen renaturiert werden. Die vorhandenen Kiefernforstgesellschaften sollen „in Bestände überführt werden, die sich an der potenziell natürlichen Vegetation orientieren“. Zur Entwicklung eines naturverträglichen Erholungsraumes sieht die Verordnung „ein Netz von Rad-, Wander- und Reitwegen“ vor und die alten Pflasterstraßen sollen möglichst erhalten werden. Anspruch und Realität Die Verordnung zum Landschaftsschutzgebiet verhinderte nicht, dass zu Beginn des 21. Jahrhunderts die beschriebenen Potsdamer Neubauviertel, die Nuthe-Schnellstraße und der sechsspurige Ausbau der A 115 Waldflächen vernichteten. Auch der heutige Zustand von Flora und Fauna zeigt, dass das LSG nicht in allen Bereichen die gewünschte Wirkung entfalten konnte. Der geforderten naturnahen Entwicklung der Fließgewässer steht die Austrocknung des Hirtengrabens gegenüber, der geforderten Erhaltung der natürlichen Vegetation widerspricht das Absterben der letzten Auwälder und die geforderte Erhaltung der zusammenhängenden Wälder trat noch hinter jeden größeren Straßenbau zurück. Die Ansprüche dieser Verordnung von 1997 sind also nur acht Jahre später in wichtigen Teilen von der Realität überholt. Im Mai 2004 kam es gegen große Widerstände zur Novellierung des brandenburgischen Naturschutzgesetzes mit der Folge, dass der Naturschutzbeirat des Landkreises Potsdam-Mittelmark sein bisheriges Einspruchsrecht, beispielsweise bei Planverfahren, verlor. Der siebenköpfige ehrenamtliche Beirat, dem zwei sehr engagierte und um die Parforceheide sowie das Bäketal bemühte Bürger aus Kleinmachnow und Güterfelde angehörten, trat daraufhin geschlossen zurück. Zu den gelungenen Maßnahmen zählt die Erhöhung des Totholzanteils, der zum einen naturbelassen an Ort und Stelle bleibt und zum anderen zur Anlage einer sehr hohen Zahl von Benjeshecken zur Förderung der naturnahen Vegetation dient. Der Ausbau von Rad-, Reit- und Wanderwegen schreitet voran, eine neue Fußgängerbrücke über die Nuthe-Schnellstraße bindet seit 2005 die Große Rohrlake besser in das Wegenetz aus Richtung Stern ein. Im Jahr 2014 wurde die Beantragung eines Hubschrauber-Sonderlandeplatzes eines Schönefelder Möbelunternehmens in der Parforceheide auf dem ehemaligen Truppenübungsgelände bei Güterfelde am Haussee bekannt und öffentlich kritisiert. Literatur Martin Klees: Der Berliner Waldbesitz im Wandel der Zeiten. In: Allgemeine Forstzeitschrift, Nr. 29/1963, , S. 450 ff. Theodor Fontane: Wanderungen durch die Mark Brandenburg. Teil 3. Havelland. (1. Auflage 1873.) Zitate nach der Ausgabe Nymphenburger Verlagshandlung, München 1971, ISBN 3-485-00293-3 (Zitate Anhang Gütergotz, S. 442 f.). Weblinks Verordnung über das Landschaftsschutzgebiet „Parforceheide“ vom 12. November 1997. Brandenburg.de. Quellen Forstwirtschaftliche Detailinformationen und Entwicklungstendenzen stammen zum Teil aus einem Gespräch mit Revierförster Bernd Krause in der Revierförsterei Nudow (vormals Ahrensdorf), Gemeinde Nuthetal, 15. März 2005. Einzelnachweise Region in Europa Geographie (Landkreis Potsdam-Mittelmark) Geographie (Potsdam) Waldgebiet in Europa Waldgebiet in Brandenburg Waldgebiet in Berlin Berlin-Wannsee Wikipedia:Naturschutzgebiete Landschaftsschutzgebiet in Brandenburg Schutzgebiet (Umwelt- und Naturschutz) in Europa
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https://de.wikipedia.org/wiki/Bahnstrecke%20Schongau%E2%80%93Pei%C3%9Fenberg
Bahnstrecke Schongau–Peißenberg
|} Die Bahnstrecke Schongau–Peißenberg ist eine eingleisige Nebenbahn in Oberbayern. Sie ist 15,5 Kilometer lang und führt durch den Pfaffenwinkel von Schongau über Peiting nach Peißenberg. Zusammen mit der anschließenden Bahnstrecke Weilheim–Peißenberg wird sie als Pfaffenwinkelbahn bezeichnet. Die gesamte Strecke liegt im Landkreis Weilheim-Schongau und ist nicht in einen Verkehrsverbund integriert, es gilt der Nahverkehrstarif der Deutschen Bahn. Die Königlich Bayerischen Staatseisenbahnen nahmen die Strecke 1917 als Lokalbahn in Betrieb. Größere Bedeutung hatte die Strecke bis 1968 im Kohleverkehr des Bergwerks Peiting. Nach der weitgehenden Einstellung des Güterverkehrs wird die Strecke seit 2005, abgesehen von einem kurzen Abschnitt im Ortsgebiet von Schongau, ausschließlich im Schienenpersonennahverkehr bedient. Geschichte Vorgeschichte Erste Pläne für eine Eisenbahnstrecke nach Schongau entstanden um 1860. Im Zuge der Planung einer Eisenbahnanbindung des Bergwerks Peißenberg untersuchten die Königlich Bayerischen Verkehrsanstalten drei verschiedene Streckenvarianten, von denen zwei eine Anbindung der Stadt Schongau beinhalteten: In der ersten Variante sollte die bestehende Bahnstrecke München–Starnberg über Tutzing nach Penzberg verlängert und ein in Tutzing abzweigender Streckenast über Weilheim nach Peißenberg errichtet werden. Die zweite Variante sah eine Fernbahn von Starnberg über Tutzing und Weilheim nach Peißenberg vor, die von dort weiter über Schongau nach Kaufbeuren führen und dort an die Ludwig-Süd-Nord-Bahn anschließen sollte. In der dritten Planungsvariante wurde eine Fernbahnverbindung von Rosenheim über die bereits bestehende Bayerische Maximiliansbahn nach Holzkirchen und weiter über Bad Tölz, Penzberg, Weilheim, Peißenberg und Schongau nach Kaufbeuren untersucht, die als Gebirgsgürtelbahn bezeichnet wurde. Die Eisenbahnbausektion München der Königlich Bayerischen Verkehrsanstalten entschied sich jedoch für die erste Variante ohne Anbindung Schongaus. 1863 wurde der Vertrag zum Bau der Bahnstrecke Tutzing–Unterpeißenberg geschlossen, noch im selben Jahr begannen die Bauarbeiten. Die Eisenbahnkomitees im Bayerischen Oberland waren hingegen mit der Ablehnung der Gebirgsgürtelbahn nicht einverstanden. Am 8. Februar 1863 entschieden sie in Unterpeißenberg, eine eigene Planung für die Strecke in Auftrag zu geben. Am 1. Februar 1866 nahmen die Königlich Bayerischen Staatseisenbahnen die Strecke von Tutzing über Weilheim nach Unterpeißenberg in Betrieb. Zur besseren Anbindung des Bergwerks Peißenberg entstand von 1873 bis 1875 eine Werksbahn vom Bahnhof Unterpeißenberg bis zum neu eingerichteten Werksbahnhof Sulz direkt am nördlichen Tiefstollen, die ab 1879 zusätzlich im Personenverkehr bedient wurde. Im Zuge dessen erhielt der bisherige Werksbahnhof Sulz 1880 den Namen Peißenberg. Nach der Eröffnung der Strecke von Tutzing nach Unterpeißenberg forderte das Eisenbahnkomitee in Schongau weiterhin die Errichtung der Gebirgsgürtelbahn. Am 2. Februar 1870 legte das Komitee Pläne für eine Hauptbahn von Peißenberg über Schongau nach Biessenhofen an der Ludwig-Süd-Nord-Bahn vor, die durch das Königreich Bayern finanziert werden sollte. Durch die 1873 fertiggestellte Bahnstrecke München–Buchloe war jedoch bereits eine schnellere Verbindung von München Richtung Allgäu vorhanden, sodass die Direktion der Bayerischen Verkehrsanstalten die Gebirgsgürtelbahn als nicht mehr notwendig betrachtete. Daraufhin brachte das Schongauer Eisenbahnkomitee Anfang 1876 eine neue Petition für die Errichtung der Gebirgsgürtelbahn als Lokalbahn ein, welche die Abgeordnetenkammer am 26. Juni 1876 ablehnte. Die Königlich Bayerischen Verkehrsanstalten begannen dennoch mit der Projektierung der Strecke, die jedoch am 7. August 1879 erneut durch die Abgeordnetenkammer abgelehnt wurde. Damit wurde die Planung der Gebirgsgürtelbahn vorerst beendet. 1886 erhielt Schongau über eine Lokalbahn aus Landsberg am Lech seinen ersten Eisenbahnanschluss. 1899 beantragten die Stadt Schongau sowie die Gemeinden Peiting und Hohenpeißenberg die Planung einer Strecke von Schongau nach Peißenberg. Die Gemeinde Hohenpeißenberg war bereit, die dafür benötigten Grundstücke kostenlos abzutreten. Aufgrund längerer Verhandlungen zwischen den Gemeinden und den Bayerischen Verkehrsanstalten konnte das königliche Staatsministerium für Verkehrsangelegenheiten jedoch erst am 21. Mai 1906 eine Entwurfsplanung vorlegen. Die 1905 begonnenen Planungen zu einer Zweigstrecke von Peiting über Steingaden nach Lechbruck wurden hingegen nicht weiterverfolgt. Im Zuge einer Versammlung in Peiting am 1. Juli 1906 gründeten die beteiligten Gemeinden ein Interessenkomitee für den Bahnbau. Am 8. November 1906 verabschiedete die Bayerische Staatsregierung das Gesetz zur Projektierung der Strecke, die als Lokalbahn ausgeführt werden sollte. Vor allem das starke Gefälle zwischen Hohenpeißenberg und Peißenberg von bis zu 25 ‰ bereitete den Eisenbahningenieuren Probleme. Um die Steigung zu verringern, wurde der Bahnhof Hohenpeißenberg tiefer im Tal geplant als von der Gemeinde vorgesehen und sollte damit 700 Meter vom Ortszentrum entfernt liegen. Die Gemeinden entlang der geplanten Strecke trafen sich am 10. August 1907 in Weilheim, um die jeweils zu zahlenden Leistungen zu bestimmen. Insgesamt wurden als Baukosten für die Strecke 1.612.700 Mark veranschlagt. Davon steuerte die Stadt Schongau 25.000 Mark, die Stadt und das Bezirksamt Weilheim jeweils 8000 Mark, die Gemeinde Unterpeißenberg 2000 Mark und die Gemeinde Ammerhöfe 1000 Mark bei. Am 18. August 1908 genehmigte der Bayerische Landtag den Bau der Lokalbahn für 1.522.000 Mark. Die Vermessungsarbeiten für die Bahntrasse begannen im Sommer 1908. Der Grunderwerb wurde bis zum 8. Februar 1910 vollendet. Streckenbau und Inbetriebnahme Am 14. Februar 1910 wurde die Genehmigung zum Beginn der Bauarbeiten erteilt und die Königliche Neubauinspektion Schongau mit der Leitung des Bahnbaus beauftragt. Am 16. Februar 1910 begann die Errichtung der Brücke über den Lech südlich des Bahnhofs Schongau, die das aufwändigste Kunstbauwerk der Strecke darstellte. 1911 wurde das Gleis über die Lechbrücke verlegt und im Dezember 1912 die Brücke fertiggestellt. Zunächst wurde sie ausschließlich für den Gleisanschluss zur Papierfabrik Haindl genutzt, die bisher vom Bahnhof Schongau aus umständlich auf dem Straßenweg bedient worden war. Mit dem Ausbruch des Ersten Weltkriegs wurden die meisten Bauarbeiter für den Kriegseinsatz abkommandiert, sodass sich die Bauarbeiten an der Strecke verzögerten. Von ursprünglich 400 Arbeitern waren im Juli 1915 nur noch 20 bis 30 an der Strecke beschäftigt. Ein zunächst durch die Bayerischen Staatsbahnen geprüfter Einsatz von Kriegsgefangenen wurde nicht umgesetzt. Zur Vollendung des Streckenbaus zogen die Bayerischen Staatseisenbahnen mehrere Privatfirmen hinzu, die vor allem mit Arbeiten am Bahndamm beauftragt wurden. Zudem kam es in Peißenberg zu Schwierigkeiten bei der Kreuzung der Bahnstrecke mit der bergwerkseigenen Drahtseilbahn, die den Unterbauschacht in Hohenpeißenberg mit dem Tiefstollen am Bahnhof Peißenberg verband. Zur Errichtung der Bahnstrecke unter der Seilbahn mussten die Drahtseile höher gelegt und ein Schutzdach aufgestellt werden. Ab dem 28. November 1916 war die Befahrung mit Materialzügen möglich. Nach der Fertigstellung der Strecke erfolgte am 5. Januar 1917 die Schlussabnahme der 15,5 Kilometer langen Strecke. Am 10. Januar 1917 wurde die Lokalbahn mit mehreren Sonderfahrten eröffnet. Auf einen Festakt wurde dabei aufgrund der Kriegszeit verzichtet. Am Folgetag, dem 11. Januar 1917, nahmen die Königlich Bayerischen Staatseisenbahnen den planmäßigen Betrieb zwischen Peißenberg und Schongau auf. Die Lokalbahn von Schongau nach Peißenberg war die letzte neugebaute Strecke der Königlich Bayerischen Staatseisenbahnen vor deren Eingliederung in die Deutschen Reichseisenbahnen 1920. Erste Betriebsjahre Bereits in ihren ersten Betriebsjahren gehörte die Bahnstrecke von Peißenberg nach Schongau zu den bayerischen Lokalbahnen mit den höchsten Fahrgastzahlen. Am 13. Oktober 1920 begann die Errichtung eines Gleisanschlusses vom Bahnhof Peiting Ost zum in Bau befindlichen Bergwerk Peiting. Ab Januar 1921 war der Gleisanschluss befahrbar, im März 1921 wurde der Betrieb aufgenommen. Die Bedeutung der Strecke im Güterverkehr stieg durch die Kohletransporte aus dem Bergwerk Peiting deutlich an. Zum 17. Februar 1923 eröffnete die Deutsche Reichsbahn eine in Schongau anschließende Lokalbahn nach Kaufbeuren, über die ein direkter Kohletransport aus dem Bergwerk Peiting ins Allgäu ermöglicht wurde. Zum 1. Mai 1925 nahm die Deutsche Reichsbahn den elektrischen Betrieb auf der Bahnstrecke Weilheim–Peißenberg auf. Die Stadt Schongau beantragte daher am 14. Januar 1925 eine Elektrifizierung der Strecke von Peißenberg nach Schongau, der Antrag wurde jedoch abgelehnt. Dadurch waren die Strecken betriebstechnisch geteilt, bei durchgehenden Zügen fand im Bahnhof Peißenberg ein Lokomotivwechsel von Elektro- auf Dampftraktion statt. 1928 setzten sich die Gemeinden entlang der Strecke für die Einführung eines zusätzlichen Zugpaares ein. Da die Deutsche Reichsbahn die auf der Strecke eingesetzten Lokomotiven jedoch für Rangierarbeiten in Peißenberg benötigte, wäre dafür eine zusätzliche Lokomotive notwendig gewesen. Die Reichsbahndirektion Augsburg forderte 1930 für die Verbesserung des Zugangebots eine Garantiesumme von 60 Reichsmark, welche die Gemeinden anteilig bezahlten. Bis 1936 erhöhte die Deutsche Reichsbahn das Zugangebot daraufhin von vier auf sechs Zugpaare. Ende der 1930er Jahre modernisierte die Deutsche Reichsbahn die Bahnstrecke. In den Bahnhöfen wurden neue mechanische Stellwerke der Einheitsbauart in Betrieb genommen, welche die Steuerung der bisher vor Ort gestellten Weichen übernahmen. Dabei wurde das Betriebsgebäude von Peiting Ost bis 1941 durch einen Neubau ersetzt. Im Zweiten Weltkrieg kam es auf der Strecke ab 1944 mehrfach zu Beschädigungen durch Tieffliegerangriffe. Kurz vor Kriegsende beschossen Flugzeuge am 27. April 1945 im Bahnhof Peiting Ost eine Dampflokomotive, die dadurch vollständig zerstört wurde. Um den Vormarsch der amerikanischen Truppen zu verhindern, sprengten am selben Tag gegen 15:15 Uhr deutsche Pioniere die Straßenbrücke über den Lech in Schongau. Die danebenliegende Eisenbahnbrücke stürzte durch die Explosion teilweise ebenfalls ein, sodass die Strecke unterbrochen wurde. Niedergang in der Bundesbahnzeit Nach Kriegsende wurde die Strecke aufgrund der zerstörten Lechbrücke Schongau zunächst nur zwischen Peiting Ost und Peißenberg befahren. Ende der 1940er Jahre wurde die Brücke schließlich in ihrer alten Form wiederaufgebaut und der durchgehende Verkehr auf der Strecke wiederaufgenommen. In den folgenden Jahren gingen die Fahrgastzahlen zunehmend zurück. 1952 begann die Deutsche Bundesbahn (DB) mit dem Einsatz von Dieseltriebwagen auf der Strecke. In den 1950er Jahren führte sie zwischen Peißenberg und Schongau anstelle des bisherigen Zugmeldebetriebs den vereinfachten Nebenbahnbetrieb ein. Dadurch wurde der Personalaufwand von durchschnittlich 1,22 auf 1,11 Personen pro Streckenkilometer reduziert. 1968 wurde das Bergwerk Peiting geschlossen, womit die schweren Kohlezüge von Peiting über Schongau ins Allgäu eingestellt wurden. Mit dem Ende dieser letzten dampfbespannten Züge endete der Einsatz von Dampflokomotiven auf der Strecke. Durch den Wegfall des Hauptkunden ging der Güterverkehr stark zurück. 1972 legte die Deutsche Bundesbahn das in Schongau anschließende Sachsenrieder Bähnle nach Kaufbeuren still. In der Folge wurde auch die Stilllegung der Strecken Schongau–Peißenberg und Weilheim–Peißenberg diskutiert. Am 22. Januar 1976 veröffentlichte die Deutsche Bundesbahn ihr Betriebswirtschaftlich optimales Netz, in dem die Stilllegung der Strecke vorgesehen war. Nach einer erneuten Berechnung des Potentials 1977 wurde der Abschnitt Schongau–Peiting Ost nur für den Güterverkehr in das Betriebswirtschaftlich optimale Netz aufgenommen, der Personenverkehr sollte jedoch weiterhin auf der Gesamtstrecke eingestellt werden. Aufgrund von Einwendungen der Gemeinden entlang der Strecke überprüfte die Deutsche Bundesbahn ihr Konzept und entschied sich, die Stilllegung zunächst nicht umzusetzen. Nach der Einstellung des Personenverkehrs auf der in Schongau anschließenden Strecke nach Landsberg 1984 beschränkte die Deutsche Bundesbahn ab 1985 den Zugverkehr zwischen Schongau und Peißenberg auf die Wochentage Montag bis Freitag. Dadurch konnten jährlich 153.000 D-Mark eingespart werden. Aufschwung und Sanierung ab 1994 1994 führte die Deutsche Bahn AG auf der Strecke den Werdenfels-Takt ein und verbesserte damit das Zugangebot deutlich. Täglich verkehrten nun bis zu 18 Zugpaare zwischen Weilheim und Schongau. Durch das neue Verkehrsangebot konnten die Fahrgastzahlen wieder auf ein ansehnliches Niveau gesteigert und der Bestand der Strecke gesichert werden. Aufgrund des schlechten Zustandes der Lechbrücke in Schongau drohte 2000 eine Sperrung der Strecke. Die Deutsche Bahn entschied sich, die Brücke im Sommer 2001 für etwa zwei Millionen Euro zu erneuern. Zum 2. April 2001 wurde der Zugbetrieb zwischen Peiting Ost und Schongau eingestellt und die alte Brücke in der Folge vollständig abgebrochen. Nach einem Entwurf des Ingenieurbüros Schmitt, Stumpf, Frühauf und Partner errichtete das Bauunternehmen Max Bögl innerhalb von drei Monaten eine neue Dreifeldbrücke in Verbundfertigteilbauweise. Am 29. Juli 2001 wurde der Zugverkehr über die Brücke wiederaufgenommen. Die neue Lechbrücke wurde 2002 als erste deutsche Eisenbahnbrücke in Verbundfertigteilbauweise mit dem Ingenieurbau-Preis ausgezeichnet. Zum 14. Dezember 2008 vergab die Bayerische Eisenbahngesellschaft (BEG) den Betrieb des Schienenpersonennahverkehrs auf der Bahnstrecke Schongau–Peißenberg als Teil des Dieselnetzes Augsburg II an die Bayerische Regiobahn GmbH (BRB), die zur Transdev-Gruppe gehört. Die BRB betreibt neben der Strecke Peißenberg–Schongau den Nahverkehr auf der Ammerseebahn von Augsburg nach Weilheim und auf der Bahnstrecke Weilheim–Peißenberg. Der Verkehrsvertrag lief bis Dezember 2019. Am 17. Mai 2016 wurde in Schongau und Peißenberg jeweils ein Video-Reisezentrum von Bundesverkehrsminister Alexander Dobrindt eingeweiht. Am 30. September 2016 nahm die Deutsche Bahn in Peiting Ost ein weiteres Video-Reisezentrum in Betrieb. In einem Übergangsvertrag vergab die BEG das Dieselnetz Augsburg II und damit den Betrieb auf der Bahnstrecke Schongau–Peißenberg für den Zeitraum von Dezember 2019 bis Dezember 2021 weiterhin an die Bayerische Regiobahn. 2018 erteilte die BEG den Zuschlag für den Betrieb von Dezember 2022 bis Dezember 2031 im Zuge von Los 2 der Augsburger Netze erneut an die Bayerische Regiobahn. Unfälle Im August 1956 kam es zwischen Peiting und Schongau zu einem Unfall, als ein leerer Kesselwagen auf der Brücke über den Lechkanal entgleiste und ins Wasser stürzte. Der Wagen wurde durch den Kanal in den Lech getrieben und versank schließlich an der Lechstaustufe 7. Am 12. November 2012 ereignete sich bei Kilometer 9,9 nahe Hohenpeißenberg ein schwerer Unfall an einem Feldwegübergang. Ein Triebwagen des Typs LINT 41 der BRB stieß mit einem Lastkraftwagen zusammen, der Kies für die Bauarbeiten an der Hohenpeißenberger Umgehungsstraße transportierte. 19 Personen wurden verletzt, darunter der Triebfahrzeugführer und der Lastkraftwagenfahrer. Am 19. September 2017 kollidierte ein vom Bahnhof Schongau kommender Triebwagen der BRB auf der Zufahrt zum Schongauer Werk der Papierfabrik UPM-Kymmene (Kilometer 0,5) mit einem mit Papierschnitzeln beladenen Lastkraftwagen, dessen Fahrer sowohl das Lichtzeichen am dortigen unbeschrankten Bahnübergang als auch ein akustisches Warnsignal nicht beachtet hatte. Es waren 18 Leichtverletzte zu beklagen, darunter der Triebwagenführer. Am 23. Januar 2018 kollidierte an der gleichen Stelle erneut ein Lastkraftwagen, der das Rotlicht missachtet hatte, mit einem vom Bahnhof Schongau kommenden Triebwagen der BRB. Neben dem schwerverletzten Lastkraftwagenfahrer waren sechs Leichtverletzte zu beklagen, darunter wieder der Triebwagenführer. Laut dem staatlichen Bauamt in Weilheim sollte dort nach diesem Unfall ein zusätzliches Warnschild aufgestellt werden, um Auto- und Lastkraftwagenfahrer zu warnen. Die Installierung einer mittels Thermokamera gesteuerten Anforderungsampel soll ferner verhindern, dass sich Lastkraftwagen bis in das Werksgelände zurückstauen können. Am 10. Januar 2023 entgleiste ein Triebwagen der Bayerischen Regiobahn bei der Einfahrt in den Bahnhof Peiting-Ost in Richtung Schongau auf der Einfahrweiche. Personen kamen dabei nicht zu Schaden. Als Ursache wird von einer Weichenstörung ausgegangen. Am 25. August 2023 ereignete sich erneut ein Unfall auf der Zufahrt zum Schongauer Werk der Papierfabrik UPM-Kymmene (Kilometer 0,5). Das Ende eines Aufliegers eines in einer Schlange auf die Einfahrt ins Werk wartenden LKWs ragte ins Gleis, und ein aus Richtung Schongau kommender Triebwagen der BRB konnte nicht mehr bremsen und stieß mit dem Auflieger zusammen. Personen kamen nicht zu Schaden, und der Bahnbetrieb konnte am gleichen Tag wieder aufgenommen werden. Streckenbeschreibung Verlauf Die Bahnstrecke Schongau–Peißenberg beginnt bei Streckenkilometer 0,0 im Bahnhof Schongau und führt zunächst mit leichtem Gefälle in Richtung Süden. Nach zwei Bahnübergängen über die Staatsstraße 2014 überquert sie in einer Linkskurve den Lech. Die Strecke führt nördlich an der Papierfabrik der UPM-Kymmene (ehemals Haindl) vorbei, zu der an der Ausweichanschlussstelle Haindl ein Anschlussgleis abzweigt. Nach einer Brücke über den Lechkanal folgt sie dem Lech mit starker Steigung, in nordöstlicher Richtung am Nordhang des Peitinger Schlossbergs entlang. Nach etwa 500 Metern biegt die Trasse mit einer Rechtskurve nach Südosten ab und kreuzt mit einem Bahnübergang erneut die Staatsstraße 2014. Nach einer weiteren Rechtskurve erreicht die Strecke auf einem Bahndamm mit leichter Steigung das Ortsgebiet von Peiting. Nach dem Haltepunkt Peiting Nord überquert sie mit zwei Brücken den Mühlbach (einen Seitenarm der Peitnach) sowie die Peitnach selbst. Mitten durch das Ortsgebiet von Peiting führend, biegt die Trasse nach Osten ab und verläuft westlich am Peitinger Ortszentrum und der Wallfahrtskirche Maria Egg vorbei. Bei Kilometer 4,2 erreicht sie den Bahnhof Peiting Ost. Östlich des Bahnhofs zweigt in Richtung Süden das ehemalige Anschlussgleis zum Bergwerk Peiting von der Strecke ab, die mit leichter Steigung das Ortsgebiet verlässt. Sie überquert in einer Rechtskurve die Bundesstraße 472 (B 472) und verläuft auf einem Damm in mehreren starken Kurven weiter in östlicher Richtung durch ein Waldgebiet. Zwischen Kilometer 7,1 und 7,9 erreicht sie an der Wasserscheide von Lech und Isar mit 744,8 Metern über Normalhöhennull ihren höchsten Punkt und fällt anschließend wieder ab. Mit einer Brücke führt die Strecke über den tiefen Einschnitt des Kohlgrabens und überquert die Ende 2017 fertiggestellte Ortsumfahrung Hohenpeißenberg der B 472. Südlich von Hohenpeißenberg erreicht sie den gleichnamigen Haltepunkt und biegt in einer engen Rechtskurve nach Süden ab. Nach einer weiteren Überquerung der Ortsumfahrung führt die Strecke erneut in den Wald und wendet sich mit einer Linkskurve nach Osten. Es folgt südlich des Hohen Peißenbergs über die nächsten zwei Kilometer der steilste Streckenabschnitt mit einem maximalen Gefälle von 25 ‰. Stetig fallend, verlässt die Trasse das Waldgebiet und unterquert in einem tiefen Einschnitt ein letztes Mal die B 472. Nach Nordosten führend, erreicht die Strecke das Ortsgebiet von Peißenberg und überquert den Wörtersbach. In vielen leichten Kurven verläuft sie direkt am Osthang des Hohen Peißenbergs entlang, südlich erstrecken sich der Peißenberger Ortsteil Wörth und das ehemalige Bergwerksgelände. Nach einer Rechtskurve erreicht die Strecke, nun in Nordrichtung verlaufend, den Bahnhof Peißenberg bei Streckenkilometer 15,5. Dort trifft sie auf die ältere Strecke Weilheim–Peißenberg, die hier bei Streckenkilometer 8,9 endet. Der Streckenabschnitt von Schongau bis zum Kilometer 14,90 zwischen Hohenpeißenberg und Peißenberg gehörte zur Eisenbahndirektion Augsburg, die restliche Strecke zur Eisenbahndirektion München. Mit der Auflösung der Direktion Augsburg lag ab 1971 die gesamte Strecke in der Bundesbahndirektion München. Betriebsstellen Schongau Der Bahnhof Schongau () wurde 1886 durch die Königlich Bayerischen Staatseisenbahnen als Endbahnhof der Lokalbahn aus Landsberg, heute als Fuchstalbahn bezeichnet, in Betrieb genommen. 1889 wurde das zweigeschossige Empfangsgebäude mit Satteldach, Zwerchhäusern und halbrundem Treppenhausanbau fertiggestellt. Mit der Eröffnung der Lokalbahn nach Peißenberg wurde der Bahnhof 1917 zum Zwischenbahnhof, nach der Fertigstellung des Sachsenrieder Bähnles nach Kaufbeuren 1923 zum Trennungsbahnhof. 1959 baute die Deutsche Bundesbahn das alte Empfangsgebäude um und entfernte Zwerchhäuser und Treppenhausanbau, der eingeschossige Anbau aus den 1930er Jahren blieb unverändert erhalten. 1992 wurde der Bahnhof mit der Stilllegung des letzten Teilstückes der Kaufbeurener Strecke, Schongau–Altenstadt, wieder zum Zwischenbahnhof. Neben den drei Bahnsteiggleisen sind noch größere Gleisanlagen für den Güterverkehr vorhanden. Von 1921 bis 1984 gab es in Schongau ein Bahnbetriebswerk mit einem zwölfständigen Ringlokschuppen. Peiting Nord Der Haltepunkt Peiting Nord () befindet sich im Norden des Ortsgebiets von Peiting, direkt nördlich der Eisenbahnbrücke über die Peitnach. Der Haltepunkt wurde 1917 zusammen mit der Strecke Schongau–Peißenberg eröffnet und nach wenigen Jahren im Oktober 1922 wieder eingestellt. Mit dem Sommerfahrplan am 5. Juni 1925 nahm die Deutsche Reichsbahn den Haltepunkt erneut in Betrieb. Für die Reisenden entstanden nördlich des Bahnübergangs der Münchener Straße ein einfacher Schüttbahnsteig westlich der Gleise und ein kleines Wartehäuschen aus Holz mit Satteldach. Später entstand südlich des Bahnübergangs ein weiterer Seitenbahnsteig östlich der Gleise, der von den Zügen in Richtung Weilheim bedient wurde, während am nördlichen Bahnsteig die Züge in Richtung Schongau hielten. Das hölzerne Wartehäuschen wurde abgebrochen und durch zwei verglaste Unterstände an den beiden Seitenbahnsteigen ersetzt. Nördlich des Haltepunkts zweigte ein Gleisanschluss zu einem Metallverarbeitungsbetrieb von der Strecke ab, über den zeitweise auch ein Sägewerk bedient wurde. Bis Anfang der 1950er Jahre war das Anschlussgleis beidseitig, später noch einseitig nach Norden angebunden. 2006 legte die Deutsche Bahn den Gleisanschluss still und baute im November 2006 die Anschlussweiche zurück. Im Rahmen des barrierefreien Ausbaus der Strecke im Sommer 2021 wurde der südliche Bahnsteig wieder abgebaut, seither halten die Züge in beiden Richtungen an dem nunmehr erhöhten nördlichen Bahnsteig. Peiting Ost Der Bahnhof Peiting Ost () befindet sich im Osten von Peiting, etwa einen Kilometer vom Ortszentrum entfernt. Bei seiner Eröffnung war der Bahnhof mit einem eingeschossigen Empfangsgebäude mit Satteldach im Lokalbahnstil ausgestattet, das südlich der Gleisanlagen stand. Der östliche Gebäudeteil mit den Diensträumen war in gemauerter Bauweise, der westliche Teil aus Holz erstellt. Zudem waren ein Güterschuppen im östlichen Bahnhofsbereich, ein Beamtenwohnhaus und eine Bahnhofsrestauration vorhanden. Mit dem Beginn der Kohlenförderung im Bergwerk Peiting wurde 1921 ein Gleisanschluss zum Bergwerksgelände fertiggestellt. Dadurch erhielt der Bahnhof Peiting Ost eine größere Bedeutung im Güterverkehr und die Gleisanlagen wurden erweitert. Nördlich des durchgehenden Hauptgleises lag ein Ausweichgleis, beide Gleise waren mit Zwischenbahnsteigen ausgestattet. Südlich der Hauptgleise lagen zwei beidseitig angebundene Ladegleise mit einer Ladestraße, an die im Ostkopf des Bahnhofs der Anschluss zum Bergwerk angebunden war. Von den Ladegleisen zweigten drei Stumpfgleise ab, die den Güterschuppen und die Laderampe östlich des Empfangsgebäudes und ein Lagerhaus im Westkopf des Bahnhofs erschlossen. Nördlich der Bahnsteige lag ein weiteres beidseitig angebundenes Ladegleis mit Stumpfgleis, das der Torfverladung diente. Der Torf wurde mit einer Feldbahn aus dem Torfwerk bei Hohenbrand zum Bahnhof gebracht. Ab 1938 baute die Deutsche Reichsbahn den Bahnhof um. Das alte Empfangsgebäude wurde vollständig abgebrochen und bis 1941 durch ein zweigeschossiges gemauertes Gebäude mit Satteldach im Heimatschutzstil ersetzt. Im Erdgeschoss enthielt es einen Warteraum und Diensträume, im Obergeschoss waren Dienstwohnungen untergebracht. Auf der Gleisseite war das Gebäude auf ganzer Länge mit einem Vordach versehen, unter dem sich im Osten ein offener Wartebereich und im Westen der Stellwerksanbau befand. Östlich des Empfangsgebäudes errichtete die Deutsche Reichsbahn an den südlichen Ladegleisen eine größere Kopfladerampe und eine neue Ladestraße. Anfang der 1950er Jahre stellte die Deutsche Bundesbahn die Torfverladung in Peiting Ost ein, 1968 endete mit der Schließung des Bergwerks der Kohleverkehr. Das Anschlussgleis zum ehemaligen Bergwerksgelände wurde nach Süden und Westen verlängert und schloss fortan ein Holzwerk und eine Papierfabrik an. In den 1980er Jahren stellte die Deutsche Bundesbahn den örtlichen Güterverkehr im Bahnhof vollständig ein, zuletzt wurden noch Holz und Düngemittel verladen. Die nicht mehr benötigten Ladegleise wurden teilweise zurückgebaut und der Güterschuppen abgebrochen. In den 1990er Jahren endete der Verkehr auf dem Gleisanschluss. Nach erfolglosen Reaktivierungsbemühungen wurden der Gleisanschluss, das Bahnsteiggleis 1 und das verbliebene Ladegleis am Bahnhof Peiting Ost im Sommer 2012 zurückgebaut. Nach den Rückbaumaßnahmen war noch das durchgehende Hauptgleis und ein Ausweichgleis an zwei 18 cm hohen Zwischenbahnsteigen vorhanden. Das Empfangsgebäude ist seit Sommer 2013 im Besitz der Gemeinde Peiting. Mit Stand Oktober 2017 wurde ein Abriss des Gebäudes zugunsten der Erschließung von Gewerbeflächen erwogen. Mit Stand Februar 2022 steht das Gebäude leer, und Planungen für eine Nachnutzung des Geländes (wofür mittlerweile auch teilweise Wohnbebauung in Diskussion ist) sind unter anderem wegen komplexer Grundbesitzverhältnisse nicht in einem konkreten Stadium. Im Sommer 2021 wurden die Bahnsteige barrierefrei ausgebaut. Dabei wurde das zuvor noch sichtbare Gleisbett des bereits 2012 aufgegebenen Gleises 1 beseitigt. Hohenpeißenberg Der ehemalige Bahnhof und heutige Haltepunkt Hohenpeißenberg () liegt unterhalb des Südhangs des Hohen Peißenbergs, etwa 700 Meter südlich des Ortszentrums von Hohenpeißenberg. In der Planung war für den Bahnhof ursprünglich der Name Schächen vorgesehen. Der Bahnhof war mit einem eingeschossigen Empfangsgebäude im Lokalbahnstil mit Satteldach ausgestattet, das sich südlich der Gleise befand. Im gemauerten, mit Holz verkleideten Westteil des Gebäudes befanden sich Diensträume für das Bahnhofspersonal und ein halboffener Warteraum. Der in Holzbauweise errichtete Ostteil beherbergte den Güterschuppen, der auf der Gleisseite mit einer Laderampe mit querstehendem Satteldach versehen war. Der Bahnhof verfügte neben dem durchgehenden Hauptgleis, das an einem Zwischenbahnsteig lag, über ein Kreuzungsgleis am Hausbahnsteig. Westlich des Empfangsgebäudes lag ein beidseitig an das Kreuzungsgleis angebundenes Ladegleis mit Ladestraße und zwei Stumpfgleisen, von denen das eine ein Lagerhaus erschloss. Südlich des Bahnhofs befand sich das Bergwerksgelände um den Wetterschacht, das ab 1937 mit einem Gleisanschluss an die Strecke westlich des Bahnhofs angeschlossen war. In den 1950er Jahren baute die Deutsche Bundesbahn im Empfangsgebäude ein mechanisches Stellwerk der Einheitsbauart ein, das für die Bedienung der Weichen des Bahnhofs zuständig war. Nach 1964 wurde der Güterschuppen umgebaut und die überdachte Laderampe abgebrochen. In den 1970er Jahren stellte die Deutsche Bundesbahn den Güterverkehr am Bahnhof Hohenpeißenberg ein und baute das Ladegleis zurück. Anfang der 1990er Jahre verlegte die Deutsche Bundesbahn die letzten Zugkreuzungen nach Peißenberg und Peiting Ost. Das nicht mehr benötigte Kreuzungsgleis wurde zurückgebaut und der zuletzt bereits nicht mehr besetzte Bahnhof Hohenpeißenberg zu einem Haltepunkt zurückgestuft. Im Dezember 1994 brach die Deutsche Bahn das leerstehende Empfangsgebäude ab und ersetzte es bis 1995 durch einen einfachen hölzernen Unterstand mit Satteldach am verbliebenen 16 cm hohen Seitenbahnsteig. 2011 wurde anstelle des hölzernen Unterstandes ein neues verglastes Wartehäuschen aufgestellt. Im Sommer 2021 wurde der Bahnsteig barrierefrei ausgebaut. Peißenberg Der Bahnhof Peißenberg () befindet sich mittig zwischen dem nordöstlich gelegenen Nordteil (Dorf) und dem Südteil (Wörth) der Gemeinde Peißenberg, südlich des Ortsteils Sulz, der bis 1935 Bad Sulz hieß. Direkt westlich des Bahnhofs befand sich der Tiefstollen des Bergwerks Peißenberg. Er wurde am 1. August 1875 als Werksbahnhof Sulz in Betrieb genommen und war Endpunkt einer vom Bahnhof Unterpeißenberg kommenden Werksbahn. Am 15. Mai 1879 nahmen die Bayerischen Staatsbahnen den Personenverkehr zum Bahnhof Sulz auf und benannten ihn zum 15. September 1880 in Peißenberg um. Der Bahnhof erhielt ein dreigeschossiges Empfangsgebäude mit Satteldach und umfangreiche Anlagen für den Güterverkehr. Mit der Errichtung der Strecke von Schongau nach Peißenberg wurde er 1917 zum Durchgangsbahnhof. Nach dem Ende des Kohleverkehrs 1971 verlor der Bahnhof an Bedeutung und die Deutsche Bundesbahn baute den größten Teil der Gleisanlagen zurück. Heute sind noch zwei Bahnsteiggleise und das auf zwei Geschosse zurückgebaute Empfangsgebäude in Betrieb. Im Sommer 2021 wurde der Bahnsteig barrierefrei ausgebaut. Stellwerke und Sicherungstechnik In den Anfangsjahren wurden die Weichen in den Betriebsstellen entlang der Strecke durch Weichenwärter vor Ort oder über im Freien auf dem Hausbahnsteig aufgestellte Bedienarmaturen gestellt. In den 1930er Jahren stattete die Deutsche Reichsbahn die Bahnhöfe Peißenberg, Peiting Ost und Schongau mit mechanischen Stellwerken der Einheitsbauart aus. Im Bahnhof Schongau befindet sich seit den 1930er Jahren ein mechanisches Befehlsstellwerk im Empfangsgebäude, 1959 kam ein Wärterstellwerk im Nordkopf des Bahnhofs hinzu. Der Bahnhof verfügt über Gruppenausfahrsignale, die einzelnen Gleise sind mit Sperrsignalen gesichert. Aus Richtung Peiting Ost ist ein Einfahrsignal, aber kein Einfahrvorsignal vorhanden. Der Bahnhof Peiting Ost war mit einem Befehlsstellwerk im Stellwerksvorbau des Empfangsgebäudes ausgestattet. Der Bahnhof verfügte nur über Einfahrsignale, Ausfahrsignale waren nicht vorhanden. Planmäßig wird im Bahnhof eine Zugkreuzung in der morgendlichen Hauptverkehrszeit durchgeführt, sodass der Bahnhof bis 2021 noch zeitweise besetzt war. Am 30. Juli 2021 legte die Deutsche Bahn das Stellwerk in Peiting Ost still; die beiden noch vorhandenen Weichen wurden zu Rückfallweichen umgebaut und die Einfahrsignale durch Trapeztafeln ersetzt. Die Stellwerkseinrichtung wurde Anfang 2022 abgebaut; Teile wurden als mögliche Ersatzteile für andere Stellwerke eingelagert. In Hohenpeißenberg war ab den 1950er Jahren ein mechanisches Stellwerk im Empfangsgebäude vorhanden. Der Bahnhof verfügte nicht über Hauptsignale und war lediglich mit Trapeztafeln gesichert. In seinen letzten Betriebsjahren war der Bahnhof nicht mehr besetzt. Bei Zugkreuzungen mussten daher die Zugführer der kreuzenden Züge das Stellwerk besetzen und im Auftrag des Fahrdienstleiters in Schongau die Weichen stellen. In Peißenberg waren ursprünglich ein Befehlsstellwerk am Empfangsgebäude und zwei Wärterstellwerke im Nord- und Südkopf des Bahnhofs vorhanden. Etwa 1976 wurden die Wärterstellwerke stillgelegt und die verbliebenen Weichen und Signale aus dem Befehlsstellwerk Pf gestellt. Der Bahnhof war mit Gruppenausfahrsignalen ausgestattet. Bei den stündlichen Zugkreuzungen war daher bis 2019 keine gleichzeitige Einfahrt der Züge möglich. Seit September 2019 steuert ein elektronisches Stellwerk mit Bedienplatz in Weilheim den Bahnhof Peißenberg. Ab den 1950er Jahren wurde die Strecke im vereinfachten Nebenbahnbetrieb, ab 1967 als vereinfachter Zugleitbetrieb bezeichnet, betrieben. Damit war dieser Abschnitt bis 2015 der am dichtesten ohne Zugbeeinflussung befahrene Teil des südbayerischen Schienennetzes. 2015 führte DB Netz den Zugleitergesteuerten technisch unterstützten Zugleitbetrieb (TuZ) zwischen Peißenberg und Schongau ein und rüstete die Strecke mit schaltbaren 2000 Hz-Gleismagneten, blauen Überwachungsmeldern an den H-Tafeln, sowie Schaltkontakten zur Wirksamkeitsschaltung der Gleismagnete aus. Zugleiter ist der Fahrdienstleiter des Bahnhofs Schongau. Kunstbauwerke Das größte Kunstbauwerk entlang der Strecke ist die in einer Kurve gelegene Brücke über den Lech in Schongau () von Streckenkilometer 0,287 bis 0,405. Die von Februar 1910 bis Dezember 1912 errichtete Steinbogenbrücke war insgesamt 118 Meter lang und bestand aus drei Bögen mit einer lichten Weite von jeweils 27,085 Metern. In den beiden Widerlagern befand sich jeweils eine überwölbte Öffnung. Das neue im Sommer 2001 errichtete Brückenbauwerk ist eine Dreifeldbrücke mit Stahlträgern und Betonplatte in Verbundfertigteilbauweise. Sie ist 105 Meter lang und weist Stützweiten zwischen 25 und 35 Metern auf. Bei Kilometer 0,9 überquert die Strecke mit einer 83 Meter langen Brücke im spitzen Winkel den Lech-Werkskanal (). Die Steinbogenbrücke hat einen Hauptbogen von 34,91 Metern lichter Weite sowie jeweils einen Sparbogen an beiden Widerlagern. Am Nordhang des Peitinger Schlossberges befindet sich bei Kilometer 1,1 ein Lehnenviadukt (), auf dem die Strecke einen etwa 50 Meter langen Hangabbruch überquert. Das 87 Meter lange Viadukt besteht aus acht Bögen, von denen der größte eine lichte Weite von 13,60 Metern, die übrigen sieben eine lichte Weite von 8,55 Metern aufweisen. Am Haltepunkt Peiting Nord wird der Peitinger Mühlbach mit einer einfachen Balkenbrücke gequert. Über die Peitnach führt bei Streckenkilometer 2,9 eine 32 Meter lange Steinbogenbrücke () mit einem Hauptbogen von 16 Metern lichter Weite und zwei Sparbögen an den Widerlagern. Fahrzeugeinsatz In der Anfangszeit der Strecke setzten die Königlich Bayerischen Staatseisenbahnen Nassdampf-Tenderlokomotiven der Gattung D XI (ab 1925 Baureihe 984–5) ein, die im Bahnbetriebswerk Schongau stationiert waren. Ab den 1930er Jahren kamen zudem die Baureihen 64, 86 und 9810 zum Einsatz. Nach der Elektrifizierung der Strecke Weilheim–Schongau spannte die Deutsche Reichsbahn die durchgehenden Personenzüge ab 1925 in Peißenberg von Dampf- auf Elektrolokomotiven um, wodurch ein Zeitverlust von bis zu 15 Minuten entstand. Ab den 1940er Jahren bespannte die Deutsche Reichsbahn die schweren Kohlezüge vom Bergwerk Peiting mit Einheitsdampflokomotiven der Baureihe 50. Ab Herbst 1952 stellte die Deutsche Bundesbahn einen Teil der lokbespannten Personenzüge auf Uerdinger Schienenbusse der Baureihe VT 95 um, die sie im Bahnbetriebswerk Schongau stationierte. Deren geringe Motorleistung reichte jedoch für die starken Steigungen zwischen Peißenberg und Hohenpeißenberg nicht aus, sodass die Deutsche Bundesbahn die einmotorigen Schienenbusse wieder abzog. Ab Sommer 1956 kamen zweimotorige Schienenbusse der Baureihe VT 98 zum Einsatz, die im Bahnbetriebswerk Schongau und der Lokstation Weilheim beheimatet waren. Durch den Triebwageneinsatz entfiel der zeitintensive Lokomotivwechsel im Bahnhof Peißenberg. Im Güterverkehr ersetzte die Deutsche Bundesbahn ab 1963 die Dampflokomotiven teilweise durch Diesellokomotiven der Baureihen V 100 und V 60, ab Ende der 1960er Jahre setzte sie zudem Lokomotiven der Baureihe 290 ein. Die Kohlezüge vom Bergwerk Peiting in Richtung Allgäu wurden hingegen weiterhin mit Dampflokomotiven der Baureihen 50 und 52 bespannt. Mit der Stilllegung des Bergwerks Peiting endete im November 1968 der Einsatz von Dampflokomotiven auf der Strecke. In den 1970er und 1980er Jahren kamen auf der Strecke Akkumulatortriebwagen der Baureihe 515 zum Einsatz, die sich aufgrund ihres hohen Gewichtes jedoch auf den starken Steigungen als problematisch erwiesen. Die Deutsche Bundesbahn führte den Personenverkehr daher weiterhin vor allem mit Schienenbussen sowie mit Diesellokomotiven der Baureihen 212 und 218 durch. Ab den 1980er Jahren verkehrten zudem Dieseltriebwagen der Baureihen 627.0 und 627.1 sowie 628.0 und 628.1 auf der Strecke. Ab 1987 kamen Triebwagen der Baureihe 628.2 zum Einsatz. Die Deutsche Bahn setzte bis 2008 Triebwagen der Baureihen 628.2 und 642 sowie vereinzelt Lokomotiven der Baureihe 218 mit n-Wagen ein. Mit dem Betreiberwechsel führt seit dem 14. Dezember 2008 die Bayerische Regiobahn den gesamten Personenverkehr auf der Strecke mit Dieseltriebwagen des Typs LINT 41 durch. Die Güterzüge zur Papierfabrik Haindl wurden von der Augsburger Localbahn mit Diesellokomotiven der Baureihe 204 bespannt. Verkehr Personenverkehr Am 11. Januar 1917 nahmen die Bayerischen Staatsbahnen den Zugverkehr zwischen Schongau und Peißenberg auf. Zunächst verkehrten täglich drei durchgehende Zugpaare von Schongau über Peißenberg nach Weilheim. Im Sommerfahrplan 1925 waren täglich vier Zugpaare auf der Strecke im Einsatz, die nur die vierte Wagenklasse führten. Im Sommerfahrplan 1939 verkehrten täglich sieben Personenzüge von Schongau nach Weilheim und sechs Züge in der Gegenrichtung. Die Züge benötigten für die Gesamtstrecke zwischen 54 und 68 Minuten, wovon 13 Minuten auf die Teilstrecke von Weilheim nach Peißenberg entfielen. Alle Personenzüge führten nur die dritte Wagenklasse. Während des Zweiten Weltkriegs reduzierte die Deutsche Reichsbahn den Reisezugverkehr auf der Bahnstrecke Schongau–Peißenberg. 1943 verkehrten nur noch vier bis fünf Zugpaare durchgehend zwischen Schongau und Weilheim. Zur Anbindung der neu errichteten Militäranlagen bei Altenstadt verlängerte die Reichsbahn einzelne Personenzüge ab Schongau weiter über die Bahnstrecke Kaufbeuren–Schongau zum Bahnhof Altenstadt. Nach der Zerstörung der Schongauer Lechbrücke im April 1945 fand bis Ende der 1940er Jahre kein Zugverkehr zwischen Peiting Ost und Schongau statt. Ende der 1940er Jahre verbesserte die Deutsche Bundesbahn das Zugangebot auf der Strecke wieder. Ab 1950 verkehrten an Werktagen neun Zugpaare zwischen Weilheim und Schongau. Im Sommerfahrplan 1971 setzte die Deutsche Bundesbahn zwischen Weilheim und Schongau von Montag bis Freitag acht und am Wochenende sechs bis sieben Zugpaare ein, von denen eines ab Schongau nach Kaufbeuren durchgebunden wurde. Zusätzlich verkehrte werktags ein einzelner Zug von Hohenpeißenberg nach Kaufbeuren. Die Züge benötigten für die Strecke von Weilheim nach Schongau zwischen 36 und 46 Minuten, alle Züge führten nur die zweite Klasse. Mit der Einstellung des Personenverkehrs auf der Bahnstrecke Kaufbeuren–Schongau entfielen ab Oktober 1972 die Durchbindungen nach Kaufbeuren. In den 1970er Jahren reduzierte die Deutsche Bundesbahn den Zugverkehr am Samstagnachmittag und Sonntagvormittag, stattdessen wurden die Leistungen durch Bahnbusse im Schienenersatzverkehr erbracht. Von Montag bis Freitag verkehrten weiterhin acht Zugpaare im Zeitraum von 5:30 bis 19:30 Uhr. Aus Kostengründen stellte die Deutsche Bundesbahn zum Sommerfahrplan 1985 den Zugverkehr an Wochenenden und Feiertagen vollständig ein und setzte auch in den genannten Zeiten Bahnbusse ein. Gleichzeitig wurde unter der Woche ein neuntes Zugpaar zwischen Weilheim und Schongau eingeführt. Zur Schließung von Taktlücken führte die Deutsche Bundesbahn ab 1993 drei zusätzliche Zugpaare auf der Strecke ein. Zum Sommerfahrplan ab dem 29. Mai 1994 führte die Deutsche Bahn den Werdenfels-Takt auf der Bahnstrecke Weilheim–Schongau ein. Der Wochenendverkehr wurde wiederaufgenommen und mit bis zu 18 täglichen Zugpaaren ein ganztägiger Stundentakt auf der Strecke eingeführt. Abends weitete die Deutsche Bahn den Zugverkehr bis nach Mitternacht aus. Einzelne Regionalbahnen wurden ab Weilheim über die Ammerseebahn nach Dießen verlängert. Seit dem 14. Dezember 2008 ist die Bayerische Regiobahn (BRB) Eisenbahnverkehrsunternehmen auf der Pfaffenwinkelbahn und der anschließenden Ammerseebahn. Die Züge verkehren seitdem ganztägig im Stundentakt von Augsburg-Oberhausen über Weilheim nach Schongau. Zur üblichen Symmetrieminute kurz vor der halben Stunde kreuzen die Züge in Peißenberg. In der Hauptverkehrszeit verkehren zusätzlich stündliche Verstärkerzüge von Geltendorf nach Peißenberg und morgens teilweise weiter bis Schongau, die auf diesem Abschnitt einen Halbstundentakt herstellen. Von Weilheim nach Schongau benötigen die Züge planmäßig 33 Minuten und in der Gegenrichtung 37 Minuten. Im Halbknoten Weilheim bestehen gute Anschlüsse nach München, dagegen entsteht beim Umsteigen nach Garmisch-Partenkirchen Wartezeit Güterverkehr Noch vor der Fertigstellung der Lechbrücke in Schongau nahmen die Bayerischen Staatseisenbahnen 1911 den Gleisanschluss vom Bahnhof Schongau zur Papierfabrik Haindl in Betrieb. Damit konnten Roh- und Brennstoffe über die Bahnstrecke Landsberg am Lech–Schongau und die Lechbrücke direkt zum Fabrikgelände transportiert und das produzierte Papier wieder abgefahren werden, das bisherige aufwändige Umladen im Bahnhof Schongau entfiel. Nach der Inbetriebnahme der Strecke 1917 verluden die Königlich Bayerischen Staatseisenbahnen zunächst vor allem landwirtschaftliche Produkte und Holz an den Bahnhöfen Peiting Ost und Hohenpeißenberg. In Peiting war zudem die Torfverladung von Bedeutung. Ab 1921 beförderte eine Feldbahn den im Schwarzlaichmoor bei Hohenbrand abgebauten Torf über eine Strecke von vier Kilometern zum Bahnhof Peiting Ost, in dem er über eine Verladeanlage in die Güterwagen der Staatsbahn umgeladen wurde. 1921 begann die Kohleförderung im Bergwerk Peiting, das über einen Gleisanschluss an den Bahnhof Peiting Ost angebunden wurde. Durch den Kohle- und Grubenholztransport des Bergwerks Peiting kam es zu einem erheblichen Anstieg des Güterverkehrs auf der Strecke. Dabei verkehrten die Kohlezüge aus Peiting ausschließlich zum Bahnhof Schongau und weiter über die Bahnstrecke Kaufbeuren–Schongau ins Allgäu oder über die Strecke Landsberg–Schongau in Richtung Augsburg. Die Kohle aus dem Bergwerk Peißenberg transportierte die Deutsche Reichsbahn hingegen über den Bahnhof Weilheim und weiter nach München oder über die Ammerseebahn nach Augsburg. Ab 1937 bediente die Deutsche Reichsbahn über einen weiteren Gleisanschluss den Wetterschacht in Hohenpeißenberg, der bis 1971 mit Versorgungsmaterialien und Grubenholz beliefert wurde, Kohletransporte fanden nicht statt. Mit der Einstellung der Torfverladung Anfang der 1950er Jahre ging das Güteraufkommen in Peiting Ost zurück. 1959 wurde die Strecke noch täglich von zehn Güterzügen befahren. Die Schließung des Bergwerks Peiting 1968 führte zur Einstellung der schweren Kohlezüge und zu einem Einbruch des Güterverkehrs auf der Strecke. 1970 beendete die Deutsche Bundesbahn die Stückgutverladung in Peißenberg und Peiting Ost. In den 1970er Jahren stellte sie den örtlichen Güterverkehr in Hohenpeißenberg und in den 1980er Jahren in Peißenberg und Peiting Ost vollständig ein. Zwischen Peiting und Peißenberg fand damit kein Güterverkehr mehr statt. Es verblieb die Bedienung verschiedener Gleisanschlüsse entlang der Strecke. Der Gleisanschluss vom Bahnhof Peiting Ost zum Bergwerk Peiting wurde zur Bedienung eines Holzwerkes und einer Papierfabrik weitergenutzt. Zudem wurden ein Gleisanschluss zu einem Metallverarbeitungsbetrieb nördlich des Haltepunkts Peiting Nord und der Gleisanschluss zur Papierfabrik Haindl in Schongau bedient. In den 1990er Jahren stellte die Deutsche Bahn die Bedienung des Gleisanschlusses in Peiting Ost ein. 1998 übernahm die Augsburger Localbahn (AL) den Güterverkehr auf der Bahnstrecke Landsberg–Schongau sowie zwischen Schongau und Peiting Nord von der Deutschen Bahn. Im Mai 2005 stellte sie die Bedienung des Gleisanschlusses in Peiting Nord ein. Regulärer Güterverkehr ist seitdem nur noch auf dem Abschnitt vom Bahnhof Schongau zur Ausweichanschlussstelle Haindl zu finden. 2011 verkehrten an Werktagen bis zu fünf Güterzüge zur Papierfabrik, die Roh- und Brennstoffe anlieferten und das gefertigte Papier nach Augsburg abtransportierten. Bis 2018 reduzierte sich der Verkehr auf zwei Zugpaare. Ab Januar 2019 ging der Betrieb des Güterverkehrs zur Papierfabrik schrittweise bis zum 1. Juni 2019 wieder vollständig auf DB Cargo über. Kursbuchstrecken Die Bahnstrecke Schongau–Peißenberg war im Reichskursbuch zunächst als Zweigstrecke der Verbindung München–Innsbruck unter der Nummer 297 verzeichnet. Ab der Einführung des Amtlichen Kursbuchs für das Reich (später Deutsches Kursbuch) wurde sie immer unter einer gemeinsamen Kursbuchstrecke mit der Bahnstrecke Weilheim–Peißenberg geführt. Die Deutsche Bundesbahn führte 1950 eine durchgehende Kursbuchstrecke 404c von Weilheim nach Kaufbeuren ein, die zusätzlich die Bahnstrecke Kaufbeuren–Schongau umfasste. Diese Kursbuchstrecke hatte, zuletzt unter der Nummer 966, bis zur Einstellung des Personenverkehrs zwischen Kaufbeuren und Schongau im Jahr 1972 Bestand. Seit 1973 hat die Strecke Weilheim–Peißenberg–Schongau die Kursbuchstreckennummer 962 inne. Zukunftsaussichten Da die Durchlässigkeit der Strecke unter Geschwindigkeitsbeschränkungen wegen etlicher nicht technisch gesicherter Bahnübergänge leidet, ist deren Aufhebung oder technische Sicherung nötig. Weiterhin könnten durch Modernisierung des Bahnhofs Peißenberg, damit aus beiden Richtungen gleichzeitig Züge einfahren können, in Richtung Weilheim circa vier Minuten Fahrtzeit gespart werden. Es gibt Überlegungen, die auf der Pfaffenwinkelbahn verkehrenden Züge über den Bahnhof Schongau hinaus nach Norden auf der Trasse der bisher nur für den Güterverkehr genutzten Bahnstrecke Landsberg am Lech–Schongau zu einem neuen, beim Schongauer Krankenhaus gelegenen Haltepunkt Schongau Nord weiterfahren zu lassen. Literatur Weblinks Werner Bommersbach: Pfaffenwinkel-Bahn Weilheim–Schongau. In: pfaffenwinkelbahn.com. Einzelnachweise Bahnstrecke in Bayern Bahnstrecke SchongauPeissenberg
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https://de.wikipedia.org/wiki/Bastarda
Bastarda
Die Bastarda ist eine spätmittelalterliche gebrochene Schrift, die als Buchschrift in Handschriften gebräuchlich war und auch in Kanzleien verwendet wurde. Sie gehört zur Gruppe der gotischen Schriften und ist die häufigste aller mittelalterlichen Schriftarten. Ihren von dem Begriff Bastard abgeleiteten Namen hat sie erhalten, weil sie eine „unechte“ Buchschrift ist, die auch Merkmale einer Geschäftsschrift aufweist. Von manchen Paläographen wird sie Hybrida genannt. Als Mischform ist sie gleichsam die Frucht einer Kreuzung verschiedener Arten: Sie verbindet die Kursivität der Geschäftsschrift mit Elementen der nichtkursiven, kalligraphisch gestalteten Buchschrift Textura (Textualis). Im Lauf des 14. Jahrhunderts wurde die Bastarda als Kanzleischrift (Kanzleibastarda) entwickelt. Sie entstand aus dem Bedürfnis nach einer einerseits flüssig schreibbaren, andererseits aber auch ästhetischen Ansprüchen genügenden Schrift für Dokumente. Im späten 14. Jahrhundert drang sie in die Handschriftenproduktion ein und setzte sich dort schnell durch. Als Buchschrift (Buchbastarda) und Geschäftsschrift fand sie in einer Vielzahl von teils regional gehäuft auftretenden, teils auf einzelne Zentren beschränkten Ausprägungen weiteste Verbreitung. Im 15. Jahrhundert dominierte sie das gesamte Schriftwesen. Nach der Einführung des Buchdrucks bildete sie auch die Vorlage für Drucktypen. Wegen der Vielfalt ihrer Erscheinungsformen wird oft der Plural verwendet; man spricht von „den Bastarden“. Aus der Kanzleibastarda entwickelte sich im frühen 16. Jahrhundert die deutsche Kurrentschrift. Definition, Systematik und Terminologie Im Bereich der kursiven gotischen Schriften des Spätmittelalters hat sich bisher keine einheitliche Systematik und Terminologie durchgesetzt. Ein Grund für die gravierenden Klassifikationsprobleme ist die Unübersichtlichkeit, die sich aus dem gegenüber früheren Epochen stark gesteigerten Formenreichtum ergibt. Eine Vielzahl von Besonderheiten einzelner Regionen, Zentren und Schreiber sowie die fließenden Übergänge zwischen manchen Schriftarten erschweren die systematische Erfassung der Phänomene und die Einführung einer universell verwendbaren Nomenklatur. Aufgrund dieser Umstände hat der Begriff Bastarda keine fest umrissene Bedeutung. Als Bastarden bezeichnet man alle gotischen Schriften, die Kursivität und einen überwiegend aus der Geschäftskursive stammenden Formenbestand mit einem mehr oder weniger ausgeprägten kalligraphischen Anspruch verbinden. Nicht nur die Abgrenzung gegenüber anderen Kursiven, sondern auch die Bestimmung und räumliche Eingrenzung der einzelnen Ausprägungen und Schreibstile innerhalb des Bereichs der Bastarden ist problematisch. Der Bibliothekswissenschaftler Joachim Kirchner (1890–1978), dessen Tafelwerke starke Verbreitung fanden, versuchte ab 1928 die in Deutschland verbreiteten Buchbastarden zu klassifizieren. Unter Bastarden verstand er nicht alle kursiven Buchschriften, sondern nur solche von guter Qualität mit deutlichem kalligraphischem Anspruch. Die vereinfachten, schnell geschriebenen, ästhetisch anspruchslosen Buchschriften nannte er „Buchkursiven“. Diese Kursiven zählte er nicht zu den Bastarden, sondern rückte sie in unmittelbare Nähe der Bedarfsschrift. Kirchner bemühte sich um die Herausarbeitung regionaler Besonderheiten, die es ermöglichen sollten, Handschriften aufgrund ihrer Schrift bestimmten Regionen zuzuordnen. Obwohl er seine Einteilung der Bastarden in regionale Stile zurückhaltend formulierte, fand sein System viel Anklang; vor allem in germanistischen Publikationen wurden häufig Schriften nach seiner Einteilung beschrieben. Eine solche Systematik kann aber bestenfalls eine grobe Orientierung bieten, da viele Schreiber – etwa Bettelmönche und Studenten, aber auch Berufsschreiber – sehr mobil waren und einzelne Schreibstile das Ergebnis des Zusammentreffens unterschiedlicher Einflüsse und Erfordernisse waren. Karin Schneider überprüfte die von Kirchner angebotenen Unterscheidungskriterien für den süddeutschen Raum und kam 1994 zu dem Ergebnis, dass sie zu allgemein und zu subjektiv seien und dass es sehr schwierig sei, einheitliche und klar definierbare regionale Schrifttypen innerhalb der Bastarda herauszuarbeiten. Zur Bestimmung des Entstehungsraums deutschsprachiger Handschriften kann die Paläographie demnach kaum beitragen. Schneiders Untersuchung führte in der Forschung zu einer Abwendung von der früher gängigen Klassifikation Kirchners. In Handbüchern ist die Unterscheidung regionaler Typen jedoch weiterhin anzutreffen. Im Jahr 1953 wurde die Nomenklatur auf einer Tagung in Paris erörtert, aus der das Comité International de Paléographie Latine hervorging. Dort trug der niederländische Paläograph und Kodikologe Gerard Isaac Lieftinck eine neue Terminologie vor. Er teilte die gotischen Schriften in drei Arten auf: die nichtkursive littera textualis, die flüssige Gebrauchsschrift littera cursiva und die zwischen diesen stehende Mischform Bastarda. Innerhalb der Textualis und der Cursiva unterschied er eine relativ anspruchslose Ausführung (scriptura currens), eine konservative, kalligraphisch hochwertige (scriptura formata) und eine mittlere, die gewöhnliche, aber gepflegte Schrift, für die er keine besondere Bezeichnung einführte. Lieftincks Nomenklatur erwies sich jedoch als problematisch. Mit dem Namen Bastarda übernahm er eine traditionelle Bezeichnung, die im französischen Sprachraum sowohl lateinisch (littera bastarda) als auch französisch (lettre bâtarde) bereits im Spätmittelalter verwendet wurde. Damals hatte sie aber eine andere Bedeutung als in Lieftincks System. Daher änderte er die Benennung und führte den neu geschaffenen Namen Hybrida ein. Unter einer Hybride versteht man in der Biologie ein Individuum, das aus der Kreuzung verschiedener Arten hervorgegangen ist; die Bedeutung entspricht also der von Bastarda. Zur Abgrenzung von der Cursiva definierte Lieftinck die Hybrida als Buchkursive, deren lange Schäfte alle keinerlei Schlingen aufweisen; als weitere Unterscheidungsmerkmale nannte er die Form der Buchstaben a, f und langes s. Damit führte er objektive, leicht nachprüfbare Kriterien ein. Sein Vorschlag stieß aber in der Fachwelt auf teils heftige Kritik. Eine Schwäche seines Systems besteht darin, dass sein Befund auf der Untersuchung von Codices aus dem niederländischen Raum basiert. Als versucht wurde, seine Einteilung auf Handschriften aus anderen Regionen anzuwenden, zeigte sich, dass das Vorhandensein oder Fehlen von Schlingen kein Klassifizierungsmerkmal ist, das für die gesamte Handschriftenproduktion Geltung beanspruchen kann. Lieftincks System lässt sich also nicht ohne weiteres verallgemeinern. Eine scharfe Abgrenzung zwischen Cursiva und Hybrida hat sich als unmöglich erwiesen, da es eine Vielzahl von Übergangs- und Mischformen gibt. Diese Problematik veranlasste Lieftincks Schüler Peter Gumbert, die Nomenklatur durch die Einführung eines vierten Typs, den er „Semihybrida“ nannte, zu erweitern. Gumbert führte zur Präzisierung von Lieftincks System ein komplexes „kartesisches“ Modell ein, das er graphisch als „kartesischen Würfel“ präsentierte. Auch daraus ergab sich aber keine allseits akzeptierte Lösung der terminologischen Probleme. Bernhard Bischoff, einer der einflussreichsten Paläographen des 20. Jahrhunderts, hielt an dem Namen Bastarda und dessen herkömmlicher Bedeutung fest. Er bezeichnete damit Schriften mit und ohne Schlingen. Zugunsten der traditionellen Benennung brachte er vor, sie sage immerhin – bei aller Verschiedenheit der realen Erscheinung der Bastarden – aus, dass es sich um Schriften handle, die den Gegensatz zwischen Cursiva und Textura überbrückten, indem sie Eigenschaften beider Gattungen vereinigten. Nach dieser Definition solle sich die moderne Verwendung des historischen Namens richten. Anderer Meinung ist Albert Derolez, der dafür eintritt, den historisch vorgeprägten Ausdruck Bastarda nur für eine bestimmte Luxusschrift, die lettre bourguignonne („burgundische Schrift“), zu verwenden und die Gruppe der von Bischoff „Bastarden“ genannten Schriften mit Lieftincks Ausdruck „Hybrida“ zu bezeichnen. Derolez plädiert für eine erweiterte Version von Lieftincks System, die er 2003 in einer Gesamtdarstellung der Paläographie der gotischen Buchschriften vorgestellt hat. Auch dieses System hat jedoch keine einhellige Zustimmung gefunden. Eine Klassifikation speziell für die britischen Buchkursiven hat Malcolm Parkes 1969 eingeführt. Er unterscheidet sechs Schriften: „Anglicana“, „Anglicana formata“, „Bastard Anglicana“, „Secretary“, „Bastard Secretary“ und „Schrift der Universitätsschreiber“ (eine Mischung von „Anglicana“ und „Secretary“). Als Hybrida (im engeren Sinn) bezeichnen manche Paläographen heute den Typus, den Lieftinck untersucht und beschrieben hat: eine schlingenlose Variante der Bastarda, die in den Niederlanden und im Rheinland vorherrschte, aber auch anderswo verwendet wurde. Im deutschen Sprachraum ist die Bezeichnung Bastarda im Sinn von Bischoffs Verständnis des Begriffs weiterhin gängig. Merkmale Allgemeine Merkmale Zu den allgemeinen Merkmalen der Bastarden, die sie von der Textura unterscheiden, zählen neben der Kursivität in erster Linie zwei aus der Kanzleikursive stammende Elemente: ein unter die Zeile verlängertes f und langes s und ein einbogiges („einstöckiges“) a. Das in der Textura übliche „zweistöckige a“ mit zwei Bögen, bei dem sich die Schlaufe bis zum Bauch niederbeugt, ist in den meisten Bastarden sehr selten. Der Einfluss der Textura, einer stark gebrochenen Buchschrift, zeigt sich jedoch in der einfachen Brechung kursiver Rundungen, mit der die Bastarda kalligraphisch aufgewertet und der Textura angenähert wurde. Bei besonders kalligraphischer Gestaltung treten in den Bastarden auch weitere Merkmale der Textura auf, darunter die kantig aus Einzelstrichen zusammengesetzten Buchstaben a, g und rundes s sowie feine Zierstriche und Zierhäkchen. Schlingen an den Oberlängen – soweit vorhanden – stellen bei den Buchbastarden keine mitgeschriebenen Luftlinien dar; sie haben nur dekorative Funktion und sind manchmal dreiecksförmig ausgeführt. Die Hauptschäfte der Buchstaben sind meist stark betont und mit kräftigen Druckstrichen ausgeführt. Die Unterlängen der Schäfte laufen spitz aus. Einzelne Ausprägungen Aussagen über regionale Schrifttypen sind wegen der vielfältigen überregionalen Beeinflussungen und der Mannigfaltigkeit der Faktoren problematisch und nur mit großem Vorbehalt möglich. Dennoch sind Stile unterscheidbar, von denen manche in bestimmten Gegenden oder an einzelnen Schreibstätten besonders gepflegt wurden. Die wichtigsten Ausprägungen (Abbildungen siehe unten) sind die folgenden: „Bastard Anglicana“: Eine ab der Mitte des 14. Jahrhunderts von englischen Schreibern für anspruchsvollere Codices entwickelte Schrift. Sie verbindet Elemente der Textura, darunter das doppelstöckige a, mit Eigenschaften der „Anglicana“, der in England gebräuchlichen spätmittelalterlichen kursiven Gebrauchsschrift. Die Bastard Anglicana wurde für Prachthandschriften und als Auszeichnungsschrift verwendet. Damit übernahm sie Funktionen der Textura, deren Verwendung relativ unbequem war. „Bastard Secretary“: Eine im 15. Jahrhundert entstandene Variante der in England verbreiteten Gebrauchskursive „Secretary“. Sie wird „Bastard“ genannt, weil sie der „Secretary“ durch Kombination mit Elementen der Textura einen förmlicheren, für Codices des gehobenen Bedarfs passenden Charakter gibt. Böhmische Bastarda: Eine fast oder ganz gerade Schrift, meist mit Schlingen. Ihr Kennzeichen sind sehr enggestellte Schäfte mit scharfen, sägezahnartigen Zickzacklinien an m, n und i. Ein Stilkriterium ist die Tendenz zur ornamentalen Stilisierung. Dieser in Böhmen entwickelte Typ war auch im österreichischen und bairischen Raum verbreitet. Burgundische Bastarda (lettre bourguignonne oder lettre bâtarde): Aus der französischen Kanzleikursive hervorgegangene elegante, dekorative, meist leicht rechtsgeneigte Schrift, die vor allem für französische Texte gebraucht wurde. Sie wird burgundisch genannt, weil sie am Hof zweier Herzöge von Burgund, Philipps des Guten (1419–1467) und Karls des Kühnen (1467–1477), besonders gepflegt und für Prachthandschriften verwendet wurde. Sie war aber auch in Frankreich beliebt; in England bürgerte sie sich in der zweiten Hälfte des 15. Jahrhunderts ein. Von anderen Kursiven unterscheidet sie sich durch die relative Kürze von Ober- und Unterlängen. Weitere Kennzeichen sind: starke Kontrastierung von Haarstrich und Schattenstrich; einzeln angesetzte Schäfte von n und m, wobei der letzte Schaft innerhalb des Wortes meist gebrochen und leicht einwärts gebogen ist; kleine Spitzen auf e, g und s. Die spindelförmig verdickten Schäfte von f und langem s laufen bis zum Haarstrich verdünnt spitz aus. Diese beiden Buchstaben sind im Kopfteil gebrochen. Charakteristisch ist auch das Schluss-s mit hohem Bogen und geschlossenem Bauch. Florentinische Bastarda: Eine Kanzleischrift (cancelleresca), die auch für Bücher verwendet wurde und als kalligraphisch gestaltete Buchschrift „florentinische Bastarda“ genannt wird. Sie gilt als eine der schönsten gotischen Kursivschriften. Ihr Formenbestand rechtfertigt ihre Einordnung unter die Bastarden, doch entwickelte sie sich unabhängig von der Gruppe der Bastarden nördlich der Alpen. Man benutzte sie gern für Texte zeitgenössischer Autoren. Zahlreiche Codices von Dantes Commedia sind in florentinischer Bastarda geschrieben. Kennzeichen sind vertikale Ober- und Unterlängen, ein spitzes v, lange Unterlänge des langen s sowie stark gerundetes a und d. Die Oberlängen von b, d, h und l bilden nach rechts ein Dreieck oder einen Bogen. Niederländisch-niederdeutsche Bastarda (Hybrida im engeren Sinn). Wegen ihrer Verwendung in Kreisen der Devotio moderna wird sie auch Devotenbastarda genannt. Sie war besonders bei den Windesheimer Chorherren und den Brüdern vom gemeinsamen Leben beliebt. Die Schreiber legten großen Wert auf Schlichtheit und Klarheit. Das Hauptmerkmal dieser leicht lesbaren Schrift ist das völlige Fehlen von Schlaufen und Schwüngen an den Oberlängen von b, d, f, h, k, l, langem s und v. Die Unterlänge des g ist meist offen, sie wird nicht zur Schlaufe geschlossen. Das runde Schluss-s wird stets geschlossen („brezelförmiges s“). Nach ihrem Formenbestand ist diese Schrift zwar eine Bastarda, doch wurde sie nicht kursiv, sondern zusammengesetzt geschrieben. Geschichtliche Entwicklung Frühe Kanzlei- und Buchbastarden Schon im späten 13. Jahrhundert bildeten Urkunden- und Geschäftsschriften die meisten typischen Merkmale der späteren Buchkursiven aus. Damals gab es auch bereits eilige, stark vereinfachte Gebrauchs-Buchschriften, die teils kursive Formen anzunehmen begannen. Es entstanden halbkursive Übergangsschriften. Damit waren die Voraussetzungen für die Herausbildung der Bastarda gegeben. Was damals und im frühen 14. Jahrhundert noch fehlte, war der Übergang zur vollen Kursive und die Verbindung des kursiven Schreibens mit dem für die Bastarda charakteristischen kalligraphischen Anspruch. Die entscheidenden Impulse zur Entstehung der Bastarda kamen dann aus den Kanzleien, wo eine flüssige und zugleich schöne, für Dokumente angemessene Schrift benötigt wurde. Obwohl der Name Bastarda ursprünglich nur zur Bezeichnung von Buchschriften diente, die Elemente der Textura und der Geschäftskursive verbinden, wird er heute auch für die Kanzleischriften verwendet, aus denen die Buchbastarden hervorgegangen sind. Der Grund dafür ist die große Ähnlichkeit dieser Kanzleischriften und der Buchbastarden; manche stimmen weitgehend oder völlig überein. Die Kanzleibastarden, die ältesten Formen dieser Schriftart, entstanden im 14. Jahrhundert. Die Entwicklung nahm ihren Anfang in Frankreich. Dort wurden die ersten Bastarden geschaffen und dann zu einer kalligraphischen Vollendung ausgebildet, die hohen ästhetischen Ansprüchen genügen konnte. Mit ihrer Eleganz erwies die neue Schriftart ihre Eignung zur Buchschrift, auch für kostbare Prachthandschriften. Als Buchschrift hatte sie gegenüber der nichtkursiven Textura den großen Vorteil, dass sie es dem Schreiber ermöglichte, mehrere Buchstaben hintereinander ohne Absetzen der Feder mit einem Zuge zu schreiben. Diese bequeme Schreibtechnik machte sie rasch beliebt, zumal sie auch hinsichtlich Schönheit und Eleganz gehobene Ansprüche befriedigen konnte. Ein weiterer Vorzug war, dass sie sich für individuelle Abwandlungen stärker eignete als ältere Buchschriften. Damit kam sie dem damals stark zunehmenden Bedürfnis nach einem persönlichen Stil entgegen. Ein Vorläufer der Kanzleibastarda war die Schrift der päpstlichen Kanzlei in Avignon. Sie wies schon vor der Mitte des 14. Jahrhunderts die meisten Formen auf, die später für die Buchbastarda charakteristisch wurden. Bereits um 1340 wurde eine mit dieser Kanzleischrift identische Schrift im südfranzösischen Raum in Buchhandschriften geschrieben. Nur wenig später traten ähnliche Phänomene im Osten auf: Um die Mitte des 14. Jahrhunderts verwendete die Reichskanzlei Karls IV. in Prag eine kalligraphische Urkundenschrift, in der Formen der späteren Buchbastarda erscheinen. Es wird vermutet, dass die Schrift der Prager Kanzlei dem Vorbild der päpstlichen Kanzleischrift folgte. Vor allem war sie vom Einfluss einer damals in Böhmen und Österreich verbreiteten Geschäftskursive geprägt. Ihre Rolle bei der Entstehung der späteren Buchbastarda ist deutlich in zwei Originalausfertigungen der Goldenen Bulle Karls IV. von 1356 in Codexform erkennbar. Diese zeigen bereits den durch starke Brechung, Kantigkeit und Zierformen charakterisierten kalligraphischen Stil, der einige Jahrzehnte später in Buchbastarden üblich wurde. Um 1380 begann man in Böhmen die Prager Kanzleischrift für Handschriften zu verwenden. Bald machte sich der Einfluss dieses böhmischen Typs der Bastarda in Österreich und im süddeutschen Raum geltend. Dort erschienen im späten 14. Jahrhundert die ersten Buchbastarden. Kaum später tauchten auch im Westen und Südwesten des deutschen Sprachraums frühe Bastarden als Buchschriften auf. Sie wurden vermutlich eher unter französischem als unter böhmischem Einfluss entwickelt. In Spanien entstand die kursive Buchschrift aus einer kalligraphischen, für besonders feierliche Dokumente verwendeten Urkundenschrift, der letra de privilegios, die schon gegen Ende des 13. Jahrhunderts kaum verändert als Buchschrift (redonda de libros) mit breiten, runden Buchstaben übernommen wurde. Ab dem Ende des 14. Jahrhunderts wurden spanische und portugiesische Codices – vor allem volkssprachliche – oft in einer Buchkursive geschrieben, die das doppelstöckige a der Textura mit Merkmalen einer Bastarda verbindet. Die schleifenlose Bastarda Eine Unterart der Bastarden stellt die „schleifenlose“ oder „schlaufenlose“ Bastarda dar. Sie weist zwar typische Buchstabenformen der Bastarden auf, ist aber durch den Verzicht auf Schwünge und Schleifen und durch eine zusammengesetzte Schreibweise gekennzeichnet. Ihr fehlt somit ein Teil der Merkmale einer Kursiven. Das Motiv für diesen Stil war ein Streben nach Leserlichkeit und Schlichtheit, eine Distanzierung vom Trivialen und Überladenen. Die Schleifenlosigkeit war im Spätmittelalter weit verbreitet. Sie hatte zwar geographische Schwerpunkte (etwa Häufigkeit in den Niederlanden, Seltenheit in England), aber eine allgemeine Zuordnung zu bestimmten Regionen oder sozialen Gruppen ist nicht möglich. In den Niederlanden sowie im Nordwesten und Westen Deutschlands erfolgte die Ausbreitung der schleifenlosen Bastarda ab den zwanziger Jahren des 15. Jahrhunderts. Sie stellte eine markante Neuerung dar. Dieser nördliche Typus der Schleifenlosigkeit ist erstmals im Jahr 1396 durch eine datierte Handschrift belegt. Er ist durch glatte Schäfte von b, d, h, l und k, wie sie in der Textualis üblich waren, gekennzeichnet. Die Neuerung setzte sich in ihrem Entstehungsraum rasch durch, verdrängte die ältere Bastarda mit Schleifen an den Schäften jedoch nicht völlig. Im süddeutschen Raum blieb sie bis zur Mitte des 15. Jahrhunderts selten. Sehr häufig sind Übergangsformen. Bei einem Teil der Paläographen hat sich für diese Ausprägung der schleifenlosen Bastarda die Bezeichnung Hybrida eingebürgert, die auf Lieftincks Nomenklaturvorschlag zurückgeht; andere verstehen unter Hybrida die Gesamtheit der schleifenlosen Typen. Die weitere Entwicklung im 15. Jahrhundert Die heute vorliegenden Kataloge datierter Handschriften lassen erkennen, dass die Bastarda in der Mehrheit der Handschriften des 15. Jahrhunderts verwendet wurde und überhaupt die häufigste aller mittelalterlichen Schriftarten ist. In Süddeutschland lässt sich im 15. Jahrhundert ein Auseinanderklaffen der kalligraphisch anspruchsvollen und der einfachen Bastarden beobachten. Die erhaltenen Handschriftenbestände bieten eine große Masse von einfachen Bastarden, die zwar individuelle Besonderheiten ihrer Schreiber zeigen, aber kaum allgemeiner klassifizierbar sind. Von ihnen unterscheiden sich die bewusst stilisierten, eingelernten, völlig gleichmäßigen Buchschriften auf hohem kalligraphischem Niveau, die von professionellen Schreibern stammen und Nähe zu gleichzeitigen Kanzleischriften aufweisen. Diese Schriften lassen kaum individuelle Schwankungen zu. Merkmale des professionellen Typus der Buchbastarda sind eine rechtsschräge Ausrichtung und tief unter die Zeile verlängerte Schäfte von f und langem s. Auch die meist rechtsschräg ausgerichteten Kanzleibastarden dieser Zeit zeigen ein sehr gleichmäßiges, überindividuelles Schriftbild und weisen ein stark verlängertes f und langes s auf. So ist erkennbar, dass die Kanzleischriften nicht nur auf die Entstehung, sondern auch auf die weitere Entwicklung der Buchschriften einen prägenden Einfluss hatten. In der Reichskanzlei bildete sich eine besondere kalligraphische Tradition heraus. Eine Zierform der dort geschriebenen Bastarda sind die ausladenden Anschwünge der Großbuchstaben, die „Elefantenrüssel“. Dabei handelt es sich um ein böhmisches Stilelement, das später von der Fraktur übernommen wurde. In Österreich war ein „Horn-Anschwung“ verbreitet. Der Buchdruck Als der Buchdruck aufkam, nahmen sich die Drucker für ihre Lettern die Schriftarten der Handschriften zum Vorbild. Daher kamen in den Inkunabeln, den Drucken des 15. Jahrhunderts, alle damals gebräuchlichen Schriften vor. So wurde auch die Bastarda in ihrem Verbreitungsgebiet vom Buchdruck übernommen. Schon Johannes Gutenberg schuf die ältesten Druckbastarden; er verwendete sie für zwei Einblattdrucke, die Mainzer Ablassbriefe von 1454 und 1455. Diese beiden frühen Bastarden blieben aber lange Zeit vereinzelt, sie fanden keine Nachfolge in den übrigen Zentren des deutschen Buchdrucks. Erst ab 1472 wurde die Anwendung der Bastarda in Deutschland häufiger. In Frankreich war es der Pariser Drucker Pasquier Bonhomme, der die Bastarda einführte. Er brachte 1475–1477 den ersten Druck eines französischen Textes heraus, die Grandes Chroniques de France, für die er eine Type der lettre bâtarde schuf. Bald folgten weitere Pariser Drucke in einer immer reicheren Vielfalt von Typen. In Lyon, dem zweitwichtigsten Zentrum des französischen Buchdrucks, wurde die Druckbastarda in den achtziger Jahren des 15. Jahrhunderts eingeführt. Allerdings hatten damals die gotischen Schriftarten europaweit den Höhepunkt ihrer Beliebtheit bereits überschritten. Sie wurden erst in Süd- und Westeuropa, später auch im Norden und Osten von der Antiqua und der humanistischen Kursive zurückgedrängt. In der französischen Inkunabelproduktion überwog im Süden die Rotunda, eine Buchschrift italienischer Herkunft, während im Norden Textura und Bastarda dominierten. Für lateinische Texte wurde die Rotunda bevorzugt, in französischen herrschten die anderen Schriften vor. In der ersten Hälfte des 16. Jahrhunderts waren die gotischen Schriften in Frankreich auf dem Rückzug; sie wurden von den Renaissancetypen verdrängt und kamen nach der Jahrhundertmitte nur noch vereinzelt vor. In England verwendete William Caxton, der erste englische Buchdrucker, nur Textura und die als „secretary type“ bezeichnete Bastarda. Bereits um 1500 überwog in den englischen Druckereien die Textura, im 16. Jahrhundert verschwand die Bastarda. In den Niederlanden war die Bastarda im Buchdruck selten. Einen Aufschwung erlebte sie hingegen in den achtziger Jahren des 15. Jahrhunderts in Deutschland. Dort entstand die erstmals 1484 in Köln, 1485 auch in Mainz und Straßburg verwendete „oberrheinische Bastarda“, die charakteristische Schlingen der Oberlängen bei b, d, h und l zeigt und die Ober- und Unterlängen wenig betont. Sie verbreitete sich rasch und war gegen Ende des 15. Jahrhunderts sehr beliebt, ebenso wie die „Schwabacher“, die Merkmale der Bastarda mit Elementen der Rotunda verbindet. Die Schwabacher, eine der am besten lesbaren gotischen Schriften, ließ viele kursive Merkmale der frühen Druckbastarden weg. Sie gewann im frühen 16. Jahrhundert für deutsche Texte stark an Boden und dominierte um 1525, doch war die oberrheinische Bastarda damals noch relativ häufig. Schließlich setzte sich die Fraktur durch, die um 1600 eine beherrschende Stellung erlangt hatte. In Böhmen folgten die Drucker dem in der dortigen Handschriftenproduktion vorherrschenden Geschmack. In der böhmischen Druckbastarda wurde „eine fast rokokohafte Verspieltheit der Buchstaben im Schriftbild“ entwickelt. Literatur Bernhard Bischoff: Paläographie des römischen Altertums und des abendländischen Mittelalters. 4. Auflage, Erich Schmidt, Berlin 2009, ISBN 978-3-503-09884-2, S. 191–193 Michelle P. Brown, Patricia Lovett: The Historical Source Book for Scribes. University of Toronto Press, Toronto 1999, ISBN 0-8020-4720-3, S. 95–102 Albert Derolez: The Palaeography of Gothic Manuscript Books. From the Twelfth to the Early Sixteenth Century. Cambridge University Press, Cambridge 2003, ISBN 0-521-80315-2, S. 163–175 Joachim Kirchner: Scriptura Gothica libraria a saeculo XII usque ad finem medii aevi LXXXVII imaginibus illustrata. Oldenbourg, München 1966 (Tafelwerk, enthält zahlreiche Abbildungen) Otto Mazal: Paläographie und Paläotypie. Zur Geschichte der Schrift im Zeitalter der Inkunabeln. Hiersemann, Stuttgart 1984, ISBN 3-7772-8420-3, S. 18–22 (Bastarda als Handschrift), S. 138–181 (Bastarda im Buchdruck) Wolfgang Oeser: Beobachtungen zur Entstehung und Verbreitung schlaufenloser Bastarden. In: Archiv für Diplomatik 38, 1992, S. 235–343 Weblinks Dianne Tillotson: Medieval writing (mehrere Beispiele) Anmerkungen Schriftart (Paläographie) Paläografie Typografie Schrift Kultur (Mittelalter)
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https://de.wikipedia.org/wiki/Mono%20Lake
Mono Lake
Der Mono Lake ist ein Natronsee; er ist also sowohl besonders alkalisch als auch besonders salzhaltig. Er liegt in Mono County im zentral-östlichen Teil von Kalifornien, in einem abflusslosen Becken am Westrand des Großen Beckens unter der Ostflanke der Sierra Nevada. Wegen der harschen Umweltbedingungen müssen Tiere und Pflanzen sowohl an den hohen pH-Wert angepasst sein als auch den Salzgehalt ertragen können. Daher hat sich ein Ökosystem aus sehr wenigen angepassten Arten bei sehr hoher Individuenzahl entwickelt, das für einige Vogelarten von besonderer Bedeutung ist. Aus dem Einzugsgebiet des Sees wird seit 1941 Trinkwasser in eine über 520 km lange Wasserleitung abgeführt, die die Stadt Los Angeles versorgt. Dadurch sank der Wasserspiegel des Sees kontinuierlich ab, der Salzgehalt stieg, Teile des Seebetts trockneten aus. Für die Zuflüsse und den See ergaben sich schwerwiegende ökologische Folgen. Zugleich wurden im See und am Ufer zahlreiche unter Wasser entstandene Kalktuff-Gebilde in bizarren Formen sichtbar, was zur Bekanntheit des Sees beitrug. Naturschützer thematisierten ab Anfang der 1980er Jahre die Absenkung des Wasserspiegels. Nach Gerichtsbeschlüssen über eine Begrenzung der Ableitung steigt er seit Mitte der 1990er Jahre langsam wieder an. Geographie Das Mono-Becken liegt am Westrand der Basin-and-Range-Region, die durch eine Krustendehnung entstand. Dabei wurden überwiegend parallele Horst-und-Graben-Strukturen gebildet oder einzelne Becken wie am Mono Lake. Die Basin and Range-Region setzt sich im Norden, Osten und Süden des Sees in Kalifornien und Nevada fort. Im Südosten liegen die White Mountains, im Westen steigt die steile Flanke der Sierra Nevada auf. Das Einzugsgebiet des Mono Lake mit rund 2020 km² erstreckt sich in der Höhe vom Hauptkamm der Sierra mit Mount Lyell (3994 m) und Mount Dana (3978 m) bis hinunter zum Wasserspiegel von derzeit 1945 m über dem Meer (Stand 2017). Benachbarte Einzugsgebiete sind im Norden der Walker River, im Süden das Owens Valley mit der Long Valley Caldera als oberem Talschluss und im Westen jenseits des Sierra-Hauptkamms und des Tioga Passes der Yosemite-Nationalpark mit dem Merced River und dem Tuolumne River. Im Südwesten entspringt der San Joaquin River. Das Becken reicht 500 bis 1350 m unter das heutige Bodenniveau, es ist mit Sedimenten verfüllt, die von Gletschern, Oberflächengewässern und Vulkanen abgelagert wurden. Das Becken entstand vor rund drei Millionen Jahren, der See gehört mit einem Alter von mindestens 760.000 Jahren zu den ältesten Seen Nordamerikas. Am Ende der letzten Eiszeit (in Nordamerika als Wisconsin glaciation bezeichnet) füllte sich das Mono-Becken vollständig mit Schmelzwasser und lief nach Osten in die benachbarten Becken über. Der dadurch entstandene, als Lake Russell bezeichnete prähistorische See hatte vor etwa 12.500 Jahren eine Fläche von knapp 900 km² und eine Tiefe von rund 100 m. Die damalige Uferlinie kann an den Hängen im Westen aus ihrer Terrassenstruktur abgelesen werden. Nach dem Ende der Eiszeit schmolzen die den See speisenden Gletscher ab; infolge des damit einhergehenden Klimawandels ließen auch die Niederschläge stark nach. Vor rund 9000 Jahren schließlich hatte der See etwa die heutige Ausdehnung, mit der er heute als Mono Lake bezeichnet wird. Das heutige Erscheinungsbild des Mono Lake ist stark von historischem Vulkanismus geprägt. Die Mono-Inyo Craters südlich des Sees sind rhyolithische Lavadome und mit einem Alter von 2000 bis 600 Jahren die jüngste Hügelkette Nordamerikas. Der Panum-Krater, der nördlichste des Kraterfelds, ist mit rund 650 Jahren der jüngste und liegt nur etwas mehr als einen Kilometer südlich des Sees. Die dunkle Negit-Insel im Norden des Sees ist vulkanischen Ursprungs und knapp 2000 Jahre alt. Die größere, zentrale Pahoa-Insel ist die jüngste Auswirkung des Vulkanismus in der Region. Selbst nicht aus vulkanischem Material, wurde sie durch darunter aufsteigendes Magma angehoben und durchbrach vor rund 250 Jahren die Wasseroberfläche. Black Point am Nordwestufer ist der Überrest eines basaltischen Schlackenkegelvulkans, der vor etwa 13.300 Jahren unter Wasser ausbrach. Da das Becken östlich der Sierra Nevada liegt, befindet es sich in ihrem Regenschatten. Während die östlichen Hochlagen des Gebirges Niederschläge von 1300 mm/a erhalten, herrscht an den Hängen und im Hügelland ein semiarides, am See selbst ein arides Klima mit 140 mm/a am Nordostufer. Der Zulauf zum See stammt von winterlichem Schneefall auf die höheren Lagen der Sierra, der nach der Schneeschmelze über den Lee Vining Creek und den Rush Creek zum See abläuft; beide Bäche werden vom Los Angeles Aqueduct angezapft. Kleinere Zuflüsse sind der Mill Creek und der Wilson Creek im Nordwesten. Weitere Zuflüsse im Süden und Norden führen nur zeitweise Wasser und spielen für den Wasserstand des Sees keine Rolle. Rush Creek und Mill Creek werden zur Gewinnung von Wasserkraft aufgestaut. Mit seiner langen geologischen Existenz einhergehend, ließen Klima und Niederschlag den Wasserspiegel des Sees immer wieder stark schwanken; in den letzten 3800 Jahren variierte er um mindestens 40 m. Der höchste Wasserstand von 1980 m über dem Meer wurde mittels Radiokohlenstoffmethode auf vor rund 3800 Jahren datiert, der niedrigste feststellbare Pegel lag vor rund 1800 Jahren bei 1940 m. Beim Beginn der historischen Aufzeichnungen 1857 lag er bei 1949 m. Danach folgte ein Anstieg auf den Höchststand in der durch direkte Messungen belegten Zeit bei 1959 m im Jahr 1919 und ein langsamer Rückgang auf 1956 m beim Beginn der Ausleitung 1941. Im Ergebnis stand der Wasserspiegel in den letzten 2000 Jahren überwiegend unterhalb der vor der Ausleitung vorgefundenen Werte, so dass die Planungen für Wasserversorgung und -nutzung berücksichtigen müssen, dass ihre Modelle auf einer Phase mit überdurchschnittlichem Niederschlag beruhen und sie mit größerer Trockenheit rechnen sollten als bisher angenommen. Da der Mono Lake keinen natürlichen Abfluss hat, verliert er nur durch Verdunstung an Wasser. Dadurch sammeln sich alle im zufließenden Wasser gelösten Mineralien im See an. In der Folge stieg der Salzgehalt, und das Seewasser wurde zunehmend alkalisch. Es enthält ungefähr 258 Millionen Tonnen gelöste Salze. Der Salzgehalt variiert mit dem schwankenden Wasservolumen. Vor 1941 betrug er 50 Gramm pro Liter (die Ozeane der Welt haben einen durchschnittlichen Wert von 31,5 Gramm pro Liter). Als der See 1982 auf seinen niedrigsten Pegel sank, hatte der Salzgehalt sich auf 99 Gramm pro Liter verdoppelt. 2002 waren es 78 Gramm Salz pro Liter. Es wird erwartet, dass sich mit steigendem Wasserstand der Salzgehalt langfristig auf einem durchschnittlichen Niveau von 69 Gramm Salz pro Liter stabilisieren wird. Der See ist durch die Vielzahl an gelösten Carbonaten mit einem pH-Wert von 9,8 stark alkalisch. Höhere Salzkonzentrationen kommen in anderen Seen in den Vereinigten Staaten und anderen Teilen der Erde vor, aber kein anderer See der Erde weist eine vergleichbare Kombination aus Salinität und Alkalinität auf. Auch andere Stoffe konzentrierten sich im See – die hohen Werte von ≈130 Mikromol Schwefel pro Liter Seewasser, 35 Mikromol Bor und insbesondere der hohe Gehalt von rund 200 bis im Einzelfall 300 Mikromol an Arsen pro Liter stellen einen weiteren Umweltfaktor des Sees dar, den nur wenige angepasste Organismen ertragen. Die charakteristischen Kalktuff-Gebilde an den Seeufern entstehen unter Wasser, die heute sichtbaren wurden erst durch die Absenkung des Wasserspiegels freigelegt. Im See treten Quellen aus, die Wasser mit gelöstem Calciumcarbonat aus den umliegenden Bergen transportieren. Durch die unterschiedlichen Säurewerte von Quellwasser und See kommt es zur Ausfällung der Carbonate als Kalktuff. Eine Besonderheit des Mono Lake ist der Sand-Tuff. Quellen mit hoher Schüttung an sandigen Uferabschnitten können Süßwasser, Sand und das Salzwasser des Sees so verwirbeln, dass Tuffausfällungen in dünnen Schichten im Sand auftreten. Wird der Sand später durch die Strömung ausgewaschen, bleiben kleine, filigrane Gebilde aus Tuff erhalten, die in einigen Fällen trocken fallen und so der schnellen Zerstörung durch die Strömung entgehen. Ein weiteres Mineral am Mono Lake ist Hazenit. Das biogene Phosphat wird in Algen des Sees gebildet, die an den Kalktuff-Säulen wachsen. Es wurde 2007 erstmals beschrieben und bisher an keinem anderen Ort gefunden. Ökologie Die hohe Salinität des Mono Lake in Verbindung mit der Alkalität eines pH-Wertes von knapp 10 schränkt das Ökosystem im und am See stark ein. Im See können nur Arten leben, deren Stoffwechsel in besonderem Maße an den osmotischen Druck und den daraus folgenden geringen Gehalt an freiem Wasser im Organismus angepasst ist. Der See unterteilt sich in zwei wesentliche Lebensräume: In den tiefen Wasserbereichen ist Phytoplankton die Grundlage der Nahrungskette. Von diesen ernähren sich Krebstiere, vorwiegend die im Mono Lake endemische Art Artemia monica und in geringerem Maße Artemia salina, Kleinkrebse mit einer Größe von wenigen Millimetern bis unter einem Zentimeter. Im offenen Wasser gibt es kein Zooplankton von nennenswerter Verbreitung, der Seegrund ist in den tiefen Wasserbereichen völlig frei von tierischem Leben. Diese Krebstiere sind die Nahrungsgrundlage für den Schwarzhalstaucher und die Kaliforniermöwe. In den Uferzonen ist die Salzfliegenart Ephydra hians maßgeblich. Auch sie ernährt sich von Phytoplankton. Anders als im Tiefwasser kommen in den Uferbereichen allerdings auch einige weitere Insektenarten vor, so zwei Bremsen der Gattung Chrysops sowie eine Stechfliegenart aus der Gnitzen-Gattung Culicoides und weitere Arten mit wesentlich geringerem Anteil. Die Insekten und ihre Larven bilden die Nahrungsgrundlage für Limikolen, die Vögel der Uferzonen. Darunter ist besonders der Wilson-Wassertreter zu nennen. Weil im Mono Lake keine Fische leben können, ist die Nahrungskette vom Phytoplankton als Primärproduzenten über Zooplankton und Insekten als Primärkonsumenten zu den Vögeln als Endkonsumenten sehr kurz. Dafür kommen die Arten in großer Individuenzahl vor. Die höchste gemessene Dichte an Artemia-Krebsen im Mono Lake betrug 31.000 Tiere/m², der Wert schwankt zeitlich und räumlich stark. Die Salzfliegen und ihre Puppen bilden im Sommer Teppiche und Matten im Uferbereich. Die Matten aus Salzfliegen-Puppen halten sich unter Wasser vorwiegend im östlichen Teil des Seeufers auf, wobei sie an Tuff-Türmen ein ideales Substrat vorfinden. Die erwachsenen Tiere leben vorwiegend auf den Uferebenen und bilden dort dichte Bestände, die dunklen Wolken gleichen. Auch einige Arten der Endkonsumenten kommen in sehr hoher Dichte vor, so dass der Mono Lake eine besondere Bedeutung für ihre Populationen hat. Schwarzhalstaucher nutzen den See als Rastplatz auf dem Vogelzug, wobei sie sich Nahrungsreserven anfressen und die Zeit zur Mauser nutzen. Spitzenzahlen von 600.000 bis 900.000 Exemplaren wurden beobachtet. Nachdem die Gesamtpopulation der Schwarzhalstaucher in Nordamerika auf etwa 2,5 Millionen geschätzt wird, ist der Mono Lake für mindestens ein Viertel bis zu etwa einem Drittel aller Individuen von großer Bedeutung. Die Artemia-Krebse und die Larven der Salzfliegen machen rund 95 % ihrer Nahrungsaufnahme während des Aufenthaltes am See aus. Wilson-Wassertreter sind in besonderem Maße auf Rastplätze mit guter Nahrungsversorgung angewiesen, weil sie von Nordamerika auf dem Vogelzug einen Non-Stop-Flug in die Winterquartiere Südamerikas antreten. Mono Lake ist der mit großem Abstand wichtigste Sammel- und Rastplatz für diese Art im westlichen Nordamerika mit rund 100.000 bis 125.000 Tieren pro Jahr, von denen etwa 70.000 als Spitzenbestand gleichzeitig anwesend sind. Auch sie nutzen den Aufenthalt am See zur Mauser. Für das eng verwandte Odinshühnchen werden über 50.000 Individuen im Jahr am Mono Lake genannt, was ein wesentlich geringerer Anteil der nordamerikanischen Gesamtpopulation ist, weshalb diese Art weniger auf den See angewiesen ist. Für eine weitere Wassertreterart, das Thorshühnchen, ist der See nicht von Bedeutung. Die Kaliforniermöwe ist die dritte Vogelart, für die der Mono Lake eine wesentliche Funktion von kontinentaler Bedeutung hat. Sie brütet mit rund 50.000 Exemplaren auf den Inseln des Sees. Bei einer Weltpopulation von 220.000 Tieren ist der Mono Lake für den Bestand der Art wichtig. Sie litt in besonderem Maße unter der Absenkung des Wasserspiegels zu den Zeiten des Tiefstandes Anfang und erneut Ende der 1980er Jahre. Damals fiel ein Teil des nördlichen Sees trocken und die Negit-Insel wurde zur Halbinsel. Über die Landbrücke konnten Kojoten die Brutgebiete erreichen und verhinderten in den betroffenen Jahren jeden Bruterfolg auf dieser Insel. Für den Amerika-Seeregenpfeifer ist der See ebenfalls von besonderer Bedeutung; er ernährt sich allerdings nur teilweise von den Larven der Salzfliegen und sucht seine Nahrung überwiegend in der Vegetation der Uferebene. Da er seine gut getarnten Nester nur auf weitgehend vegetationsfreiem Gelände anlegt, nutzt er besonders die trocken gefallenen Teile des ehemaligen Seebodens. Er profitierte daher von der Absenkung des Wasserspiegels. Die Art steht unter Artenschutz des Bundes nach dem Endangered Species Act, auf den Uferebenen des Mono Lake brüten rund 10 % des kalifornischen Bestands. Weitere Limikolen, die das Nahrungsangebot des Mono Lake in besonderem Maße nutzen, sind Amerikanische Säbelschnäbler und der Keilschwanz-Regenpfeifer. Der See hat für diese Arten aber keine herausragende Bedeutung. Die Uferbereiche sowie die Berg- und Hügelhänge im Mono-Becken reichen vom Hochgebirge über diverse Wald- und Buschökosysteme, Beifuß-Steppe und Grasland unterschiedlicher Dichte bis zu den weitgehend vegetationsfreien Salzböden des trockengefallenen Seebetts. Von besonderer Bedeutung ist nur die Salzvegetation. Auch sie ist wegen der hohen Anforderungen des Lebensraums artenarm und besteht insbesondere aus dem Kreuzblütler Cleomella parviflora, der Radmelde Bassia hyssopifolia, der Salzschwade Puccinellia airoides, dem Süßgras Distichlis spicata und mehreren Arten aus der Gattung der Simsen. Als die ersten Weißen das Gebiet erreichten, lebten in den Gewässern des Mono-Beckens keine Fische. Es wird angenommen, dass sie durch die erst relativ kurz zuvor stattgefundenen vulkanischen Aktivitäten ausgestorben waren, da verhältnismäßig junge fossile Fische im Gebiet nachgewiesen wurden. Während im See selbst keine Fische leben können, wurden in den Zuflüssen zur Förderung des Angelsports zehn Fischarten eingesetzt, darunter fünf Forellen-Arten. Über 290 Vogelarten wurden im Mono-Gebiet nachgewiesen. Säugetiere kommen mit über 70 Arten im Einzugsgebiet des Sees vor, Arten von besonderer Bedeutung aber nur in den höheren Lagen des Gebirges, so dass der Mono Lake selbst für Säugetiere keine besondere Rolle spielt. Die besonderen Umweltbedingungen am Mono Lake werden intensiv erforscht. Das bislang größte Projekt war von 2000 bis 2006 das Mono Lake Microbial Observatory der University of Georgia. Auch die NASA forscht für ihr Astrobiology laboratory am See, um herauszufinden, wie Lebensformen sich an extreme Bedingungen anpassen. Ende 2010 gab ein NASA-Team bekannt, dass aus Sedimenten des Sees ein Bakterienstamm mit der Bezeichnung GFAJ-1 isoliert wurde, der Arsenat an Stelle von Phosphat in die DNA einbauen könne. Dies würde das bisherige Verständnis der biochemischen Möglichkeiten für Lebewesen erweitern. Die Veröffentlichung wurde stark kritisiert, eine Überprüfung 2012 ergab, dass Arsen keinen Anteil an den Erbinformationen des Bakterienstammes hat und die ursprüngliche These damit zurückgewiesen werden muss. Im Sediment des Uferbereichs wurden Fadenwurm-Arten entdeckt, die in besonderer Weise an die Umweltbedingungen angepasst sind. Insbesondere fällt Auanema spec. auf, die extrem arsenresistent ist und 500-fach so hohe Konzentrationen wie Menschen überlebt. Es gibt neben zwittrigen auch männliche und weibliche Tiere. Diese Art legt keine Eier, sondern gebiert lebend. Geschichte der Landnutzung Die ursprünglichen Bewohner des Mono-Lake-Gebiets gehörten zu den Paiute-Indianern. Der regionale Stamm nannte sich selbst Kutzadika’a, was von dem Wort für die Salzfliegen in ihrer uto-aztekischen Sprache abgeleitet zu sein scheint. Sie sammelten die Fliegenlarven, trockneten sie und nutzten sie als proteinreiches Nahrungsmittel. Ihre Nachbarn, die Yokut, nannten sie Monachi, was wohl von den ersten Weißen zu Mono verkürzt wurde. Die Bedeutung des Wortes gilt als verloren. Die westlichen Mono lebten das ganze Jahr in den Tälern der Westflanke der Sierra Nevada, insbesondere im Yosemite- und im Hetch-Hetchy-Tal. Die östlichen Mono verbrachten den größten Teil des Jahres östlich der Berge rund um den Mono Lake und zogen nur im Herbst über den Kamm, um Eicheln und andere Baumfrüchte als Wintervorrat zu sammeln. Als 1852 eine Abteilung der US Army unter Lieutenant Tredwell Moore Miwok-Indianer von Westen über den Kamm der Sierra verfolgte, betraten erstmals Weiße das Mono-Gebiet. Kurz darauf erkundeten Prospektoren die Vorkommen von Rohstoffen auf der Ostseite der Sierra Nevada. Als einer der ersten Prospektoren kam Leroy Vining in das Gebiet, er fand keine lukrativen Bodenschätze und wandte sich der Forstwirtschaft zu. Die Zuflüsse des Mono Lake wurden zum Zentrum einer bescheidenen Weidewirtschaft mit Rindern und Schafen, mit der vor allem die Bergleute versorgt wurden, die zunächst nach Gold, später nach anderen Metallen gruben. Die heutige Geisterstadt Bodie im nördlichen Nachbartal des Sees war die größte Bergbaustadt der Region. Außerdem wurden die Bergwälder forstwirtschaftlich genutzt. Die Mono Mill wurde als größtes Sägewerk der Region 1881 gegründet und bestand bis 1917. Die Versorgung von Bodie mit Holz war der Hauptgrund für die Errichtung der Bodie Railway 1881, die vom Mono Lake über das Sägewerk zur Goldgräbersiedlung fuhr und ebenfalls 1917 eingestellt wurde. Mark Twain hielt sich 1861 und 62 in der Region auf und schrieb in Roughing It (dt.: Durch Dick und Dünn) fasziniert über die „Millionen an Enten und Möwen“. Im Auftrag der Bauleitung für die Eisenbahn zog 1881 der Geologe Israel Russell in die Region und blieb hier mehrere Jahre. Er erforschte die Geologie des Gebietes – sein Buch Quaternary History of Mono Valley, California (1884) gilt bis heute als Referenz. 1886 kam John Muir vom Yosemite-Tal über einen Indianerpfad an den See. Er schrieb in seinem Tagebuch (erst 1911 als My First Summer in the Sierra veröffentlicht) ausführlich über das Zusammenwirken von Gletschern und Vulkanismus, die die Landschaft des Beckens prägen. Der See selbst spielte bei ihm keine große Rolle. Die Anwohner entwickelten früh bescheidene Anfänge von Tourismus. In den 1920er Jahren wurden Badeeinrichtungen an den Stränden des Sees eröffnet, das Wasser hatte etwa den eineinhalbfachen Salzgehalt eines Ozeans, und vor der Wasserableitung gab es am Nordufer ausgedehnte Sandstrände. Ab 1928 und bis zum Zweiten Weltkrieg fanden jährlich Strandfeste mit Motorbootrennen und Schönheitswettbewerben in Badekostümen statt. In den 1960er Jahren, bei bereits stark sinkendem Wasserspiegel, stand am nordwestlichen Ufer eine Marina, von der aus Bootsfahrten und Wasserskifahren angeboten wurden. Doch schon vor Ende des Jahrzehnts musste der Betrieb eingestellt werden, weil das Wasser vom Bootshaus nicht mehr erreichbar war und weite Uferbereiche sich in Schlammzonen verwandelten. Heute liegt die kleine, nach dem Pionier Leroy Vining benannte Siedlung Lee Vining am westlichen Ufer des Sees, an den Hängen der Sierra die etwas größere Ortschaft June Lake. Noch immer findet ein bescheidener Abbau von Bimsstein an den Mono-Kratern statt. Ansonsten lebt die Region vom Tourismus. Im Sommer ist sie attraktiv für Wanderer und Angler und der See ist ein bedeutender Stopp für Touristen, die über den Tioga Pass in den Yosemite-Nationalpark fahren oder von dort kommen. Im Winter zieht das Skigebiet June Lake Ski Area am Oberlauf des Rush Creek die meisten Besucher an. Wasserableitung Die in den Wüsten Südkaliforniens liegende Siedlung Los Angeles hätte nicht zur Groß- und Millionenstadt anwachsen können, wenn sie sich nicht zu Beginn des 20. Jahrhunderts dauerhafte Trinkwasserquellen erschlossen hätte. William Mulholland plante als Leiter des Los Angeles Department of Water and Power die Niederschläge auf der Ostflanke der Sierra Nevada zu nutzen. 1913 wurde der erste Los Angeles Aqueduct eröffnet, der vom Owens River im südlich an das Mono-Becken anschließenden Owens Valley Wasser ableitete. Von 1934 bis 1940 verlängerte Los Angeles das Aquäduktsystem bis in das Mono-Becken und zapfte ab 1941 Oberflächenwasser ab. Dazu wurde der Lee Vining Creek durch eine Pipeline an den Hängen der Sierra mit dem Grant Lake Reservoir am aufgestauten Rush Creek verbunden und ein Tunnel mit einer Druckröhre nach Südosten unter den Mono-Kratern in die Long Valley Caldera gebohrt. Dort wird das Wasser zunächst in einem Wasserkraftwerk zur Energiegewinnung genutzt; es fließt anschließend im Bett des Owens River nach Süden, bis es zwischen Big Pine und Lone Pine in den Aquädukt ausgeleitet wird. Die Erlaubnis sah vor, dass Los Angeles aus dem Mono-Becken und dem Owens Valley bis zu 200 Kubikfuß pro Sekunde (≈5,66 m³/s) ableiten darf, ohne Restwassermengen festzulegen, die in den Bächen verbleiben und dem See zufließen müssen. 1970 wurde die Kapazität der Leitung erweitert, als der zweite Los Angeles Aqueduct im Owens Valley eröffnet wurde, erst jetzt konnte Los Angeles die genehmigten Wassermengen tatsächlich ableiten und nutzen. Folgen für die Ökosysteme Schon bald überstieg die natürliche Verdunstung den reduzierten Wasserzufluss in den Mono Lake, so dass der Pegel des Sees dramatisch sank. 1941, vor der Ableitung der Zuflüsse, lag der Wasserspiegel des Sees auf 1956 m über dem Meer. Der niedrigste Wert wurde 1982 mit 1933 m über dem Meer erreicht. Die Bachläufe zum See fielen weitgehend trocken oder führten nur noch in der nassen Jahreszeit Wasser. Süßwassersümpfe auf dem Westufer, in denen bis 1940 zehntausende Entenvögel lebten, trockneten aus. Die Enten verschwanden aus dem Mono Basin. Am Ufer fiel Seeboden trocken, der mit alkalischem Sand bedeckt war. Einmal getrocknet, wurde dieser bei Stürmen aufgewirbelt und erzeugte ätzende Sandstürme, die die Grenzwerte für Partikel in der Luft weit überschritten und gesundheitsgefährdend waren. Andererseits wurden die meisten der heute sichtbaren bizarren Kalktufftürme trockengelegt und zugänglich, was wiederum erheblich zum Bekanntheitsgrad des Sees beigetragen hat. 1974 kartierte David Gaines, damals Doktorand der University of California, Davis, am See. Er verfasste einen Text über die Krise des bedrohten Ökosystems. 1976 war er an einer studentischen Forschungsgruppe an der Stanford University beteiligt, die die erste umfassende Studie des Mono-Lake-Ökosystems verfasste. Gaines gründete 1978 das Mono Lake Committee als Organisation innerhalb der Audubon Society und spielte eine ausschlaggebende Rolle in der Kampagne, die kalifornische Öffentlichkeit und Politiker über die Wirkungen des gesunkenen Pegels zu informieren. Zudem reichte die Naturschutzorganisation zusammen mit Fischereiverbänden und weiteren Interessengruppen Klagen gegen die Genehmigungen zur Wasserausleitung ein. Als durch den sinkenden Wasserspiegel die Negit-Insel zur Halbinsel wurde, so dass Kojoten die Nester der Kaliforniermöwen plündern konnten, experimentierte der Forest Service mit Sprengungen, um einen Wassergraben zu erhalten. Nach dem niedrigsten Wasserstand von 1982 ließen überdurchschnittliche Regenfälle den See bis 1986 wieder etwas wachsen. Anschließend setzte eine mehrjährige Trockenheit ein. Als die Negit-Insel im Norden des Sees 1989 erneut zur Halbinsel wurde, bauten Naturschützer Elektrozäune, um die Brutplätze zu schützen. Zudem verstärkten sie Lobbykampagnen, mit denen Politiker des Staates Kalifornien, der Bundesebene und im Laufe der Zeit auch zunehmend Vertreter der Stadt Los Angeles für den Schutz des Mono Lake gewonnen wurden. Kampf vor Politik und Gerichten Demgegenüber standen die Interessen der Stadt Los Angeles. Sie nutzt einerseits das Trinkwasser von der Ostflanke der Sierra Nevada direkt, andererseits erzeugt es auf dem Weg und im Aquädukt Energie aus Wasserkraft, die ebenfalls Los Angeles zur Verfügung steht. Das Department of Water and Power stellte sich auf den Standpunkt, dass ihre Genehmigungen zur Wassernutzung unanfechtbar seien und ging zunächst auch auf großzügige Angebote kalifornischer Politiker zur Gewinnung von Wasser aus anderen Gebieten oder zur Nutzung von Einsparpotentialen nicht ein. Als die Prozesse ergaben, dass die Ausleitungsgenehmigungen erfolgreich angefochten werden konnten und die öffentliche Meinung sich stark für den Schutz des Mono-Gebiets einsetzte, änderte sich die Position des Departments langsam. Ab Ende der 1980er Jahre und verstärkt in den ersten Jahren nach 1990 wirkte die Stadtverwaltung an Projekten mit, durch die Kläranlagen in ganz Südkalifornien ausgebaut wurden. Geklärtes Wasser konnte so für Zwecke eingesetzt werden, die bisher Trinkwasser erforderten, welches dadurch für höherwertige Nutzungen frei wurde. Effektivere Bewässerungsmethoden in der Landwirtschaft sparten erhebliche Wassermengen ein, die den Siedlungsgebieten zur Verfügung gestellt werden konnten. Durch Kampagnen für Wassereinsparung, die gezielt auf den Schutz von Naturräumen wie dem Mono Lake und der Santa Monica Bay abstellten, wurde der Wasserverbrauch von Haushalten in Los Angeles im selben Zeitraum dauerhaft um über 15 % gesenkt. Die Wasserableitung wirkte sich nicht nur am Mono Lake aus. Der aus dem Owens River gespeiste, rund 190 km südlich des Mono Lake gelegene Owens Lake, in dem früher ein ähnliches Ökosystem existierte, trocknete vollständig aus. Der Mono Lake entkam dem Schicksal des Owens Lake, weil 1983 eine Klage des Mono Lake Committee und verbündeter Organisationen vor dem Supreme Court of California ergab, dass die Wasserkontrollbehörde die öffentlichen Belange bei der Abwägung über die Wasserableitung nicht ausreichend beachtet hatte. Ein untergeordnetes Gericht bestimmte daraufhin einen vorläufigen Mindestpegel von 1944 m über dem Meer und schränkte die Ableitung ein, bis dieser erreicht wäre. Der Kongress der Vereinigten Staaten gab 1984 eine Studie in Auftrag, die den Mono Lake und das Becken auf Auswirkungen verschiedener Wasserstände untersuchen sollte. Eine dafür eingesetzte Arbeitsgruppe des National Research Council legte 1987 die umfassende Studie zur Ökologie des Gebietes und den Folgen der Wasserpegelabsenkung vor. Weitere Studien wurden vom Bundesstaat Kalifornien und der Fachbehörde für Wassernutzung in Auftrag gegeben. Anordnung von Schutzmaßnahmen Aufgrund der Studie von 1987, weiterer Studien sowie einer Umweltverträglichkeitsprüfung und nach einer Reihe langwieriger Prozesse erließ die kalifornische Behörde für Wasserressourcen California State Water Resources Control Board im September 1994 eine Entscheidung zum Schutz des Mono Lake und seiner Zuflüsse, durch die die Wasserableitung begrenzt wurde. Die Behörde legte für Rush Creek und Lee Vining Creek, die Zuflüsse des Sees, Restwassermengen fest, die unterhalb der Wehre zur Wasserableitung ein Ökosystem mit stabilem Fischbestand ermöglichen. Dabei sollen langfristig wieder Teile der für Entenvögel wichtigen Süßwassersumpfzonen entstehen. Für den Mono Lake selbst gab sie einen Wasserstand von 1948 Metern als Ziel vor. Der Wert wurde ermittelt, indem die in den Studien ermittelten Einflüsse verschiedener Wasserstände auf die einzelnen Ökofaktoren und die in besonderem Maße auf den See angewiesenen Arten abgewogen wurden. Seitdem ist der Pegel langsam gestiegen; die Negit Insel ist wieder vor Landraubtieren sicher. Vom 1994 als Ziel definierten Pegelstand von 1948 Metern war der Wasserstand Ende 2017 noch rund drei Höhenmeter entfernt. Ursprünglich war vorgesehen, dass die Behörde für Wasserressourcen nach 20 Jahren, also im September 2014, prüft, ob das Ziel erreicht wurde und gegebenenfalls weitere Beschränkungen bei der Wasserableitung anordnet. Dazu kam es nicht, weil im August 2013 eine Vereinbarung zwischen den ursprünglichen Klägern, der Stadt Los Angeles und der kalifornischen Naturschutzbehörden geschlossen wurde. Sie sieht vor, dass die Stadtverwaltung auf eigene Kosten den Stausee Grant Lake im Einzugsgebiet des Mono Lake so umbauen muss, dass damit ein natürlicher Wasserabfluss in den Rush Creek simuliert werden kann. Dadurch werden die Ökosysteme des Bachlaufs und der Mündung in den Mono Lake renaturiert. Im Gegenzug erhält die Stadt Los Angeles das Recht, einmalig zusätzliche Wassermengen abzuleiten. Die Datenerhebung am See und in seinem Einzugsgebiet geht weiter, die kalifornische Wasserbehörde wird bis 2020 die Einhaltung überprüfen und gegebenenfalls weitere Maßnahmen anordnen. Weitere Folgen Als durch die Einschränkung der Wasserableitung erstmals Ende 1994 große Mengen Süßwasser dem See zuflossen, in dem eine hohe Salzkonzentration herrschte, legte sich das leichte Süßwasser über das schwere Salzwasser. Daher fanden 1995 die ansonsten durch jahreszeitliche Temperaturschwankungen im Frühjahr und Herbst ausgelösten, vollständigen Wasserzirkulationen im See nicht statt. Dieser Zustand wird meromiktisch genannt und hat Folgen für die Verteilung von Sauerstoff und Nährstoffen, insbesondere Stickstoff im See. Ohne Durchmischung von Oberflächen- mit Tiefenwasser gelangt kein Sauerstoff in die Tiefe, andererseits werden Nährstoffe, die in Form von Stoffwechselprodukten oder toten Lebewesen absinken, nicht mehr in die biologisch aktiveren Schichten nahe der Oberfläche transportiert. Eine meromiktische Periode war schon während der Ausleitung zwischen 1982/83 und Ende 1988 durch besonders hohe Niederschläge aufgetreten, für die Jahre 1938 und 1969 besteht wegen bekannt hoher Niederschläge der Verdacht, dass eine meromiktische Phase vorlag, die aber wegen der damals geringeren Salinität jeweils nur ein Jahr dauern konnte. Der Beginn der meromiktischen Phase 1995 infolge der Renaturierung löste wissenschaftliche Untersuchungen aus. Aufgrund der damaligen Modelle wurde angenommen, dass diese Phase 44 bis 63 Jahre dauern und erhebliche negative Auswirkungen auf das Ökosystem des Sees haben würde. Daher schlug eine vom Los Angeles Department of Water and Power finanzierte Arbeitsgruppe vor, die volle Wasserableitung wieder aufzunehmen, um die Schichtung auf diese Weise aufzubrechen. Tatsächlich folgte die längste bekannte meromiktische Periode des Mono Lake, jedoch war die Dauer erheblich geringer als vorhergesagt. Ende 2003 erfolgte eine vollständige Durchmischung und die Wiederaufnahme des Nährstofftransports zwischen den Wasserschichten. Eine weitere, kurze Phase dauerte von 2005/2006 bis 2007. In allen Fällen zeigten sich keine dauerhaften Folgen. Die Population der Salzkrebse ging während der meromiktischen Zustände zurück, worunter auch der Bruterfolg der Kaliforniermöwe litt, jedoch nicht in schwerwiegendem Ausmaß. Außer der Beschränkung der Wasserableitung werden die Bachbetten der Zuflüsse auch direkt renaturiert. Am Mill Creek fand in den Jahren 2012 und 2013 ein Umbau des Wasserlaufs unterhalb des Kraftwerks statt, damit auch hier die rechtlich zugesicherte Wassermenge tatsächlich in den Bach abfließen kann. Schutzgebiete am See Seit 1982 ist der Teil des ehemaligen Seebetts, der seit dem Beginn der Wasserausleitung im Jahr 1941 trocken gefallen ist, unter dem Namen Mono Lake Tufa State Reserve als Schutzgebiet des Staates Kalifornien ausgewiesen. Aufgrund der Haushaltsnotlage des Staates Kalifornien war 2012 die Schließung der State Reserve geplant. Nur weil die Bodie Foundation, eine gemeinnützige Organisation, einige Verwaltungsfunktionen übernahm, bleibt das Schutzgebiet weiterhin zugänglich. Das Umfeld des Sees ist mit Ausnahme des Siedlungsbereichs von Lee Vining nahezu vollständig im Besitz der Bundesregierung und untersteht großteils dem Inyo National Forest innerhalb des United States Forest Service. Seit 1984 sind der Talgrund, die unteren Hänge und große Teile des Mono-Kraterfelds als Mono Basin National Forest Scenic Area ausgewiesen. Diese Form eines Schutzgebietes unter der Verwaltung des Forest Service ist einmalig. Bei Lee Vining informiert ein kleines Besucherzentrum in den Sommermonaten über die Problematik der Wasserableitung und die ökologische Bedeutung des Sees. In den Hochlagen der Sierra Nevada liegen auf der Ostflanke und damit zumindest teilweise innerhalb des Mono Lake Basin zwei Wilderness Areas, die strengste Klasse von Naturschutzgebieten in den USA. Die Ansel Adams Wilderness und die Hoover Wilderness wurden 1964 eingerichtet, haben zusammen 1440 km² und stehen unter der Verwaltung des US Forest Service. Östlich des Sees wurde 2009 im Hügelland mit der Granite Mountain Wilderness eine weitere Wilderness Area eingerichtet. Sie hat 139 km² und wird durch das Bureau of Land Management verwaltet. 20 Kilometer nördlich des Mono Lake liegt der Bodie State Historic Park, der über eine Schotterstraße zu erreichen ist. Der State Park dient der Erhaltung der alten Goldgräberstadt Bodie, einer der besterhaltenen Geisterstädte der USA. Mono Lake in den Medien Clint Eastwood ließ für den Film Ein Fremder ohne Namen (1973) ein Dorf am südlichen Seeufer errichten. International bekannt wurde die bizarre Landschaft des Sees ab 1975, als ein Foto von Storm Thorgerson das Innencover und eine beiliegende Postkarte des Pink-Floyd-Albums Wish You Were Here zierte. Es zeigt den Mono Lake mit Tufftürmen und einen scheinbar ohne Spritzer ins Wasser eintauchenden Schwimmer. Es entstand im flachen Wasser, der Schwimmer war in Yoga geübt und konnte unter Wasser einen Handstand halten, bis die Wellen ausgelaufen waren. 1979 stellten Naturschützer eine Ausstellung von Fotos des Sees zusammen und erkannten, dass seit 1868 nahezu alle prominenten Landschaftsfotografen Amerikas den See und seine Tuff-Gebilde fotografiert hatten. Die Ausstellung zeigte unter anderem Werke von Ansel Adams, Timothy H. O’Sullivan, Philip Hyde und Brett Weston und reiste durch den Westen der Vereinigten Staaten. Sie ist heute im Besucherzentrum von Lee Vining zu sehen. Seitdem erschien eine Vielzahl an Bildbänden und Fotokalender, die den See und seine ungewöhnlichen Landschaften darstellen. Literatur Mono Basin Ecosystem Study Committee: The Mono Basin ecosystem – effects of changing lake level. National Academy Press, 1987, ISBN 0-309-03777-8. John Hart: Storm over Mono: The Mono Lake Battle and the California Water Future. University of California Press, Berkeley 1996, ISBN 0-520-20121-3 (auch online in der University of California Press E-Books Collection). Don Banta, David Carle: Mono Lake Basin. Arcadia Publishing, 2008, ISBN 978-0-7385-5909-4 (historische Fotos vom See und seinem Umfeld). Scott Stine: Late Holocene fluctuations of Mono Lake, eastern California. In: Palaeogeography, Palaeoclimatology, Palaeoecology, 1990, Volume 78, S. 333–381. Robert Jellison, Jose Romero, John M. Melack: The Onset of Meromixis During Restoration of Mono Lake, California: Unintended Consequences of Reducing Water Diversions. In: Limnology and Oceanography, Juni 1998, Volume 43, No. 4, S. 706–711. Weblinks Mono Lake Tufa State Reserve. California State Parks (englisch). Mono Basin National Forest Scenic Area. Inyo National Forest. Mono Lake Committee. Website (englisch) Mono Lake Microbial Observatory. University of Georgia (Forschungsprojekt von 2000–2006) Einzelnachweise See in Kalifornien See in Nordamerika Becken in Nordamerika Becken in den Vereinigten Staaten Großes Becken Salzsee Sierra Nevada (Vereinigte Staaten) Mono County Typlokalität
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https://de.wikipedia.org/wiki/Felice%20Beato
Felice Beato
Felice Beato (* 1832 in Venedig; † 29. Januar 1909 in Florenz) war ein italienischer Fotograf, der militärische Auseinandersetzungen und das Leben in Ostasien dokumentierte. Bekannt ist er für seine Porträts sowie seine Landschafts- und Architekturaufnahmen in Asien und im Mittelmeerraum. Wegen seines umfangreichen Œuvres zählt man ihn heute zu den frühen Fotojournalisten. Mehr als jeder andere Fotograf des 19. Jahrhunderts konzentrierte sich Felice Beato auf die fotografische Dokumentation kriegerischer Auseinandersetzungen und Konflikte. Unter anderem dokumentierte er gemeinsam mit James Robertson die Ereignisse in Russland gegen Ende des Krimkrieges und in Indien nach dem Sepoy-Aufstand, und zusammen mit Charles Wirgman berichtete er aus China über die Besetzung Pekings im Jahr 1860 durch britische und französische Truppen. Beatos Fotografien machten Europäer und Nordamerikaner mit dem Leben und den Geschehnissen in Asien bekannt. Von ihm stammen beispielsweise die ersten belegten Aufnahmen aus Korea. Seine Fotos sind häufig die einzigen Bilddokumente für Ereignisse in Asien in der zweiten Hälfte des 19. Jahrhunderts. Beatos Arbeiten haben die Entwicklung der Fotografie stark geprägt. Besonders sein Einfluss in Japan, wo er mehr als zwanzig Jahre lebte und zahlreiche Fotografen ausbildete, war lang und weitreichend. Leben Herkunft Herkunft und Geburtsjahr von Felice Beato waren jahrzehntelang umstritten, da aus seinem frühen Leben nur wenige Dokumente vorliegen. So wurde u. a. diskutiert, dass er 1833, 1834 oder 1835 auf venezianischem Territorium oder auf Korfu geboren worden sei. (Das ebenfalls oft angegebene Geburtsjahr 1824 trifft wahrscheinlich auf seinen Bruder Antonio zu.) Felice Beatos erst 2009 wiederentdeckte Sterbeurkunde belegt demgegenüber, dass er im Jahr 1832 in Venedig geboren wurde. Über Beatos Eltern ist kaum etwas bekannt. Er hatte drei Geschwister, darunter seinen Bruder Antonio und seine Schwester Leonilda Maria Martina. Die Familie zog in Beatos frühester Jugend von Venedig nach Korfu, das zu dieser Zeit als Teil der Republik der Ionischen Inseln unter britischem Protektorat stand. Ab 1844 lebten die Beatos dann in Konstantinopel (heute Istanbul). Ab den frühen 1860er-Jahren besaß Felice Beato einen britischen Pass. Sein älterer Bruder Antonio Beato (ca. 1825–1905) etablierte sich ab 1859 als Fotograf in Kairo. Die frühen Jahre Über Felice Beatos anfängliche Entwicklung als Fotograf ist wenig bekannt. Vermutlich begleitete er zuerst im Jahr 1850 den britischen Fotografen James Robertson nach Malta. Robertson hatte ab 1843 als Graveur für die osmanische Münze gearbeitet und war dann zu einem der führenden Fotografen in Konstantinopel aufgestiegen. Die beiden kehrten 1851 nach Konstantinopel zurück, im selben Jahr, in dem Beato eine fotografische Ausrüstung in Paris kaufte. 1853 oder 1854 begannen Felice Beato und Robertson unter dem Namen Robertson & Beato als Fotografen zusammenzuarbeiten. 1854 oder 1856 unternahmen die beiden weitere Reisen nach Malta, um dort Aufnahmen zu machen. Dabei schloss sich auch Felice Beatos Bruder Antonio an. Eine Reihe von Fotografien aus dieser Zeit tragen die Signatur Robertson, Beato and Co., es wird daher angenommen, dass sich das and Co. auf Antonio Beato bezieht. Die Bindung zwischen Robertson und den Beato-Brüdern ging über eine rein geschäftliche Beziehung hinaus: Robertson heiratete 1855 deren Schwester Leonilda. Krimkrieg 1855 reisten Felice Beato und James Robertson gemeinsam nach Balaklawa auf der Krim, wo sie, wie zuvor Roger Fenton, die Schlachtfelder des Krimkrieges fotografierten. Unter anderem hielten sie den Fall von Sewastopol im September 1855 fest. Ihre Aufnahmen unterscheiden sich nicht wesentlich von denen Roger Fentons: Ähnlich wie er konnten auch Robertson und Beato wegen der Sperrigkeit der Apparate und der langen Belichtungszeiten nur gestellte Aufnahmen mit Statisten fotografieren. Anders als Roger Fenton, der ein geschöntes Bild der kriegerischen Auseinandersetzungen im Krimkrieg festgehalten hatte, war Felice Beato jedoch bereit, auch die Grausamkeit der Auseinandersetzungen zu zeigen. Insgesamt sind sechzig Platten erhalten geblieben, die das Chaos nach dem Abzug der Russen, die einschlagsicheren Unterstände der russischen Generäle, die französischen Schützengräben zwischen den Forts zwischen Mamelon und Malakoff und vor allem die Ruinen von Sewastopol zeigen. Indien 1857 bereisten Robertson und Beato Griechenland und besuchten auch Jerusalem, um die Handlungsorte der Bibel fotografisch festzuhalten. Im Anschluss daran reisten sie, vermutlich angeregt von den Berichten über den Sepoy-Aufstand, nach Indien. Als sie ankamen, war die Rebellion schon weitgehend niedergeschlagen, aber beide Fotografen hielten die Folgen der militärischen Auseinandersetzung fest. Zu den bekanntesten Aufnahmen gehört das gesprengte Kaschmir-Tor in Delhi und die Fotos der Verteidigungsanlage Sikandar Bag nach der erfolgreichen zweiten Belagerung durch britische Truppen. Sikandar Bag, das damals militärisch wichtige östliche Stadttor von Lakhnau, war im November 1857 Ort intensiver Kampfhandlungen zwischen britischen Truppen und indischen Aufständischen gewesen. Anschließend waren die britischen Gefallenen in tiefen Gräben beerdigt worden, während man die Leichen der Inder liegen ließ. Später wurde die Stadt evakuiert und im März 1858 erneut von den Briten eingenommen. Kurz darauf machte Beato eine Aufnahme, auf der im Vordergrund skelettierte Überreste indischer Widerstandskämpfer zu sehen sind. Sie gehört zu den frühesten Fotografien überhaupt, die menschliche Überreste zeigen. Diese sollen aber angeblich von Beato selber herbeigeschafft und arrangiert worden sein. Während Robertson sich in Indien auf Porträtaufnahmen konzentrierte und vor allem Angehörige der britischen Armee festhielt, bereiste Beato den Punjab und den Norden Indiens. Zu den Städten, die er besuchte, gehören Delhi, Kanpur, Merath, Varanasi, Amritsar, Agra, Shimla und Lahore. Von Juli 1858 bis Dezember 1859 schloss sich ihm sein Bruder Antonio an, verließ Indien dann aber offenbar aus gesundheitlichen Gründen wieder. Die Aufnahmen von Robertson und Beato wurden über das Unternehmen Charles Shepherd vertrieben, den ältesten Fotohandel in Indien. 1859 eröffnete Beato ein Fotostudio in Kolkata, das er jedoch nur für ein knappes Jahr betrieb. China 1860 beendete Felice Beato die Partnerschaft mit Robertson, dieser verwendete die gemeinsame Marke Robertson & Beato allerdings noch bis 1867. Beato schloss sich dagegen einer britisch-französischen Militärexpedition an, die im Rahmen des Zweiten Opiumkriegs China zum Ziel hatte. Er erreichte Hongkong im März 1860 und begann sofort, die Stadt und deren Umgebung bis Kanton zu fotografieren. Beatos Aufnahmen zählen zu den frühesten Aufnahmen, die chinesisches Leben fotografisch dokumentieren. Während seiner Arbeit in Hongkong lernte er Charles Wirgman kennen, der als Künstler und Korrespondent für die Illustrated London News arbeitete. Beide begleiteten die britischen und französischen Truppen, die am 1. August 1860 in der Nähe von Pei Tang landeten und am 21. August erfolgreich die Festungen von Taku einnahmen. Am 26. September erreichten diese Truppen Peking und nahmen die Stadt am 6. Oktober ein. In den Wochen danach verwüsteten sie den Sommerpalast und den Alten Sommerpalast. Wirgman und Beato dokumentierten beide mit ihrer jeweiligen Technik diese militärische Strafexpedition, wobei sich Wirgmans Illustrationen häufig an Fotografien von Beato orientierten. Die Einnahme der Festungen von Taku Beatos Fotografien des Zweiten Opiumkrieges gelten als die ersten, die eine Militärkampagne mithilfe einer Sequenz von datierten, thematisch zusammengehörenden Aufnahmen dokumentieren, und stellen damit den ersten Vorläufer heutiger Kriegsreportagen dar. Die Fotografien von den Taku-Forts und ihrer Einnahme durch britische und französische Truppen zeigen den gleichen Ansatz, wenn auch in kleinerem Maßstab. Sie erzählen die Schlacht dadurch nach, dass die Fotografien die Annäherung an die Festungen, die Auswirkungen der Bombardements auf die Festungsanlagen und schließlich die Zerstörungen innerhalb der Festungen zeigen. Erneut zeigen die Fotos gefallene Soldaten, in diesem Fall chinesische. Alle Fotos wurden allerdings erst nach der Schlacht aufgenommen, zuerst die Fotografien, die tote chinesische Soldaten zeigten, da die Toten anschließend beerdigt wurden. Erst dann hielt Beato die Umgebung der Festung fotografisch fest. In den Verkaufsalben, die später in London angeboten wurden, wurden die Bilder dann in einer Reihenfolge präsentiert, die dem Schlachtverlauf entsprach. Beato fotografierte niemals gefallene britische und französische Soldaten. Die Art und Weise, wie die chinesischen Toten dargestellt und wie diese Bilder entstanden sind, zeigt jedoch auch den ideologischen Aspekt und die Parteilichkeit seines Fotojournalismus'. Dr. David Rennie, ein Mitglied der Strafexpedition, hielt in seinen Notizen fest: „Ich sah mich in den Verteidigungsanlagen auf der Westseite um, die mit Toten übersät waren – in der Nordwestecke lagen bei einer Kanone dreizehn Tote. Signor Beato war sehr aufgeregt. Er bezeichnete die Gruppe als 'wunderschön' und bat darum, sie nicht zu verändern, er wolle erst noch einige Aufnahmen machen, was auch sogleich geschah.“ (zitiert nach Gernsheim, 1983, S. 325) Das Ergebnis dieser fotografischen Arbeiten war eine Wiedergabe militärischen Triumphes und der Stärke des Britischen Empires, wie von den Käufern seiner Bilder gewünscht. Vor Ort erwarben britische Soldaten, Kolonialbeamte, Kaufleute der Ostindischen Kompanie und Touristen seine Bilder. In Großbritannien dienten seine Aufnahmen der Rechtfertigung der Opiumkriege und anderer Kolonialkriege und trugen nicht unwesentlich zu dem Bild bei, das sich die britische und europäische Öffentlichkeit von den Kulturen Ostasiens machte. Der Sommerpalast Während seiner Zeit in Peking fotografierte Beato zwischen dem 6. und dem 18. Oktober 1860 auch die Sommerpaläste des chinesischen Kaiserhauses. Einige dieser Aufnahmen sind einzigartige Dokumente dieser Anlage, die zu den Höhepunkten der chinesischen Gartenkunst gehörte. Am 18. und 19. Oktober wurden die Anlagen von den britischen und französischen Truppen in Brand gesetzt und weitgehend zerstört. Aus französischer und britischer Sicht waren es Vergeltungsmaßnahmen für Übergriffe auf Briten und Franzosen, aus Sicht der Chinesen sollten dagegen die umfangreichen Plünderungen der Soldaten in den Palastanlagen verschleiert werden. Zu den letzten Aufnahmen, die Beato in China machte, zählen auch die Porträts von Lord Elgin, der in Peking die Erweiterung des Vertrages von Tianjin, die sogenannte Pekinger Konvention, unterzeichnete. Auch Prinz Kung, der als Vertreter des Kaisers Xianfeng die Gegenunterschrift leistete, wurde von Beato abgebildet. Großbritannien Im November 1861 reiste Beato nach Großbritannien. Während des Winters verkaufte er 178 seiner indischen und 123 seiner chinesischen Aufnahmen an Henry Hering, einen Londoner Fotografen, der vor allem als Porträtfotograf tätig war. Hering vervielfältigte die Bilder und verkaufte sie weiter. Während einzelne Aufnahmen für sieben Schilling angeboten wurden, kostete die komplette indische Serie 54 Britische Pfund und acht Schilling, während man die komplette chinesische Serie für 37 Britische Pfund und acht Schilling erwerben konnte. Das durchschnittliche Jahreseinkommen lag 1867 bei 32 Britischen Pfund, was den Wert erkennen lässt, den man Beatos Aufnahmen beimaß. Japan Im Juli 1863 kam Beato per Schiff in der japanischen Stadt Yokohama an, wo Charles Wirgman seit 1861 arbeitete. Die beiden gründeten die Partnerschaft Beato & Wirgman, Artists & Photographers, die erstmals in einem Einwohnerverzeichnis von 1864 erwähnt wurde und für die bis 1867 als Unternehmenssitz das Haus Nr. 24 im Ausländerviertel von Yokohama angegeben war. Wie zuvor bereits in China fertigte Wirgman erneut Illustrationen nach Fotografien von Beato, während Beato gelegentlich Wirgmans Zeichnungen und andere Arbeiten abfotografierte. Während seiner Zeit in Japan schuf Beato ein umfangreiches Gesamtwerk. Zu seinen Arbeiten gehören Porträts, Genreszenen, Landschaften und Stadtbilder. Eine Serie von Landschaftsaufnahmen, die das Leben und die Umgebung entlang der Tōkai-Handelsstraße festhielt, erinnert stark an die Arbeiten der beiden japanischen Holzschnitt-Meister Utagawa Hiroshige und Katsushika Hokusai. Die Aufnahmen entstanden unter schwierigen Rahmenbedingungen, denn der Besuch Japans und die Reisemöglichkeiten waren für Europäer zu jener Zeit durch das Bakufu stark eingeschränkt. Beatos Fotografien sind daher nicht nur wegen ihrer Qualität bemerkenswert, sondern auch, weil sie für Nichtjapaner bis dahin unbekannte Landesteile zeigten und zu den wenigen fotografischen Bilddokumenten aus dem Japan der Edo-Zeit gehören. Im September 1864 war Beato der offizielle Fotograf einer britischen Militärexpedition nach Shimonoseki. Im darauffolgenden Jahr produzierte er eine Reihe datierter Ansichten von Nagasaki und dessen Umgebung. Im Oktober 1866 zerstörte ein Feuer den größten Teil von Yokohama, auch Beato und Wirgman verloren ihr Atelier mit den dort aufbewahrten Negativen. Während der nächsten zwei Jahre arbeitete Beato sehr zielstrebig daran, seinen verloren gegangenen Bildbestand wieder zu ergänzen. Das Resultat waren zwei fotografische Alben: Views of Japan enthielt 98 Landschafts- und Stadtaufnahmen, und Native Types enthielt 100 Porträts und Genreszenen im Format von 23 × 29,5 Zentimetern. Viele dieser Fotografien waren von Hand koloriert. Beato machte sich dabei die handwerkliche Tradition der japanischen Aquarellmalerei und des japanischen Farbholzschnittes zunutze. Von 1866 an wurde Beato häufig in dem von Charles Wirgman seit 1862 herausgegebenen japanischen Punch-Magazin als „Graf Kollodium“ karikiert, was sowohl auf seinen großen Bekanntheitsgrad unter den in Japan lebenden westlichen Personen als auch auf mögliche Spannungen zwischen den beiden Partnern hinweist. Die Zusammenarbeit mit Wirgman endete 1867. Von 1870 bis 1877 war Beato mit dem eigenen Fotostudio F. Beato & Co., Photographers im Haus Nr. 17 des Ausländerviertels von Yokohama gemeldet. Laut einem Verzeichnis von 1872 bestand zu jener Zeit sein Personal aus seinem Assistenten und späteren Geschäftsführer H. Woollett sowie aus je vier japanischen Fotografen und Koloristen. Kusakabe Kimbei, den man heute zu den wichtigen frühen japanischen Fotografen zählt, war wahrscheinlich zuerst als Künstler bei Beato beschäftigt, bevor er zu fotografieren begann. Beato arbeitete außerdem mit dem japanischen Fotografen Ueno Hikoma zusammen und unterrichtete wahrscheinlich auch den österreichischen Baron Raimund von Stillfried in der Fotografie. Im Juni 1871 begleitete Beato mit seinen Assistenten Woollett, Tomekichi und Torakichi als offizieller Fotograf eine US-amerikanische Marine-Expedition unter Admiral Rodgers nach Korea. Die Aufnahmen, die Beato während dieser Zeit machte, sind die frühesten belegten Fotografien dieses Landes und seiner Einwohner. Beato beschränkte seine Geschäftstätigkeiten nicht nur auf die Fotografie. Er besaß neben mehreren Fotostudios auch Land, war als Makler tätig sowie Teilhaber am Grand Hotel in Yokohama und handelte mit importierten Teppichen und Handtaschen. Im Laufe seines Aufenthaltes in Japan soll er durch Spekulationen und ungünstige Geschäfte mehrfach große Geldsummen eingebüßt haben. Am 6. August 1873 wurde er zum griechischen Generalkonsul in Japan ernannt (was ein Hinweis darauf sein könnte, dass er tatsächlich auf Korfu zur Welt gekommen war). Am 23. Januar 1877 verkaufte Beato den überwiegenden Teil seines fotografischen Bestandes an das Unternehmen Stillfried & Andersen, das auch sein Studio in Yokohama übernahm. 1885 verkaufte dieses Unternehmen den Bestand an Adolfo Farsari weiter. Beato konzentrierte sich in den folgenden Jahren überwiegend auf seine berufliche Tätigkeit als Händler und war außerdem als Spekulant aktiv. Am 19. November 1884 verließ er Japan in Richtung Port Said, Ägypten. Laut dem Bericht einer japanischen Zeitung vom 5. Dezember 1884 hatte er sein gesamtes, am Silbermarkt von Yokohama erworbenes Vermögen durch Spekulationen am Reismarkt von Tokio wieder verloren, so dass die Reisekosten von einem Bekannten übernommen werden mussten. Die späten Jahre Von 1884 bis 1885 war Beato der offizielle Fotograf einer Militärexpedition unter Leitung von G. J. Wolseley nach Khartum, Sudan. Ziel der erfolglosen Expedition war, die Belagerung von Khartum, welches unter dem Kommando von Generals Charles George Gordon stand, durch den Mahdi-Aufstand zu beenden. Danach hielt sich Beato kurz in England auf. Am 18. Februar 1886 hielt er bei der London and Provincial Photographic Society einen Vortrag über Fragen der Fotografie, der am 26. Februar 1886 im British Journal of Photography veröffentlicht wurde. 1888 war Beato wieder in Asien tätig und bereiste Birma. In Mandalay eröffnete er im Jahr 1889 ein Fotostudio und 1895 ein Geschäft für Möbel und Kunsthandwerk, das rasch zu einer Attraktion für ausländische Besucher wurde. Weltweit erhielten Kunden auf Wunsch per Post einen Bestellkatalog, wobei jeder Artikel mit einer Fotografie, einer ausführlichen Beschreibung und einer Preisangabe versehen war. Der Katalog konnte ausgefüllt und wieder eingesandt werden, eine für die damalige Zeit ungewöhnlich moderne Geschäftsmethode. Zwei dieser Kataloge werden noch heute im Victoria and Albert Museum in London aufbewahrt. Bereits 1898 verkaufte Beato sein Unternehmen an den früheren Militäroffizier Maitland Fitzroy Kindersley, der es bis zur Auflösung im Januar 1907 unter dem alten Namen „F. Beato & Co.“ weiterführte. Über die letzten Lebensjahre von Felice Beato ist kaum etwas bekannt, möglicherweise beendete er nach 1899 seine fotografische Tätigkeit. Die Rangoon Gazette berichtete am 30. Januar 1899, dass sich Beato in Rangun aufhielt. Ein am 15. November 1902 in der Times of Burma veröffentlichter Leserbrief erwähnte dann, dass Beato das Land verlassen habe. Beato ließ sich danach in Italien nieder, wo er nach einer Vereinbarung mit dem britischen Konsul regelmäßige Zahlungen erhielt. Am 29. Januar 1909 starb er in Florenz. Probleme bei der Zuordnung der Werke Aufgrund einer Reihe von Fotografien, die die Signatur Felice Antonio Beato und Felice A. Beato tragen, wurde lange Zeit vermutet, dass es Beato durch intensive Reisetätigkeit gelungen sei, Ereignisse festzuhalten, die sich ungefähr zur selben Zeit an so weit auseinander liegenden Orten wie Ägypten und Japan abspielten. Italo Zannier konnte jedoch 1983 nachweisen, dass Felice Beato gelegentlich mit seinem Bruder Antonio (* um 1825, † 1903), der ab 1862 in Kairo und ab 1872 in Luxor Fotostudios betrieb, zusammenarbeitete und beide Brüder ihre Negative auf dieselbe Weise kennzeichneten. Dies verhindert eine klare Zuordnung mancher Bilder zu einem der beiden Brüder. Bei der Zuordnung der Fotografien gibt es aber noch eine Reihe weiterer Schwierigkeiten. Als das Unternehmen Stillfried & Andersen Beatos Aufnahmen übernahm, folgte es der allgemein üblichen Praxis unter Fotohändlern des 19. Jahrhunderts und verkaufte die Fotografien unter eigenem Namen weiter. Es selbst und einige der Käufer veränderten Beatos Aufnahmen, indem sie Nummern, Firmenname und andere Beschriftungen auf dem Negativ oder dem Abzug anbrachten. Von den Aufnahmen, die Beato nicht durch seine Mitarbeiter kolorieren ließ, schufen sie selbst handkolorierte Versionen. Dies hat dazu geführt, dass bis heute Aufnahmen von Felice Beato dem Unternehmen Stillfried & Andersen zugeschrieben werden. Glücklicherweise hat Beato viele seiner Abzüge mit Bleistift oder Tinte auf der Rückseite signiert und beschriftet. Sind diese Abzüge aufgezogen, sind die Beschriftungen gelegentlich durch das dünne Papier hindurch mit Hilfe eines Spiegels zu lesen. Damit kann häufig nicht nur festgestellt werden, was die Aufnahme zeigt und wann sie gemacht wurde, sondern Fotohistoriker können auch Felice Beato als Urheber eindeutig identifizieren. Beatos Techniken und Einfluss auf die Fotografie Von Mitte bis Ende des 19. Jahrhunderts waren die technischen Möglichkeiten der Fotografie noch eng begrenzt. In den 1850er-Jahren verwendete Beato vor allem Albuminplatten (mit lichtempfindlichen Silbersalzen beschichtete Glasplatten), mit denen sich Negative herstellen ließen, die in Brillanz und Feinheit der Zeichnung den Daguerreotypien nahe kamen. Solche Albuminplatten ließen sich lange vor der eigentlichen Verwendung präparieren: Beispielsweise fotografierte Beato 1857 die Folgen des indischen Sepoy-Aufstandes mit Platten, die er einige Monate zuvor in Athen beschichtet hatte. Albuminplatten hatten allerdings nur eine geringe Lichtempfindlichkeit. Bei Verwendung eines Objektives von großer Brennweite und einer Lichtstärke von f/52 benötigte Beato anfangs selbst für gut beleuchtete Gegenstände eine Belichtungszeit von bis zu drei Stunden. Es gelang ihm allerdings laut eigenen Angaben, diese Zeit auf vier Sekunden zu verkürzen, indem er die Platte mehrere Stunden in einer gesättigten Gallussäure-Lösung entwickelte. Diese Technik veröffentlichte er jedoch erst 1886, als die Fotografie mit Albuminplatten bereits überholt war, und sie wurde von Fachleuten heftig angezweifelt. Trotz wiederholter Anfragen blieb Beato den Nachweis für diese Aufnahme- und Entwicklungstechnik schuldig. Felice Beatos Leistung besteht darin, im Rahmen der damaligen Möglichkeiten hervorragende Fotografien produziert zu haben. Neben rein ästhetischen Überlegungen waren es auch die damals langen Belichtungszeiten, die dazu geführt haben, dass Beato die Objekte seine Fotografien sorgfältig platzierte, besonders im Studio und bei sorgfältig komponierten Porträtfotografien. Die durchdachte Platzierung von Einheimischen als ästhetisch-dekorative Staffage vor Bauwerken und Landschaften, um deren Wirkung entsprechend zu unterstreichen, ist für seine Bilder kennzeichnend. In den Aufnahmen, in denen dies keine Rolle für ihn spielte, sind sowohl Menschen als auch andere sich bewegende Objekte wegen der langen Belichtungszeiten häufig nur als verwischte Flecken zu sehen. Diese verschwommenen Flecken sind allerdings auch ein häufiges, technisch bedingtes Merkmal von Fotografien des 19. Jahrhunderts. Beato produzierte später vor allem Abzüge von Kollodium-Nassplatten auf Albuminpapier. Wie andere Fotografen des 19. Jahrhunderts fotografierte er häufig seine eigenen Originale ab. Das Original wurde dazu mit Nadeln auf einer festen Oberfläche befestigt und dann fotografiert, um auf diese Weise von einem zweiten Negativ weitere Abzüge herstellen zu können. Die Nadeln, mit denen das Original befestigt war, sind gelegentlich auf den Kopien zu erkennen. Trotz des Qualitätsverlustes war das zur damaligen Zeit ein effektiver und ökonomischer Weg, Fotografien zu vervielfältigen. Beato zählt außerdem zu den Pionieren handkolorierter Fotografien und der Panoramafotografie. Die Idee, Fotos zu kolorieren, ist vermutlich auf einen Vorschlag seines zeitweiligen Partners Charles Wirgman zurückzuführen. Es ist aber auch möglich, dass er kolorierte Fotos von Charles Parker und William Parke Andrew gesehen hatte. Bei Landschaften ist die Kolorierung zurückhaltend und naturalistisch. Die Porträtaufnahmen sind häufig kräftiger koloriert, gelten aber gleichfalls als exzellente Arbeiten. Während seiner gesamten fotografischen Karriere hat Beato immer wieder spektakuläre Landschaftsfotografien in Form von Panoramafotografien geschaffen. Dazu machte er mehrere zusammenhängende Aufnahmen einer Szenerie und verband die Abzüge so miteinander, dass es keine Überlappungen gab. Auf diese Weise gelang es ihm, ein Gefühl für die Weite einer Landschaft zu vermitteln. Als besonders gelungen gilt sein Panorama von Pehtang, das aus neun Einzelaufnahmen besteht, die nahtlos ineinander übergehen und insgesamt eine Länge von 2,5 Meter haben. Für die japanische Geschichte der Fotografie ist Felice Beato besonders bedeutsam. Er führte als erster die Standards der europäischen Studiofotografie in Japan ein und beeinflusste dadurch zahlreiche japanische Kollegen maßgeblich. Literatur Helmut Gernsheim: Geschichte der Photographie – Die ersten hundert Jahre. Wien, 1983, ISBN 3-549-05213-8 Helmut Gernsheim: The Rise of Photography, 1850–1880, The Age of Collodion. London, 1988, ISBN 0-500-97349-0 (englisch) Nissan N. Perez: Focus East. Early Photography in the Near East, 1839–1885. New York, 1988, ISBN 0-8109-0924-3 (englisch) Claudia Gabriele Philipp, Dietmar Siegert und Rainer Wick (Hrsg.): Felice Beato in Japan – Photographien zum Ende der Feudalzeit 1863–1873. Heidelberg, 1991, ISBN 3-925835-79-2 Terry Bennett: Early Japanese Images. Rutland Vermont, 1996, ISBN 0-8048-2029-5 (englisch) Beaumont Newhall: Geschichte der Photographie. München, 1998, ISBN 3-88814-319-5 Carsten Rasch: Photographien aus dem alten Japan – Felice Beato und seine Photographien aus der Edo-Ära. Hamburg, 2014, ISBN 978-3-738-60700-0 (englisch) David Harris: Of Battle and Beauty. Felice Beato's Photographs of China. Santa Barbara, 1999, ISBN 0-89951-101-5 (englisch) Vidya Dehejia: India through the Lens – Photography 1840–1911. Washington D.C., 2000, ISBN 3-7913-2408-X (englisch) John Clark: Japanese Exchanges in Art, 1850s to 1930s with Britain, Continental Europe, and the USA. Papers and Research Materials. Sydney, 2001, ISBN 1-86487-303-5 (englisch) Sebastian Dobson: I Been to Keep Up My Position: Felice Beato in Japan, 1863–1877. In: Nicole Coolidge Rousmaniere und Mikiko Hirayama (Hrsg.): Reflecting Truth: Japanese Photography in the Nineteenth Century. Amsterdam, 2004, ISBN 90-74822-76-2 (englisch) Anne Lacoste: Felice Beato – A Photographer on the Eastern Road. Los Angeles, 2010, ISBN 978-1-60606-035-3 (englisch) Weblinks Boston University Art Gallery. 'Of Battle and Beauty: Felice Beato's Photographs of China' Griffiths, Alan. 'Second Chinese Opium War (1856-1860)', Luminous-Lint Nagasaki University Library; Japanese Old Photographs in Bakumatsu-Meiji Period, s.v. „F. Beato“ Japan-Fotos von Felice Beato in der Digital Gallery der New York Public Library Ein komplettes Album Beatos zu den Sehenswürdigkeiten in Japan mit originalen Anmerkungen Ein komplettes Album Beatos zur japanischen Kultur mit originalen Anmerkungen Einträge im Arthistoricum.net Einzelnachweise Geschichte der Fotografie Fotograf (19. Jahrhundert) Fotograf (Italien) Fotograf (Vereinigtes Königreich) Person im Indischen Aufstand von 1857 Person im Zweiten Opiumkrieg Kultur (Japan) Meiji-Zeit Mandalay Italiener Geboren 1832 Gestorben 1909 Mann
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https://de.wikipedia.org/wiki/Dietrich%20von%20Freiberg
Dietrich von Freiberg
Dietrich von Freiberg (lateinisch Theodericus de Vriberch; * wohl um 1240/1245; † nach 1310, vermutlich um 1318/1320) war ein spätmittelalterlicher Philosoph, Theologe und Physiker. Als Mönch gehörte er dem Dominikanerorden an, in dem er hohe Ämter ausübte. Sein Werk umfasst zahlreiche philosophische, theologische und naturwissenschaftliche Schriften. Schwerpunkte seiner Arbeit bilden Fragen der Ontologie, der Erkenntnistheorie, der Kosmologie, der Anthropologie und der Zeittheorie. Ein Kernthema seines Denkens ist die Intellekttheorie. In der Philosophie und Theologie seiner Zeit war Dietrich ein Außenseiter. Er entwickelte seine Lehre in der kämpferischen Auseinandersetzung mit verbreiteten Auffassungen, deren Schwachpunkte er kritisierte. Die Aufdeckung von Mängeln gängiger Lehrmeinungen nahm er zum Ausgangspunkt für Überlegungen, mit denen er von der Zurückweisung der bisherigen Annahmen zu seinen alternativen Konzepten voranschritt. Von einem Modell, das eine stimmige Welterklärung zu bieten beansprucht, forderte er durchgängige Widerspruchsfreiheit und rationale Nachvollziehbarkeit. Sein kompromissloses Beharren auf diesem Wissenschaftsverständnis brachte ihn in Konflikt mit einflussreichen Strömungen, insbesondere dem von Thomas von Aquin begründeten Thomismus, gegen den er den Vorwurf der Inkonsequenz erhob. Über die Schwierigkeit der Aufgaben, die er sich gestellt hatte, war er sich im Klaren, doch hielt er die Erlangung verlässlichen Wissens für möglich und meinte stichhaltige Lösungen gefunden zu haben. Ein zentrales Anliegen Dietrichs war die Untersuchung des menschlichen Intellekts, dessen Rolle nach seiner Ansicht von seinen Zeitgenossen nicht ausreichend verstanden und gewürdigt wurde. Er meinte, der „tätige Intellekt“ des Menschen sei von Natur aus „gottförmig“ und im Prinzip fähig, alles zu erkennen. Als Naturwissenschaftler befasste sich Dietrich vor allem mit Fragen der Optik. Seine Experimente führten ihn zu einer neuen Theorie des Regenbogens, die als bedeutender Fortschritt gilt, da er die Phänomene nur mittels Analyse des Strahlengangs erklärte. Einige Jahrzehnte nach seinem Tod geriet Dietrich weitgehend in Vergessenheit. Erst in der zweiten Hälfte des 20. Jahrhunderts hat eine intensive Erforschung seines Lebenswerks eingesetzt. Heute wird er zu den bedeutenden Denkern des Spätmittelalters gezählt und auch als erfolgreicher Physiker gewürdigt. Leben Dietrichs Herkunft und Familie sind unbekannt. Er stammte aus der schon damals vom Silberbergbau geprägten Stadt Freiberg. Seine Geburt wird ungefähr in die Zeit um 1240/1245 gesetzt. Wohl um 1260, im Alter von achtzehn bis zwanzig Jahren, trat er in den Dominikanerorden ein. Sein Leben im Dominikanerkloster – wahrscheinlich im Konvent St. Pauli in Freiberg – begann mit dem Noviziatsjahr. Dieses Jahr war für die neu in den Orden Aufgenommenen, die Novizen, eine Probezeit, die der Einübung in die Lebensweise der Mönche diente und mit harter Askese verbunden war. Als Novize hatte Dietrich auch das Betteln zu lernen, denn die Dominikaner waren ein Bettelorden. Anschließend begann er in seinem Heimatkonvent das Grundstudium der Theologie, das ein bis zwei Jahre dauerte. Daran schloss sich ein zweijähriges Studium der Logik an, das in der Studienordnung der Dominikaner vorgeschrieben war. Der Unterrichtsstoff bestand in erster Linie aus den logischen Schriften des Aristoteles. Der Zweck dieser Schulung war, dass sich die Mönche mit Semantik, Beweistechnik und Argumentationskunst vertraut machten, denn sie benötigten solche Fähigkeiten für ihre künftige Tätigkeit als Prediger und Verteidiger des Glaubens. Nach einer 1259 eingeführten Regelung wurde das Logikstudium bei den Dominikanern nicht vom Heimatkonvent des Mönchs organisiert, sondern von seiner Ordensprovinz. Es sollte in einem dafür eingerichteten Studienzentrum der Provinz stattfinden, das aber nicht örtlich fixiert war, sondern von Konvent zu Konvent wanderte. Somit hatte Dietrich möglicherweise für diese Ausbildung Freiberg zu verlassen. Allerdings wurde die neue Vorschrift in den einzelnen Provinzen, auch in Deutschland, anfangs nur zögerlich umgesetzt. Als Logikstudent hatte Dietrich auch an Theologievorlesungen teilzunehmen, denn die Mönche durften auch in dieser Phase ihrer Schulung ihre theologische Weiterbildung nicht vernachlässigen. Danach erhielt Dietrich wahrscheinlich eine vertiefte theologische und philosophische Ausbildung, zu der auch Naturphilosophie gehörte. Die Naturphilosophie (studium naturae oder scientia naturalium) umfasste damals auch die Naturlehre, zu der u. a. Physik, Astronomie, Biologie und Seelenkunde zählten. Auch die Metaphysik galt als Teil der Naturphilosophie. Das Studium dieser Wissenszweige erfolgte auf der Grundlage der einschlägigen Schriften des Aristoteles. Den Naturkundeunterricht führten die Dominikaner nur zögernd ab den 1250er Jahren ein, er musste gegen den Widerstand einer bildungsfeindlichen Strömung im Orden durchgesetzt werden und wurde erst 1305 für den gesamten Orden vorgeschrieben. Bei der Einbeziehung des naturkundlichen Stoffs in den Unterricht spielte Albert der Große († 1280) eine Pionierrolle; er baute das „Generalstudium“ in Köln auf, eine bedeutende Bildungsstätte des Ordens. Möglicherweise hat Dietrich um 1267/1270 in Köln studiert, doch ist diese Annahme hypothetisch. Schließlich wurde Dietrich selbst Lehrer; um 1271 war er Lektor (Lesemeister) im Dominikanerkonvent von Freiberg, das heißt, er hielt dort Vorlesungen und war allein für die Schulung seiner Mitbrüder zuständig; der Konvent hatte nur einen einzigen Lektor. Für die Dominikaner war der Unterricht obligatorisch; außerdem stand die Konventsschule dem allgemeinen Publikum offen. Der Lektor hatte herkömmliches, als gesichertes Wissen geltendes theologisches Lehrgut zu vermitteln; Neuerungen waren unerwünscht. Vom Herbst 1272 bis mindestens Ende 1274 absolvierte Dietrich ein Fortbildungsstudium der Theologie an der Universität von Paris. Vielleicht blieb er bis 1277 dort, dann kehrte er nach Deutschland zurück. 1280 war er als Lektor am Dominikanerkonvent in Trier tätig. Für die Folgezeit bis 1293 liegen keine Nachrichten über ihn vor; wahrscheinlich hielt er sich erneut in Paris auf und hielt als Baccalarius eine Vorlesung über die Sentenzen des Petrus Lombardus. Am 7. September 1293 wurde er zum Provinzial (Leiter) der deutschen Provinz seines Ordens (Teutonia) gewählt. Als seinen Vikar (Vertreter) für die Region Thüringen wählte er Meister Eckhart, mit dem er spätestens damals in eine enge berufliche Beziehung trat. Er leitete die deutsche Dominikanerprovinz bis 1296. Von November 1294 bis Mai 1296 stand er zugleich als Generalvikar (Vertreter des Ordensgenerals) an der Spitze des gesamten Dominikanerordens, da das Amt des Generals vakant war. Anschließend ging er erneut nach Paris. Dort wurde er 1296/97 zum Magister der Theologie promoviert. Dann hatte er einige Zeit an der theologischen Fakultät der Pariser Universität den Lehrstuhl inne, der den nichtfranzösischen Dominikanern vorbehalten war. Dietrich und Albert der Große waren – soweit bekannt – die einzigen Deutschen, die im 13. Jahrhundert an der Universität Paris, die damals im europäischen Hochschulwesen eine dominierende Stellung einnahm, als Magister lehrten. 1303 wurde Dietrich in Koblenz vom Provinzialkapitel seiner Ordensprovinz zu einem der Provinzialdefinitoren gewählt, womit er ein Verwaltungsamt des Ordens übernahm. Seine letzte Erwähnung in den Quellen datiert von 1310. Sie betrifft seine Ernennung zum Provinzialvikar der oberdeutschen Ordensprovinz Teutonia. Dabei handelte es sich um einen der beiden Teile der inzwischen zweigeteilten deutschen Provinz. Diese Funktion, die zeitweilige Wahrnehmung der Amtspflichten des Provinzials, übte Dietrich bis zur regulären Wahl eines neuen Provinzials aus, die im September 1310 stattfand. Gewählt wurde Meister Eckhart. Da jedoch Eckharts Wahl vom Ordensgeneral aufgehoben wurde, musste Dietrich noch im selben Jahr eine neue Wahlversammlung einberufen. In der Forschungsliteratur wird sein Tod gewöhnlich in die Zeit um 1318/1320 gesetzt, doch fehlt es an konkreten Anhaltspunkten für die Datierung. Werke Dietrich verfasste zahlreiche Schriften, die nur zum Teil erhalten geblieben sind. Überliefert sind 23 Abhandlungen über philosophische, theologische und naturwissenschaftliche Themen, zwei Traktatfragmente, einige Quaestionen sowie fünf Briefe. Von seinen Predigten ist nichts erhalten geblieben. Keine der Abhandlungen ist genau datiert, doch lässt sich ein Rahmen für eine ungefähre Chronologie ermitteln, und die Reihenfolge der Entstehung ist teilweise bekannt. Die Werke sind nach heutigem Forschungsstand alle im Zeitraum zwischen 1285 und 1311 entstanden. Dietrichs erste, vermutlich um 1286 oder etwas später verfasste Schrift handelt von Problemen der Ontologie, der philosophischen Lehre vom Sein oder vom Seienden als solchem. Sie trägt den Titel De origine rerum praedicamentalium (Über den Ursprung der kategorial bestimmbaren Dinge). Den Ausgangspunkt bildet die Kategorienlehre des Aristoteles. Dietrichs Anliegen war die Klärung dessen, was Aristoteles eigentlich gemeint hat. Die Frage lautet, ob die Kategorien ihren Ursprung in der Natur oder im Intellekt haben. Somit geht es um den Zusammenhang zwischen den Prinzipien des Denkens, die zu der seit Aristoteles üblichen Einteilung des Seienden in zehn Kategorien geführt haben, und den Prinzipien des Seins. In der anscheinend früh entstandenen Schrift De corpore Christi mortuo (Über den toten Leib Christi) nahm Dietrich eine theologische Thematik zum Anlass für eine grundsätzliche Erörterung der Seele als „Form“, die das Wesen des Menschen bestimme. Wohl um 1296/1297 – nach anderen Mutmaßungen einige Jahre später – schrieb Dietrich drei Abhandlungen über umstrittene Fragen: De tribus difficilibus quaestionibus (Über drei schwierige Probleme). Sie sind betitelt De animatione caeli (Über die Beseelung des Himmels), De visione beatifica (Über die beseligende Schau, gemeint ist die Wahrnehmung Gottes durch die Seligen nach dem Tod) und De accidentibus (Von den Akzidenzien). Die drei erörterten Probleme liegen thematisch weit auseinander; die Zusammenfügung zu einem dreiteiligen Werk ergab sich aus der Absicht des Autors, anhand dreier Beispiele den Ansichten der communiter loquentes – der Vertreter der herrschenden Lehrmeinungen – entgegenzutreten. Damit meinte er hier die Thomisten, die Anhänger der Lehre des 1274 gestorbenen Dominikaners Thomas von Aquin. Thomas war ein älterer Zeitgenosse Dietrichs; die von ihm begründete Denkrichtung hatte sich gegen Ende des 13. Jahrhunderts im Dominikanerorden bereits weitgehend durchgesetzt. Diesem Einfluss widersetzte sich Dietrich. Er wollte mit seinen antithomistischen Ausführungen die Grundlage für eine fundamentale Kritik am Thomismus schaffen. Etwas später folgten die Abhandlungen De quiditatibus entium (Über die Quidditäten der seienden Dinge) und De ente et essentia (Über das Seiende und das Wesen). Sie enthalten scharfe Kritik am Thomismus, der die Wissenschaft zerstöre und mit der Philosophie des Aristoteles, auf welche die Thomisten sich beriefen, unvereinbar sei. Dietrichs Angriff richtete sich gegen zeitgenössische Thomisten wie Aegidius Romanus, Bernhard von Trilia und Thomas von Sutton. Das nächste bedeutende philosophische Werk Dietrichs ist die erkenntnistheoretische Abhandlung De intellectu et intelligibili (Über den Intellekt und das Intelligible). Darin erörtert er die Fragen, wie der menschliche Intellekt sich selbst und sein Prinzip erkennt, wie sich die „tätige Vernunft“ (intellectus agens) zur „möglichen Vernunft“ (intellectus possibilis) verhält und wie diesbezüglich der aristotelische mit dem neuplatonischen Ansatz zu einem stimmigen Ganzen zusammengeführt werden kann. Einer späteren Schaffensphase des Philosophen sind zwei Schriften über Sonderfragen zuzurechnen: der Traktat De magis et minus (Über das Mehr und Weniger), der das im Spätmittelalter oft untersuchte Problem der qualitativen Steigerung und Minderung bei Substanzen behandelt, und De natura contrariorum (Über die Natur konträrer Gegensatzpaare), worin Dietrich seine Theorie der Gegensätze darlegt. Vielleicht in dieselbe Periode gehören zwei Abhandlungen zur Philosophie der Dauer und der Zeit: De mensuris durationis entium (Über die Maße des Dauerns der seienden Dinge) und De natura et proprietate continuorum (Über die Natur und Besonderheit der Kontinua). Aus dem Zeitraum 1294–1296 stammen fünf erhaltene Briefe Dietrichs. Das Spätwerk ist einerseits Fragen der Naturphilosophie gewidmet, andererseits behandelt es Hauptthemen der mittelalterlichen Theologie. Die theologischen Themen erörtert Dietrich jedoch nicht auf theologische Weise (von der vorausgesetzten Autorität der Bibel ausgehend), sondern als Philosoph auf der Basis bloßer Vernunftüberlegungen (secundum rationem). In der Kosmologie, der sein besonderes Augenmerk in dieser Spätphase seines Schaffens galt, überschneiden sich die metaphysisch-theologischen Problemstellungen mit den naturphilosophischen und astronomischen. Das umfangreichste Werk Dietrichs ist seine frühestens 1304 entstandene Schrift De iride et de radialibus impressionibus (Über den Regenbogen und die durch Strahlen erzeugten Eindrücke). Weitere relativ späte Schriften zur Naturforschung sind De miscibilibus in mixto (Über die Bestandteile in einem gemischten Stoff), De elementis corporum naturalium (Über die Elemente der natürlichen Körper), De coloribus (Über die Farben) und De luce et eius origine (Über das Licht und seinen Ursprung). Zu den späten Schriften über theologische Themen gehören De substantiis spiritualibus et corporibus futurae resurrectionis (Über die geistigen Substanzen und die Körper der künftigen Auferstehung) und De cognitione entium separatorum et maxime animarum separatarum (Über die Erkenntnis bei körperlosen Wesen, insbesondere bei vom Körper getrennten Seelen). In zwei Alterswerken befasste sich Dietrich „nach den Grundsätzen einer philosophischen Untersuchung“ mit kosmologischen Themen: De intelligentiis et motoribus caelorum (Über die Intelligenzen und die Beweger der Himmel) und De corporibus caelestibus (Über die Himmelskörper). Diese beiden Abhandlungen berühren auch theologische Fragen; es geht um die „Intelligenzen“, vernunftbegabte körperlose Wesen, und um die Bewegung der Himmelskörper durch Himmelsseelen. Philosophie und Theologie Wissenschaftsverständnis, Methodik und oppositionelle Haltung Methodisch vertrat Dietrich den Vorrang der argumentativen Begründung gegenüber der Berufung auf Autoritäten, ging aber von einem Einklang der beiden Wege aus. Zu seinen Anliegen gehörte eine saubere Trennung von Theologie und Philosophie, wobei sich aber zwischen deren Aussagen, wenn sie korrekt waren, kein Widerspruch ergeben durfte. Eine Flucht in irrationale Annahmen wie die Erklärung, für Gott sei auch Widersinniges möglich, lehnte er ab. Kohärenz hielt er für unabdingbar; wo sie nach seiner Ansicht fehlte, forderte er ein radikales Umdenken und beschritt einen anderen Weg. Die Auffassungen, die er für irrig hielt, bekämpfte er als inkonsequent und unzulänglich durchdacht. Wie in der Scholastik und schon in der antiken Philosophie üblich betrachtete er Wissenschaft als Zurückführung des Zufälligen auf das an sich Seiende und Notwendige. Was er jedoch bei anderen Magistern bemängelte, war die Umsetzung dieses Programms; er befand, dass sie es sowohl verteidigten als auch verleugneten. Einen solchen Mangel an Folgerichtigkeit wollte er nicht dulden. Großen Wert legte Dietrich auf die Verteidigung der Freiheit des Denkens. Die Bedrohung kam nach seinen Worten von den communiter loquentes („die, die wie alle reden“). Damit meinte er die Vertreter der etablierten Lehren, die er kritisierte. Diese Gelehrten behandelte er wie eine gegnerische Gruppe, auch wenn sie untereinander uneinig waren. Dabei trat er kämpferisch auf. Gern wählte er für seine Thesen paradox wirkende, provozierende Formulierungen. Er warf den communiter loquentes vor, dass sie durch ihre Überzahl siegten, nicht durch die Qualität ihrer Argumente. Besonders deutlich zeigt sich Dietrichs geistige Unabhängigkeit darin, dass er nicht vor möglicherweise häresieverdächtigen Aussagen zurückschreckte: Er griff Behauptungen auf, die in der Pariser Verurteilung von 1277 mit Androhung der Exkommunikation kirchlicherseits verdammt worden waren, und befürwortete sie, teils in modifizierter Version. Mit Bedacht spielte er seine Rolle als oppositioneller Außenseiter und Vertreter von Minderheitspositionen gegenüber den vorherrschenden zeitgenössischen Strömungen, insbesondere dem Thomismus. Der Widerstand gegen den Thomismus war riskant, denn 1279 hatte das Generalkapitel des Dominikanerordens den Mönchen Kritik an Thomas verboten und 1286 war Thomas zum Ordenslehrer erklärt worden. Damit hatten die Dominikaner eine eindeutige Festlegung getroffen, die später noch verschärft wurde. Dennoch waren die kritischen Stimmen im Orden nicht verstummt. Wohl um 1286 oder etwas später schrieb Dietrich, er habe bisher wegen des Widerstands der communiter loquentes über heikle Fragen schweigen müssen, wolle sich nun aber dazu äußern. Später wies er auf die üble Nachrede (calumnia) hin, die ihm seine Schriften einbrachten. In seinem Auftreten verband sich ein rebellischer Zug mit einem konservativen: Während er manche Thesen führender Scholastiker des 13. Jahrhunderts unbefangen kritisierte und verwarf, berief er sich auf antike Denker (Aristoteles, Augustinus, Proklos) und den mittelalterlichen arabischen Aristoteles-Kommentator Averroes. Er bemühte sich zu zeigen, dass diese Autoritäten auf seiner Seite stünden: Wenn man ihre Schriften genau lese und ihre Lehren richtig verstehe, zeige sich deren Übereinstimmung mit der seinigen. Allerdings hielt er sie nicht für unfehlbar. Er zögerte nicht, Averroes vehement zu widersprechen, wo er dies für nötig hielt. Ontologie Für die Ontologie, die Lehre vom Sein oder vom Seienden als solchem, war zu Dietrichs Zeit die Kategorienlehre des Aristoteles grundlegend. Aristoteles hatte die Gesamtheit des Seienden in zehn Hauptgruppen, die Kategorien, eingeteilt. Die Kategorien sind seine Fundamentalbegriffe für die Klassifikation der gesamten Wirklichkeit. Nach dem aristotelischen Verständnis umfasst die Kategorieneinteilung alles, was ist, und damit zugleich alles, was Subjekt oder Prädikat einer Aussage sein kann, also die Gesamtheit des sprachlich Ausdrückbaren. Die erste Kategorie ist die ousia, das „Wesen“, in der mittelalterlichen Terminologie die „Substanz“. Gemeint ist ein stabiles Substrat, das dem Dasein eines Einzeldings zugrunde liegt und für dessen konstante Identität sorgt. Substanz als „das Zugrundeliegende“ ist alles, was „weder von einem Zugrundeliegenden ausgesagt wird noch in einem Zugrundeliegenden ist“. Die übrigen neun Kategorien umfassen die Akzidenzien, das heißt variable Eigenschaften, die zum Substrat hinzutreten und dann dieser ousia anhängen, zum Beispiel Quantität oder Qualität. Als Hinzukommendes gehört ein Akzidens nicht zur Natur des Dings, mit dem es verbunden ist, denn es ist nicht mit Notwendigkeit vorhanden. Das Vorhandensein oder Fehlen der Akzidenzien hat keinen Einfluss auf die Identität des Dings; diese hängt ausschließlich von der Substanz ab. Als Beispiel nennt Aristoteles die Farbe an einem Körper. Der Körper ist als Zugrundeliegendes ousia, die Farbe ist Akzidens. Wie die anderen Magister seiner Zeit ging Dietrich von diesem Modell aus. Das gängige Verständnis des Modells und den üblichen Umgang damit fand er jedoch unbefriedigend. Ihn beschäftigte die Frage, wie sich das Sein zum Denken verhält. Er wollte herausfinden, was der Grund dafür ist, dass Aussagen, die mit Begriffen im Rahmen des Kategoriensystems gemacht werden, auf kategorial bestimmbare Sachen (praedicamentalia oder res praedicamentales) anwendbar sind. Die Annahme, dass Kategorien, die aus der Analyse des menschlichen Sprechens über die Welt gewonnen sind, zugleich Bestimmungen des realen Seins sind, hielt er nicht für selbstverständlich, sondern für erklärungsbedürftig. Seine Frage, warum wirkliche Dinge kategorial bestimmbar sind, zielte auf den Zusammenhang des menschlichen Denkens und Sprechens mit der Welt. Er fragte nach dem Grund dafür, dass Welterkenntnis möglich ist. Nach der damals gängigen Lehrmeinung bezieht sich die Kategorieneinteilung auf das wirkliche, nicht vom menschlichen Denken abhängige Sein der Welt. Daraus folgt ihre Gültigkeit auch für das Denken, denn die Prinzipien des Seins und des Denkens sind dieselben. Nach dem thomistischen Verständnis bewegen die Naturdinge den menschlichen Intellekt; sie bilden das Maß für ihn und erzeugen in ihm eine wahre Erkenntnis, mit der er die Wirklichkeit abbildet. Die vorgegebene, von Gott so eingerichtete Übereinstimmung der Prinzipien des Denkens mit denen des Seins ist der Grund dafür, dass zutreffende Aussagen über Seiendes möglich sind. Mit diesen damals allgemein verbreiteten Annahmen gab sich Dietrich jedoch nicht zufrieden. Er fragte ontologisch nach der Ursache dafür, dass Seiendes als solches ist und dass es begrifflich bestimmbar ist. Aristoteles hatte vier Gründe dafür, dass etwas existiert, angenommen, zwei äußere und zwei innere. Äußerlich sind die bewirkende Ursache („Wirkursache“, lateinisch causa efficiens), das heißt der Erzeuger von etwas Erzeugtem, und die Zweckursache oder der Zielgrund (causa finalis), das heißt das, um dessentwillen etwas geschieht. Innerlich sind die Formursache (causa formalis), der das Ding seine besondere Beschaffenheit verdankt, und die Stoffursache (causa materialis), die Materie, der die Formursache Gestalt verleiht. Dietrich wies die Wirkursache und die Zweckursache der Naturdinge ausschließlich dem Bereich der Natur zu, dem Zuständigkeitsbereich der Physik; er entfernte sie aus der Ontologie. Er nahm an, dass es für alles, was kategorial bestimmt wird, nur zwei Ursprünge gibt, die Natur und den Intellekt. Ihnen entsprechen zwei Seinsbereiche, der physische und der geistige, die beide gleich real sind. Für Dietrich ist die Natur der Ursprung eines Dings, insoweit es ein Naturding ist, insoweit es von einem Erzeuger hervorgebracht wurde und einem Zweck dient. Hinsichtlich der „Washeit“ (quiditas) des Dings jedoch, seiner in der Definition ausgedrückten formhaften Wesensbestimmung, ist sein Ursprung der Intellekt. Somit ist der Intellekt in dieser Hinsicht Wirkursache und auch Formursache. Mit „Intellekt“ ist in diesem Zusammenhang bei Dietrich stets der menschliche Intellekt gemeint, nicht ein göttlicher oder kosmischer. Das bedeutet, dass die quiditas eines Dings vom menschlichen Denken konstituiert wird. Daher hat auch alles, was aus der Washeit folgt, seinen Ursprung im Intellekt des Menschen. Dazu gehören insbesondere manche Relationen, darunter räumliche und zeitliche Beziehungen ebenso wie Beziehungen zwischen verschiedenen Eigenschaften innerhalb eines Trägers. Von der Natur ist nur das konstituiert, was Prinzip naturhafter Prozesse ist. Alles Übrige – die vom Naturvorgang nicht geforderten Bestimmungen – ist Produkt des Intellekts. Diese Erzeugnisse des Intellekts hielt Dietrich nicht für bloße Abstraktionen oder „Gedankendinge“ (entia rationis), sondern für etwas real Seiendes, eine immaterielle Wirklichkeit. Dazu zählte er insbesondere die kategoriale Struktur der Erkenntnisobjekte. Thomas von Aquin hingegen hatte die kategoriale Struktur als Beschaffenheit der Naturdinge betrachtet. Dietrich begründete seine Theorie damit, dass die Natur im Gegensatz zum Intellekt außerstande sei, Unterschiede zu setzen. Sie könne nicht zwischen einer Sache und deren Wesensbestimmung, der Washeit, unterscheiden. Auf dem Gebiet der Washeit sei das Unterscheiden aber das Bewirken. Daher könne dort nicht die Natur, sondern nur der Intellekt die bewirkende Ursache sein. Die Denkbarkeit und Bestimmbarkeit eines Objekts gehe nicht von seiner natürlichen Beschaffenheit aus, sondern werde ausschließlich der spontanen Tätigkeit des Intellekts verdankt. Wer etwas definiere und dabei eine Unterscheidung zwischen den Bestandteilen seiner Definition einführe, der bewirke damit diese Bestandteile. Aus diesen Überlegungen zog Dietrich eine weitreichende Konsequenz. Da die vom Intellekt gesetzte Washeit einer Sache als deren inneres Wesensgesetz bestimmt war, ergab sich, dass nicht nur die Wesensbestimmung der Sache, sondern auch die Sache selbst unter dem Gesichtspunkt ihrer Washeit vom Intellekt konstituiert wird. Wenn beispielsweise der Intellekt die Ursache der Definition des Menschen als vernunftbegabtes Lebewesen ist, dann ist er auch das Prinzip und die Ursache des Menschen selbst, insoweit dieser der Art „Mensch“ angehört, oder, wie Dietrich es ausdrückt, des Menschen, insoweit dieser ein Sein im Sinne des „washaften Seins“ (esse quiditativum) hat. Somit besteht das Verhältnis zwischen dem Intellekt und den Naturdingen darin, dass der Intellekt das Naturding konstituiert, insoweit dieses ein „Was“ (quid) ist und durch seine Washeit bestimmt ist. Für diese Tätigkeit des Intellekts hat Dietrich den Ausdruck „quidifizieren“ geprägt. Außerdem existiert das Naturding jedoch auch unabhängig vom Intellekt, nämlich insofern es durch die Naturprinzipien konstituiert ist. In diesem Sinne unterscheidet Dietrich zwischen Naturdingen (entia naturae) und den vom Intellekt hervorgebrachten Denkinhalten (entia conceptionalia, ein von Dietrich in Anknüpfung an Averroes geprägter Begriff). Unter entia conceptionalia sind alle Formen des Vorhandenseins der Erkenntnisobjekte im erkennenden Intellekt zu verstehen. Auf sie ist das Kategoriensystem des Aristoteles nicht anwendbar. Die Denkinhalte entsprechen zwar den Naturdingen, sind aber nicht deren Abbilder, sondern bestehen eigenständig neben ihnen. Die Denkwelt ist keine Nachbildung der Naturwelt. Nach Dietrichs Lehre, die von Ideen Avicennas beeinflusst ist, ist der „tätige Intellekt“ (intellectus agens) – der Intellekt als aktive, alles Erkennen bewirkende Instanz – eine reine Substanz, die nichts Akzidentelles enthält. Daher weist er keine Zusammensetzung auf, sondern ist absolut einfach. Er geht aus Gott hervor und stellt dessen vollkommenes Ebenbild (imago) dar. Von Natur aus – nicht durch eine besondere Gnadengabe – ist er „gottförmig“ (deiformis); zwischen ihm und Gott besteht eine substantielle Entsprechung. Darin unterscheidet er sich von den Naturdingen, die nicht als Bilder, sondern als Dinge aus Gott hervorgehen und aus dem Zusammenwirken von Form und Stoff resultieren. Aus diesem Bildcharakter des tätigen Intellekts ergibt sich seine einzigartige Nähe zu Gott. In seinem Bildsein trägt er gewissermaßen Gott in sich. Im menschlichen Individuum ist der tätige Intellekt nicht nur der Faktor, der in der Seele Einsicht erzeugt, sondern auch die Wirkursache der Seelensubstanz. In der umstrittenen Frage, ob zwischen Sein und Wesen ein realer oder nur ein begrifflicher Unterschied besteht, bekämpfte Dietrich wie schon Siger von Brabant die These des Realunterschieds. Dabei wandte er sich gegen Thomas von Aquin, der damals zu den Befürwortern dieser These gezählt wurde, obwohl er den Ausdruck „realer Unterschied“ nicht verwendet hatte. Der Konflikt war brisant, denn sowohl die Annahme als auch die Bestreitung des Realunterschieds konnte zur Folgerung führen, die Welt sei ewig. Daraus ergab sich ein Widerspruch zur christlichen Schöpfungslehre, der zufolge Gott die Welt aus dem Nichts erschaffen hat. Ausschluss des Irrationalen aus der Philosophie Dietrichs konsequentes Festhalten an der Forderung, theologische und philosophische Aussagen müssten zusammen ein durchgängig konsistentes System ergeben, brachte ihn in Konflikt mit der philosophischen Begründung der kirchlichen Lehre von der Transsubstantiation, der Wandlung von Brot und Wein in den Leib und das Blut Christi in der Eucharistie. Diese Lehre war in der mittelalterlichen Kirche ein verbindlich festgelegtes Dogma. Dem kirchlichen Dogma zufolge verschwindet bei der Eucharistie die Brotsubstanz und wird durch die göttliche Substanz des Leibes Christi ersetzt, wobei aber die Eigenschaften des Brotes erhalten bleiben. Philosophisch ausgedrückt bedeutet das, dass Eigenschaften (Akzidenzien) ohne die Substanz, der sie als ihrem Träger angehören, existieren können. Das widerspricht jedoch der Definition des Akzidens als das, was nicht durch sich (per se) bestehen kann, also nicht von seiner Substanz abtrennbar ist. Die charakteristischen Eigenschaften eines Brotes können nur so lange existieren wie das Brot; wenn dieses aufhört Brot zu sein, müssen auch die entsprechenden Eigenschaften verschwinden, da sie dann keinen Träger mehr haben. Dieser Sachverhalt stellte für die philosophisch gebildeten mittelalterlichen Theologen, darunter auch Thomas von Aquin, ein schweres Problem dar, denn sie gingen davon aus, dass Gott nichts Widersprüchliches und damit logisch Unmögliches bewirkt, sondern das Gesetz vom zu vermeidenden Widerspruch beachtet. Thomas versuchte den Widerspruch durch die These zu beheben, ein Akzidens sei zwar in der Regel, aber nicht notwendigerweise an seine Substanz gebunden, es könne im Ausnahmefall nach Gottes Willen substanzlos sein. Dagegen wandte sich Dietrich. Er machte geltend, die Annahme eines Akzidens ohne zugehörige Substanz sei nach der auch von Thomas angenommenen Bestimmung des Begriffs Akzidens per Definition schlechthin unmöglich. Hier werde gegen den Grundsatz verstoßen, dass Gottes Allmacht nichts bewirken könne, was einen Widerspruch einschließe, obwohl auch die Thomisten diesen Grundsatz akzeptierten. Hinter dieser Auseinandersetzung stand die prinzipielle Frage, ob man einen Widerspruch in Kauf nehmen und damit bewusst ein irrationales Element in die Wissenschaft einführen dürfe, um zu einem erwünschten Ergebnis zu gelangen. Dietrich kritisierte Diskursteilnehmer, die den Anspruch erhoben, ihre Position rational zu begründen, aber den rationalen Diskurs aufgaben, sobald er zu Konsequenzen führte, die sie für unannehmbar hielten. In der philosophischen Verteidigung der Transsubstantiationslehre sah er den Versuch, einem Dilemma durch spitzfindige Ausreden, terminologische Unschärfe und Inkonsequenz zu entkommen. Dagegen protestierte er vehement, denn er meinte, dass mit solchen Vorgehensweisen das Fundament der Wissenschaft zerstört werde. Erkenntnistheorie Nach Dietrichs Verständnis ist Erkenntnis ein Finden der Wahrheit in einer verborgenen Schatzkammer, im „Versteck des Geistes“ (abditum mentis), das der Mensch in sich selbst entdecken kann, wenn er sich ihm zuwendet. Er braucht die Wahrheit nicht in der Außenwelt zu suchen, denn er besitzt sie bereits in seinem eigenen Geist. Bei dieser Erklärung der Erkenntnis handelt es sich um ein Konzept, dessen Ausgangspunkt eine Überlegung des spätantiken Kirchenvaters Augustinus bildet. Das „Versteck des Geistes“ ist für Augustinus und für Dietrich gleichsam der „Ort“ in der Seele, an dem ihre Wissensschätze gespeichert sind. Dort trägt sie das Wissen seit jeher in sich, doch wird sie sich dessen erst dann bewusst, wenn sie ihre Aufmerksamkeit darauf richtet. Dietrich griff das Konzept des Augustinus auf und entwickelte es weiter, wobei er den bis dahin eher vagen Sprachgebrauch von abditum mentis terminologisch schärfte. In Dietrichs Modell wird das „Versteck“ des Augustinus mit dem „tätigen Intellekt“ der aristotelisch-scholastischen Philosophie gleichgesetzt. Der tätige Intellekt ist die menschliche Vernunft in ihrer Eigenschaft als erkennende Instanz, die aktuell ein bestimmtes Erkenntnisobjekt erfasst. Das Erfassen seiner Objekte vollbringt der tätige Intellekt aktiv mittels seiner eigenen Tätigkeit; er ist davon nicht nur passiv betroffen wie ein Sinnesorgan, das eine Sinneswahrnehmung „erleidet“, indem es einen einströmenden Sinneseindruck aufnimmt. Dadurch, dass er konkret in Aktion tritt, unterscheidet sich der tätige Intellekt vom „möglichen“ (intellectus possibilis). Der mögliche Intellekt ist die Vernunft als erkenntnisfähige, aber nicht aktuell ein bestimmtes Objekt erkennende Instanz. Mit seinem Verständnis des tätigen Intellekts grenzt sich Dietrich fundamental vom Thomismus ab. Für die Thomisten ist der tätige Intellekt ein „akzidentelles Seelenvermögen“, das heißt: eine Fähigkeit oder Funktionsweise der Seele, die nicht notwendigerweise zu deren Wesen gehört, sondern als etwas Äußerliches, gleichsam von außen „Hinzukommendes“ zur Seele hinzutritt. Er verhält sich zu ihr wie ein Instrument, dessen einzige Aufgabe darin besteht, ihr Erkenntnis zu ermöglichen. Für Dietrich hingegen ist der tätige Intellekt kein bloßes Mittel zur Erkenntnis, sondern er ist selbst die erkennende Instanz. Er existiert als Substanz nicht unabhängig von der Seele, er tritt nicht von außen zu ihr hinzu, sondern er ist inwendig (intrinsisch) als konstituierender Faktor in ihr und macht sie zu dem, was sie ist. Allerdings ist er während des irdischen Lebens des Menschen nicht so mit der Seele verbunden wie eine substantiale (wesensbestimmende) aristotelische Form; anderenfalls besäße der Mensch vollkommene Einsicht. Die vollendete Verbindung des tätigen Intellekts mit der Seele bleibt der künftigen Seligkeit vorbehalten. Als irdisches Wesen ist der Mensch auf den möglichen Intellekt angewiesen und erkennt daher nur mangelhaft, obwohl der gottförmige tätige Intellekt in seiner Seele ist. Der Gegensatz zwischen Dietrichs Intellekttheorie und der thomistischen tritt auch in der Lehre von der Gotteserkenntnis scharf hervor. Dabei geht es um die „beseligende Schau“ (lateinisch visio beatifica), die in der biblischen Verheißung verkündete unmittelbare Gotteswahrnehmung der Seligen im Himmel. Dietrich hält die Gottesschau für eine unmittelbare Folge der Beschaffenheit des tätigen Intellekts. Dieser sei aufgrund seiner Natur befähigt, die göttliche Wesenheit wahrzunehmen; dazu bedürfe er keiner besonderen, von außen hinzukommenden Gnade Gottes. Thomas hingegen schließt aus, dass ein Geschöpf von sich aus imstande ist, die Distanz zum Schöpfer zu überbrücken und dessen Wesen zu erfassen. Er meint, dazu sei eine besondere akzidentelle Disposition erforderlich. Diese werde den Seligen durch einen Akt der göttlichen Gnade verliehen, durch den das „Gnadenlicht“ oder „Licht der Herrlichkeit“ (lateinisch lumen gloriae) empfangen werde. Erst dadurch werde der Intellekt „gottförmig“. Einer grundlegenden These Dietrichs zufolge ist der menschliche Intellekt seiner Natur nach immer in aktuellem Vollzug (intellectus per essentiam semper in actu). Niemals ist er auf die bloße ihm innewohnende Fähigkeit zum Wirken beschränkt, vielmehr verwirklicht sich diese Fähigkeit unter allen Umständen als tatsächlich vollzogene Tätigkeit. Nichts von dem, was dem tätigen Intellekt zukommt, hat er von außen oder nur zufällig; vielmehr gehört alles, was er hat, zwangsläufig als Wesensmerkmal untrennbar zu ihm. Somit erweist er sich als autonom. Wenn etwas in ihn eintritt, kann dies nur auf seine Weise geschehen, also als intellektuelle Tätigkeit. Im Gegensatz zur aristotelischen Auffassung, wonach ein Wesen erst sein muss, bevor es tätig werden kann, konstituiert sich nach Dietrichs Verständnis der menschliche Intellekt selbst als seiend, indem er sich selbst erkennt, das heißt: indem er in sich seinen göttlichen Grund denkend erfasst. Demnach denkt der Intellekt nicht, weil er ist, sondern er ist, weil er denkt; er denkt sowohl sein Denken als auch sein Sein. Innerhalb des Intellekts ist keine Unterscheidung von Tätigem und Tätigkeit, Subjekt und Objekt möglich; vielmehr ist er so einfach und einheitlich, dass in ihm seine Substanz, seine Tätigkeit und sein Objekt in eins zusammenfallen. So einfach wie der Intellekt muss auch seine Selbsterkenntnis sein. Somit ist sie irrtumsfrei, denn sie basiert nicht auf einem Urteil, dessen Teile falsch verknüpft sein könnten. Als „tätiger“ hat der Intellekt prinzipiell die Fähigkeit, alles zu setzen, und als „möglicher“ die Möglichkeit, alles zu werden. Durch sein eigenes Wesen trägt er Ähnlichkeit mit der Gesamtheit des Seienden in sich, und zwar auf einfache Weise, da sein Wesen einfach ist. Die Vielheit ist in ihm intellektuelle Einheit, und aufgrund dieser Einheit vermag er alles zu erkennen. Indem er sich selbst erkennt, erkennt er zugleich seine Ursache und die übrigen Dinge. Diese drei Gegenstände seiner Erkenntnis erfasst er nicht in drei Vollzügen, sondern in einem einzigen einfachen Akt. Aufgrund seiner Beschaffenheit, die ihn dazu befähigt, kommt ihm in der Schöpfungsordnung ein außerordentlich hoher Rang zu. Ein wesentlicher Aspekt von Dietrichs Erkenntnistheorie ist die Unterscheidung zwischen der Phantasie oder Einbildungskraft (virtus imaginativa), der Denkkraft (virtus cogitativa oder ratio particularis) und der intellektuellen Einsicht (ratio universalis). Über Phantasie verfügen alle „Sinnenwesen“ (animalia), also auch die Tiere; die beiden anderen Kräfte bleiben dem Menschen vorbehalten. Die Denkkraft bestimmt ein wahrgenommenes Individuum als Exemplar seiner Art, beispielsweise einen Hund als Hund. Sie setzt zusammen und trennt, wie Dietrich es ausdrückt, sie verbindet Zusammengehöriges und hält das Verschiedene auseinander. Indem sie von den individuellen Besonderheiten absieht, nähert sie sich dem Allgemeinen. Sie kann aber keine Definitionen liefern; dazu ist nur die intellektuelle Einsicht imstande. Nur diese hat es mit dem Allgemeinen im engeren Sinn zu tun; nur sie erkennt die Bestimmtheit einer Sache, welche die Grundlage der Definition bildet, und urteilt darüber, ob ein Begriff sachgemäß und stets im selben Sinn verwendet wird. Die intellektuelle Einsicht erfasst das Allgemeine als das Notwendige, das unabhängig von Raum und Zeit immer gegeben ist. Das Notwendige ist dem Intellekt aus sich selbst bekannt. Es wird nicht durch Ableitung aus etwas anderem bewiesen, sondern ist selbst die Grundlage aller Beweise. Beweise werden durch Schlussfolgerung aus Notwendigem geführt. Auf diesem Weg entsteht Wissenschaft. Sie besteht aus dem Besitz von Erkenntnis des Notwendigen und des daraus korrekt Gefolgerten. Burkhard Mojsisch weist darauf hin, dass Dietrichs Wissensverständnis nicht als mystisch zu verstehen ist. Diese Bezeichnung wäre verfehlt, denn Dietrich durchdenkt die Dynamik der Vernunft selbst in ihren unterschiedlichen Vollzügen und stellt dabei die Vernunft nicht in einen Gegensatz zu Gott. Einen solchen Gegensatz hält er vielmehr für widersinnig, weil dann die Vernunft, wenn sie sich mit Gott befasst, etwas ihr Äußerliches und Fremdes zu denken hätte, was mit ihrem Wesen unvereinbar wäre. Zeittheorie Vor der Erläuterung seiner Zeittheorie setzt sich Dietrich mit dem Begriff des Kontinuierlichen auseinander. Dessen Klärung sieht er als Voraussetzung für das Verständnis der Zeit. Aristoteles folgend versteht er unter einem Kontinuum etwas, was einerseits unendlich teilbar ist, andererseits eine Ausdehnung zwischen zwei Enden (termini) besitzt. Bei einer Linie ist der terminus ein Punkt. Diesen bestimmt Dietrich mit Berufung auf Euklid als etwas, das nur durch seinen Bezug auf das Kontinuum bestimmbar ist. Der Endpunkt einer Linie ist nichts als ein Element der Verneinung in Bezug auf die Ausdehnung des Kontinuums. Das bedeutet, dass die termini im Kontinuierlichen und in Abhängigkeit von ihm verwirklicht werden und nicht das Kontinuum durch sie. Das Kontinuum ist die übergeordnete Gegebenheit. Daraus folgt für Dietrich, dass Kontinuierliches nicht aus unteilbaren Größen zusammengesetzt sein kann. Die Zeit besteht nicht aus Zeitpunkten. Sie ist ebenso wie die Bewegung und im Gegensatz zum Raum kein permanentes, sondern ein sukzessives Kontinuum, da ein zeitlicher Beginn dann nicht mehr wirklich ist, wenn ein zeitlicher Endpunkt erreicht wird. Von diesen Überlegungen ausgehend erläutert und begründet Dietrich seine Zeittheorie. Aus dem sukzessiven Charakter des Zeitkontinuums folgert er, dass dessen termini nicht in der Natur existieren können wie diejenigen des Raumes, da sonst aus dem sukzessiven Kontinuum ein permanentes würde. Vielmehr müssen die termini von dem, der die Zeit misst, als Grenzpunkte gesetzt werden. Die messende Instanz ist die Seele. Daher zählt Dietrich die Zeit nicht zu den Naturdingen (entia naturalia), sondern zu den Produkten der Seele. Somit lehnt er den „Zeitrealismus“ ab, dem zufolge Zeitliches ebenso wie Räumliches zu den Naturgegebenheiten gehört. Die Vorstellung einer analog zu räumlicher Ausdehnung „ausgedehnten“ Zeit hält er für eine Illusion; mit seiner Argumentation will er beweisen, dass der Zeitrealismus widersprüchlich sei. Für ihn ist die Zeit das Produkt eines Zusammenspiels von Vorstellungsvermögen und Intellekt. Der individuelle menschliche Intellekt ist zwar unteilbar, aber durch sein Vorstellungsvermögen kann sich das Individuum als teilbar erleben und dadurch Zeit erfahren. Die Verbindung des Unteilbaren mit dem Teilbaren ermöglicht Zeit. Der Augenblick, das „Jetzt“, ist unteilbar; dadurch enthält die teilbare Zeit auch ein Moment der Unteilbarkeit. Vergangenheit und Zukunft werden als solche von der Vernunftseele erzeugt, indem diese sie so bestimmt. Wenn keine Seele die Zeit misst und ihr damit einen zahlenmäßig erfassbaren Charakter verleiht, existiert keine Zeit. Nur dadurch, dass der tätige Intellekt nicht selbst im Zeitfluss mitströmt, sondern jenseits der Zeit existiert und ihr überlegen ist, kann er Zeitpunkte markieren und Zeit messen, womit er ein „Früher“ und ein „Später“ schafft. Die Kontinuität der Zeit, die ihrer Zahlhaftigkeit nicht widerspricht, ergibt sich aus ihrem Ursprung; es handelt sich um ein seelisches Kontinuum. Nach diesem Verständnis ist die Zeit kein Gegenstand der Physik, sondern fällt in den Zuständigkeitsbereich der Metaphysik. Mit einer Reihe von Argumenten stützt Dietrich seine These ab, wobei er auf mögliche Einwände eingeht. Ein Einwand lautet, dass nach der aristotelischen Zeitlehre die Bewegung die notwendige Bedingung für die Bildung eines Zeitbewusstseins ist. Gemeint ist die Himmelsbewegung als normale Grundlage der Zeitmessung. Sie liefert das außerseelische Zeitsubstrat, das die Unterscheidung eines „Vorher“ und „Nachher“ ermöglicht. Dieser Argumentation hält Dietrich entgegen, dass das Zeitsubstrat die Bildung eines Vorher und Nachher nur ermögliche; die Verwirklichung sei ausschließlich Sache der Seele. Für Dietrich ist die Himmelsbewegung keine echte Ursache der Zeit. Sie ist nur sehr indirekt an deren Konstitution beteiligt, indem sie den Konstitutionsprozess in der Seele in Gang bringt. Das geschieht dadurch, dass die Himmelsbewegung dem Menschen Gelegenheit gibt, durch sein Vorstellungsvermögen das Zeitkontinuum in der Seele als solches zu erfahren. Die Konstitution der Zeit wird dann vom Intellekt geleistet. Kosmologie Besonders deutlich zeigt sich Dietrichs Ablehnung des Thomismus in der Kosmologie. Sein Weltbild steht in scharfem Gegensatz zum thomistischen Verständnis der Schöpfung. Er deutet die Entstehung des Geschaffenen als ewige Emanation, als Hervorgehen der Dinge aus Gott, den er mit dem neuplatonischen Einen gleichsetzt. Allerdings weist Dietrich auf den hypothetischen Charakter der Emanationslehre hin, die nicht in der Bibel enthalten sei. Zwischen Gott und die sichtbare Welt setzt er hierarchisch geordnete, schöpferisch tätige Intellekte als Zwischenstufen der kosmischen Ordnung. Die Anregung zu diesem Konzept verdankt er der Kosmologie des spätantiken Neuplatonikers Proklos. Dietrichs astronomisches Modell ist das zu seiner Zeit herrschende geozentrische. Es basiert auf der Annahme, dass die Erde in der Mitte des Weltalls ruht. Die Bewegungen am Himmel werden mit der Hypothese erklärt, dass die Gestirne an durchsichtigen, konzentrisch um die Weltmitte angeordneten Hohlkugeln, den Himmelssphären, befestigt sind, die gleichförmig rotieren. Durch die Befestigung werden die Himmelskörper in ihren Kreisbahnen gehalten. Ihre Bewegungen sind also ein Ergebnis der Drehung der unsichtbaren Sphären. Dietrich übernimmt eine damals gängige Sichtweise, der zufolge die Rotation der Himmelssphären auf vernunftbegabte Wesen zurückzuführen ist, die als Beweger fungieren. Im Gegensatz zu Thomas zählt Dietrich diese Wesen aber nicht zu den Engeln, sondern sieht in ihnen Himmelsseelen, die mit den einzelnen Himmelskörpern untrennbar verbunden sind. Ihm missfällt die thomistische Auffassung, der zufolge die Sternbeweger niedere Engel sind, die Gott zur Bewegung der Sternschalen abgeordnet hat. Nach dem thomistischen Modell sind die Beweger für ihre Sterne nur Wirkursache, nicht Formursache. Sie sind nur akzidentell, nicht ihrem Wesen nach mit den ihnen von Gott zugewiesenen Himmelskörpern verbunden. Eine so äußerliche, niedere Form von Kausalität schließt Dietrich für den Himmel aus, da die Bewegungen dann etwas Gewaltsames hätten, das des Himmels unwürdig sei. Er meint, die Sternbewegung müsse natürlich sein und auf einer inneren, wesenhaften Verbundenheit von Beweger und Bewegtem beruhen. Wer hier eine akzidentelle Beziehung annehme, verrate damit nicht nur seine Unwissenheit, sondern seine törichte Rohheit. Dietrich vermeidet es bei dieser scharfen Polemik, Thomas oder einzelne Thomisten namentlich zu nennen. Dietrich ist sich über den spekulativen Charakter seiner kosmologischen Hypothesen im Klaren. Auch hier bemüht er sich um Kohärenz und legt Wert auf strikte Rationalität; er konstatiert, dass er sich auf rationale Mutmaßungen beschränken muss. Gesichertes Wissen beansprucht er nicht einmal hinsichtlich der Existenz von „Intelligenzen“ (körperlosen Vernunftwesen). Nachdrücklich wendet er sich gegen theologische Eingriffe in die Lehre vom Aufbau des Universums; die Kosmologie habe mit Glaubensinhalten nichts zu tun und dürfe nicht mit ihnen vermengt werden. Wie die antiken Neuplatoniker ist Dietrich der Überzeugung, dass das Universum vollkommen sei. Mit Berufung auf Augustinus stellt er fest, dass alles, was aufgrund richtigen Denkens über ein vollkommenes Universum ausgesagt werden könne, zwangsläufig mit dem, was Gott tatsächlich bewirkt habe, identisch sein müsse. Wichtig ist ihm die geordnete, gesetzmäßige Beschaffenheit des Kosmos, die jeden Zufall bei den Gestirnbewegungen ausschließt. Er stützt sich auf den Grundsatz, dass Gott die Welt vernünftig gegründet habe und daher ihre Vernünftigkeit zu unterstellen sei. In Dietrichs Spätwerk verfestigt sich seine Verankerung in der neuplatonischen Kosmologie. Seine früher mit Vorbehalt geäußerte Zustimmung zu deren Modell wird nun mit Bestimmtheit vorgetragen. Dabei handelt es sich um Gedankengut des Proklos und des neuplatonischen Liber de causis (Buch von den Ursachen). Die Rückkehr zum Ursprung Wie bei Proklos folgt in Dietrichs Modell auf den Hervorgang des Universums aus der Einheit die Rückkehr aller Dinge zu ihrem göttlichen Ursprung. Sie wird von der Sehnsucht bewirkt. Jedes Geschöpf hat von Natur aus die Neigung, sich selbst aktiv zu übersteigen und den Weg zu seinem Ursprung einzuschlagen. Dieses Streben ist Ausdruck der Bestimmung aller Wesen, es ist ihre naturgemäße Aktivität. Die damit hervortretende Ausrichtung auf das Gute zeigt, dass die Schöpfung gut ist. In Dietrichs Universum ist wie bei Proklos alles von der Dynamik des Hervorgangs und der Rückkehr geprägt. Hierbei ist allerdings zu beachten, dass hinsichtlich des tätigen Intellekts die Rückkehr nicht als Vorgang in der Zeit zu verstehen ist. Im Gegensatz zum möglichen Intellekt ist der tätige nicht der Zeitlichkeit, äußeren Einwirkungen und dem Zufall unterworfen, sondern ewig und unwandelbar. Daher fällt für ihn zwischen Hervorgang und Rückkehr keine Zeitspanne; es handelt sich nicht um zwei Tätigkeiten, sondern um eine einzige. Er wird die Seligkeit nicht künftig gemäß der biblischen Verheißung erlangen, denn er ist in sich immer selig und kann nichts werden, was er nicht schon wäre. Die künftige Seligkeit, die von den Christen erhofft wird, betrifft den möglichen Intellekt, der in der Zeit existiert und für den es daher eine zeitliche Zielerreichung gibt. Der Mensch erlangt die Seligkeit dadurch, dass sich das Verhältnis des tätigen zum möglichen Intellekt ändert, indem der tätige die Funktion übernimmt, die substantiale Form des möglichen zu sein. Die ewige Glückseligkeit des Menschen kann nur enthüllen, was jetzt schon im „Versteck des Geistes“, im tätigen Intellekt leuchtet. Anthropologie Trotz Dietrichs fundamentaler Kritik am Thomismus gibt es Übereinstimmungen zwischen seiner Lehre und der thomistischen. Sie betreffen insbesondere die Anthropologie. Hinsichtlich des Verhältnisses von Form und Materie im Menschen folgt Dietrichs Konzept dem des Thomas von Aquin. Nach der Auffassung der beiden Magister gibt es im Menschen nur eine einzige „substantiale“ – sein Wesen bestimmende – Form, die Seele, und nur eine einzige Materie, die physische Materie des Körpers. Geistige Substanzen wie die menschliche Seele sind nicht aus einer Form und einer geistigen Materie zusammengesetzt, sondern sind reine Formen, und der Körper ist reine Materie und weist keine eigene Form auf, sondern erhält seine Form ausschließlich von der Seele. Das Gegenmodell ist die augustinisch geprägte Anthropologie namhafter Theologen des Franziskanerordens, der sogenannten „Franziskanerschule“. Die Franziskanerschule schreibt der Seele eine eigene, vom Körper unabhängige, nicht sinnlich wahrnehmbare Materie zu und nimmt an, dass die Körpermaterie ihre Beschaffenheit als menschlicher Körper von einer eigenen „Form der Körperlichkeit“ (forma corporeitatis) erhält. Eine solche von der Seele unabhängige Form der Körperlichkeit wird in der thomistischen Anthropologie, der Dietrich in diesem Punkt folgt, ausgeschlossen. Zu deren Kernthesen gehört der Satz von der Seele als einziger Form des Körpers (anima unica forma corporis). Dietrich ist der Überzeugung, dass der Mensch seine spezifische Vollkommenheit durch seine intellektuelle Betätigung erwirbt. In dieser sieht er die höchste Form des menschlichen Lebens. Aus dem hohen Rang dieser Höchstform leitet er die Folgerung ab, dass sie ihr Prinzip in sich selbst haben müsse. Daraus ergibt sich für ihn, dass der tätige Intellekt nicht nur das begründende Prinzip der menschlichen Seele, sondern wesenhaft mit ihr identisch ist. Er ist nicht nur seiner Wirkung nach, sondern seiner Substanz nach dem Menschen innerlich. Seine Funktion in der Seele entspricht der des Herzens im Körper. Individuation Zu den größten Herausforderungen, vor die sich die mittelalterliche Philosophie gestellt sah, zählte das Problem der Beziehung zwischen dem Allgemeinen (den Gattungen und Arten) und der Vielzahl der jeweils zu einer bestimmten Art (species) gehörenden Exemplare (individua). Zu Dietrichs Zeit versuchten die meisten Philosophen, einer antiken Denkweise folgend, das Dasein der einzelnen Dinge – deren jeweils besondere Existenz als Exemplare ihrer Art – zu erklären, indem sie das Einzelding, die einzelne konkret vorliegende Ausprägung von etwas, auf das Allgemeine und Artspezifische zurückführten. Damit stellte sich die Frage nach der Ursache der „Individuation“, des Vorhandenseins der verschiedenen, durch gemeinsame artspezifische Eigenschaften verbundenen Exemplare einer Art. Benötigt wurde ein Individuationsprinzip, das heißt: ein Grund dafür, dass es nicht nur Begriffe – platonische „Ideen“ oder aristotelische „Formen“ – gibt, sondern auch „Individuen“, einzelne Wesen und Objekte, die hier und jetzt das Allgemeine und Artgemäße in sich tragen und verkörpern. In der Auseinandersetzung mit diesem Problem klärt Dietrich zunächst den Begriff „Individuum“. Für ihn ist ein Individuum eine Einheit, die nicht nur durch ihre artspezifischen Merkmale bestimmt ist, sondern zusätzlich auch durch besondere Bestimmungen, die nicht zu den Wesensmerkmalen der betreffenden Art zählen. Bei den besonderen Bestimmungen handelt es sich um zufällige individuelle Eigenschaften, beispielsweise bei einem Gegenstand die ihm eigentümliche räumliche Ausdehnung. Wenn hingegen eine Einheit ausschließlich durch ihre spezifischen Artmerkmale bestimmt ist und darüber hinaus keine Besonderheiten aufweist, so handelt es sich nicht um ein Individuum; eine solche Einheit ist vielmehr die Art selbst. Von diesen Voraussetzungen ausgehend wendet sich Dietrich der Frage nach der Individuation des Intellekts zu. Seinem Wesen nach ist der Intellekt universal, denn sein Inhalt sind ausschließlich Begriffe, also nur Allgemeines. Daher ist es erklärungsbedürftig, dass er sich trotz seiner ganz auf das Allgemeine gerichteten Natur einzelnen Personen zuordnen lässt und als Intellekt dieses oder jenes Menschen auftritt. Jeder Mensch hat seinen eigenen tätigen Intellekt. Diese Individuation resultiert nach Dietrichs Lehre aus dem Umstand, dass der menschliche Intellekt mit der Seele eine Wesenseinheit bildet, die als Ganzes eine Individualität ist. Innerhalb des Ganzen entfaltet sich der Intellekt auf individuell unterschiedliche Weise. Das hat zur Folge, dass das Ganze neben den Artmerkmalen auch individuelle Bestimmungen aufweist. Diese ergeben sich aus den „qualitativen substantialen Eigenheiten“ (modi substantiales qualitativi) des jeweiligen Intellekts, deren Intensität je nach der Beschaffenheit der einzelnen Seele schwankt. Sie heißen „substantial“, weil sie das Individuum als Substanz betreffen, das heißt: ihm fest zugeordnet sind. Die unterschiedliche Ausprägung der qualitativen substantialen Eigenheiten des Intellekts in den verschiedenen Seelen ist somit für Dietrich die Grundlage der Individuation. Das bedeutet, dass der tätige Intellekt die Existenz der einzelnen Seelen und damit der menschlichen Individuen bewirkt. Mit seinem Individuationskonzept wendet sich Dietrich gegen die konkurrierende Theorie des Thomas von Aquin, der zufolge für den Menschen die Materie, das heißt sein Körper, das Individuationsprinzip ist. Für Thomas ist es der Stoff, der bewirkt, dass es eine Leib-Seele-Einheit gibt, die nicht nur „Mensch“, sondern „dieser Mensch“ ist. Nach Dietrichs Verständnis hingegen ergibt sich die menschliche Individualität nicht aus der Verbindung der Seele mit dem Körper. Der Körper wird für die Individuation nicht benötigt, denn der tätige Intellekt individuiert sich selbst, indem er Akte setzt, deren Eigenheiten über das hinausgehen, was in seiner Wesensdefinition liegt. Somit unterscheidet sich Dietrichs Konzept von dem thomistischen dadurch, dass sein Individuationsprinzip nicht materiell, sondern geistig ist. Aus diesen Überlegungen ergibt sich jedoch für Dietrich keine Hochschätzung der Individualität. Er fasst den Kosmos als hierarchisch geordnet auf, wobei die Arten von Natur aus über den Individuen stehen. Die Arten gehören notwendigerweise zum Weltbestand, die einzelnen Individuen hingegen existieren nur zufällig. Die Natur zielt nur auf die Erhaltung der Arten ab, denn sie ist ausschließlich auf das Allgemeine und Bleibende ausgerichtet. Individuen werden beiläufig hervorgebracht, sie sind vergänglich und ersetzbar. Nur in ihrer Eigenschaft als austauschbare Repräsentanten des Universalen sind sie von Bedeutung, nicht um ihrer selbst willen. Ihre Existenz dient dem Zweck, den Fortbestand der Arten zu ermöglichen. Physik Den Anstoß zur wissenschaftlichen Untersuchung physikalischer Fragen gaben Dietrich die einschlägigen Schriften des Aristoteles. Dessen Abhandlung über Meteorologie wurde bei den Dominikanern im Unterricht behandelt; sie warf die Frage nach der Entstehung des Regenbogens auf, mit der sich Dietrich intensiv auseinandersetzte. In der Naturforschung konzentrierte er sich vor allem auf Probleme der Optik. Aus naturphilosophischer Sicht nahm er zu Fragen der Lichttheorie Stellung; als Physiker untersuchte er neben dem Regenbogen auch andere Lichtphänomene, besonders den Halo. Außerdem befasste er sich mit der Lehre von den Elementen. Lichttheorie Wie andere Magister, die sich mit Lichttheorie befassten, erklärte Dietrich das Licht und die Farben mit den Mitteln der aristotelischen, scholastischen Terminologie. Auch hier bekämpfte er eine etablierte Position. Er bestritt, dass die Erkenntnis von Sinnesobjekten dadurch zustande kommt, dass die Objekte direkt auf die sinnliche Erkenntniskraft einwirken. Nach seiner Ansicht wirken zwar Sinnesdinge auf Erkenntnisorgane ein, aber die Behauptung, das Objekt erzeuge im Sinnesorgan das Erkenntnisbild, ist falsch, denn etwas Niederes kann nicht etwas Höheres hervorbringen. Vielmehr findet die Sinneswahrnehmung aufgrund eines inneren Prinzips des Wahrnehmenden statt, sie ist eine Aktivität der Seele, wie Dietrich mit Berufung auf Augustinus und Averroes feststellte. In der Frage, ob das Licht eine Substanz oder ein Akzidens ist, entschied sich Dietrich für Letzteres. Er hielt das Licht für eine „vervollkommnende Form“ (forma perfectionalis), eine Form, die einem bereits bestehenden Wesen eine Vollkommenheit verleiht, die dieses Wesen vorher nur potentiell in sich trug. Die Erklärung des Regenbogens Von der Schönheit der atmosphärischen Himmelserscheinungen war Dietrich tief beeindruckt. Da sein besonderes Interesse der Ordnung und Gesetzmäßigkeit im Kosmos galt, bewunderte er die Regelmäßigkeit der Farbenfolge im Regenbogen und bemühte sich um ihre Erklärung. Das Ergebnis seiner Forschungen war die Schrift De iride et de radialibus impressionibus (Über den Regenbogen und die Strahleneinwirkungen), ein Spätwerk. Dort erklärte er aufgrund der Auswertung von „verschiedenen und untrüglichen Erfahrungen“ die Entstehung der Regenbogenfarben, ihre Anzahl und „unverletzliche Abfolge“. Nach seinen Angaben stützte er sich sowohl auf eigene Beobachtungen als auch auf einschlägige Literatur. Seine Theorie des Regenbogens knüpft an Überlegungen Avicennas an. Von ihr berichtete er 1304 dem Ordensgeneral Nicolás Aymerich auf einem Konvent in Toulouse. Die Beobachtungen zur Brechung und Reflexion des Lichts stellte er mit einem sechskantigen Bergkristall, einer kleinen und einer größeren Kristallkugel sowie mit Tautropfen an. Als Lichtquellen verwendete er die Sonne und Kerzen. Seine Erklärung der Entstehung des Regenbogens ist dem Grundprinzip nach korrekt. Ihre Neuartigkeit gegenüber älteren Theorien besteht darin, dass die Phänomene ausschließlich auf den Strahlengang zurückgeführt werden, sowie in der Erkenntnis, dass die Brechung und Reflexion der Strahlung innerhalb der einzelnen Wassertropfen die Ursache ist. Dietrich unterschied fünf Arten des Strahlengangs. Die erste ist die einfache Reflexion, wie sie in einem gewöhnlichen Spiegel stattfindet. Die zweite liegt vor, wenn der Lichtstrahl in ein dichteres Medium eindringt; dann wird er bei schiefem Einfallswinkel zweifach gebrochen. Dies kann beispielsweise mit einem Prisma, einem sechskantigen Bergkristall, demonstriert werden. Die dritte Art kommt zustande, wenn Lichtstrahlen in einen durchsichtigen kugelförmigen Körper einfallen: Der Lichtstrahl dringt in die Kugel ein, wird beim Eintritt in das dichtere Medium gebrochen, von der inneren Fläche des Kugelmantels einmal oder mehrfach reflektiert und beim Austritt erneut gebrochen. Dabei kreuzt sich der eintretende Strahl nicht mit dem austretenden. Bei der vierten Art entspricht der Strahlengang dem der dritten, aber mit dem Unterschied, dass der Lichtstrahl schräger einfällt und der kugelförmige Körper weiter vom Auge entfernt ist; in diesem Fall kreuzen sich der eintretende und der austretende Strahl. Die fünfte Art ist die zweimalige Brechung und Reflexion des Strahls in einer Dunstschicht. Auf die dritte Art des Strahlengangs führte Dietrich die Entstehung des Hauptregenbogens zurück, auf die vierte die des Nebenregenbogens, bei dem die Farben in umgekehrter Reihenfolge auftreten. Anordnung und Ort der Farben erklärte er aus dem Strahlengang. Er nahm nicht wie Aristoteles drei Regenbogenfarben an, sondern vier: von außen nach innen Rot, Gelb, Grün und Blau. Dabei stützte er sich auf Beobachtungen zur Dispersion bei unterschiedlichen Objekten, darunter Tautropfen in Spinnengeweben und auf Grashalmen und künstliche Zerstäubungen. Den Grund für die Vierzahl sah er darin, dass es vier Möglichkeiten der Kombination von größerer oder geringerer Leuchtkraft des Strahls mit größerer oder geringerer Durchsichtigkeit des brechenden Mediums gibt. Aus der Wechselwirkung dieser Faktoren entstehen nach seiner Theorie die Regenbogenfarben. Dietrichs Modell bietet auch eine Erklärung für die Höhe des Regenbogens über dem Horizont, für seine kreisförmige Gestalt und dafür, dass er manchmal als Halbkreis, manchmal kleiner als ein Halbkreis erscheint, sowie für die Dunkelheit des Bandes zwischen Haupt- und Nebenregenbogen. Hinsichtlich der Geometrie des Regenbogens fußt das (auch bei Alhazen beschriebene Konzepte nutzende) Modell auf dem des Aristoteles. Elementenlehre Den Ausgangspunkt von Dietrichs Untersuchungen über die Elemente und ihre Verbindungen bildete die damals herrschende Vier-Elemente-Lehre, der zufolge die vier Elemente Erde, Wasser, Luft und Feuer die Bestandteile sind, aus denen sich alle irdischen Körper zusammensetzen. Dietrich bemühte sich um die Lösung von Problemen, die sich aus dieser Vorstellung ergaben. Der Umstand, dass die vier Elemente einerseits Gegensätze bilden, andererseits aber vermischt und miteinander verbunden werden können und durch ihr Zusammentreten zu einheitlichen Körpern werden, war erklärungsbedürftig. Außerdem stellte sich die Frage, was aus den einzelnen Elementen, ihrem Wesen und ihren Eigenschaften wird, wenn sie sich zu einem neuen Naturding verbinden. Zu klären war, ob sie in dem Naturding aktual oder nur der Möglichkeit nach vorhanden sind. Eine weitere Frage war, ob es einen undifferenzierten Urstoff gibt, ein Element der Elemente, das den vier Elementen zugrunde liegt. Dietrich unterschied zwei Arten der Verwendung des Begriffs „Elemente“: Elemente im gängigen Sinn, „gemäß der Substanz“, das heißt die sichtbaren Stoffe Erde, Wasser, Luft und Feuer, und Elemente „gemäß der Qualität“. Unter den letzteren verstand er Urqualitäten, Prinzipien, die er von den empirischen Stoffen unterschied. Er meinte, die Elemente seien als reine Qualitäten in der irdischen Welt nicht gegeben, sie seien hier immer schon vermischt. Die Urqualitäten seien der sinnlichen Erfahrung entzogen und nur mittels der Vernunft zu erschließen. Beim Zusammentreten der Elemente unterschied Dietrich zwischen einem bloßen Gemisch (confusio) und einer Verbindung (mixtio), durch die aus den Elementen ein einheitlicher Körper entsteht, wie etwa bei Mineralien. Nach seiner Naturlehre müssen die Elemente in der Verbindung fortbestehen, da sie sonst nicht die Bestandteile der Dinge wären. Sie müssen aber verändert werden, da sonst das Naturding keine einheitliche Beschaffenheit hätte. Die Art ihres Vorhandenseins im Naturding kann im Rahmen der üblichen strikten Unterscheidung von Akt und Potenz nicht befriedigend bestimmt werden: Ihr dortiges Verbleiben kann weder unter das bloß Mögliche noch unter das Verwirklichte, das aktual Seiende eingeordnet werden. Vielmehr muss ihnen ein mittlerer Status zukommen, wie Dietrich im Anschluss an Averroes feststellte. Damit erweist sich das herkömmliche Schema, das nur ein Entweder-oder vorsieht, als zu starr. Bei der Verbindung handelt es sich nicht um ein Nebeneinander der Elemente, sondern um eine Durchdringung, die Fortbestand und Veränderung bedeutet. Die wechselseitige Durchdringung hat zur Folge, dass sich die Elemente in der Verbindung nicht der Position nach unterscheiden. In jedem Raumpunkt existieren immer alle vier; sie treten nur im Verbund auf. Die Beschaffenheit der Verbindung hängt davon ab, welches der Elemente in ihr die Vorherrschaft hat. Naturprozesse sind als Wechsel der Dominanz zwischen den Elementen zu deuten. Hinsichtlich der Frage nach dem Urstoff, der „ersten Materie“, hielt Dietrich alle bisherigen Theorien für unbefriedigend, da sie das schwierige Problem nicht gelöst hätten. Er teilte die verbreitete Überzeugung, dass die Prozesse der Veränderung einen unvergänglichen Grund haben müssen, ein bleibendes Erstes, das alles Werden und Vergehen ermöglicht und selbst der Veränderung entzogen ist. Dieser Urstoff wurde von Thomas und den Thomisten als völlig bestimmungslos und einheitlich betrachtet. Dagegen wandte Dietrich ein, dieses Modell sei unstimmig. Es könne nicht erklären, wie aus der absoluten Einheit die Verschiedenheit der vier Elemente hervorgehe und warum es gerade vier seien. Die Vielgestaltigkeit könne nicht zum völlig Gestaltlosen hinzutreten, als wäre sie zufällig von außen zugefügt. Außerdem könne Thomas keine konkrete Funktion der Urmaterie bei der Entstehung der Elemente angeben. Angesichts dieser Problematik gelangte Dietrich zu der Hypothese, dass man sich die Urmaterie nicht als einheitlich, sondern als bereits strukturiert vorstellen müsse. Rezeption Mittelalter Zu Dietrichs Lebzeiten und in den ersten Jahrzehnten nach seinem Tod fand sein Gedankengut im deutschen Sprachraum bei den Dominikanern einige Beachtung: Seine Lehre beeinflusste Johannes Tauler und Berthold von Moosburg, vermutlich auch Meister Eckhart. Eckharts Rezeption von Ideen Dietrichs ist nicht in den Quellen ausdrücklich bezeugt, sondern nur indirekt und hypothetisch aus inhaltlichen Übereinstimmungen erschlossen. Allerdings kommt, da sie Zeitgenossen waren, als Erklärung von Gemeinsamkeiten auch ein umgekehrtes Verhältnis in Betracht: Dietrich kann Ausführungen Eckharts gekannt haben. Es gibt Anzeichen dafür, dass dies der Fall war. Berthold von Moosburg zitierte Dietrich oft, ohne ihn zu nennen. Unterschiedlich wird in der Forschung die Frage beantwortet, ob oder inwieweit es sinnvoll ist, von einer „deutschen Dominikanerschule“ zu sprechen, deren Ausgangspunkt die Lehrtätigkeit Alberts des Großen in Köln gewesen sein soll. Zu dieser Schule sind insbesondere die nichtthomistischen deutschen Dominikaner Dietrich von Freiberg, Meister Eckhart und Berthold von Moosburg sowie Schüler Eckharts gezählt worden. Der Begriff „Schule“ wird jedoch in der neueren Forschung skeptisch beurteilt, da er eine so nicht bestehende Gemeinsamkeit suggeriere, gravierende Unterschiede zwischen den Ansätzen der Denker verdecke und zu einer Verengung des Blickes führe. Die Problematik hat Niklaus Largier im Jahr 2000 herausgearbeitet. Kurt Flasch kritisierte 2007 vehement die „Wut des Einteilens“ und die „Vergröberung des historischen Denkens durch das Konzept von ‚Strömungen‘ und ‚Schulen‘“. Die Fragwürdigkeit des Begriffs „deutsche Dominikanerschule“ sei deutlich geworden, seit man wisse, „wie uneinheitlich diese ‚Schule‘ war und wie wenig mit diesem Titel gesagt ist“. Auch in volkssprachlicher Literatur wurde Dietrichs Philosophie rezipiert: Der im frühen 14. Jahrhundert tätige Verfasser der Lehre von der Seligkeit (auch Traktat von der wirkenden und der möglichen Vernunft oder Traktat von der Seligkeit genannt) war mit Dietrichs Werk und Denken gut vertraut und plädierte für dessen Lehre von der Seligkeit. Die Seligkeit sei nicht wie bei Thomas von Aquin als passive Haltung zu verstehen; vielmehr sei sie eine immerwährende intellektuelle Aktivität, die das Wesen des Menschen ausmache. Ein weiterer Autor, der sich mit Dietrichs Philosophie befasste, war der Verfasser des fünften der sogenannten „Gaesdonckschen Traktate“, einer anonym überlieferten Abhandlung aus dem niederländischen Sprachraum. Die beiden Texte dokumentieren, dass es eine in der Volkssprache geführte Debatte über Dietrichs Intellekttheorie gab, die Thematik also auch das Interesse von Laien fand. Dabei erfolgte die Auseinandersetzung mit Dietrichs Sichtweise vor dem Hintergrund der Lehre Meister Eckharts. In zwei anonym überlieferten deutschen Gedichten, die zur „Nonnenpoesie“ gehören und aus Klöstern stammen, in denen Dietrich deutsch predigte, wird auf seine Tätigkeit als Prediger eingegangen. Eine Nonne schreibt, der „hohe Meister“ Dietrich habe seine Zuhörer „froh machen“ wollen; er habe die Seele „in den Grund ohne Grund versenken“ wollen. Damit ist der „Seelengrund“ gemeint, der auch in Eckharts Lehre eine zentrale Rolle spielt. Eine breite und nachhaltige Wirkung war den Ideen des Dominikanerphilosophen jedoch nicht beschieden. Im eigenen Orden stieß er bei Heinrich von Lübeck († nach 1336) und Nikolaus von Straßburg († nach 1331) auf Widerspruch. Der Augustiner-Eremit Jordan von Quedlinburg, einer der einflussreichsten Prediger des 14. Jahrhunderts, bezog gegen Dietrichs Lehre von der Gottesschau Stellung. Nach der Mitte des 14. Jahrhunderts geriet Dietrich weitgehend in Vergessenheit. Seine Erklärung des Regenbogens fand anscheinend in den folgenden Jahrhunderten sehr wenig Beachtung. Neuzeit Naturwissenschaftsgeschichtliche Forschung Erst im 19. Jahrhundert erwachte das Interesse an Dietrich wieder. Dabei rückte zunächst seine Regenbogentheorie ins Blickfeld. Sie wurde nun als naturwissenschaftliche Errungenschaft gewürdigt. Den Anfang machte der italienische Physiker und Wissenschaftshistoriker Giovanni Battista Venturi, der in seiner 1814 veröffentlichten Darstellung der Geschichte der Optik ausführlich auf Dietrichs Abhandlung De iride einging. Er meinte, Dietrich habe die Entdeckungen von Markantun de Dominis (1560–1624) und René Descartes (1596–1650) vorweggenommen; er habe de Dominis sogar an Klarheit und Verständnis der Materie übertroffen. Venturis Sichtweise beeinflusste die wissenschaftsgeschichtliche Forschung bis ins 20. Jahrhundert nachhaltig. Dietrichs Experimente wurden zu einem Musterbeispiel für die These, die spätmittelalterliche Naturwissenschaft sei leistungsfähig gewesen und habe einen bleibenden Beitrag zum wissenschaftlichen Fortschritt geleistet. Die Vorkämpfer dieser Ansicht waren Wissenschaftshistoriker, die dem Ansatz der Schule von Pierre Duhem folgten. Sie meinten, Dietrichs erfolgreiche Regenbogenforschung zeige, dass es möglich gewesen sei, auf der Grundlage des damaligen Naturwissenschaftsverständnisses ein konkretes physikalisches Problem experimentell zu lösen. Auch Forscher, welche die Sichtweise der Duhem-Schule nicht teilten, betrachteten die Regenbogentheorie als Prüfstein für die Bewertung der Methode, nach der die aristotelisch-scholastisch geprägte Naturwissenschaft vorging. Die Ursachen für Erfolg und Misserfolg der scholastischen Physik wurden anhand dieses Beispiels erörtert. Die Frage, inwieweit Dietrich als Vorläufer von Descartes und Isaac Newton gelten kann oder deren Theorien vorweggenommen hat, dominierte oft die Debatte. Dabei zeigte sich die Gefahr einer unhistorischen „Modernisierung“ Dietrichs. Hinter dieser Forschungsdiskussion steht die generelle Frage nach Kontinuität oder Diskontinuität in der Wissenschaftsgeschichte. Philosophiegeschichtliche Forschung In der älteren Forschung fand Dietrichs philosophische Leistung wesentlich weniger Wertschätzung als seine Naturwissenschaft. Seine Zeit galt gegenüber der vorangehenden Epoche, die vom Wirken Alberts des Großen, Bonaventuras und des Thomas von Aquin geprägt war, als epigonal und relativ unbedeutend. Von solchen Vorstellungen ging Engelbert Krebs aus, der 1906 die erste umfassende Untersuchung von Dietrichs Leben und Werk publizierte. Seine Arbeit prägte das Bild des Freibergers für die folgenden Jahrzehnte. Krebs urteilte, Dietrich habe zwar ein selbständiges philosophisches System vertreten, doch habe er es mehr kompiliert als selbst erdacht. Er sei „ein starker Charakter“ gewesen, der sich „würdig, wenn auch lange nicht ebenbürtig“ neben die großen Scholastiker des 13. Jahrhunderts stellen lasse. 1952 konstatierte Anneliese Maier, Dietrich sei in seiner Bedeutung als Naturphilosoph und Naturforscher „immer noch viel zu wenig“ gewürdigt. Das einseitige Bild der spätmittelalterlichen Philosophiegeschichte ist seit der zweiten Hälfte des 20. Jahrhunderts revidiert worden. Dazu hat eine bessere Erschließung der Quellen wesentlich beigetragen. Im Zuge dieses Umschwungs hat sich eine weitaus günstigere Einschätzung der philosophischen Neuerungen im ausgehenden 13. und im frühen 14. Jahrhundert durchgesetzt. Dazu gehört auch eine Neubewertung von Dietrichs Philosophie, deren Eigenständigkeit und zukunftsweisende Züge Anerkennung finden. Im Zeitraum von 1977 bis 1985 erschien die vierbändige kritische Gesamtausgabe von Dietrichs Werken, eine Gemeinschaftsarbeit mehrerer Gelehrter. Bahnbrechend waren die Arbeiten von Loris Sturlese, der sich um die Erforschung von Dietrichs Leben und um die editorische Erschließung und Interpretation der Schriften bedeutende Verdienste erwarb. Wegweisend war insbesondere seine 1984 erschienene Zusammenstellung und Untersuchung der biographischen Quellen und der handschriftlichen Überlieferung der Werke. Ruedi Imbach (1979) sah Dietrichs „epochale Bedeutung“ darin, dass er versucht habe, das Verhältnis von Sein und Denken neu zu bestimmen. Er habe „in aller wünschenswerten Deutlichkeit“ den Ursprung der Seinsbestimmungen im menschlichen Geist behauptet und begründet. Mit seiner Intellekttheorie habe er neuzeitliche Thesen vorweggenommen. Ähnlich äußerte sich 1984 Theo Kobusch. Er schrieb, Dietrich habe zum ersten Mal in der Geschichte der Philosophie das Sein des menschlichen Bewusstseins und dessen Modi (Arten) gegenüber dem Sein der Natur ontologisch eigens thematisiert und es in seiner Eigengesetzlichkeit gesehen. Jens Halfwassen nahm 1997 zur Bedeutung Dietrichs in der abendländischen Philosophiegeschichte Stellung. Er hielt es für gerechtfertigt, die Intellekttheorie des Dominikaners als „Philosophie der Subjektivität“ zu bezeichnen, da sie mit größtem Nachdruck die Selbstbezüglichkeit als für das Denken grundlegend herausgestellt habe. Zu berücksichtigen sei allerdings, dass Dietrich die seinsbegründende und seinsmitteilende Kraft des Intellekts ebenso wie das Naturseiende auf Gott als primäre Ursache zurückgeführt habe. Darin bestehe ein wesentlicher Unterschied zwischen seiner Theorie und der neuzeitlichen Erhebung der Subjektivität zum Prinzip der Philosophie. Dennoch gehöre Dietrich in die Vorgeschichte der neuzeitlichen Subjektivität, denn er habe die wesenhafte Selbstbeziehung des Denkens weitaus eingehender analysiert als jeder andere mittelalterliche Denker. Er habe den Traditionsbezug, den Rückgriff auf die antike Geistmetaphysik, hervorragend mit Innovation verbunden. Theodor W. Köhler urteilte 2000, Dietrich habe mit seiner „weit über seine Zeit hinausweisenden Konzeption des menschlichen Intellekts“ eine völlig neuartige Perspektive eröffnet. Das Neue seines Ansatzes bestehe darin, den menschlichen Intellekt als Intellekt auf seine innere dynamische Struktur hin reflektiert zu haben. Dominik Perler trat 2004 für eine zurückhaltende Bewertung ein: Dietrich habe keine „kopernikanische Wende“ vollzogen, sondern nur bereits vorhandene Theorieelemente kreativ verbunden und ausgearbeitet. Seine Leistung liege in der innovativen Verwendung älteren Gedankenguts, insbesondere in der Anwendung des neuplatonischen Programms auf die Kategorienproblematik, die „zweifellos ein genialer Schachzug“ sei. Perler wies auf „einige problematische Punkte“ in Dietrichs Intellekttheorie hin. Beispielsweise habe Dietrich nicht erklären können, welche Rolle Sinneseindrücke bei der Entstehung intentionaler Akte spielen. Er habe sein Augenmerk einseitig auf den Intellekt gerichtet und habe es versäumt, die Verknüpfung und Koordination der verschiedenen kognitiven Vermögen zu erläutern. Wichtige Fragen seien offen geblieben, weil Dietrich die Aufnahme und Verarbeitung von Sinneseindrücken nicht analysiert habe. Kurt Flasch legte 2007 eine umfangreiche Monographie über Dietrichs Werk vor. Er charakterisierte ihn als bedeutenden, einfallsreichen und eigensinnigen Denker und Naturforscher. Durch die Schärfe seiner Analysen und die „produktive Andersheit seiner Entwürfe“ gehöre Dietrich zu den Großen in der Geschichte der Selbstrevision des europäischen Denkens ab den 1270er Jahren. Nach dem Ausklingen der großen Rezeptionsbewegung, die von der Übersetzung und Erschließung grundlegender Werke der griechischen und arabische Philosophie geprägt war, habe in Dietrichs Zeit eine Phase des Überprüfens begonnen. Man habe sich nun kritisch mit den großen Entwürfen der vorangehenden Epoche auseinandergesetzt. Dabei habe sich herausgestellt, dass die mächtigen Autoritäten des 13. Jahrhunderts beim Versuch, das Gebäude der philosophisch-theologischen Welterklärung „kathedralenartig aufzurichten“, Fehler und Mängel übersehen hätten. In diesen Zusammenhang gehöre Dietrichs kritischer Rückblick auf das Lebenswerk des Thomas von Aquin. Dietrich habe „die Umrisse einer neuen Konzeption des christlichen Selbstverständnisses gezeichnet“. Nach Flaschs Einschätzung hätte diese Konzeption, wenn sie sich durchgesetzt hätte, einen gravierenderen Wandel eingeleitet als Luthers Reformation. Auch als Vorläufer Meister Eckharts habe Dietrich eine wichtige Rolle gespielt. Burkhard Mojsisch befand 2008, Dietrichs Theorie des Bewusstseins sei „ein wichtiger Schritt hin auf eine Theorie intellektualer Konstruktivität schlechthin“, doch habe er den Begriff der Möglichkeit „nicht so durchdacht, wie er hätte durchdacht werden können“. Daher sei seine Theorie in gewisser Hinsicht defizient; er habe die intellektuale Konstruktivität nicht konstruktiv genug gedacht, denn er sei in den Netzen der aristotelischen Philosophie hängengeblieben. Textausgaben, Übersetzungen, Quellen Textausgaben (teilweise mit Übersetzung) Dietrich von Freiberg: Opera omnia. Hrsg. von Loris Sturlese, Georg Steer u. a., Meiner, Hamburg 1977–1985 (kritische Edition) Band 1: Schriften zur Intellekttheorie, hrsg. von Burkhard Mojsisch, 1977, ISBN 3-7873-0372-3 Band 2: Schriften zur Metaphysik und Theologie, hrsg. von Ruedi Imbach u. a., 1980, ISBN 3-7873-0446-0 Band 3: Schriften zur Naturphilosophie und Metaphysik, hrsg. von Jean-Daniel Cavigioli u. a., 1983, ISBN 3-7873-0545-9 Band 4: Schriften zur Naturwissenschaft. Briefe, hrsg. von Maria Rita Pagnoni-Sturlese u. a., 1985, ISBN 3-7873-0640-4 Dietrich von Freiberg: Abhandlung über die Akzidentien. Meiner, Hamburg 1994, ISBN 978-3-7873-1173-6 (lateinischer Text nach der Ausgabe von Pagnoni-Sturlese ohne den kritischen Apparat und deutsche Übersetzung von Burkhard Mojsisch) Fiorella Retucci (Hrsg.): Un nuovo testimone manoscritto del De luce e del De coloribus di Teodorico di Freiberg. In: Archives d’histoire doctrinale et littéraire du moyen âge 77, 2010, S. 193–219 (neue kritische Ausgabe von De coloribus mit Einbeziehung einer zusätzlichen, in der Ausgabe der Opera omnia nicht berücksichtigten Handschrift) Übersetzungen Dietrich von Freiberg: Abhandlung über den Intellekt und den Erkenntnisinhalt. Meiner, Hamburg 1980, ISBN 3-7873-0502-5 (Übersetzung von Burkhard Mojsisch) Hartmut Steffan: Dietrich von Freibergs Traktat De cognitione entium separatorum. Studie und Text. Bochum 1977 (Dissertation; enthält S. 318–477 Übersetzung des Traktats) Quellensammlung Loris Sturlese: Dokumente und Forschungen zu Leben und Werk Dietrichs von Freiberg. Meiner, Hamburg 1984, ISBN 3-7873-0600-5 (enthält neben der Zusammenstellung der biographischen Quellen eine vollständige Handschriftenbeschreibung) Literatur Übersichtsdarstellungen Loris Sturlese: Dietrich von Freiberg. In: Verfasserlexikon, 2., völlig neu bearbeitete Auflage, Band 2, Berlin 1980, ISBN 3-11-007699-3, Sp. 127–137 Loris Sturlese: Dietrich von Freiberg. In: Alexander Brungs u. a. (Hrsg.): Grundriss der Geschichte der Philosophie. Die Philosophie des Mittelalters, Band 4/2: 13. Jahrhundert. Schwabe, Basel 2017, ISBN 978-3-7965-2626-8, S. 895–911 Gesamtdarstellungen Kurt Flasch: Dietrich von Freiberg. Philosophie, Theologie, Naturforschung um 1300. Klostermann, Frankfurt am Main 2007, ISBN 978-3-465-03301-1 Karl-Hermann Kandler: Dietrich von Freiberg. Philosoph – Theologe – Naturforscher. TU Bergakademie, Freiberg 2009, ISBN 978-3-86012-372-0 Aufsatzsammlungen Joël Biard, Dragos Calma, Ruedi Imbach (Hrsg.): Recherches sur Dietrich de Freiberg. Brepols, Turnhout 2009, ISBN 978-2-503-52882-3 Karl-Hermann Kandler, Burkhard Mojsisch, Franz-Bernhard Stammkötter (Hrsg.): Dietrich von Freiberg. Neue Perspektiven seiner Philosophie, Theologie und Naturwissenschaft. Grüner, Amsterdam 1999, ISBN 90-6032-355-6 Karl-Hermann Kandler, Burkhard Mojsisch, Norman Pohl (Hrsg.): Die Gedankenwelt Dietrichs von Freiberg im Kontext seiner Zeitgenossen. TU Bergakademie, Freiberg 2013, ISBN 978-3-86012-445-1 Untersuchungen zu einzelnen Themenbereichen Dragos Calma: Le poids de la citation. Étude sur les sources arabes et grecques dans l'œuvre de Dietrich de Freiberg. Academic Press, Fribourg 2010, ISBN 978-2-8271-1061-2 Burkhard Mojsisch: Die Theorie des Intellekts bei Dietrich von Freiberg. Meiner, Hamburg 1977, ISBN 3-7873-0373-1 Bibliographie (auch zu den einzelnen Werken) Rolf Schönberger u. a. (Hrsg.): Repertorium edierter Texte des Mittelalters aus dem Bereich der Philosophie und angrenzender Gebiete. 2., völlig überarbeitete und erweiterte Auflage, Bd. 3, Akademie Verlag, Berlin 2011, ISBN 978-3-05-003342-6, S. 3649–3655 Olga Weijers, Monica B. Calma: Le travail intellectuel à la Faculté des arts de Paris: textes et maîtres (ca. 1200–1500), Faszikel 9: Répertoire des noms commençant par S–Z. Brepols, Turnhout 2012, ISBN 978-2-503-54475-5, S. 122–136 Weblinks Textausgaben Ausgewählte Werke in der Bibliotheca Augustana Literatur Daniel Cohnitz: Ray of Light? Dietrich von Freiberg und die Geschichte von der mittelalterlichen Wissenschaft, 2003 Anmerkungen Katholischer Theologe (13. Jahrhundert) Katholischer Theologe (14. Jahrhundert) Philosoph des Mittelalters Dominikanerbruder Physiker (vor dem 15. Jahrhundert) Mystiker Hochschullehrer (Sorbonne) Person (Freiberg) Geboren im 13. Jahrhundert Gestorben im 14. Jahrhundert Mann
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Ernst Ziller
Ernst Moritz Theodor Ziller (; * 22. Juni 1837 in Serkowitz, heute Radebeul-Oberlößnitz; † 4. November 1923 in Athen) war ein deutsch-griechischer Architekt, Bauforscher und Archäologe, der fast ausschließlich in Griechenland gearbeitet hat. Mit über 500 privaten und öffentlichen Bauten zwischen 1870 und 1914 prägte Ziller die historistische Architektur des späten 19. Jahrhunderts in Griechenland nachhaltig. Das wohl einflussreichste Mitglied der ursprünglich sächsischen Baumeisterfamilie Ziller erwarb in späteren Jahren, im Zusammenhang mit seiner Heirat, die griechische Staatsangehörigkeit. Den weitaus größten Teil seiner Bauten entwarf Ziller für Athen, das seit 1834 Hauptstadt des modernen Griechenlands war. Der Ausbau der zuvor nur rund 12.000 Einwohner zählenden Stadt zur rapide wachsenden, repräsentativen Hauptstadt war nach einem Plan von 1831 von Eduard Schaubert und Stamatios Kleanthis im Stil eines griechisch geprägten Klassizismus im Sinne ihres Lehrers Schinkel (von dem der Entwurf zu einem Palast auf der Akropolis stammte) begonnen worden. Die dänischen Brüder Hans Christian und Theophil von Hansen setzten unter König Otto diese Arbeiten fort. Ziller verband deren griechischen Klassizismus mit Stilelementen einer norditalienischen Neorenaissance und – in seinen Kirchenbauten – byzantinischen Architekturelementen und prägte während der Regierungszeit König Georgs I. das Aussehen der Hauptstadt als moderne europäische Metropole mit repräsentativen öffentlichen Gebäuden und prächtigen Privathäusern. Das Nationale Hellenische Forschungszentrum bezeichnet dieses „eklektische Athen“ der zweiten Hälfte des 19. Jahrhunderts aus Klassizismus und norditalienischer Neorenaissance, ergänzt durch neuzeitliche Ideen aus Wien und Dresden, als das „Athen von Ziller“, in dem er „das herrschaftliche Profil der späten griechischen bürgerlichen Gesellschaft am Ende des 19. und zu Beginn des 20. Jahrhunderts [bestimmte]“. Das Werk von Ziller wurde erstmals 1942 von Hans Hermann Russack in seinem grundlegenden Buch Deutsche bauen in Athen gewürdigt. Der in Griechenland fast vergessene und in Deutschland kaum bekannte Architekt wurde 1973 von Dimitrios Papastamos zu seinem 50. Todestag durch dessen Versuch einer Monografie (Prospatheia Monographias) der Öffentlichkeit wieder ins Gedächtnis gebracht, basierend auf den von Zillers Tochter Josefine (Fifi) Dima-Ziller an die Nationalgalerie übergebenen Original-Unterlagen. Insbesondere Maro Kardamitsi-Adami von der Nationalen Technischen Universität Athen würdigte dann Zillers Werk in Griechenland wieder in mehreren Veröffentlichungen. Eine Ausstellung von Entwürfen Zillers in der Nationalen Pinakothek Athen führte Ziller 2010 auch einem breiteren Publikum wieder ins Gedächtnis. Erste Jahre Ernst Ziller wurde als ältestes von zehn Kindern in eine Baumeisterfamilie hineingeboren, als Sohn des Baumeisters Christian Gottlieb Ziller. Als er und sein ein Jahr jüngerer Bruder Moritz (1838–1895) auf dem Anwesen geboren wurden, gehörte es noch zur Serkowitzer Flur (heutige Adresse Augustusweg 4). Im Jahr 1839 wurde Oberlößnitz einschließlich des Ziller-Anwesens aus Serkowitz sowie dem benachbarten Alt-Radebeul ausgegründet, weswegen in manchen Quellen Ernst Zillers Geburtsort mit Oberlößnitz (oder Oberlössnitz) angegeben ist. Ernst bildete mit seinen Brüdern (vier von fünf Jungen ergriffen einen Bauberuf) bereits die dritte Generation Bauleute. Er und Moritz lernten zur gleichen Zeit auf den Baustellen des Vaters Baumeisterberufe: Ernst wurde Maurermeister und Moritz Zimmermeister. Den notwendigen theoretischen Unterricht erhielten sie vom Vater zu Hause, vor allem im Winter, wenn das Baugeschehen ruhte. Ernst besuchte zusätzlich von 1855 bis 1858 das Bauatelier der Akademie der Bildenden Künste zu Dresden (Semper-Nicolai-Schule), wo er für studentische Wettbewerbsarbeiten im zweiten Jahr eine bronzene und im dritten Jahr eine silberne Medaille erhielt. Die beiden Brüder gingen nach Leipzig zu dem befreundeten Steinmetzmeister Einsiedeln und wollten von dort zusammen nach Berlin beziehungsweise Potsdam gehen, wo ihr Onkel Christian Heinrich wirkte. Auf Anraten Einsiedelns gingen sie jedoch 1858 in das „solidere“ Wien. Moritz fand schnell Arbeit als Zimmermann, Ernst dagegen arbeitete als Zeichner im Büro des klassischen dänischen Architekten Theophil von Hansen. Bereits ein halbes Jahr später ging Hansen zur Vorbereitung seines Baus der Akademie von Athen nach Griechenland, derweil die beiden Brüder Ernst und Moritz in die Lößnitz zurückkehrten, um im Winter am Bauatelier der sächsischen Akademie der Bildenden Künste ihre Kenntnisse zu vertiefen. Während Moritz in das väterliche Baumeistergeschäft in der Oberlößnitz eintrat, nahm Ernst erfolgreich an einem Architekturwettbewerb für eine Wohnbebauung in Tiflis teil. Am selben Tag, an dem ihm die russische Gesandtschaft in Dresden mitteilte, dass er zur Unterzeichnung des Vertrags für Tiflis vorsprechen solle, um anschließend dorthin zu gehen und seine Planung umzusetzen, erhielt er einen (im Archiv erhaltenen und auf den 20. September 1859 datierten) Brief Hansens aus Wien, der ihm ein vorteilhaftes Angebot machte, ohne jedoch vorerst Athen zu erwähnen. Ernst Ziller entschloss sich, statt des Bauprojekts in Tiflis Hansens Angebot anzunehmen, und fuhr mit geliehenem Geld nach Wien, „da sein Vater gerade nicht bei Kasse war“. Bauleiter und Rechnungsführer für Hansen Ziller hatte noch anderthalb Jahre in Wien zu tun, insbesondere als Zeichner an den Plänen für die Athener Akademie. Dann fuhren Hansen und Ziller 1861 gemeinsam nach Athen, wo Ziller für die nächsten 30 Jahre, mit kurzen Unterbrechungen, bis zum Tod Hansens dessen Vertreter vor Ort war. Beginnend mit dem 23. März 1861, kurz nach Hansens Abreise aus Athen, schrieb Ziller bis zum 7. September 1890 regelmäßig Briefe an Hansen, von denen 348 in Hansens Nachlass archiviert sind. Nicht nur über die Arbeiten für Hansen wurde dort berichtet, sondern später auch über Zillers eigene Arbeiten sowie auch über die Familie. Auch Hansen schickte immer wieder Skizzen, Pläne und Fotos seiner neuesten Projekte. Zillers Briefe der letzten Jahre benutzten dabei das vertrauliche „Du“ (beispielsweise in einer Korrespondenz über sein Lykabettos-Projekt 1882), die Besuchseinladung 1889 anlässlich der bevorstehenden Vermählung des griechischen Kronprinzen bezieht sogar die Familie mit ein. Ziller hatte Schwierigkeiten mit dem Baufortschritt, was jedoch nicht nur an der andersartigen Kultur und Sprache auf der Baustelle lag, sondern auch an den sich immer wieder verzögernden, obwohl zugesagten Finanzierungstranchen des Finanziers Baron Simon Georg von Sina. Nach der Revolte des griechischen Volkes und der Abdankung König Ottos stellte Baron von Sina 1864 seine Zahlungen „zunächst“ gänzlich ein, womit der Bau der Akademie „auf unbestimmte Zeit“ gestoppt werden musste, da der stiftende Baron von Sina als ehemaliger Gesandter König Ottos dessen Vertreibung übelnahm. Ziller nutzte die Zeit, reiste 1864 studienhalber durch Italien und vertiefte sich in Neapel („Museum Borbonico“), Rom (wo er den Petersdom mit der Dresdner Frauenkirche verglich), Florenz, Mantua und Verona neben dem Altertum insbesondere in die italienische Renaissance. Im Jahr 1865 war er zurück in Hansens Büro in Wien, wo er nicht nur an weiteren Plänen für die Athener Akademie arbeitete, sondern auch eigene Entwürfe verfertigte. So entstand während dieser Zeit unter anderem unaufgefordert ein Entwurf im byzantinischen Stil für eine Kirche in seiner Lößnitz-Heimat, der dort jedoch verworfen wurde und dem erst 25 Jahre später der Kirchenbau der Lutherkirche folgte. Auch studierte er an der Akademie der bildenden Künste Wien und schloss mit einem Diplom ab. In dieser Zeit bis 1868 führten ihn Studienreisen nach Berlin und Dresden, wo er insbesondere die Werke von Karl Friedrich Schinkel und Gottfried Semper studierte. Erst 1868 konnte Ziller nach Athen zurückkehren, um die Akademie fertigzubauen, da deren Weiterfinanzierung gesichert war. Zugleich siedelte er sich dort an und betreute während der folgenden mehr als zwanzig Jahre alle Bauvorhaben Hansens. Die Akademie wurde 1885 fertig. Hinzu kamen das Ausstellungsgebäude Zappeion (Grundsteinlegung 1874, Einweihung 1888) und die Nationalbibliothek (Grundsteinlegung 1888, Bezug durch die Bibliothekssammlung 1903). Innerhalb kurzer Zeit erwarb er sich dort ein hohes Ansehen als einer der bedeutendsten klassizistischen Architekten in Griechenland. In der öffentlichen Wahrnehmung trat Hansen so weit in den Hintergrund, dass Ziller während einer Audienz vom neuen König Georg gefragt wurde, ob die Pläne zu den Neubauten alle von ihm seien. Die Anstellung als Hansens Bauleiter ermöglichte Ziller, auf einer gesicherten finanziellen Basis durch sein monatliches Einkommen über eigene Projekte und Ideen nachzudenken. In einem Brief Zillers an Hansen etwa 20 Jahre später fasste er diese für ihn einzigartige Möglichkeit zusammen und bedankte sich bei Hansen. Hansen, Zillers langjähriger Auftraggeber und freundschaftlich verbundener Mentor, starb 1891. Bauforscher und klassischer Archäologe Kurvaturen Im August 1864 legte Ziller seine Studie über die Kurvaturen vor, in der er sich eingehend über die Krümmung der Horizontalen an antiken Bauwerken ausließ. Ausgehend von detaillierten Vermessungen Francis Cranmer Penroses (1817–1903) am Parthenon und am Theseion (heute Tempel des Hephaistos) ging er der Frage nach, ob diese Krümmungen erst nachträglich durch Fundamentabsenkungen an den Ecken der Bauwerke entstanden, ursprünglich hingegen die Bauwerkskanten absolut geradlinig waren, oder ob die Krümmung bereits bei der Erbauung in der Antike absichtlich angelegt worden war. Ziller widersprach dem für sein Werk Tektonik der Hellenen hochgerühmten Karl Bötticher, der sich für nachträgliche Absenkungen als Ursache annahm. Ziller hingegen belegte minutiös, dass die Tempel am Stufenbau und am Gebälk absichtlich kurviert wurden: „Es ist demnach keine einzige Triglyphe oder Metopentafel rechtwinklig geschnitten: alle sind den Kurvenlinien und ihrer Stellung im Triglyphon entsprechend gemodelt.“ Dennoch wurde die Frage der Kurvatur weiter kontrovers diskutiert. Noch 1879 wies Josef Durm „solche Feinheiten […] wie die absichtliche Curvatur“ entschieden zurück. Ziller selbst ließ sich nicht beirren; bei der Verfertigung der Pläne für die Akademie setzte er das erste Mal nach der Antike den Krümmungseffekt der Kurvatur wieder ein. Ganz der Praktiker, schloss er seinen 1865 publizierten Artikel in der Zeitschrift für Bauwesen mit für die Praxis aufbereiteten Anweisungen zur Erstellung gekrümmter Horizontalen: „Um hier die Curve zu verzeichnen, nimmt man ganz einfach das Stichmaass von der untersten Schicht, deren Curve man ganz unabhängig vom Nivellement, durch Abvisieren der Curvenbase von den Ecken des Bauwerks aus und Auftragen der Ordinaten der Curve auf dieselbe, construiren kann. Wie sich hierbei herausstellt, so macht die Herstellung der Curvaturen bei der Ausführung durchaus keine grösseren Schwierigkeiten, als die der vollständig Horizontalen“. Polychromie Ziller „verstand […] viel von der antiken Polychromie, denn Griechenlands Tempel und Statuen waren nicht von weißer marmorner Blässe wie wir sie heute kennen, sondern von bunter Vielfarbigkeit. Ziller zeichnete die alten noch erhaltenen Ornamente und Statuen mit großem Einfühlungsvermögen ab und konnte so vieles der Nachwelt überliefern. 400 solcher Zeichnungen sind erhalten“. Dieses Beispiel vor Augen, nahm er auch für sein eigenes Werk die Polychromie in Anspruch; seine Aquarellentwürfe zeigten nicht nur farbig angelegte Fassaden, sondern auch im Inneren seiner Neubauten legte er detailliert farblich abgestimmte Raumentwürfe bis hin zu dazu passenden Möbelentwürfen fest. Dionysostheater Bei Ausgrabungen am Fuße der Akropolis im Jahr 1862 entdeckten Heinrich Strack, Ernst Curtius und Karl Bötticher Reste des Dionysostheaters. Bereits vor seiner Italienreise hatte Ziller im Auftrag der Athener Archäologischen Gesellschaft begonnen, diese Reste aufzunehmen und in zahlreichen Zeichnungen festzuhalten. So entstanden nicht nur der Lageplan, präzise Grundrisse und die Aufmessung des Geländequerschnitts, sondern auch Darstellungen einzelner Prunkstücke wie des Throns des Dionysospriesters und des mittleren Teils des Hyposkenions des Phaidros, die den Umfang der Funde aufzeigten. Seine Unterlagen wurden nicht nur im Journal der Archäologischen Gesellschaft (Archaiologike Ephemeris) gezeigt, sondern auch in weiteren Fachzeitschriften publiziert, wofür er sich 1870 und 1877 erneut mit der Anlage beschäftigte. Dies verschaffte ihm bereits 1868 in Fachkreisen eine erste Bekanntheit als der „Architekt Ziller, ein Schüler Hansen's, durch seine Aufnahme des Bacchustheaters bekannt“. Troja Im Mai 1864 lud der österreichische Konsul für das östliche Griechenland und Balkanfachmann Johann Georg von Hahn Ziller und den Astronomen Schmidt ein, ihn auf eine Ausgrabungsfahrt an den Ort des mutmaßlichen Troja zu begleiten. Die Ergebnisse der Ausgrabung veröffentlichte Hahn, einschließlich der von Ziller geschaffenen Abbildungen und der von Schmidt erstellten Karten. Ziller hielt später in seinem Tagebuch fest: „Diese Broschüre borgte ich dem Dr. Schliemann, als er nach Athen kam und das erstemal nach Troja wollte. Hierdurch machte ich seine Bekanntschaft.“ Schliemann (1822–1890) bestätigte in seinem Bericht über seine erste Reise nach Troja 1868 die Hahn-Zillersche Grabung und beschrieb auch den Grabungsort, wobei er sich in der Datierung irrt und das Herausgabedatum der Broschüre nennt: „Der Consul Hahn hat mit dem Architecten Ziller im Jahre 1865 auf dieser Anhöhe Ausgrabungen veranstaltet, und fast den Umfang einer kleinen Citadelle zu Tage gefördert…“. Schliemanns sensationeller Fund, der Schatz des Priamos, stammte jedoch von einer anderen Stelle des Siedlungsplatzes. Das eher zufällige Kennenlernen zwischen Schliemann und Ziller sollte zu einer lebenslangen Freundschaft zwischen den beiden führen. Ziller entwarf in späterer Zeit Schliemanns Athener Wohnsitz, ein prachtvolles Stadtpalais (Iliou Melathron, 1878/1879), und auch Schliemanns letzte Ruhestätte (Schliemann-Mausoleum auf dem Ersten Athener Friedhof) stammte von Ziller. Panathenäisches Stadion Zillers bedeutendste Entdeckung geht zurück bis 1864. Bereits in jenem Jahr soll er ein Grundstück gekauft haben, auf dem schon vor ihm vergebens nach den Resten des antiken Stadions gesucht worden war. Allerdings dauerte es bis zu seiner Rückkehr nach Athen 1868, ehe sich Ziller um erste Ausgrabungsschritte auf seinem Grundstück kümmern konnte. Im Jahr 1869 berichtete er brieflich von der Wiederentdeckung des Panathenäischen Stadions und dass er auf erhaltene Reste gestoßen sei. Da jedoch etwa 13.000 Kubikmeter Erde abzutragen waren, was Zillers Möglichkeiten überschritt, übernahm der König die Kosten für die Ausgrabung und stattete Ziller mit weiteren Geldern aus, um angrenzende Grundstücke für den König zu erwerben und so das gesamte Areal des Stadions zu sichern. Ein- bis zweimal wöchentlich traf Ziller König Georg I., teilweise mit der Königin Olga, auf der Ausgrabungsstätte. Im Jahr 1870 erschien sein Bericht in der Zeitschrift für Bauwesen. Nachdem die Ausgrabungsstätte durch den griechischen Architekten Anastasios Metaxas provisorisch hergerichtet worden war, fanden dort am 15. November 1870 die zweiten Olympien statt. Anhand seiner Erkenntnisse entwarf Ziller eine Rekonstruktion eines „neu-alten“ Stadions, das wiederum von Metaxas unter Einbeziehung der bestehenden Reste und Verwendung von strahlend weißem Pentelischem Marmor umgesetzt wurde. Pierre de Coubertin eröffnete in diesem Athener Stadion die Olympischen Spiele von 1896. Weitere Grabungen Im August 1862 war Ziller zu archäologischen Studien auf der Insel Ägina und im September 1862 und von da an immer wieder bis 1897 zu Grabungen auf der Athener Akropolis. Im östlichen Attika, in Rhamnous, grub er 1868. Den von Russack aus den Tagebüchern Zillers zusammengefassten Schilderungen nach kam es dabei zu einer für Ziller glimpflich verlaufenen Begegnung mit einem örtlichen Räuberhauptmann und seiner Bande. Im Oktober 1876 untersuchte Ziller zusammen mit dem Erbprinzen von Meiningen, Bernhard III., die Ruinen von Eleutherai und Aigosthena. Die im Veröffentlichungsbericht enthaltenen Zeichnungen stammten erneut von Ziller. Ziller veröffentlichte 1877 seine über mehrere Jahre betriebene Erforschung der antiken Wasserleitungen in Athen. Die moderne Stadt mit von Ziller vorausgesehenem Wasserproblem hatte zu jener Zeit 55 bis 60 Tausend Einwohner, während die antike Stadt um die 200 Tausend Einwohner mit Wasser versorgen konnte. Im Jahr 1881 grub er zusammen mit Heinrich Schliemann in Orchomenos; ein Jahr später, während seiner Bauarbeiten am Rathaus von Hermoupolis, nahm er für einen Grabungsbericht die antiken Reste des dortigen Theaters auf. Einflüsse auf Zillers Architektur Bereits Zillers Lehrer Hansen nahm Teile klassischer Monumente auf und ließ sie in seine Entwürfe einfließen. Auch Ziller übernahm die Arbeitsweise und ließ sich in seinem architektonischen Entwurfsdenken durch seine bauforscherischen Ergebnisse und archäologischen Erkenntnisse leiten. Im Generellen mündete dies in der Nutzung der Kurvaturen für seine Entwürfe, wie bereits in früher Zeit an seinen Planausführungen für die Athener Akademie zu sehen ist. Im Speziellen ist die Übertragung der gewonnenen Erkenntnisse sehr unmittelbar am aus den 1880er Jahren stammenden Entwurf für das Königliche Theater zu erkennen. Die bestehenden Reste der Athener Hadriansbibliothek wurden als Idee kopiert und in der Straßenfassade nachgeahmt. Dabei ist die Lage an einer stark abschüssigen Straße ohne größeren Vorplatz noch nicht einmal ideal für eine Referenz an das Vorbild. Zillers Grabmal für Heinrich Schliemann auf dem Ersten Athener Friedhof zeigt bis in kleine Details den Typus von Monument, wie er für antike Heroen errichtet wurde. Das Grabmal besteht aus einer großen Grabkammer als Unterbau für einen friesgeschmückten Sockel, auf dem wiederum ein dorischer Amphiprostylos steht. Ziller entwarf dadurch so etwas wie die dorische Variante des Tempels der Athena Nike. Jedoch auch der Parthenon beeinflusste Zillers Werk: „Die Proportionen von Säulen, Kapitell und Architrav entsprechen genau den Werten, die am Parthenon festzustellen sind.“ Ziller neigte die Säulen des Mausoleums um einen Zentimeter nach innen und machte die Ecksäulen fünf Zentimeter stärker als die Mittelsäulen. Die Säulenschäfte erhielten eine leichte Schwellung. Ziller entsprach auch dem Wunsch Schliemanns, dass der Fries Szenen aus der Ilias zeige und dass die Metopenfelder archäologische Funde Schliemanns wiedergeben sollten. Selbstständiger Unternehmer Architekt Bereits 1862 berichtete Ziller, dass er für zwei Auftraggeber Projekte entwickelt habe, die jedoch noch nicht realisiert würden; „auch für meinen Bruder (in Oberlössnitz) 2, zu denen bereits der Grundstein gelegt ist. […] Dergleichen kleine Villen baut mein Bruder jährlich eine oder zwei auf Spekulation, und macht damit ganz gute Geschäfte.“ Da Ziller dies in den Briefen an Hansen schrieb und auch um so manche Unterstützung bei der Farbwahl und bei der anschließenden Weiterleitung der Unterlagen an den Bruder bat, ist anzunehmen, dass Ziller für seine Selbstständigkeit neben der angestellten Bauführung Hansens Einverständnis hatte. Und auch bei Hansen in Wien verfertigte er eigene Arbeiten. Obwohl Ziller 1868 hauptsächlich nach Athen zurückgekehrt war, um Hansens Bauten weiterzubetreuen, baute er nebenher ein eigenes Architekturbüro auf, das er nach kurzer Zeit durch seinen Bruder Paul verstärkte. Bereits 1869 war er durch seine Ausgrabungsveröffentlichungen so bekannt, dass er auf der Straße angesprochen wurde und man ihm gratulierte. Zu Beginn der 1870er Jahre kamen die ersten großen, öffentlichen Bauaufträge, so die Theater in Patras und in Zakynthos. Das Apollon-Theater in Patras orientierte sich stilistisch an den Renaissance-Stadtpalästen von Venedig, verschmolzen mit seiner Auffassung vom griechischen Klassizismus. Diesen hier begonnenen Eklektizismus sollte Ziller sein ganzes Werk hindurch beibehalten und zu einer Einheit bringen. Seine Kirchenbauten wichen jedoch stilistisch von dieser Richtung ab, da er dort von einem byzantinischen Stil ausging. In den folgenden Jahrzehnten erbaute er für das Athener und griechische Großbürgertum mehr als hundert Villen und Landhäuser, überall in Griechenland, hauptsächlich jedoch in Athen. Das wohl bedeutendste ließ sich sein Freund Heinrich Schliemann errichten: sein Wohnpalais Iliou Melathron (Palast von Ilion, 1878/1879, bis 1881 ausgemalt). Schliemanns Vorgabe: „Da ich zeitlebens in kleinen Häusern wohnte, möchte ich die restlichen Jahre meines Lebens in einem grossen Bau verbringen. Ich möchte Weiträumigkeit und nichts mehr. Du kannst jeglichen Stil auswählen, meine einzige Forderung ist eine breite Marmortreppe, die vom Erdgeschoss zum ersten Stock führen soll und als oberen Abschluss eine Terrasse“ führte laut Georgios Korres zu einem der „repräsentativsten, prächtigsten und originellsten Gebäuden Europas des vorigen [19.] Jahrhunderts“. Der kompakte dreigeschossige Bau auf etwa quadratischem Grundriss zeigt in der Straßenansicht eine Rundbogenloggia und erinnert an den Palazzo Trevisan im Venedig des 16. Jahrhunderts, aber auch die Verwandtschaft mit Nicolais Haus Seebach und Sempers Villa Rosa ist zu erkennen. Insbesondere die Villa Rosa hatte es Schliemann auf einer Reise nach Dresden angetan, er soll sie Ziller als Architekturbeispiel empfohlen haben. Ziller zitiert sich jedoch auch schon selbst, hatte er doch bereits 1871 beim Theater in Patras diese Arkaden-Bogenfolge eingesetzt. Während Ziller davon ausging, dass die ihm zugekommene Erbschaft von Baron Sina in Höhe von 20.000 Drachmen ein Viertel der Baukosten einer Athener Stadtvilla ausmachte, also 80.000 Drachmen für ein solches Gebäude ausreichten, kostete Schliemanns Palast von Ilion, in dem sich heute das Numismatische Museum befindet, 439.650 Drachmen, bis er fertig war. Nachdem Ziller das heroonartige Grabmonument für Schliemann auf dem Ersten Athener Friedhof fertiggestellt hatte, wurde dessen Leichnam 1892 dorthin umgebettet. Die Reederfamilie Stathatos ließ sich 1895 im Stadtteil Kolonaki ihre Stadtvilla Megaro Stathatou errichten, in der sich heute das Museum für kykladische Kunst befindet. Im Sinne eines ganzheitlichen Entwurfs stammten von Ziller auch Entwürfe über die Innenraumgestaltung von ihm entworfener Gebäude bis hin zur Gestaltung der dort aufzustellenden Möbel. Beim Wohnhaus Schliemanns überließ er zwar die detaillierte Ausgestaltung der von ihm entworfenen Innenräume dem Maler Jurij Šubic, der auch sein Athener Wohnhaus ausmalte, ließ jedoch von ihm selbst entworfene Fußböden verlegen. Die Brüder Ernst und Paul Ziller Paul Ziller (1846–1931) war der jüngste Bruder von Ernst Ziller, und wie alle anderen bis auf Otto, der Kaufmann wurde, erlernte Paul einen Bauberuf. Nach seiner Steinmetzausbildung 1860–1862 studierte er, vermutlich in Dresden, Architektur. Ähnlich wie es der ältere Bruder Hans Christian Hansen mit seinem jüngeren Bruder Theophil gemacht hatte, zog auch Ernst als der Ältere den jüngeren Paul nach dessen Militärdienst 1868 nach Athen, damit er ihn bei der Arbeit unterstütze. Ab Ende der 1860er Jahre war es Ernst somit möglich, mehrfach für längere Zeiträume zu Studien- und Urlaubszwecken nach Italien zu gehen und die Überwachung der Bauaktivitäten an der Akademie dem Bruder Paul zu überlassen. Mindestens bis 1878 arbeitete Paul als Assistent im Büro seines Bruders. Danach hat sich Paul selbst auch als Architekt in Athen niedergelassen, wo er selbstständig mit dem Entwurf von Häusern und Inneneinrichtungen beschäftigt war. Ernst berichtete 1881, dass sein Bruder gerade ein Theater gebaut habe. Mitte der 1890er Jahre kehrte Paul wieder nach Sachsen zurück. Quartiersentwicklung: „Quartier Tsiller“ in Piräus Ziller hatte sich 1870 ein größeres Landgut in Piräus im heutigen Stadtteil Kastella auf der östlichen Landzunge der Bucht von Zea gekauft, zu dem der weit und breit ergiebigste Brunnen (oder eine Quelle) gehörte. Ab 1875 wohnte Ziller auch selbst dort. Im Jahr 1878 wurde das Landgut wieder erwähnt: Während sich Ziller mit seiner frisch angetrauten Ehefrau auf Hochzeitsreise befand, schrieb Bruder Paul, der wie immer die Aufsicht über die Geschäfte führte, an Hansen, dass der König immer noch auf Zillers Besitz in Piräus weile und wohl erst mit Ablauf des Monats nach Tatoi gehe. Ausschlaggebend war wohl die vor allem im Sommer sehr geschätzte Lage direkt am Meer, auf der Ostseite der Bucht von Zea, mit Blick auf den Saronischen Golf. Ziller baute dort „wahrscheinlich auf Spekulation“ (also wohl vorab und auf eigene Kosten) zahlreiche Villen, so dass sogar zeitgenössische Stadtpläne und Ansichtskarten die entstandene Villenkolonie „Quartier Tsiller“ oder „Villen-Colonie Ziller“ tauften. Im August des Jahres 1879 vermeldete Ziller: „In den Zeitungen lese ich, dass der König eine meiner Villen oder gar 3 Stück kaufen will. Nun, ich habe dieselben zum Verkauf […]“ Das Landgut wurde zur Goldgrube. Immer wieder verbrachte auch der König seine Sommer in einer der Zillerschen Villen, die mittlerweile alle nicht mehr existieren. Lediglich das Haus Patsiadis steht noch, in dessen erstem Stock sich „königliche Gemächer“ befunden haben. Heute ist dort eine Bar, das Café Ziller, in dessen Namen der „durch seine Athener Bauten weltberühmt gewordene[…] Dresdner Architekt[…] und Bauzeichner“ weiterlebt. Das Haus Patsiadis (), nach dem wohlhabenden piräischen Bürger P. Patsiadis, bildet die südöstliche Ecke der Straßenbebauung an der Ausfahrt aus dem Hafen. Davor liegt die 1891 in Alexandra-Platz umbenannte Freifläche (ehemals wohl Kap-Munichia-Platz beziehungsweise Ziller-Platz). Baustoff-Fabrikant Im Jahr 1879 berichtete Ziller, dass er seine „Kementplattenfabrik […] in Gang gebracht [habe und] beabsichtige, wenn es irgend geht, alle Häuser in Athen, und alle Fusssteige mit Platten täfeln zu lassen“. Wichtig war ihm die „Bewachung des Fabrikgeheimnisses“. Im ersten Jahr brachte ihm die Fabrik einen Reingewinn von 3.000 Drachmen (Lateinische Münzunion), „und wenn die Sache gut geht, so werde [er sich] in Athen ein Haus davon bauen.“ Ziller war zufrieden mit dem Unternehmen, das mindestens noch 1890 in Betrieb war und dessen Gebäude auch auf einer Ansichtskarte von 1908 noch zu sehen ist. Diese Fabrik stand auf dem Areal des Quartiers Tsiller in Piräus, wie Anmerkungen und Fotos bei Spichty mit einer Karte des Hafens von Zea zeigen. Architektur-Professor, dann Baudirektor Im Jahr 1872 wurde Ziller als Professor für Architektur an die „politechnische Schule“ (Polytechnion. Nationale Technische Universität Athen) berufen. Im Jahr 1883 schrieb er Hansen von seiner Entlassung aus dem Lehramt durch den „Minister Trikupis“ (gemeint war der Ministerpräsident Charilaos Trikoupis), was für Ziller eindeutig positive Aspekte hätte. Er habe sich für die Schule aufgerieben und dadurch sogar manchen Auftrag eingebüßt. Künftig wollte er sich lieber mit Aufträgen überhäufen lassen, was viel einträglicher sei. Dies gelang, da er in den 1880er Jahren den endgültigen Durchbruch als erfolgreicher Architekt schaffte. Um 1880 fasste König Georg den Entschluss zum Bau des Königlichen Theaters. Ernst Ziller wurde mit dem Entwurf und der Errichtung des Neorenaissancebaus beauftragt, dessen Fassade sich an der antiken Hadriansbibliothek orientiert. Der Ausbau des um 1890 fertiggestellten Gebäudes zog sich bis zum Jahr 1900 hin. Bereits vorher hatte Ziller das Stadttheater (1887/1888) errichtet. Im Jahr 1884 erhielt Ziller die Berufung zum Ministerialbeamten, er wurde Direktor für öffentliche Bauten der ersten Kanzlei des Innenministeriums, dort, wo ehemals Eduard Schaubert gewesen war, womit Ziller zum Baumeister des griechischen Königs Georg I. avancierte. Dies blieb er mindestens bis zum Griechischen Staatsbankrott von 1893, als erst einmal das Bauen aus öffentlichen Mitteln eingestellt werden musste. Er war für die Errichtung des Archäologischen Nationalmuseums (das ursprünglich von Ludwig Lange entworfen wurde, dessen Fassade jedoch von Ziller stammt), der Nationalbank, der Hauptpost und des Athener Kronprinzenpalais (später Stadtschloss, 1891–1893, heute Sitz des Staatspräsidenten) verantwortlich. Im Jahr 1888 berichtete Ziller, er habe gerade ein Waisenhaus für Mädchen fertig entworfen, sei gerade mit dem Entwurf für die Kadettenschule beschäftigt, dann kämen die Gerichtshöfe und Ministerien. In einem Brief vom September 1890 schrieb er, dass Trikoupis ihn mit dem Bau eines Finanzministeriums beauftragt habe; er entwerfe gleichzeitig ein städtisches Krankenhaus, während die Gerichtshöfe auf ihn warteten. Bei vielen, zumindest der öffentlichen Bauten „muss man wohl von kataloghaften, standardisierten Entwurfs- und auch Ausführungsprozessen ausgehen. Besonders das Beispiel der Cadettenschule, um 1900 vollendet, lässt eine lieblose und nüchterne Architektur erkennen“. Ziller entwarf für die königliche Familie verschiedene Landhäuser, auf den wohl nicht ausgeführten Entwurf für den Sommersitz auf Petalon folgte der Bau des königlichen Landhauses bei Tatoi. Privates Familie Ziller lernte auf einer seiner Reisen nach Wien, im Frühjahr 1876, die aus einer makedonischen Familie stammende Klaviersolistin Sophia Doudou kennen. Ihr Vater Konstantinos Doudos war ein aus Kozani stammender und in Wien lebender Kaufmann. Die vielsprachige Sophia war als Pianistin am Konservatorium in Wien ausgebildet, wo sie eine Goldmedaille erhalten hatte. Nach der Verlobung im Mai folgte bereits im Juni 1876 die Heirat. Die Hochzeitsreise führte die beiden zu seinen Verwandten in die Lößnitz bei Dresden, dann zogen sie nach Athen. Im Mai 1879 wurde ihre erste Tochter geboren, zwei Jahre darauf folgte ein Sohn, insgesamt wurden es drei Töchter und zwei Söhne. Ziller genoss das Familienleben und reiste öfters mit Frau und Kindern, neben Wien auch in die Sommerfrische nach Konstantinopel. Wie er es bei seinem eigenen Vater erfahren hatte, gab auch er seinem ältesten Sohn zu Hause Unterricht in darstellender Geometrie. Das Paar führte ein „kunstfreudiges Haus […], wo die interessantesten Köpfe des damaligen Athen verkehrten“. Sophia Doudou-Ziller, Athens erste Klavierlehrerin, gab vielen Kindern bedeutender Athener Einwohner privaten Klavierunterricht, lehrte am Athener Konservatorium und komponierte ihre eigenen Stücke. Sie erhielt von Franz Liszt wie auch von Camille Saint-Saëns lobende Erwähnungen. Tochter Josephina (Fifi) Dima-Ziller (1885–1965), die später den Maler Dimitrios Dimas (1886–1957) heiratete, wurde Malerin. Sie verwahrte die Hinterlassenschaft Zillers, bis die wichtigsten Stücke davon 1961 an die Nationalgalerie übertragen wurden, so auch Zillers Tagebuch, das von Russack für seine Erarbeitung von 1942 genutzt worden war. Wohnen Anfänglich logierte Ziller in Athen. Im Jahr 1870 erwarb er ein größeres Landgut außerhalb der Metropole in Piräus, im heutigen Stadtteil Kastella. Dieses lag auf der östlichen Landzunge, die die Bucht von Zea (Passalimani) schützt. Dorthin zog er 1875, vermutlich in ein bestehendes Haus, da er nirgendwo von einem Hausbau in Piräus für sich berichtet. Zu dem Areal gehörte der weit und breit ergiebigste Wasserbrunnen (oder eine Quelle), so dass Ziller später in trockenen Sommermonaten auch seine Nachbarn mit Wasser versorgen konnte. Das Areal sollte noch als Quartier Tsiller landesweite Bekanntheit erreichen und sich für Ziller zu einer Goldgrube entwickeln. Eine eigene Stadtvilla in Athen konnte sich Ziller erst 1882/1883 bauen. Die dazu nötigen Mittel stammten unter anderem von Baron Simon Georg von Sina, mit dem Ziller seit seiner Wiener Zeit und den Arbeiten zur Errichtung der Athener Akademie freundschaftlich verbunden war. Sina bedachte Ziller testamentarisch mit 20.000 Drachmen, eine Summe, die etwa einem Viertel einer Stadtvilla entsprach. In jahrelangen Verhandlungen mit den Nachlassverwaltern des 1876 in Wien verstorbenen Barons musste Ziller diesen die Summe „abpressen“. Zusätzlich musste Ziller 4.000 Quadratmeter seines Anwesens in Piräus verkaufen. Die Stadtvilla mit dem Büro lag in der Odos Mavromichali 6; im Archiv von Hansen hat sich ein Grundriss des ersten Stocks erhalten, den Ziller 1889 einer Einladung nach Athen anlässlich der Vermählung des Kronprinzen beigefügt hatte. Das für Hansen vorgesehene Zimmer hatte Balkon und Ausblick auf die Akropolis. Ziller wohnte während der Sommermonate immer mit der Familie in Piräus, „wo man frische Seeluft hat“. Morgens nahm er den 6-Uhr-Zug nach Athen, um nach getaner Arbeit abends mit dem 6-Uhr-Zug zurückzukehren. Kontakte zur deutschen Verwandtschaft Ernst Ziller, das wohl einflussreichste Mitglied einer ursprünglich sächsischen Baumeisterfamilie, war der älteste Bruder der Radebeuler Baumeister Moritz und Gustav sowie des Architekten Paul, allesamt Söhne des sächsischen Baumeisters Christian Gottlieb Ziller, sowie ein Vetter zweiten Grades des preußischen Architekten Carl Ernst Heinrich Ziller, dessen Vater Christian Heinrich für Schinkel arbeitete. Ziller hielt nicht nur zu Anfang den Kontakt zu seiner deutschen Verwandtschaft, als er 1862 für seinen Bruder Moritz, der ab jenem Jahr auch als Bauverantwortlicher in dem Bauunternehmen des Vaters auftrat, Pläne für den Bau zweier Villen in der Lößnitz entwarf. Im Jahr 1865 entstanden Pläne für einen dortigen Kirchenbau, der im Stil byzantinisch war, so wie alle seine Kirchenbauten dieser Grundrichtung folgen sollten. Die Zeitung in Kötzschenbroda, der größten der zehn Lößnitzortschaften, berichtete 1869, dass Ziller im Monat vorher „auf das Stadion Lykurg im Jahre 340 gekommen“ sei (also das Panathinaiko-Stadion) und dass der König von Griechenland die Ausgrabungen unter Zillers Leitung fortzusetzen beschlossen habe. Nach einem Radebeul-Besuch im Juli 1878 schrieb er im Folgemonat an Hansen: „Meine zwei Brüder, Moritz und Gustav, haben hier sehr viel in den letzten 4 Jahren gebaut, und einen ganz bedeutenden Unternehmungsgeist entwickelt. Ihr Wasserwerk ist eine viel grossartigere Unternehmung als ich anfänglich glaubte; es kann ja die ganze Gegend dadurch mit Wasser versorgt werden… Jetzt gibt es viele Springbrunnen; die Rasenplätze und Bäume können täglich einige Male mit Wasser besprengt werden: kurz, es ist eine Pracht, die neuangelegten Gärten gedeihen zu sehen.“ Und er überlegte, was mit genügend Wasser aus Athen und der Umgebung werden könnte. Das Zillersche Wasserwerk wurde zum Vorbild beispielsweise des Wasserwerks in Gropa, heute Lakka. Einige Entwürfe für seine Villen in Kifisia erinnern stark an eine häufig gebaute Spezialität der Gebrüder Ziller: an deren Villen und Landhäuser im Schweizerstil. Sein Entwurf für den realisierten königlichen Landsitz in Tatoi entsprach ebenfalls dieser Stilrichtung. Der Besuch der Familien Karl und Emma May sowie Richard und Klara Plöhn im Jahr 1900 geschah auf Vermittlung der Ziller-Geschwister in Sachsen. Die Beeinflussung wirkte auch in die andere Richtung: Um 1879 errichteten Moritz und Gustav in Oberlößnitz in der von ihnen erschlossenen Nizzastraße mehrere an griechische Vorbilder erinnernde, landhausartige Villen. In einer davon, der Villa Agnes, wohnte Karl May, bevor er seine Villa Shatterhand von ihnen erwarb – einen Bau, der als „italianisierende Renaissance“ in Dehios Handbuch der Deutschen Kunstdenkmäler stilisiert wird, ein Baustil, der auch Ernst Ziller beeinflusste. Besuch von Karl May, Klaras Wunsch vom Grabmal Der sächsische Schriftsteller Karl May erwarb Mitte der 1890er Jahre bei den Baumeistern Gebrüder Ziller, genauer bei Ernsts Bruder Otto, der fertige Villen für seine Brüder im Lößnitzwarenhaus vermakelte, seinen letzten Wohnsitz, die Villa Shatterhand. Im zweiten Teil seiner Orientreise führte ihn sein Weg, gemeinsam mit Ehefrau Emma und Familie Plöhn, am 7. Juli 1900 auch nach Athen. Aufgrund der Zillerschen Kontakte in der Heimat trafen sie sich mit „Prof. Ziller“. Plöhns Ehefrau Klara, die spätere Klara May, notierte später: Im Jahr 1934 schrieb Klara May dazu: Im Jahr 1942 formulierte sie es so: Ob Paul Ziller, der als der Architekt des May-Grabmals gilt, Entwürfe von seinem Bruder Ernst erhielt, um die viel kleineren Proportionen des Radebeuler Grabmals gegenüber dem originalen Nike-Tempel beziehungsweise dem Schliemann-Mausoleum richtig hinzubekommen, ließe sich aus dem Zitat zwar ableiten, ist aber wohl derzeit nicht erforscht. Eine Lösung bietet sich in der Formulierung des ehemaligen Radebeuler Denkmalpflegers Dietrich Lohse an, dass nämlich Paul Ziller, der ja den Auftrag für das Grabmal bekam, „seinerseits den Athener Bruder Ernst konsultiert[e]“. Lebensende Ein ungünstig verlaufender Geschäftsvorfall im Jahr 1900 ruinierte Ziller, er musste sein Stadthaus für 150.000 Drachmen an den Bankier und Kunstsammler Dionysios Loverdos verkaufen. (Im Jahr 2011 wurde entschieden, dass im Ziller-Loverdos-Gebäude ein Museum für die Loverdos-Sammlung eröffnet wird, als Abteilung des Byzantinisch und Christlichen Museums. Dafür wurde das Gebäude ab 2012 restauriert und soll im Februar 2019 der Öffentlichkeit zugänglich gemacht werden.) Nachdem um 1900 auch die Zeit der großen Bauaufträge zu Ende ging, wurde es um Ernst Ziller ruhiger. Die Familie musste lernen, mit wenig auszukommen. Ziller hatte sein „Studio“ (vermutlich das Büro) künftig an der Ecke Kanaris- und Solonos-Straße. Er beschäftigte sich mit kleineren Bauten wie beispielsweise 1906 mit dem Österreichischen Archäologischen Institut oder auch einigen Kirchen und Denkmälern. Eine seiner Töchter skizziert ihn, der „im persönlichen Umgang ein sehr liebenswürdiger und anziehender Mensch gewesen sei“, im selben Jahr als einen älteren Herrn mit zugekniffenen Augen. Durch die antideutsche Stimmung während und nach dem Ersten Weltkrieg geriet Ziller in Isolation. Der letzte, Spichty bei seinen Untersuchungen bekanntgewordene Entwurf stammte von 1920 und handelte von einem Denkmal auf der Insel Lesbos. Bis dahin hatte Ziller mehr als 600 öffentliche und private Bauten entworfen und die Architektur des klassizistischen Griechenland im 19. Jahrhundert entscheidend geprägt. Im Jahr 1923 fiel im Zillerschen Stadttheater in Athen zum letzten Mal der Vorhang, ab da wurde es zum Flüchtlingslager für viele der Vertriebenen im Rahmen der Griechenverfolgungen im Osmanischen Reich. Ziller starb am 25. November 1923 in Athen, laut Papastamos „alt und arm“. Weiteren Aufschluss dazu könnte möglicherweise die Aufarbeitung des bisher unerschlossenen, in Privatbesitz befindlichen Geschäftsarchivs der Gebrüder Ziller und die dort enthaltene Privatkorrespondenz von Ernst Ziller geben. Ziller wurde wie Schliemann auf dem Ersten Athener Friedhof beerdigt. Das Grabmal war laut Spichty in den 1990er Jahren in einem sehr schlechten Zustand. Kunsthistorische Rezeption Hans Hermann Russack widmete Ziller 1942 in seinem Werk Deutsche bauen in Athen ein eigenes Kapitel, in dem auch einige direkt aus Zillers handschriftlichem Tagebuch entnommene Informationen zitiert werden. Das Tagebuch war zu jener Zeit im Besitz von Zillers Tochter Josefine Dima-Ziller, die den Nachlass verwaltete. Der Kunsthistoriker Friedbert Ficker wies im Jahr 2003 darauf hin, dass trotz des damaligen Vorliegens von Russacks Buch der Eintrag zu Ziller im Allgemeinen Lexikon der Bildenden Künstler von der Antike bis zur Gegenwart „lückenhaft und teilweise irreführend“ war, weil die Lebensdaten und Werke mit denen seines Vetters Carl Ernst Heinrich Ziller vermischt wurden. Ficker selbst resümierte in seiner Arbeit, dass Ziller zusammen mit Hansen dem Klassizismus in Athen „den Weg bahnte“ und dann eine architektonische Form herausbildete, „die das Bild seiner neuen Heimat bis weit in das 20. Jahrhundert hinein bestimmte und deren Niederschlag in verschiedener Weise verfolgt werden kann“. Die Athener Nationalgalerie kaufte von Zillers Tochter 1961 den wichtigsten Teil von Zillers Unterlagen und stellte ihn 1973 zum fünfzigsten Todestag Zillers in einer ersten Präsentation der Öffentlichkeit vor. Dimitrios Papastamos bezeichnete dies als einen ersten Versuch einer Monografie (Prospatheia Monographias), was auch der Name der Publikation war. Erst nach 2000 erschienen dann mit den Architekturbänden der Architektur-Professorin Maro Kardamitsi-Adami von der Nationalen Technischen Universität Athen umfangreichere Übersichten über Zillers Werk in Griechenland. Der Historiker Leonidas Kallivretakis von der National Hellenic Research Foundation bezeichnet das „eklektische Athen“ der zweiten Hälfte des 19. Jahrhunderts, bestehend aus einer Mischung aus griechischem Klassizismus und norditalienischer Neorenaissance, als das „Athen von Ziller“. Virginia Mavrika, Kuratorin des Athener Stadtmuseums, zieht die Verbindung von Zillers regelmäßigen Besuchen in Wien bei Hansen zu dem Maler Carl Rahl beziehungsweise zu seinen Schülern wie Eduard Bitterlich. Sie sieht Ziller, beeinflusst durch Hansens Vorbild, in seiner Verwendung von Architektur, Malerei (Entwurf von Innenraumgestaltungen) und Bildhauerei (Entwürfe von Skulpturen für Außenfassaden sowie von Möbeln und Wandpanelen als Vorlagen für Holzschnitzer) als sich ergänzende Künste als Vertreter der Gesamtkunstwerk-Idee. Von der Kunsthistorikerin Marina Lambraki-Plaka, Direktorin der Nationalgalerie in Athen, stammt die folgende Bewertung: Eine Ausstellung von Entwürfen Zillers in der Nationalen Pinakothek Athen führte ihn im Jahr 2010 auch einem breiteren Publikum wieder ins Gedächtnis. Werke (Auswahl) Bauten im Auftrag Hansens Akademie von Athen (Entwurfsbeginn 1856, Zillerentwürfe ab 1858 oder 1859, Baufertigstellung 1885) Hotel Grande Bretagne (wohl 1862–1874) Zappeion in Athen (Grundsteinlegung 1874, Einweihung 1888) Nationalbibliothek in Athen (Grundsteinlegung 1888, Bezug durch die Bibliothekssammlung 1903) Öffentliche Bauten Kronprinzenpalast Neues Palais in Athen (Planung 1888–1890, Bau 1891–1897), heute Sitz des griechischen Präsidenten Renovierung Achilleion und Bau des Kavalierhauses, Korfu (für Kaiser Wilhelm II., 1908) Archäologisches Nationalmuseum (Athen) Königliches Theater, heute Nationaltheater, Athen Stadttheater Athen (erste Pläne von 1871, Bauphase 1886–1888, 1940 abgebrochen) Nationalbank, Athen Chemisches Institut der Kapodistrias-Universität Athen (Odos Solonos; Beschlussfassung 1868, Grundsteinlegung 1887, Eröffnung 1890, abgebrannt 1910, Wiederaufbau 1918 durch den Ziller-Schüler Panos Karathanassopoulos, heutige Nutzung durch das Museum für Naturgeschichte der Universität Athen) Deutsches Archäologisches Institut Athen Österreichisches Archäologisches Institut Athen (1947–2003 u. a. Sitz der Österreichischen Botschaft) Hotel Bangion (1890–1894) am Omonia-Platz, Athen (für Ioannis Pagkas) Hotel Victoria (später Excelsior, Zuweisung des Entwurfs 1910–1914) am Omonia-Platz, Athen Peloponnesischer Bahnhof Athen, siehe Organismos Sidirodromon Ellados Kino Attikon (1870–1881) Neo Arsakeion (Fassadenneugestaltung 1907 nach massiver Gebäudeerweiterung, Ursprungsbau ab 1846 durch Lysandros Kaftantzoglou) Kadettenanstalt (1900–1904) Königlicher Landsitz in Tatoi Rathaus von Ermoupoli auf Syros (Grundsteinlegung 1876, Einweihung 1898) Markthalle (heute Archäologisches Museum), Rathaus, Bahnhof, zwei Bankgebäude in Pyrgos Theater Apollon (Stadttheater) in Patras Städtisches Theater in Zakynthos (1871–72, 1953 durch Erdbeben zerstört, dann in Anlehnung an das Original wiederaufgebaut) Ehemaliges griechisches Konsulat in Thessaloniki, heute Museum des Makedonischen Kampfes Markthalle (heute Archäologisches Museum) in Egio Wasserwerk in Gropa, heute Lakka Gerichtsgebäude von Tripoli Krankenhaus Evangelistria (heute Archäologisches Museum) in Tripoli Archäologisches Museum, Milos (1870) Badehaus auf der Halbinsel Methana (um 1875) Rathaus (1891) und Mädchenschule (1896) in Gythio Privatvillen Iliou Melathron, Athener Residenz Heinrich Schliemanns (1878–1881), heute Numismatisches Museum Megaro Stathatou (Villa für die Reederfamilie Stathatos, 1895), heute Museum für kykladische Kunst in Athen einschließlich Wasch- und Stallgebäude Megaro Deligeorgi (Villa für Leonidas Deligeorgis (1840–1928), um 1890), Athen Megaro Koupa (Villa für den Industriellen Achilleas Koupas, 1875–1900), Athen Megaro Andrea Syngrou (für Andreas Syngros, 1872/1873, heute Außenministerium), Athen Landhaus von Andreas Syngros, Anavryta Megaro Tsiller (Odos Mavromichali 6, 1882), ab 2019 Außenstelle des Byzantinisch und Christlichen Museums Villa für Stefanos Psychas, Athen (Petit Palais, heute Italienische Botschaft, Leoforos Vasilissis Sofias & Sekeri 2, 1885–1904) Megaro Psycha (für Nikolaos Psychas, heute Ägyptische Botschaft, Leoforos Vasilissis Sofias 3, 1885) Haus des Bankiers Stamatios Dekozi Vouros (1792–1881) (Odos Stadiou 23, 1880) Villa für Ioannis Pangas (1889, später Hotel Megas Alexandros) am Omonia-Platz, Athen Haus A. Katsandri (1878), Athen Megaro Mela (für den Kaufmann Vasilios Melas, später Hotel, dann Hauptpost, heute Bank; Grundsteinlegung 1873, Realisierung ab 1882) Villa Rose im Athener Vorort Kifisia (Ernst Zillers eigenes Sommerhaus, Odos Pesmazoglou 12, später Villa Kalamaras) Villa Atlantis, Kifisia (für Solon Vlastos, Herausgeber der Zeitung Atlantis in New York, 1897, benachbart der Villa Rose) Villa Odos Kokkinaki 4, Kifisia Villa Nikolaos Thon mit Agios-Nikolaos-Kapelle (für Nikolaos Thon, Höfling König Georgs), 1891 Palataki in Chaidari Villa des Komponisten Pavlos Carrer in Zakynthos Haus Patsiadis (Café Ziller) in Piräus (letztes noch existentes Ziller-Gebäude des Quartiers Tsiller) nebst Nachbarhaus für Patsiadis sowie weitere Villen auf eigene Kosten im Quartier Tsiller Haus der Familie Gangos in Ermoupoli (Odos Vasileos Konstantinou 11) Villa für Loudovikos Librytis (1888) Wohnhäuser Haus Stathopoulos, Athen (für Efstathios Stathopoulos, Odos Agiou Dimitriou, 1881) Eklektisches zweistöckiges Haus (Odos Athinas 16 & Voreou 17, 1900) Appartementhaus Pesmazoglou (um 1900), Athen Wohn- und Geschäftshaus für Kaufmann Vougas, Athen (Odos Stadiou, 1898) Haus Schliemann-Melas, Athen (für Agamemnon Schliemann und Andromache Schliemann verh. Melas, Panepistimiou, um 1900) Zinshaus an der Schmalseite des Miaoulis-Platzes in Ermoupoli Zweigeschossiges Haus, Patras (Ecke Maizonos und Odos Agiou Nikolaou, Zuweisung) Privathaus, Kalamata (Odos Navarinou & Odos Vyronos, 20. Jahrhundert, mit von Ziller selten verwendeten jugendstiligen Balkongittern) Kirchen Agios Nikolaos (für Nikolaos Thon, Höfling König Georgs, 1891) Kapelle Agios Georgios (1899–1901) im Orfanotrofiou Chatzikonsta (Chatzikonstas-Waisenhaus), Metaxourgio Panagia Chrysospiliotissa, Athen Agios Loukas (1865–1870), Athen (Patision) Kapelle Agios Andreas, Anavryta (für Andreas Syngros, Zuweisung) Agios Athanasios (1891 oder 1911), Pyrgos Agios Grigorios Palamas, Thessaloniki Faneromeni-Kathedrale (1890 oder 1899–1914), Theotokou- und Eisodion-Kirche (1893), Egio Kirche Metamorphosis Sotiros, Vilia, Westattika Agia Marina, Velo, Korinthia (1880) Agia Triada, Athen (Odos Pireos, Anfang 20. Jahrhundert, nicht realisierter Entwurf?) Denkmale und Grabmale Grabmonumente auf dem Ersten Athener Friedhof Mausoleum Heinrich Schliemanns (1891/1892) Mausoleum für den Bankier Efstathios Eugenidis (um 1900) Negrepontis Grabmonument Entwürfe Lutherkirche in Radebeul (unaufgefordert vorgelegter, nicht berücksichtigter Entwurf, 1865) Archäologisches Museum in Olympia (nicht berücksichtigter Entwurf) Parlament (nicht ausgeführt) Finanzministerium (nicht ausgeführt) Justizgebäude (nicht ausgeführt) Heroon auf dem Syntagma-Platz in Athen (nicht ausgeführt) Landschaftsgestaltung mit Bepflanzung des Lykabettos in Athen nebst einiger Bauwerke (30 Pläne um 1886, Geschenk an die Stadt Athen, nicht ausgeführt; jedoch Anregung für die spätere Bepflanzung) Rasthaus am Aufstieg (Vorbild: Schinkels Gärtnerhaus im Park Sanssouci) Monopteros-Pavillon als Aussichtsplattform (Beispiel: Klenzes Monopteros im Englischen Garten in München, Bestandteil eines Englischen Landschaftsparks) Laubengang Stoa als Ruheplatz (Vorbild: Vedute Schinkels mit Blick aus dem Portikus, Schloss Charlottenhof) Agios Georgios auf dem Lykabettos (Vorbild: Schinkels Nikolaikirche, jedoch umgeben mit einem Peristyl) Bewässerungsprojekt für die Attika (Entwürfe und Berechnungen für die Stau-Becken) Drei größere Talsperren: Penteli, Faridero und Adamis (je rund eine Million Kubikmeter Fassungsvermögen) Vier kleinere Talsperren: Brahani, Trachones, Kutalades und Markos Krönung des Lykabettos mit einem Heroon der griechischen Unabhängigkeit (nicht ausgeführt) Heroon in Mytilini (Zillers Entwurf von 1920 wurde nicht ausgeführt, erst der spätere Entwurf von Georgios Jakobides und Gregorios Zevgolis wurde 1922 als Freiheitsstatue von Mytilini gegossen und 1930 errichtet) Königliches Schloss auf Petalion (nicht ausgeführt) Denkmal auf Lesbos (1920, sein wohl letzter Entwurf) Schriften Ueber die ursprüngliche Existenz der Curvaturen des Parthenon. In: Zeitschrift für Bauwesen. 15, 1865, Sp. 35–54. Link zu PDF-Digitalisat. Ausgrabung am Panathenaischen Stadion. In: Zeitschrift für Bauwesen. 20, 1870, Sp. 485–492 = Ausgrabung am Panathenaischen Stadion auf Kosten S.H. des Königs von Griechenland. Ernst & Korn, Berlin 1870. Untersuchungen über die antiken Wasserleitungen Athens. In: Mitteilungen des Deutschen Archäologischen Instituts. Athenische Abteilung. 2, 1877, S. 107–131 (Volltext PDF; 1,7 MB). Das Theater des Dionysos zu Athen. Aufgenommen und gezeichnet von Ernst Ziller. Erläuternder Text von Leopold Julius. In: Zeitschrift für Bildende Kunst. 13, 1878, S. 193–204. 236–242. Eleutherai und Aigosthea. In: Zeitschrift für Bauwesen. 29, 1879, Sp. 285–288 (Pläne und Zeichnungen von Ernst Ziller, Text von B. = Bernhard III. von Sachsen-Meiningen). Das Grabmal von Heinrich Schliemann. In: The Builder. 21. September 1891, S. 391 ff. Hat der Parthenon durch das letzte Erdbeben wirklich so gelitten, daß sein Fortbestand in Frage kommt? In: Deutsche Bauzeitung. 29, 1895, S. 6–7 Volltext (PDF; 9,7 MB). Archivalien Ziller-Archiv in der Nationalgalerie (Ethniki Pinakotheki Athinon), Athen (mit 430 Einträgen) Pnevmatiko Kentro, Athen (einzelne Pläne und Fotografien) Staatsarchiv (Geniko Archio tou Kratous), Athen (Tagebuch Zillers: „Zillers Erinnerungen“, als gestohlen gemeldet) Archio tis Eparchias ton Kykladon, Ermoupolis (Planmaterial zum Rathaus in Hermoupolis) Königliche Bibliothek Kopenhagen (Nachlass Theophil von Hansen, darin Briefe Zillers an Hansen zwischen 1861 und 1890) Literatur Friedbert Ficker, Gert Morzinek, Barbara Mazurek: Ernst Ziller – Ein sächsischer Architekt und Bauforscher in Griechenland; Die Familie Ziller. Fink, Lindenberg i. Allgäu 2003, ISBN 3-89870-076-3. Maro Kardamitsi-Adami, Giorgis Gerolympos (Fotos): Ernst Ziller, 1837–1923. Art of the Classical. Melissa Publishing House, Athen 2007. Marilena Z. Kasimati: Ernéstos Tsíller. Architékton (1837–1923); 22 Martíou – 30 Avgústou 2010, Ethnikí Pinakothíki ke Musío Aléxandrou Soútzou. Athen 2010. (Ausstellung in der Nationalgalerie Athen, 2010), ISBN 978-960-7791-46-7. Dimitrios Papastamos: Ernestos Tsiller. Prospatheia Monographias. Griechisches Kulturministerium, Athen 1973. Eberhard Rondholz: Ernst Ziller (1837–1923). Eine Hommage für den großen klassizistischen Architekten in Athen. In: Exantas. Heft 13, Dez. 2010, S. 48–57 (eberhard-rondholz.de PDF). Hans Hermann Russack: Deutsche bauen in Athen. Wilhelm Limpert-Verlag, München 1942, S. 129–131, 141, 150–168. Stephan Spichty: Das Rathaus von Hermoupolis. Ein Reisebericht. Abschlussarbeit des NDS/gta 1995–1997. ETH Zürich, Institut für Geschichte und Theorie der Architektur (Exemplar liegt im Stadtarchiv Radebeul vor.). Weblinks auf der Homepage des griechischen Präsidenten Porträt auf grhomeboy.wordpress.com (engl., mit Innenaufnahmen vom Megaro Stathatou, vom Megaro Mela und vom Kronprinzenpalast) Antikenrezeption in Griechenland Ernst Ziller (1837–1923) (griechisch) Das Athen des Ziller (ein mehr als 28 Minuten langer, griechischsprachiger Film von 1981 mit zahllosen alten, filmischen Impressionen zu Ziller, mit zwischengestreuten Lesungen aus Zillers Tagebuch) Piräus – Damals und heute (eine längere griechischsprachige Zusammenstellung zum Quartier Tsiller, mit zahlreichen zeitgenössischen Fotos und Plänen) Johann August Kaupert: Blatt II der Karten von Attika (1876/1877) mit der Villen-Colonie Ziller. Einzelnachweise und Anmerkungen Ernst Person (Radebeul) Architekt (Deutschland) Architekt (Griechenland) Architekt des Klassizismus Architekt des Historismus Bauforscher Klassischer Archäologe Hochschullehrer (Nationale Technische Universität Athen) Grieche Deutscher Geboren 1837 Gestorben 1923 Mann Christian Gottlieb Ziller Paul Ziller (Architekt)
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https://de.wikipedia.org/wiki/Europ%C3%A4isches%20Nordmeer
Europäisches Nordmeer
Das Europäische Nordmeer (auch Norwegische See, Norwegisches Meer, altertümlich Skandinavische See, norwegisch Norskehavet, englisch Norwegian Sea) ist ein Randmeer des Atlantischen Ozeans. Es bildet die wichtigste Verbindung zwischen dem offenen Nordatlantik und dem Arktischen Ozean. Das Meer liegt zwischen Norwegen, Island und der Inselgruppe Spitzbergen (Svalbard) und bedeckt eine Fläche von rund 1,1 Millionen km². Anders als die im Süden anschließende Nordsee und die Barentssee im Nordosten ist das Europäische Nordmeer dabei kein Schelfmeer, sondern erreicht Tiefen von bis zu 4000 Metern. Der Meeresgrund ist von einer sehr unebenen Bodengestalt und reich an Erdgas und -öl, die Küstenzonen dienen zahlreichen Fischen des Nordatlantiks als Laichgebiet. Der Nordatlantikstrom sorgt für gleichmäßige Temperaturen das ganze Jahr über, die etwa 10 Grad über dem Schnitt des Breitengrades liegen. Zusammen mit der benachbarten Grönlandsee bildet das Nordmeer den Entstehungsort des Nordatlantischen Tiefenwassers: warmes, salzhaltiges Wasser kühlt hier ab und sinkt in die Tiefe. Es ist damit ein entscheidender Ort für die Entstehung und Aufrechterhaltung der thermohalinen Zirkulation. Geographie Lage und Größe Das Nordmeer nimmt das südöstliche Tiefseebecken im Meeresbereich zwischen Grönland und Skandinavien ein, das nordwestliche bildet die Grönlandsee. Im Südwesten begrenzt eine Linie von Gerpir, dem östlichsten Punkt Islands, über die Färöer auf 61 Grad Nord, 0,53 Grad West das Meer gegenüber dem offenen Nordatlantik. Dort folgt die Grenze dem 61. Breitengrad bis zur norwegischen Küste. Diese Linie bildet die Grenze zur Nordsee. Im Südosten begrenzt die norwegische Küste zwischen 61. Breitengrad und dem Nordkap das Nordmeer. Traditionell wird die Grenze zur Barentssee durch eine Linie vom Nordkap zur Bäreninsel und von dort zum Sørkapp, dem südlichsten Punkt von Spitzbergen, definiert. Der Abhang, der das Tiefseebecken vom Schelf der Barentssee trennt, verläuft allerdings etwa entlang 16 Grad Ost nach Norden, bis er auf Spitzbergen trifft. Er befindet sich also in seinem südlichen Teil viele Kilometer südwestlich der traditionellen Grenze. Im Norden schließlich verläuft sie von Spitzbergen über Jan Mayen bis nach Gerpir und folgt dabei der Tiefseeschwelle, die norwegisches und grönländisches Tiefseebecken trennt. Das Nordmeer hat etwa 1,1 Millionen km² und ein Volumen von etwa 2 Millionen km³, ist im Schnitt also knapp 2000 Meter tief. Unterseeische Schwellen und Kontinentalhänge trennen die Tiefseebecken des Nordmeeres von den angrenzenden Meeresgebieten. Nach Süden liegt die Nordsee auf dem europäischen Kontinentalschelf, nach Osten liegt die Barentssee auf dem eurasischen Kontinentalschelf. Nach Westen grenzen die südlichen Teile des Schottland-Grönland-Rückens den Nordatlantik ab. Der Rücken ist nur 500 Meter tief, nur an wenigen Stellen erreicht er bis zu 850 Meter. Nach Norden schließlich liegen die Jan-Mayen-Schwelle und die Mohns-Schwelle, die in einer Tiefe von rund 2000 Metern liegen. Diverse Gräben weisen Satteltiefen von bis zu 2600 Metern auf. Entstehung und Gestalt Das Europäische Nordmeer entstand vor etwa 250 Millionen Jahren, als sich die Eurasische Platte mit Norwegen und die Nordamerikanische Platte mit Grönland auseinanderzubewegen begannen. Das vorhandene schmale Schelfmeer zwischen Norwegen und Grönland begann sich zu verbreitern und zu vertiefen. Der Kontinentalabhang beginnt etwa dort, wo vor 250 Millionen Jahren die Grenze zwischen Norwegen und Grönland lag. Im Norden verläuft er östlich von Spitzbergen, im Südwesten zieht er sich weiter zwischen Großbritannien und den Färöern hin. Teilweise formten ihn große Erdrutsche, wovon insbesondere der Storegga-Rutsch vor 8000 Jahren zu einem gewaltigen Tsunami an den Küsten des Nordmeeres führte. Der Kontinentalhang beherbergt reiche Fischgründe und zahlreiche Korallenriffe. Die Küsten am Nordmeer sind durch die Eiszeiten der vergangenen drei Millionen Jahre geprägt. Große, mehrere Kilometer hohe Gletscher schoben sich insbesondere in Norwegen ins Meer und formten Täler und Fjorde. Das Material, das sie ins Meer trugen, vergrößerte den Kontinentalschelf vor der Küste und dehnte das Gebiet zwischen Land und Kontinentalhang weiter aus. Besonders deutlich ist dies vor der norwegischen Küste zwischen den Lofoten und der Halten-Bank. Der norwegische Kontinentalschelf ist zwischen 40 und 200 Kilometern breit und dabei, anders als beispielsweise in der Nord- oder Barentssee, durch die ehemaligen Gletscher geformt. Die unregelmäßigen Bänke und Erhebungen von weniger als 100 Meter sind von zahlreichen Kanälen von bis zu 200 Metern Tiefe getrennt. Zwischen ihnen finden sich oft Gräben und Senken, die bis zu 400 Meter erreichen können. Die Erhebungen zwischen den Gräben befanden sich zum Ende der Eiszeiten oft kurzzeitig oberhalb der Wasseroberfläche oder unmittelbar darunter, so dass ihre Zusammensetzung derjenigen der Küste ähnelt: einer Mischung aus Kies, Sand und Matsch. Feineres Material wie Lehm hingegen ist in die Verwerfungen zwischen den Bänken gesunken und bildet das Material in vielen Gräben. Andere allerdings werden von kraftvollen Strömungen durchzogen, so dass sich keine Sedimente ablagern können; hier herrscht ein Boden vor, wie ihn die Eiszeiten hinterließen, und insbesondere in diesen Gräben haben viele Fische ihren Laichgrund. In den Tiefen des Nordmeeres befinden sich zwei Tiefseebecken, die durch eine tiefe Schwelle zwischen dem Vøring-Plateau und Jan Mayen getrennt werden. Das südliche Becken ist das größere von beiden und erreicht großflächig Tiefen von 3500 bis knapp 4000 Metern. Das nördliche Becken ist kleiner, erreicht generell 3200 bis 3300 Meter Tiefe, weist aber zahlreiche einzelne Stellen auf, an denen es bis zu 3500 Metern hinuntergeht. Die Schwelle zwischen den beiden Becken ist an der tiefsten Stelle 3000 Meter tief. Hydrologie Im Nordmeer treffen vier Wassermassen aufeinander, die teilweise dem Nordatlantik entstammen, teilweise der Arktis. Sie vermischen sich im Nordmeer und bilden so neue Strömungen, die von grundlegender Bedeutung für das Klima der Arktis ebenso wie für das globale Förderband sind. Aus dem Atlantik kommt der warme, salzhaltige Nordatlantikstrom, aus der Nordsee der warme, aber süßere Norwegische Strom. Von Südwesten fließt der arktische Ostislandstrom in das Nordmeer, dessen Wasser vor allem in den mittleren Wasserschichten zu finden ist. Über die Tiefsee aus der Grönlandsee schließlich kommt arktisches Tiefenwasser, das sich hier zum Norwegischen Tiefenwasser wandelt. Oberflächenströme Die Hydrologie der oberen Wasserschichten wird maßgeblich durch Wasser aus dem Nordatlantik bestimmt, das mit etwa 10 Sverdrup in das Nordmeer fließt. In seiner Ausdehnung erreicht es die Maximaltiefe mit 700 Metern im Bereich der Lofoten, im größten Teil seiner Ausdehnung nimmt es die oberen 400 bis 500 Meter ein. Vor allem kommt es durch den Färöer-Shetland-Kanal ins Nordmeer und weist eine vergleichsweise hohe Salinität von 35,3 Promille auf. Das Wasser stammt ursprünglich aus dem Nordatlantikstrom, ist aber vor allem über die Biskaya am europäischen Kontinentalabhang entlanggeflossen, wo in südlichen Breiten die Verdunstung zum höheren Salzgehalt geführt hat. Zu geringeren Mengen gelangt aber auch Wasser direkt aus dem Nordatlantikstrom durch den Grönland-Schottland-Graben zwischen den Färöern und Island ins Nordmeer. Das Wasser dort hat eine mittlere Salinität zwischen 35 und 35,2. Die Wassermenge unterliegt dabei starken saisonalen Schwankungen und kann im Winter doppelt so hoch sein wie im Sommer. Das Wasser des Nordatlantikstroms trägt erhebliche Wärmemengen mit sich und sorgt so dafür, dass das Klima in Nordwesteuropa weit wärmer und freundlicher ist als auf denselben Höhen in anderen Gebieten der Welt. Während es in der Shetland-Färöer-Straße noch eine Temperatur von etwa 9,5 °C aufweist, kühlt es bis Svalbard auf etwa 5 °C herunter und gibt diese Energie an die Umgebung ab. Schätzungen gehen davon aus, dass der energetische Gehalt des Atlantikwassers im Nordmeer bei etwa 250 Terawatt liegt. Wasser aus der Nordsee und damit über einen Umweg auch das Wasser aus der Ostsee und damit ein großer Teil des nordeuropäischen Entwässerungsgebietes fließt entlang der norwegischen Küste nach Norden und in das Nordmeer. Dies stellt im Vergleich zum Atlantikwasser nur eine relativ geringe Menge dar. Das Wasser unterliegt in Temperatur und Salzgehalt starken saisonalen und jährlichen Schwankungen. Langjährige Messungen in 50 Meter Tiefe in Küstennähe erbrachten Höchsttemperaturen von 11,2 °C Wassertemperatur auf dem 63. Breitengrad im September und Minima von 3,9 °C beim Nordkap im März. Der Salzgehalt lag zwischen 34,3 und 34,6. Generell ist der Salzgehalt im Frühjahr am geringsten, wenn die Wassermassen der Schneeschmelze bis in das Meer gelangt sind. Direkt in das Nordmeer fließen die norwegischen Flüsse auf der Nordwestseite des Skandinavischen Gebirges. Im Norden folgt die Wasserscheide zur Ostsee etwa der norwegisch-finnischen und norwegisch-schwedischen Grenze, in Norwegen selbst verläuft sie entlang des Gebirgshauptkamms. Große Flüsse, die ins Meer fließen sind Namsen, Ranelva und Vefsna. Diese sind alle vergleichsweise kurz, gehören jedoch aufgrund des Steigungsregens am skandinavischen Gebirge zu den wasserreichsten Skandinaviens. Trotzdem nimmt auch in den Küstenbereichen im Laufe der Fließrichtung von Süden nach Norden die Temperatur ab und der Salzgehalt zu. Teilweise fließt das warme Oberflächenwasser aus dem Atlantik weiter und fließt mit dem West-Spitzbergen-Strom ab, über den drei bis fünf Sverdrup über die Grönlandsee direkt in den Arktischen Ozean gelangen und dort große Auswirkungen auf das Klima haben. Weiteres Oberflächenwasser, etwa ein Sverdrup, fließt entlang der norwegischen Küste in Richtung Barentssee. Teilweise kühlt das Wasser im Nordmeer soweit ab, dass es in tiefe Wasserschichten absinkt und dort schon vorhandenes Wasser verdrängt, das wieder in den Nordatlantik fließt. Das arktische Wasser aus dem Ostislandstrom liegt besonders im südwestlichen Teil, nahe Grönland, an der Oberfläche des Nordmeeres. Auch dieses unterliegt in seinen Eigenschaften vergleichsweise starken Schwankungen. Im langjährigen Mittel liegt die Temperatur unter 3 °C und die Salinität zwischen 34,7 und 34,9 Promille. Den Anteil, den dieses Wasser am gesamten Oberflächenwasser einnimmt, hängt von der Stärke des Ostislandstroms ab, der wiederum stark durch die Nordatlantische Oszillation, den Druckunterschied zwischen Islandtief und Azorenhoch, beeinflusst wird. Je ausgeprägter der Druckunterschied ist, desto stärker ist der Islandstrom und desto mehr arktisches Oberflächenwasser ist im Nordmeer. Tiefseeströme Mit der Grönlandsee und weiter mit dem Arktischen Ozean ist das Europäische Nordmeer durch die Framstraße verbunden, die in 2600 Meter Tiefe reicht. Das Tiefenwasser des Nordmeeres, das Norwegische Tiefenwasser (NSDW – Norwegian Sea deep water) in Tiefen größer als 2000 Meter ist ein nahezu homogener Wassertyp mit einer Salinität von 34,91, der nur geringen Austausch mit den benachbarten Meeren aufweist. Die Temperatur liegt unter 0 °C und sinkt bis zum Meeresgrund bis zu −1 °C. Wasser fließt dort vor allem aus der Grönlandsee durch einen Kanal mit etwas mehr als 2000 Meter Tiefe nördlich von Jan Mayen hinein. Durch Temperatur- und damit Dichteänderungen in den Wasserschichten kam es in den vergangenen Jahren teilweise zu einer umgekehrten Fließrichtung im Kanal. Im Vergleich zu den umliegenden Meeren und deren Tiefwassergebieten weist das Europäische Nordmeer in den Tiefen den höchsten Anteil an Nährstoffen, aber den niedrigsten an Sauerstoff und menschlich erzeugten Spuren auf, so dass das Nordmeertiefenwasser das älteste der Gegend ist. Den Tiefenwasseraustausch mit dem Atlantik begrenzt der vergleichsweise flache Grönland-Schottland-Rücken zwischen Schottland und Grönland, der ein Ausläufer des Mittelatlantischen Rückens ist und nur vergleichsweise geringe Tiefen zulässt. Nur an vier Stellen ist der Grönland-Schottland-Rücken tiefer als 500 Meter. Dies sind der Färöer-Bank-Kanal (etwa 850 Meter), einzelne Stellen des Island-Färöer-Rückens (etwa 600 Meter), der Wyville-Thomson-Rücken (620 Meter) und die zwischen Grönlandsee und Atlantik gelegenen Dänemarkstraße (850 Meter). Auch dort aber liegt er mit höchstens 850 Metern Tiefe weit oberhalb der Bereiche des Nordmeertiefenwassers, das so kaum direkten Austausch mit dem Atlantik hat. Hier fließt das kalte, dichte, abgesunkene Wasser aus Nordmeer und Grönlandsee in den Atlantik zurück. Durch den Färöer-Bank-Kanal fließt etwa 1,9 Sverdrup kaltes Tiefenwasser in den Atlantik zurück, über verschiedene Stellen im Island-Färöer-Rücken 1,1 Sverdrup und über den Wyville-Thomson-Rücken weitere 0,1 Sverdrup. Durch die Turbulenzen, die entstehen, wenn das Tiefenwasser hinter dem Grönland-Schottland-Rücken in die Tiefen des Atlantikbeckens stürzt, vermengt es sich mit anliegenden Wasserschichten und bildet das Nordatlantische Tiefenwasser, eine der beiden wichtigen Tiefseeströmungen, die das globale Förderband am Laufen halten und die Tiefsee mit Sauerstoff versorgen. Klima Als „Pumpe“ der thermohalinen Zirkulation spielt das Nordmeer eine wichtige Rolle für das Weltklima. Das Meer ist deshalb Gegenstand zahlreicher Untersuchungen. Das regionale Klima kann deutliche Abweichungen zu Durchschnitten andernorts aufweisen. Im Bereich des Meeres und der Küsten liegen die Temperaturen im Schnitt 10 °C über dem Durchschnitt dieser Breitengrade und auch im langjährigen Vergleich treten Unterschiede auf. So lag die Temperatur in den Jahrzehnten zwischen 1920 und 1960 weltweit deutlich über dem langjährigen Durchschnitt, im europäischen Nordmeer jedoch deutlich darunter. Gleichzeitig nahm die Sturmhäufigkeit in dieser Zeit stark ab. In den 120 Jahren, seit denen es detaillierte Aufzeichnungen gibt, waren die 1880er die stürmischste Periode, das Niveau hielt sich etwa bis 1910, bevor die Häufigkeit bis in die 1960er deutlich abnahm. Seitdem ist die Sturmhäufigkeit wieder auf das Niveau der 1900-Jahrhundertwende gestiegen. Im Gegensatz zur Grönlandsee (und anderen Meeren der Arktis) ist das Nordmeer generell ganzjährig eisfrei. Gerade in den Wintermonaten bildet es so einen wichtigen Faktor des arktischen Klimas, wenn sehr kalte Luft über das vergleichsweise warme Meer gelangt und in größerem Rahmen Konvektion entsteht. Etwa an der nördlichen Grenze des Nordmeers verläuft die 10-Grad-Celsius-Isotherme, südlich der der wärmste Sommermonat eine Durchschnittstemperatur von über 10 °C hat und die oft als Südgrenze der Arktis angenommen wird. Das Nordmeer hat im Winter generell den niedrigsten Luftdruck in der gesamten Arktis und ist so regelmäßiges Entstehungsgebiet von Tiefdruckgebieten, den Islandtiefs. Teilweise können hier Polartiefs entstehen, mit gravierenden Auswirkungen auf die Küsten Nordwesteuropas. Fauna und Flora Die Biodiversität im Europäischen Nordmeer wird beeinflusst vom Übergang zwischen borealer Zone und arktischen Bedingungen, so dass Lebewesen beider Klimabereiche im Nordmeer vorkommen. Die südliche Verbreitungsgrenze vieler arktischer Arten liegt im Bereich Nordkap, Island und der Mitte des Nordmeers, während die nördliche Grenze borealer Arten an der Grenze Grönlandsee/Nordmeer beziehungsweise Barentssee/Karameer liegt. Einige, wie die Muschel Chlamys islandica oder die Lodde, haben sich auf den Bereich zwischen Atlantik und Arktis spezialisiert. Plankton und Bodenlebewesen Was Zahl und Masse des Lebens angeht, konzentriert es sich im Nordmeer wie überall im Meer in den oberen Wasserschichten. Schätzungen für den ganzen Nordatlantik gehen davon aus, dass nur 2 Prozent der Primärproduktion Tiefen von 1000 Meter und mehr erreichen, nur 1,2 Prozent gelangen auf den Meeresboden. Die Blüte des Phytoplanktons, gekennzeichnet durch die maximale Chlorophyllkonzentration, findet im Schnitt am 20. Mai statt, verschiebt sich dabei von Süden nach Norden von Mitte April bis Mitte Juni. Dominierendes Phytoplankton bilden die Kieselalgen, wobei insbesondere die Gattungen Thalassiosira und Chaetoceros eine wichtige Rolle einnehmen. Nach der Frühlingsblüte bilden Haptophyten der Art Phaeocystis pouchetti die größte Gruppe. Produktivste Tiere im Zooplankton sind Ruderfußkrebse der Gattung Calanus: Calanus finmarchicus und Calanus hyperboreus, wobei C. finmarchicus etwa viermal so häufig wie C. hyperboreus vorkommt und insbesondere im atlantischen Wasser vorherrscht, während C. hyperboreus seinen Verbreitungsschwerpunkt im arktischen Wasser hat. Beide sind jedoch Hauptnahrungsbestandteil vieler Predatoren, so dass der größte Anteil an Biomasse im Nordmeer der Krill bildet. Wichtigste Arten hier sind Meganyctiphanes norvegica, Thyssanoessa inermis und Thyssanoessa longicaudata. Andere wichtige Arten im Bestand sind verschiedene Flohkrebse der Hyperiidea. Im Gegensatz zur Grönlandsee ist kalkiges Plankton (Coccolithophorales, Globigerinida) stark vertreten. Planktonproduktion und -bestand zeigen dabei starke Schwankungen zwischen den Jahren. So produzierte etwa C. finmarchicus im Jahr 1995 28 g/m2 Trockengewicht, zwei Jahre später jedoch nur noch 8 g/m2. Die Zahl der Fische, die sich vor allem von C. finmarchicus ernähren, schwankt dementsprechend ebenfalls stark zwischen den Jahren. Im Bereich der Bodenlebewesen spielt insbesondere im nördlichen Bereich bei Spitzbergen und am eurasischen Kontinentalschelf im Übergang zur Barentssee die Eismeergarnele eine wichtige Rolle in der Ernährung der Fische, insbesondere von Kabeljau und Blauem Wittling. Ihr Vorkommen konzentriert sich dabei vor allem auf Wassertiefen zwischen 200 und 300 Meter. Eine Besonderheit des Nordmeers sind ausgedehnte Korallenbänke von Lophelia pertusa. Die Art ist zwar in vielen Randgebieten des Nordatlantiks verbreitet, erreicht aber nirgendwo solche Mengen und Konzentrationen wie an den norwegischen Kontinentalabhängen. Diese bilden das Habitat verschiedener Fischarten. Gefährdet sind sie jedoch durch zunehmende Schleppnetzfischerei, die die Korallenriffe zerstören kann. Verschiedene Gorgonien-Gruppen bilden Unterwasserwälder. Fische Die norwegischen Küstengewässer sind wichtigster Laichgrund der Heringspopulationen des Nordatlantik, die hier im März schlüpfen. Die Larven steigen an die Oberfläche und werden von der Küstenströmung nach Norden transportiert. Ein kleinerer Teil verbleibt in den Fjorden und an der Küste Nordnorwegens, der größte Teil verbringt die Sommermonate in der Barentssee, wo er sich vom reichhaltigen Plankton des Meeres ernährt. Mit Erreichen der Geschlechtsreife kehrt er wieder in das Nordmeer zurück. Der Heringsbestand variiert zahlenmäßig stark. Er hatte beispielsweise vor allem aufgrund milderen Klimas in den 1920ern einen Anstieg zu verzeichnen, bevor er in den folgenden Jahrzehnten bis 1970 zusammenbrach. In diesem Fall war allerdings vor allem die Überfischung in den Jahren zuvor verantwortlich. Die Biomasse der jung geschlüpften Heringe sank von 11 Millionen Tonnen im Jahr 1956 auf nahezu Null im Jahr 1970, die wenigen verbliebenen Fische mieden die offene See und pendelten vom Winterquartier in einem großen Fjord nur noch in nahegelegene norwegische Küstengebiete. Der Ausfall des wichtigsten Planktonfressers ebenso wie der wichtigsten Nahrungsquelle für viele Raubfische hatte schwerwiegende Auswirkungen auf das Ökosystem des Nordmeers ebenso wie der Barentssee. Erst strengere Umweltrichtlinien und ein wiederum stattfindender Temperaturanstieg haben die Bestände in den Jahren seit 1987 wieder ansteigen lassen. Seit 1990 schwimmt er wieder in größeren Mengen im offenen Meer, ab etwa 2004 gibt es auch wieder Heringsschwärme, die im Nordmeer überwintern. Einher ging diese Rückkehr mit dem Zusammenbruch der Lodden- und Kabeljaubestände. Während die Lodde trotz starker Bejagung vom Verschwinden des Nahrungskonkurrenten Hering profitierte und so kaum Bestandsänderungen zeigte, brachte der Temperaturanstieg in den 1980ern den Fisch fast vollkommen zum Verschwinden. Zum einen nahm die Produktion des Zooplanktons aufgrund der sich ändernden Umweltbedingungen stark ab, zum anderen wuchsen wieder junge Heringe nach, die dem Loddennachwuchs das Plankton wegfraßen und ihn so fast vollkommen zum Erliegen brachten. Gleichzeitig wuchsen etwas größere Lodden so schnell, dass fast die gesamte ältere Population dem Fischfang zum Opfer fiel, in wenigen Jahren brachen die Bestände zusammen. Dadurch fielen die Lodden als Beute des Kabeljaus aus, die Heringe aber waren noch zu klein, um diese ersetzen zu können. So entwickelte der Kabeljau teilweise starke Neigungen zum Kannibalismus und fiel selbst Robben und Vögeln zum Opfer, die ebenfalls unter dem Loddenmangel litten, so dass letztlich auch hier die Kabeljaubestände in kurzer Zeit auf einen Bruchteil einschrumpften. Profitiert vom extremen Bestandsrückgang des Herings haben der Blaue Wittling (Micromesistius poutassou), der mittlerweile die Rolle des wichtigsten Planktonkonsumenten im Meer einnimmt, und die Lodde. Der Blaue Wittling schlüpft westlich der Britischen Inseln. Die Strömung trägt die Larven in die norwegische See, die Erwachsenen schwimmen ebenfalls dorthin, um dort vom Nahrungsangebot zu profitieren. Die Jungen verbringen den Sommer und den Winter bis zum Februar in den norwegischen Küstengewässern, bis sie zur Fortpflanzung wieder in die Gewässer westlich Schottlands zurückkehren. Der norwegisch-arktische Kabeljau hat sein Hauptverbreitungsgebiet in der Barentssee und im Spitzbergen-Archipel. Im übrigen Nordmeer kommt er nur zur Fortpflanzung vor, sein Laichgebiet liegt bei den Lofoten, die Larven lassen sich wieder mit der Strömung in die Barentssee und nach Svalbard tragen. Andere Fischarten, die die Küstengewässer zum Laichen nutzen, sind Schellfisch und Köhler, kommerziell für den Fischfang wichtig sind große Makrelenschwärme, die ebenfalls westlich der britischen Inseln schlüpfen und das Nordmeer zu Futterwanderungen nutzen. In den Korallenriffen leben verschiedene Arten aus der Gattung Sebastes, der Stachelköpfe, darunter als bekanntester Vertreter der Rotbarsch. Andere Meerestiere und Vögel In den Gewässern kommen Nördliche Zwergwale, Buckelwale, Seiwale und Orcas in nennenswerten Mengen vor. In den Küstengewässern bewegen sich zeitweise Weißschnauzendelfine. Zwergwale sind nach Jahrhunderten der Jagd auf größere Arten mittlerweile die mit Abstand häufigsten Wale im Nordmeer. Abgesehen von den Orcas sind die anderen Arten Wanderer, die in den Sommermonaten kommen, um die Nahrungsproduktion dort zum Fressen zu nutzen. Die Orcas sind eng verbunden mit den Heringsbeständen des Nordmeers und folgen den Heringsschwärmen in ihre Überwinterungsgebiete. Zwergwale werden auch weiterhin von Norwegen und Island bejagt. Bei einem Gesamtbestand von etwa 110.000 Exemplaren im Nordostatlantik erlaubt Norwegen beispielsweise eine Quote von etwa 1.000 zu jagenden Walen im Jahr. Im Gegensatz zum historischen Walfang wird hier primär das Fleisch konsumiert und nicht Fett und Tran. Grönlandwale, die einst zu den mengenmäßig wichtigsten Planktonfressern im Nordmeer gehörten, sind durch intensiven Walfang im 19. Jahrhundert fast komplett aus dem Meer verschwunden und galten zwischenzeitlich im Nordatlantik ganz als ausgestorben. Ähnlich ging es dem Blauwal, der in großen Beständen zwischen Jan Mayen und Spitzbergen vorkam und von dem es zwischenzeitlich im gesamten Nordatlantik kaum noch Exemplare gibt. In seltenen Fällen sind auch Sichtungen von Nördlichen Entenwalen im Nordmeer bekannt. Weitere Tierarten, die sich von den Fischen im Nordmeer ernähren, sind Robben (Klappmütze, Sattelrobbe) und Kalmare (Gonatus fabricii). Wichtige Wasservögel Nordnorwegens sind Papageitaucher, Dreizehenmöwe und Trottellumme. Papageitaucher und Trottellummen litten ebenfalls stark unter dem Zusammenbruch der Heringspopulation. Gerade die Papageientaucher auf den Lofoten hatten kaum eine Nahrungsalternative zu den jungen Heringen, in vielen Jahren kam es zu gar keiner Brut, in den meisten anderen überlebten nicht einmal 50 Prozent der Küken. Menschen auf und in dem Meer Der größte Teil des Europäischen Nordmeeres wird von Norwegen oder den anderen Anrainern Island und Dänemark/Färöer als ausschließliche Wirtschaftszone beansprucht. Norwegen beansprucht dabei seit 2004 eine Zwölfmeilenzone als Hoheitsgewässer. Bereits seit 1976 beansprucht der Staat eine ausschließliche Wirtschaftszone von 200 Meilen und somit – aufgrund der norwegischen Inseln Jan Mayen und Spitzbergen – den Südost-, Nordost- und Nordwestrand des Meeres. Der Südwestrand liegt im Bereich von Island und Dänemark/Färöer. Für die wichtigen Heringsbestände sieht der Nordostatlantische Fischereiausschuss (NEAFC) im internationalen Bereich, dem seiner Form nach benannten „Bananenloch“, feste Quoten für verschiedene Anrainerstaaten vor, um die Bestände zu schonen. Mittlerweile ist der Ausschuss auch für andere Fischarten aktiv. Neben den direkten Auswirkungen insbesondere von Fischerei und Walfang beeinflusst der Mensch das Meer auch indirekt. Obwohl generell gesund, ist auch das Ökosystem Nordmeer nicht nur klimatischem Stress ausgesetzt, sondern auch Opfer von Verschmutzung. Das Europäische Nordmeer ist Ziel von radioaktiven Einleitungen, die über verschiedene Strömungen von den europäischen Küsten in das Nordmeer gelangen. Insbesondere spielt hier der britische Atomkomplex Sellafield eine Rolle, insgesamt gelten die Einleitungen der britischen Atomindustrie als gefährlichste einzelne Schadstoffquelle für das Nordmeer. In Norwegen und seinen Küstengewässern bedrohen vor allem Emissionen der Ölindustrie und die Einleitung von Giftstoffen das Meer. Ebenfalls versenkte die Britische Marine nach den Weltkriegen Munition und chemische Kampfstoffe im Meer. Die genaue Menge und Aufteilung ist unbekannt, sicher ist jedoch, dass ein – vermutlich kleinerer – Teil im Nordmeer landete. Im Bereich des Umweltschutzes fällt das Europäische Nordmeer vor allem in den Bereich des OSPAR-Übereinkommens. Fischerei und Walfang Im Bereich der arktischen Kabeljaubestände teilen sich Norwegen und Russland die Quoten in Nordmeer und Barentssee seit der Einführung der 200-Meilen-Zone. Trotzdem sind die Bestände ebenso wie die darauf folgenden Fangquoten stetig rückläufig, ebenso wie das Regime von einer allgemeinen Quote schrittweise auf detaillierte Vorgaben für jedes einzelne Fischereischiff gewechselt hat. Der Fischfang auf den Lofoten ist viele hundert Jahre alt. Die eher unfruchtbaren und weit abgelegenen Inseln beherbergen in ihren Küstengewässern eine der reichsten Fischfangregionen Europas. Kabeljaue aus großen Teilen des Atlantiks schwimmen im Winter in die Küstengewässer der Lofoten, um dort zu laichen. Die Fischer fingen sie an Leinen und teilweise mit Netzen, der getrocknete Stockfisch war bis spät ins 19. Jahrhundert eines der Hauptexportgüter Norwegens und mit Abstand der wichtigste Wirtschaftszweig Nordnorwegens. Eine Quelle von 1879 beschreibt die Inseln: Wegen der Strömungen und vor allem der häufigen Stürme war diese Beschäftigung gefährlich. Schätzungen gehen davon aus, dass ein Drittel der Fischer auf See starb, an einzelnen Sturmtagen wie dem „tödlichen Montag“ 1821 starben mehrere hundert Fischer. Historisch bedeutend ist der Walfang. Der Engländer Stephen Bennet begann auf der Bäreninsel die großen Walrossherden zu dezimieren. In den folgenden Jahren stießen Entdecker der britischen Muscovy Company, die eigentlich auf der Suche nach der Nordwestpassage waren, immer wieder auf große Walherden in den Gewässern des Nordmeers. Die Insel Jan Mayen etablierte sich Mitte des 17. Jahrhunderts als wichtiger Ausgangspunkt für niederländische Walfänger in Grönlandsee und Nordmeer. Insbesondere hatten sie es dabei auf den Grönlandwal abgesehen, von dem es zu Beginn des 16. Jahrhunderts schätzungsweise 25.000 Exemplare in den Gewässern zwischen Svalbard und Jan Mayen gab. Ebenso jagten andere Nationen in diesen Gewässern, in der Frühzeit waren dies vor allem Hamburger und Dänen, später dominierten Briten das Feld in dieser Gegend und schließlich entwickelten sich auch die Norweger in der zweiten Hälfte des 19. Jahrhunderts zur Walfangnation. In den 200 Jahren zwischen 1615 und etwa 1820 waren die Gewässer zwischen Jan Mayen, Svalbard, der Bäreninsel und Grönland im Übergang zwischen Nordmeer, Grönlandsee und Barentssee die ertragreichsten Fanggebiete für Bartenwale weltweit. Bereits Anfang des 20. Jahrhunderts jedoch waren die Wale soweit ausgerottet, dass sich Walfang fast nur noch in Spitzbergen lohnte. 1903 startete Christen Christensen die erste Expedition auf den zahlreich vorhandenen Blauwal bei Svalbard und bis 1912 war auch dessen Zahl so dezimiert, dass kommerzielle Ausbeutung nicht mehr lohnend erschien. Mit fortentwickelter Technik nahm die Zahl der Walfänger ab, die Zahl der Fänge jedoch blieb gleich oder vergrößerte sich. Allein in den 40 Jahren zwischen 1864 und 1904 fingen norwegische Walfänger insgesamt 40.000 Wale. Hierbei handelte es sich in erster Linie um Furchenwale, die vor allem zur Trangewinnung gejagt wurden. Die Zeit zeichnete sich auch dadurch aus, dass die Norweger, allen voran Svend Foyn, hier die technischen Methoden entwickelten, die später Standard im modernen Walfang wurden und so erst zur Bedrohung für den Gesamtbestand wurden. So erlebte die von einer Kanone abgeschossene Harpune mit Explosionskopf ihre Premiere ebenso in Nordmeer/Grönlandsee wie das Fabrikschiff, der feste Öltank, der die einzelnen Fässer ersetzte, sowie die Innovation, den Tran in einem festinstallierten Dampfdruckkocher unter Deck zu kochen. Kraken und Mahlstrom Das Nordmeer lag über viele Jahrhunderte am Rand der bekannten Welt. Einige eindrucksvolle Legenden des Unbekannten sind in seinen Gewässern angesiedelt. So soll der Kraken sich im Meer aufhalten und Schiffe in die Tiefe ziehen. Noch in der Encyclopædia metropolitana von 1845 wird er in einem mehrseitigen Beitrag Erik Pontoppidans Beschreibung nach als größtes aller Monster der See beschrieben, das anderthalb englische Meilen Durchmesser und Hörner habe und ein Schiff unter vollen Segeln mühelos in die Tiefe ziehen könne. Die Legende geht vermutlich auf Olaus Magnus' Geschichtswerk Historia de gentibus septentrionalibus von 1539 zurück, in dem er den Kraken und eine ebenso fürchterliche Riesenschlange des Nordmeers ebenso beschreibt wie den Mahlstrom. Der Kraken taucht berühmt in Alfred Tennysons gleichnamigem Gedicht auf, ebenso wie er eine Rolle im Herman Melvilles Moby Dick spielt, prominent in 20.000 Meilen unter dem Meer vorkommt und heute noch Namensgeber einer Achterbahn in Disney-World ist. Zwischen den Lofoteninseln Moskenesøy und Værøy liegt der Moskenstraumen, der als Mahlstrom in die europäische Geistesgeschichte einging und Namensgeber für eine ganze Klasse von derartigen Wirbeln wurde. Schon erwähnt in der Edda ist er immer wieder Motiv für Maler und Literaten von Edgar Allan Poe bis Walter Moers. In 20.000 Meilen unter dem Meer setzt ihm Jules Verne ein Denkmal: Wenn auch literarisch überhöht, so ist der Mahlstrom aufgrund der besonderen Begebenheiten der Gezeiten, der Lage der Lofoten und der damit einhergehenden Unterwassertopographie tatsächlich einer der größten derartigen Wirbel. Im Gegensatz zu den meisten anderen liegt er auch nicht direkt in einem Kanal oder einer Bucht, sondern in der offenen See. Mit 40 bis 50 Meter Durchmesser kann er gerade die kleinen Fischerboote, die in der Frühen Neuzeit noch auf das Meer hinausfuhren, in Gefahr bringen, zumal der Strudel auch Kabeljaue anzieht, die sich von den aufgewirbelten Kleinlebewesen ernähren, so dass die Boote in die Nähe kommen wollten. Entdecker und Ozeanographen Die fischreichen Küstengewässer Nordnorwegens sind länger besiedelt als schriftliche Aufzeichnungen zurückreichen. Obwohl deren Bewohner gute Seemänner waren und zur Zeit der Wikinger Island und Grönland besiedelten, so nutzten sie dazu doch primär Routen westlich des Nordmeers durch den Atlantik. Die Siedlungen auf Island und Grönland liegen dementsprechend auch fast ausschließlich an den wärmeren Westküsten der Inseln. Die erste halbwegs zuverlässige Karte Nordeuropas, die Carta marina von 1539, stellt das Nordmeer fast ausschließlich als Küstengewässer dar und zeigt auch nichts nördlich des Nordkaps. Das Nordmeer abseits der Küstenregionen kam im 17. Jahrhundert auf die Landkarte: einerseits als wichtiges Wegstück auf der damals noch zu findenden Nordostpassage, zum anderen als reicher Walfanggrund. Jan Mayen, 1607 entdeckt, entwickelte sich bereits in den folgenden Jahrzehnten zum wichtigen Stützpunkt niederländischer Walfänger. Der Niederländer Willem Barents entdeckte Svalbard und die Bäreninsel. Walfänger kamen nach Svalbard, ebenso wie sich über mehrere Jahrhunderte russische Walrossjäger, die sogenannten Pomoren, auf Svalbard aufhielten. Die Inseln am Rande des Nordmeers wurden schnell in nationale Interessengebiete aufgeteilt. Zu den Hochzeiten des Walfangs liefen 300 Schiffe jährlich mit 12.000 Mann Besatzung Svalbard an, von denen sich jedoch immer nur ein kleiner Teil gleichzeitig im Hafen befand. Später kamen neben den Walfängern und nach der Nordost- und Nordwestpassage Suchenden noch Arktis- und Polexpeditionen hinzu. Die erste Lotmessung in der Tiefsee weltweit führte 1773 Constantine Phipps an Bord der HMS Racehorse durch, der auf seiner Nordpolexpedition im Nordmeer 683 Faden (1249 Meter) Tiefe maß. Im späten 19. Jahrhundert begann die ozeanographische Forschung im Nordmeer. Rückgänge bei den Erträgen der Kabeljau- und Heringsfischerei vor den Lofoten veranlassten die norwegische Regierung, die Norwegische Nordmeerexpedition auszuschicken. Der Zoologe Georg Ossian Sars und der Meteorologe Henrik Mohn überzeugten das Innenministerium 1874, dass es kaum Erkenntnisse über die offene See im Nordmeer gäbe, und diese mittels Forschungsfahrten, ähnlich denen von Charles Wyville Thomson, gewonnen werden müssten. Die Sommer 1876 bis 1878 verbrachten sie auf der Vøringen im Seegebiet des Nordmeers. Die Ergebnisse dieser Expeditionen führten zur Publikation von Mohns Die Strömungen des Europäischen Nordmeeres, in dem dieser erstmals ein dynamisches Modell der Meeresströmungen aufstellte und darin sowohl Wind, Druckunterschiede, Meerwassertemperaturen und Salzgehalt integrierte. Er konnte damit erstmals begründete Aussagen über Tiefseeströmungen aufstellen. Schifffahrt Die Küsten des Nordmeers sind dünn besiedelt, die Küsten des arktischen Ozeans und seiner Randmeere hatten bis zum 20. Jahrhundert fast gar keine Einwohner. Schifffahrt gab es viele Jahrhunderte lang nur als Fisch- oder Walfang oder als Küstenschifffahrt. Obwohl das Meer die wichtigste innernorwegische Verkehrsroute war, waren die Schiffsbewegungen vergleichsweise spärlich. Mit der Hurtigruten gibt es seit dem späten 19. Jahrhundert eine Linienverbindung zwischen dem dicht besiedelten Süden Norwegens und den Küstengebieten Nordnorwegens, auf der zumindest ein Schiff täglich verkehrt. Bedeutung als Schifffahrtsroute gewann das Nordmeer vor allem durch den Ausbau der russischen beziehungsweise sowjetischen Kriegsmarine an der Barentssee und der besseren Einbindung der Häfen dort an das Hinterland. Der Weg durch das Nordmeer ist durch andere Seemächte weit schlechter zu kontrollieren als die anderen Seezugänge Russlands/der Sowjetunion zum Atlantik (Nordsee – Skagerrak – Kattegat – Ostsee oder Straße von Gibraltar – Mittelmeer – Bosporus – Schwarzes Meer). Das Nordmeer bildet den direkten und eisfreien Weg aus dem Atlantik zu den russischen Häfen an der Arktis (Murmansk, Archangelsk, Kandalakscha). Dies gewann insbesondere im 20. Jahrhundert an Bedeutung, seitdem diese Häfen an das Hinterland angeschlossen sind und innerhalb Russlands Verkehrswege existieren. Militärisch bedeutsam war es im Zweiten Weltkrieg, als Versorgungskonvois aus den Vereinigten Staaten diese Strecke nutzten. Während die Konvois im Sommer generell weiter weg von der norwegischen Küste durch die Grönlandsee fuhren, zwang das Packeis sie im Winter näher an Norwegen heran. Die wichtigen Gefechte der deutschen Marine gegen diese Konvois, vor allem Unternehmen Rösselsprung im Juli 1942, die Schlacht in der Barentssee im Dezember 1942 und das Seegefecht vor dem Nordkap im Dezember 1943 fanden meistens an der Grenze zwischen Nordmeer und Barentssee auf der Höhe des Nordkaps statt. Insgesamt liefen 811 Schiffe in den USA aus, von denen 720 in russischen Häfen ankamen. Ihre Ladung betrug insgesamt vier Millionen Tonnen, darunter 5000 Panzer und 7000 Flugzeuge. Die Alliierten verloren bei den Konvois 18 Kriegs- und 89 Handelsschiffe, die deutsche Marine verlor das Schlachtschiff Scharnhorst, drei Zerstörer, 38 U-Boote und viele Flugzeuge. Zu Beginn des Kalten Kriegs waren die Beziehungen zwischen den Staaten eisig, die militärischen Planungen in Europa richteten sich vor allem auf Mitteleuropa auf das Gebiet um das Fulda Gap. Norwegen selbst, insbesondere die östlichen Teile, diente als Standort für Spionage und Überwachungsaktionen. Erst als die Sowjetunion in den 1960ern und 1970ern begann, die Nordflotte massiv aufzustocken und zur größten der vier Teilflotten zu machen, nahm das Nordmeer wieder zunehmende strategische Bedeutung ein. Während sowohl NATO als auch sowjetische Marine das Nordmeer nicht permanent mit großen Schiffskontingenten besetzten, nahm es in der strategischen Planung beider Blöcke seit den 1970ern eine größere Rolle ein. Große gemeinsame Manöver der sowjetischen Marine von Nordflotte und Baltischer Flotte im Nordmeer verschafften dem Meer bei Teilen des Militärs den Namen Mare sovieticum. Einerseits war es das Einfallstor der sowjetischen Marine in den Atlantik und damit in Richtung USA, zum anderen lag ein großer Teil der sowjetischen Flotte in Murmansk, nur kurz hinter der Grenze Nordmeer/Barentssee. Um die eigene Flotte zu schützen, war es für sie notwendig, das Nordmeer verteidigen zu können. Nachdem die NATO in den 1950ern noch einen Angriff auf Murmansk und die Zerstörung der sowjetischen U-Boote vorgesehen hatte, positionierte sie sich in späteren Jahrzehnten vorsichtiger. Das Hauptaugenmerk lag auf der G-I-UK-Lücke. Zur Sicherung des Atlantiks wurde SOSUS zur Erkennung von russischen U-Booten installiert. Mit dem Konzept der Vorwärtsverteidigung und dem damit einhergehenden CONMAROPS-Konzept der NATO plante diese seit den 1980ern wieder eine dauerhafte starke Präsenz im Nordmeer als Ausgangspunkt für einen Angriff auf die sowjetischen Häfen der Barentssee. Auch in Zeiten der Entspannungspolitik setzten intensive Katz-und-Maus-Spiele zwischen sowjetischen und NATO-Flugzeugen, Schiffen und vor allem U-Booten ein. Überbleibsel des Kalten Krieges im Nordmeer ist das sowjetische Atom-U-Boot K-278 Komsomolez, das 1989 südwestlich der Bäreninsel sank. Sollte das im Inneren gelagerte radioaktive Material freigesetzt werden, könnte dies gravierende Auswirkungen auf Flora und Fauna haben. Das Europäische Nordmeer ist Teil der Nordost-Passage für Schiffe von mitteleuropäischen Häfen nach Asien. Der Seeweg zwischen Europa und Asien (Rotterdam–Tokio) durch den Sueskanal beträgt 21.100 Kilometer, wohingegen die Route durch die Nordostpassage mit nur 14.100 Kilometern deutlich kürzer ist. Die Nordost- und die Nordwest-Passage waren Ende August 2008 erstmals gleichzeitig eisfrei. In Zukunft wird Russland vermutlich die Offshore-Ölgewinnung in und an der Arktis stark ausbauen und das abgebaute Öl zumindest teilweise direkt mit Tankern weiter zu den Märkten in Europa und Amerika liefern. Den Planungen nach soll sich die Zahl der russischen Tankerbewegungen im nördlichen Nordmeer von 166 im Jahr 2002 auf 615 im Jahr 2015 steigern, wobei sich die Größe der eingesetzten Tanker ungefähr verdreifachen soll. Erdgas Die Stelle der wichtigsten Rohstoffe aus dem Nordmeer nehmen nicht mehr Fische, sondern mittlerweile Erdöl und vor allem Erdgas ein. Die Felder unter dem Nordmeer sind noch kaum erschlossen, gelten jedoch als ergiebig und könnten noch für Jahrzehnte Erdgas liefern. Da Norwegen bereits in der Nordsee umfangreiche Erfahrungen mit der Erdöl- und Erdgasförderung und ihrer Regulierung gewonnen hatte, gab es wenige politische und ökonomische Probleme, als 1993 das erste Ölfeld im Nordmeer die Produktion aufnahm. 2001 folgte mit dem Gasfeld Huldra in der Nordsee an der Grenze zum Nordmeer eine wichtige Förderstätte für den wahrscheinlich wichtigsten Rohstoff des Nordmeers. Technische Herausforderungen sind vor allem das noch schlechter für Offshorearbeiten geeignete Wetter als in der Nordsee und die bedeutend größeren Wassertiefen. Während das Flachwasser bis 500 Meter Wassertiefe gut erschlossen ist und einen ähnlichen Erschließungsgrad wie die Nordsee aufweist, sind die Bohrungen in tieferen Lagen erst in ihrer Anfangsphase. Bohrungen in mehr als 500 Meter Wassertiefe gibt es seit 1995, wobei aber erst wenige Gasfelder den kommerziellen Betrieb aufgenommen haben. Wichtigstes Projekt zurzeit ist Ormen Lange, das seit 2007 kommerziell produziert. In ihm werden die Gasvorräte auf 1,4 × 1013 Kubikfuß geschätzt. Nach dem Troll-Gasfeld in der Nordsee könnte es damit das wichtigste norwegische Gasfeld werden. Angebunden ist es mit der Langeled-Pipeline, der derzeit längsten Unterwasser-Pipeline der Welt, an das Sleipnir-Feld in der Nordsee und damit an das Pipelinenetz zwischen den verschiedenen Nordseeanrainern. Mehrere andere Gasfelder befinden sich ebenfalls in der Entwicklung. Eine besondere Herausforderung stellt dabei das Kristin-Gasfeld dar, in dem der Gasdruck fast identisch mit dem Druck ist, bei dem das umgebende Gestein splittert, was immer wieder zu Verzögerungen und Problemen führt. Anmerkungen Literatur Johan Blindheim: Ecological Features of the Norwegian Sea. in: Louis René Rey et al. (Hrsg.): Marine Living Systems of the Far North: 6th Conference: Papers. Brill Archive, 1989, ISBN 90-04-08281-6, S. 366–401. ICES: ICES Advice 2007. Book 3 – The Barents Sea and the Norwegian Sea. 2007 . Roald Sætre (Hrsg.): The Norwegian Coastal Current – Oceanography and Climate. Tapir Academic Press, Trondheim 2007, ISBN 978-82-519-2184-8. Hasse, Lutz: Klima und Wetter des Europäischen Nordmeeres. Die Geowissenschaften, 6(8), 235–241, 1988, doi:10.2312/geowissenschaften.1988.6.235 Weblinks Nordeuropa
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https://de.wikipedia.org/wiki/Blutspecht
Blutspecht
Der Blutspecht (Dendrocopos syriacus) gehört zur Unterfamilie der Echten Spechte (Picinae). Er ist sehr nahe mit dem Großen Buntspecht (Dendrocopos major) verwandt, mit dem er gelegentlich auch sympatrisch vorkommt und hybridisiert. Ursprünglich nur im Nahen und in den westlichsten Randbereichen des Mittleren Ostens verbreitet, dehnte die Art gegen Ende des 19. Jahrhunderts ihr Brutareal über den Balkan bis ins östliche und nordöstliche Mitteleuropa aus. Während die Nord- und Westausbreitung weitgehend zum Stillstand gekommen ist, hält die Arealausweitung in Richtung Osten unvermindert an. Vom sehr ähnlichen Buntspecht unterscheidet er sich durch die mehr rosaroten Farbtöne im Steißbereich und durch das Fehlen des geschlossenen Zügelbandes zum Nacken hin. Der Blutspecht ist unter den europäischen Spechten der ausgeprägteste Kulturfolger. Er besiedelt bevorzugt siedlungsnahe Regionen, häufig Gärten, Parks, Obstgärten und Plantagen, Friedhöfe oder andere vom Menschen umgestaltete Landschaften. Er ernährt sich zu fast gleichen Teilen von Früchten, Nüssen und Kernen sowie von Wirbellosen, vornehmlich von Insekten. Er gehört zu den Spechten mit dem größten vegetarischen Nahrungsanteil. Er ist weitgehend Standvogel. Obwohl einige Färbungsvarianten beschrieben wurden, werden keine Unterarten anerkannt. Die Art gilt zurzeit als nicht gefährdet. Merkmale Der überwiegend schwarz-weiß kontrastierende Gesamteindruck des Blutspechts ist typisch für die Gattung der Buntspechte. Er ist dem bekanntesten Vertreter dieser Gattung, dem Buntspecht (Dendrocopos major), sehr ähnlich. Bei beiden Geschlechtern des Blutspechtes sind in die mattschwarze Oberseite große weiße Schulterflächen eingelassen. Brust, Bauch und Flanken sind schmutzig weiß-gelblich, die Flanken sind undeutlich dunkel längsgestrichelt. Die schwarzen Handschwingen sind deutlich weiß gebändert, wobei das oberste weiße Flügelband meist mit den Schulterflecken verbunden ist. Der Stützschwanz ist schwarz, die äußeren Schwanzfedern weisen eine weiße, individuell variierende Bänderung auf. Wangen und seitliche Halsteile sind weiß mit leichtem gelblichen Anflug; begrenzt werden diese hellen Gefiederteile des Kopfes durch ein deutliches schwarzes Zügelband und einen schwarzen Bartstreif, sowie scheitelwärts durch eine schwarze Kopfplatte, die sich beim Weibchen über den Nacken zum schwarzen Rückengefieder fortsetzt, beim Männchen jedoch durch ein deutliches, ziegelrotes Nackenabzeichen unterbrochen ist. Das Zügelband hat keine Verbindung zum schwarzen Nackengefieder. Die Stirn ist bei beiden Geschlechtern weiß, oft rein weiß, zuweilen jedoch auch leicht gelblich. Die Augen sind schwarz, der Schnabel ist hellgrau. Der Steiß und die Unterschwanzdecken sind rosarot. Weibchen unterscheiden sich von den Männchen durch das Fehlen der roten Nackenfärbung und durch einen etwas matteren Färbungston. In Gewicht und Größe sind die beiden Geschlechter identisch. Das Jugendgefieder ist matter und struppiger, die einzelnen Gefiederpartien sind farblich weniger scharf voneinander abgegrenzt. Beide Geschlechter tragen im Jugendkleid eine rote Kopfplatte, während der Nackenabschnitt auch beim Männchen schwarz ist. Vor allem die Flanken sind recht deutlich längsgestrichelt, häufig sind bei jungen männlichen Blutspechten zerstreute rote Sprenkel auf der Brust erkennbar. Biometrische Daten Mit etwa 23 Zentimetern Körperlänge zählt der Blutspecht zu den mittelgroßen Spechten. Er ist ebenso groß wie ein Buntspecht. Die Spannweite misst zwischen 34 und 39 Zentimeter. Im Mittel wiegen adulte Blutspechte um die 80 Gramm. Verwechslungsmöglichkeiten Obwohl Blutspecht und Buntspecht einander sehr ähneln, bestehen doch gute Unterscheidungsmerkmale, die bei ausreichenden Sicht- und Beobachtungsbedingungen auch eine sichere feldornithologische Bestimmung ermöglichen. Am deutlichsten unterscheiden sich die beiden Arten in der Gesichtszeichnung. Der weiße Wangenfleck wird beim Buntspecht durch das bis zum Nacken reichende Zügelband eingerahmt, beim Blutspecht ist dieser Zügel offen, so dass das Gesicht insgesamt weißer erscheint. Der rote Nackenfleck des Männchens ist beim Blutspecht größer; er reicht in den unteren Scheitelbereich, und das Rot ist etwas heller als bei der Schwesterart. Auch das weiße Stirnabzeichen ist beim Blutspecht etwas ausgedehnter. Sieht man sitzende Spechte von hinten, fällt beim Buntspecht eine Kreuzzeichnung auf, die aus dem schwarzen Nackenband und den in dieses Band einmündenden Zügel gebildet wird; beim Blutspecht ist nur das schmale Nackenband zu sehen. Fliegende Spechte sind am besten an den Schwanzfedern oder an der Zeichnung des Steißes zu erkennen. Die äußeren Schwanzfedern des Buntspechtes, vor allem deren Außenfahnen, sind überwiegend weiß, die des Blutspechtes schwarz mit wenigen weißen Flecken. Die Rotfärbung des Steißes und der Unterschwanzdecken ist beim Buntspecht ausgedehnt und intensiver tiefrot, während diese Gefiederpartien beim Blutspecht einen blassroten beziehungsweise rosaroten Farbton aufweisen. Vom Mittelspecht (Dendrocopos medius) können adulte Blutspechte allein durch die Größe und die bei beiden Geschlechtern des Mittelspechtes vorhandene rote Scheitelplatte gut unterschieden werden. Juvenile Individuen können aber Bestimmungsprobleme bereiten, da auch bei jungen Blutspechten die Scheitelpartie rot gefärbt ist. Wichtigstes Unterscheidungsmerkmal sind neben der Größe die äußeren Steuerfedern, die beim Mittelspecht viel Weiß aufweisen, beim Blutspecht aber mehrheitlich schwarz sind. In einigen Gebieten des Balkans und Transkaukasiens kommen die Brutgebiete des Blutspechts in enge geographische Nähe zu denen des Weißrückenspechts; die beiden Arten leben jedoch in weitgehend unterschiedlichen Habitaten. Beide Geschlechter des Weißrückenspechtes sind vom Blutspecht gut durch das völlige Fehlen von weißen Schulterabzeichen zu unterscheiden. Stimme Alle Lautäußerungen des Blutspechtes sind denen des Buntspechtes sehr ähnlich, lassen sich mit einiger Erfahrung aber dennoch recht gut unterscheiden. Der häufigste Ruf beider Arten ist ein einzelnes, sehr häufig in kurzen Abständen hintereinander geäußertes „kjüg“, oder auch „dschi(r)k“, das sogenannte Kixen. Beim Blutspecht klingt dieser Laut weich, etwas quietschend, nicht metallisch hart wie beim Buntspecht. Gorman vergleicht den Klang mit dem Geräusch, den eine Quietschpuppe produziert. Dieser Laut wird in unterschiedlichen Situationen sowohl im Sitzen als auch im Flug von beiden Geschlechtern geäußert. Daneben verfügen Blutspechte noch über eine Reihe meist kurzer, scharfer Rufe wie kip-kip, die in Erregungssituationen zu langen Folgen gereiht werden können. Sexuell motivierte Rufe klingen wie kwiiieep oder quuiieg. Die Jungen sind nur in den Fütterungsphasen akustisch auffällig, doch ist ihr Quietschen leiser als das von Buntspechtnestlingen. Blutspechte trommeln etwas seltener als Buntspechte, jedoch dauern die Trommelwirbel etwas länger als die der Schwesterart. Sie bestehen aus bis zu 30 Schlägen; zwischen dem ersten und zweiten Schlag ist gelegentlich eine kleine Pause feststellbar. Beide Geschlechter trommeln, die Weibchen allerdings seltener, leiser und kürzer. Gelegentlich trommeln Weibchen noch während der Zeit der Jungenaufzucht. Verbreitung Die Verbreitung der Art beschränkt sich auf ein vergleichsweise kleines zentral- und westpaläarktisches Gebiet, das vom Südosten des Irans, Teilen des Iraks, Syriens, Libanons und Israels über die Türkei nordwärts bis ins nordöstliche Mitteleuropa reicht. Ein vom geschlossenen Brutgebiet weitgehend isoliertes Vorkommen im Südosten des Irans, nahe der Grenze zu Pakistan, berührt die orientalische Faunenregion. Zum ursprünglichen Verbreitungsgebiet dürften auch die Brutgebiete in den Kaukasusstaaten zählen. Außer auf Thassos, Samothrake und Limnos scheint die Art auf keiner anderen Mittelmeerinsel zu brüten. In Europa sind weite Teile der Balkanhalbinsel, Ungarns und der Slowakei sowie die östliche Hälfte Sloweniens, Ostösterreich, Ost- und Zentraltschechien, Süd- und Mittelpolen sowie einige südliche Gebiete von Belarus von dieser Art besiedelt. Auch in weiten Teilen der Ukraine und in Moldawien ist dieser Specht Brutvogel. Ob Brutvorkommen auf der Krim bestehen, ist bislang nicht bestätigt. In Deutschland gab es einige Brutzeitbeobachtungen, so 1982 bei Köthen, ein Brutnachweis wurde noch nicht erbracht. Die nächstgelegenen Brutplätze in Tschechien liegen jedoch weniger als 50 Kilometer vom deutschen Staatsgebiet entfernt. Am 28. Januar 2016 meldete der Bayrische Rundfunk, dass in Kronach ein Blutspecht in einem Privatgarten beobachtet worden sei. Wanderungen Einmal etablierte Blutspechte sind weitgehend ortstreu und verharren auch in strengen Wintern nach Möglichkeit im Brutgebiet. Die rasche Ausbreitung nach Süd- und Mitteleuropa zeigt jedoch eine große Mobilitätsbereitschaft. Neuansiedlungen können 100 und mehr Kilometer entfernt vom nächstgelegenen Brutort stattfinden; fast immer handelt es sich um Jungvögel, die über solche Distanzen dismigrieren. Arealausweitung des Blutspechtes Der Blutspecht weitete sein Brutgebiet vor allem im 20. Jahrhundert wesentlich nach Westen, Norden und Nordosten aus. Habitat- und Klimaveränderungen werden als Gründe für diese Arealexpansion genannt. Das namengebende Exemplar stammt aus Syrien, wurde von den Zoologen Hemprich und Ehrenberg gesammelt und nach Hemprichs Tod von Ehrenberg 1833 beschrieben. Über die Ausdehnung des Brutareals der Art zu dieser Zeit sowie über das damalige Bruthabitat ist nichts bekannt. 1890 wurde ein Exemplar aus Nordbulgarien als Blutspecht bestimmt; dieser Beleg gilt als erster Nachweis der Art in Europa, doch muss der Blutspecht schon früher in die südlichen und südwestlichen Balkangebiete eingewandert sein, da nur wenige Jahre später offenbar bereits gute Populationen in Südserbien bestanden. In der Großen Ungarischen Tiefebene wurde der Blutspecht erstmals 1928 nachgewiesen; in den nächsten 20 Jahren besiedelte die Art dieses Gebiet sowie angrenzende Bereiche im heutigen Kroatien und Nordserbien weitgehend flächendeckend. Die erste Feststellung in Österreich erfolgte 1951 am Nordrand des Neusiedler Sees, vermutlich war die Art zu diesem Zeitpunkt in der weiteren Umgebung des Sees bereits ein verbreiteter Brutvogel. Gleichzeitig mit der Nord- und Nordwestexpansion dehnte der Blutspecht sein Brutareal auf die südliche Balkanhalbinsel aus. In den folgenden Jahren etablierte sich der Blutspecht in weiten Teilen der Slowakei und in Tschechien. Seit den 1980er Jahren verlangsamte sich die Nordbewegung deutlich, während die Ostausbreitung in Richtung Ostukraine und der Krim anhält. Heute liegt die nördliche Arealgrenze der Art bei Białystok in Nordostpolen, Sichtbeobachtungen gelangen jedoch auch aus Gebieten an der Danziger Bucht, vor allem auf der Hel. Zurzeit werden Arealausweitungen vor allem aus Belarus gemeldet, wobei dort der Expansionsdruck offenbar von ukrainischen Spechten ausgeht. Auch nach Osten hin konnte die Art weiträumig expandieren. Die Verbreitungsgrenze in diesem Bereich liegt bereits östlich der Wolga. Ein weit vorgeschobenes Verbreitungsgebiet wurde 2010 aus dem Nordwesten von Kasachstan gemeldet. Die Nordbewegung ist jedoch weitgehend zum Stillstand gekommen. Es wird vermutet, dass der Blutspecht mit Erreichen der 18-Grad-Juli-Isotherme seine klimatisch bedingte Verbreitungsbarriere erreicht hat. Ein Hindernis für eine noch nicht erfolgte Besiedelung Norditaliens sowie der Apenninhalbinsel stellen offenbar die Alpen, beziehungsweise das Adriatische Meer dar. Lebensraum Der Blutspecht bewohnt in seinen Herkunftsregionen schüttere, montane Eichenwälder und lockere Bachufergehölze aus Pappeln, Weiden, Orientalischen Platanen und Nussbäumen. Er meidet sowohl offene Wacholder- und Kiefernwälder als auch geschlossene Laub- und Nadelwälder. Schon in seinem Ursprungsgebiet kam und kommt er in Kulturlandschaften wie Obstgärten, Parks, Friedhöfen oder Weingärten vor. Diese Disposition, vom Menschen gestaltete Räume zu besiedeln, ermöglichte es der Art offenbar, in eine von anderen Spechten noch nicht vollständig genutzte Nische vorzudringen. In seinen Expansionsgebieten besiedelt der Blutspecht fast ausschließlich von Menschen geformte Landschaftsstrukturen wie Obstgärten, Parkanlagen, Friedhöfe, Siedlungsränder, kleine Baumgruppen und Alleen. Seine Reviere erstrecken sich oft über einige Gärten, zwischen denen für ihn unnutzbares Gebiet liegen kann. Sehr häufig besucht er Obstplantagen oder brütet in ihnen. Bevorzugt werden solche mit Steinobst wie Aprikosen, Kirschen oder Pflaumen, häufig ist er auch in Maulbeer-, Walnuss- oder Mandelbäumen zu sehen. Von allen Spechten Europas ist er der am stärksten ausgeprägte Kulturfolger. In Europa kommt der Blutspecht hauptsächlich in niederen Höhenlagen bis zu 400 Metern vor. Vereinzelt wurden Bruten aus höheren Lagen gemeldet, so aus der Slowakei und aus Bulgarien (800 Meter über NHN, beziehungsweise 1.000 Meter über NHN). In seinem ursprünglichen Verbreitungsgebiet im Iran bestehen Brutvorkommen über 2.000 Meter, doch reichen dauernde Besiedelung und Bewirtschaftung in dieser Region ebenfalls in diese Höhen. In vielen tiefgelegenen Sekundärhabitaten kommt der Blutspecht sympatrisch mit dem Buntspecht vor. Systematik Der Blutspecht ist ein Vertreter der recht umfangreichen Gattung Dendrocopos, in der kleine bis mittelgroße Baumspechte mit überwiegend schwarz-weißem Gefieder zusammengefasst sind. Gemeinsam mit Weißflügelspecht (D. leucopterus), Buntspecht (D. major), Himalajaspecht (D. himalayensis) und dem Tamariskenspecht (D. assimilis) bildet er eine Superspezies. Die 20 Vertreter der Gattung Dendrocopos kommen in Eurasien sowie in Nordafrika vor. Bis vor wenigen Jahren war Dendrocopos mit verwandten, vor allem nearktischen Arten, in der Gattung Picoides vereint. Insgesamt sind die verwandtschaftlichen Beziehungen sowohl zwischen diesen beiden Gattungen als auch innerhalb der Gattungen selbst Gegenstand wissenschaftlicher Forschung und Diskussion. Strittig ist auch, ob Unterarten bestehen. Das HBW unterscheidet keine Unterarten, nach anderen Autoren sind neben der Nominatform noch zumindest zwei Unterarten, nämlich D. s. milleri und D. s. transcaucasicus zu unterscheiden. Die erste kommt vor allem im Ostiran, die zweite in den Kaukasusgebieten vor. Andere genannte Unterarten wie balcanicus oder romanicus gelten als regional verbreitete Färbungsvarianten. Hybridisierungen Mischbruten zwischen Blutspecht und Buntspecht sind nicht selten. Die fertilen Jungen zeigen Merkmale beider Elternteile. Besonders die Gesichtszeichnung, die Intensität und Farbtönung der Rotanteile des Gefieders sowie Ausmaß der Weißzeichnungen an den Schwanzfedern können Aufschluss über eine Bastardisierung geben. Möglicherweise liegen den nicht anerkannten Unterarten romanicus und balcanicus Mischbruten zugrunde. Nahrung Der Blutspecht nimmt etwa zu gleichen Teilen vegetabile und animalische Kost zu sich, wobei sich die Anteile jahreszeitlich etwas verschieben können. Damit unterscheidet sich die Nahrungszusammensetzung dieser Art von allen anderen europäischen Spechtarten, die zwar ebenfalls pflanzliche Kost verzehren, jedoch nicht in diesem Ausmaß und nicht relativ gleichmäßig über das gesamte Jahr verteilt. Lediglich beim Buntspecht können Vegetabilien saisonal einen ähnlich hohen Anteil erreichen. Auch die Jungen des Blutspechtes werden zu einem relativ hohen Anteil mit pflanzlicher Kost versorgt. Der Blutspecht bevorzugt reifes Steinobst wie Kirschen, Aprikosen, Pfirsiche und Pflaumen; aber auch Äpfel, Birnen, viele Beerenarten, die Früchte des Maulbeerbaumes sowie Weintrauben, Feigen und Oliven werden häufig verzehrt. Im Herbst und Winter können Haselnüsse, Walnüsse sowie Pistazien, Mandeln und Pinienkerne zur Hauptnahrung werden. Bei größeren Steinfrüchten nutzt der Blutspecht nicht nur das Fruchtfleisch, sondern auch den im Stein enthaltenen Samen. Auch Sonnenblumensamen und Kürbiskerne zählen zu den vegetarischen Nahrungsbestandteilen dieser Art. Ebenso werden vor allem im Frühjahr Baumsäfte, insbesondere die von Ahornarten, Kiefern und Pinien, aufgenommen. Der animalische Nahrungsanteil unterscheidet sich nicht wesentlich von dem des Buntspechtes. Dabei überwiegen an der Oberfläche lebende Insektenarten und deren Entwicklungsstadien deutlich jene, die im morschen Holz oder unter der Baumrinde vorkommen. Käfer, zum Beispiel Maikäfer, Schmetterlinge und Schmetterlingsraupen, Motten, Ameisen, Grillen, Wespen und Fliegen bilden den überwiegenden Anteil der animalischen Kost. Tausendfüßer, Spinnen, verschiedene Pflanzenläuse, Würmer und Schnecken gehören ebenfalls zum Nahrungsspektrum der Art. Nahrungserwerb Der Blutspecht ähnelt im Nahrungserwerb dem Buntspecht, doch sind seine Verhaltensweisen in einigen Aspekten weniger entwickelt als die seines nahen Verwandten. Blutspechte scheinen keine echten Schmieden zu verwenden, auch das Ringeln safttreibender Bäume ist bisher nicht beobachtet worden, obwohl Säfte, die aus Rindenverletzungen oder durch Ringelaktivitäten anderer Spechte austreten, ausgebeutet werden. Der Blutspecht sucht seine Nahrung sowohl am Boden als auch in allen Stamm- und Astregionen bis in den Wipfelbereich hoher Bäume. Niedrigere Stammbereiche und starke Äste werden jedoch bevorzugt. Die tierischen Nahrungsanteile werden vor allem durch Absammeln der Beutetiere auf Stamm- und Astoberflächen sowie durch systematisches Stochern gewonnen; das Hacken ist wenig tiefgreifend; meist werden dadurch nur Rindenteile entfernt oder die äußerste Splintschicht bis zu wenig mehr als einem Zentimeter bearbeitet. Bei der Nahrungssuche im Stamm und Astbereich hüpft der Blutspecht beidbeinig stammauf und stammab. Relativ häufig erbeuten Blutspechte durch kurze Ausfallflüge auch Fluginsekten. Zwischen den Nahrungsrevieren kann die Art während des täglichen Nahrungserwerbs beträchtliche Flugdistanzen zurücklegen. Die Früchte- und Nussnahrung wird sowohl direkt von den fruchttragenden Bäumen und Sträuchern als auch auf dem Boden gesammelt. Um Nüsse oder Steinobstkerne zu öffnen, benutzt der Blutspecht Spalten in grobborkigen Bäumen oder Ritzen in Gemäuern, in denen er die Nahrungsobjekte festklemmt. Ein Anpassen solcher Schmieden auf die Größe des zu fixierenden Objekts wurde bislang nicht festgestellt. Gelegentlich wurden Blutspechte beim Anlegen von Nahrungsdepots beobachtet; ob dieses Verhalten bei Nahrungsüberschuss regelmäßig praktiziert wird, ist jedoch noch unklar. Verhalten Aktivität und Komfortverhalten Wie alle Spechte ist der Blutspecht tagaktiv; die Aktivitätsspanne reicht saisonal wenig schwankend von Sonnenaufgang bis zum Sonnenuntergang. Innerhalb dieser Spanne liegen die Aktivitätsgipfel am frühen Vormittag und am späteren Nachmittag. Um die Mittagszeit legt die Art eine ausgedehnte Ruhe- und Putzphase ein, während der, zumindest gelegentlich, auch die Schlafhöhle aufgesucht werden kann. Schlechtwetter kann die Aktivitätszeit verkürzen. Zum Schlafen suchen Blutspechte Höhlen auf, beim Ruhen während der Mittagsstunden klammern sie sich an einen vertikalen Stamm, wobei der Kopf leicht eingezogen und das Gefieder gesträubt ist. Beim Schlafen ist der Kopf unter den rechten Flügel gesteckt. Vor allem während der Mittagsstunden putzen und pflegen Blutspechte ausgiebig ihr Gefieder; dabei werden die einzelnen Federn des Großgefieders zur Spitze hin beknabbert und mehrmals durch den Schnabel gezogen; beim Kratzen wird der Kopf an den sich rhythmisch bewegenden Fuß herangeführt und so gedreht, dass die gewünschte Stelle erreicht wird. Dadurch nicht erreichbare Stellen können auch an einer Unterlage gerieben werden. Beim Baden wird das Gefieder weitgehend durchnässt und anschließend mit leicht hängenden Flügeln getrocknet; auch Sonnenbaden mit weit gesträubtem Gefieder wurde mehrmals beschrieben. Siedlungsdichte und Territorialverhalten Der Raumbedarf des Blutspechtes ist sehr groß, entsprechend gering ist die Siedlungsdichte dieser Art. In günstigsten Nahrungsrevieren liegt die Reviergröße bei etwa einem Quadratkilometer; meist sind in guten Blutspechthabitaten auf 10 Quadratkilometern jedoch nur 3 bis 5 Brutreviere besetzt. Im Vergleich dazu kann die Siedlungsdichte des Buntspechtes um mehr als ein Zehnfaches höher sein. Gelegentlich brüten Blutspechte in relativ enger Nachbarschaft von weniger als 50 Metern zueinander, in der Regel sind die Nisthöhlenabstände aber bedeutend größer. Die häufig stark fragmentierten Brut- und Nahrungsreviere können sich aus einigen Teilrevieren zusammensetzen, zwischen denen große, für den Specht nicht nutzbare – zum Beispiel verbaute – Gebiete liegen. Die Reviergrenzen sind weitgehend fließend, Artgenossen sowie der verwandte Buntspecht werden nur in der Nähe von Schlüsselstellen, wie günstigen Nahrungsquellen, häufig aufgesuchten Schmieden, Schlafhöhlen bzw. der Bruthöhle attackiert und nach Möglichkeit vertrieben. Die Außenregionen können mit den Revieren anderer Blutspechte bzw. mit Buntspechtrevieren relativ großräumig überlappen, ohne dass es zu Auseinandersetzungen mit den jeweiligen Revierinhabern kommt. In seinen Optimalrevieren scheint sich der Blutspecht gegenüber dem Buntspecht durchzusetzen. Jedenfalls war in der Einwanderungsphase zu beobachten, dass Buntspechte Gartenreviere in der Regel räumten, wenn sie von Blutspechten beansprucht wurden. Unverpaarte Artgenossen werden weitgehend geduldet. Höhlenkonkurrenten, insbesondere den Star, attackiert und mobbt der Blutspecht während des gesamten Jahres intensiv. Außerhalb der Brutsaison beschränkt sich die Territorialität dieses Spechtes auf die Beanspruchung einiger Schlafhöhlen, während die Nahrungsreviere mit anderen Artgenossen bzw. anderen Buntspechten geteilt werden. Brutbiologie Balz und Paarbildung Blutspechte werden am Ende des ersten Lebensjahres geschlechtsreif; sie führen eine monogame Brutsaisonehe. Die Paarbindung wird nach der Brutzeit lockerer, Brutpaare verbleiben aber häufig auch gemeinsam im Winterrevier. Die Wiederverpaarung letztjähriger Brutpartner scheint häufig zu sein. Die Balz beginnt mit lauten Rufreihen, Verfolgungsflügen und Höhlenzeigen Anfang März und erreicht in den letzten Märztagen und Anfang April ihren Höhepunkt. Mit Beginn des Höhlenbaus ist die Paarbildung abgeschlossen. Nisthöhle Blutspechte legen nicht jedes Jahr neue Nisthöhlen an, häufig werden vorhandene eigene oder die anderer Spechte nur gereinigt und innen etwas mit neuen Spänen gepolstert. Die Nistbäume können sehr unterschiedlich sein, sie entsprechen den im Bruthabitat vorkommenden Arten. Fast immer werden Astausbrüche oder Faulstellen zur Höhlenanlage genutzt, nur in Baumarten mit besonders weichen Hölzern, wie Pappeln, Götterbäumen oder Maulbeerbäumen werden Nist- oder Schlafhöhlen auch in gesundes Holz geschlagen. Gelegentlich werden auch in Telegraphenmasten, in den Gestängen von Ziehbrunnen oder in Holzbauten Nisthöhlen angelegt. Die Einflugshöhe variiert stark, sie kann unter einem Meter betragen, aber auch in fast 20 Metern Höhe liegen, liegt in der Regel aber zwischen zwei und vier Metern Höhe. Am Nisthöhlenbau beteiligen sich beide Partner, das Männchen etwas mehr als das Weibchen. Das runde Einflugloch weist einen Durchmesser von 4 bis 5 Zentimetern auf, die Höhlentiefe beträgt bei einer Breite von etwa 11,5 Zentimetern im Durchschnitt knapp 35 Zentimeter. Gelege und Brut Die Eiablage kann bereits Mitte März beginnen, in den iranischen Verbreitungsgebieten sogar noch etwas früher. Der Brutgipfel liegt jedoch in der Mitte des Aprils, Spätbruten reichen bis Ende Mai oder Anfang Juni. Nur nach frühem Gelegeverlust oder durch massive Störung am Nistplatz erfolgte Brutaufgabe kommt es zu einem Zweitgelege. Das Gelege besteht aus 3 bis 7, in der Regel 4 bis 5 glänzend reinweißen, elliptischen Eiern mit einer durchschnittlichen Größe von 25 × 20 Millimetern. Sie sind somit geringfügig kleiner als die des Großen Buntspechtes, von denen sie sonst nicht unterscheidbar sind. Der Legeabstand beträgt einen Tag, fest wird erst das vollständige Gelege bebrütet. Beide Partner brüten, das Männchen allerdings etwas häufiger und immer während der Nacht. Nach nur durchschnittlich 10 Tagen schlüpfen die Küken, die nach 24 Tagen die Nisthöhle verlassen. Beide Eltern füttern und hudern während der gesamten Nestlingszeit. Nach dem Ausfliegen werden die Jungvögel schnell von der Bruthöhle weggelockt, jedoch noch mindestens 14 Tage von beiden Eltern gefüttert und betreut. Bestand Über die Bestandssituation der Art in den Verbreitungsgebieten im Nahen und Mittleren Osten sind keine genauen Angaben bekannt. Das im 20. Jahrhundert besiedelte Areal in Europa nimmt mittlerweile etwa 50 Prozent des Gesamtbrutgebietes der Art ein. Der Gesamtbestand in Europa wird auf mehr als 530.000 Brutpaare geschätzt. Die europäische Bestandstendenz scheint leicht negativ zu sein, wofür vor allem Rückgänge in den Schlüsselverbreitungsgebieten in Rumänien und vor allem in der Türkei sowie die insgesamt verlangsamte, beziehungsweise zum Stillstand gekommene Ausbreitungswelle verantwortlich sind. In den meisten europäischen Staaten sind die Bestände jedoch stabil oder nehmen noch leicht zu. Im Nordosten und Osten (Polen, Weißrussland und Ukraine) sind noch starke Zuwachsraten zu verzeichnen. In Deutschland und der Schweiz brütet der Blutspecht nicht, in Ost- und Südostösterreich wird der Brutbestand auf etwa 3.000 Paare geschätzt. Insgesamt wird die Bestandssituation der Art als gesichert und stabil angesehen. Quellen Zitierte Quellen Literatur Hans-Günther Bauer, Peter Berthold: Die Brutvögel Mitteleuropas. Bestand und Gefährdung. 2., durchgesehene Auflage, AULA, Wiesbaden 1997, ISBN 3-89104-613-8, S. 290. Mark Beaman, Steve Madge: Handbuch der Vogelbestimmung. Europa und Westpaläarktis. Eugen Ulmer Verlag, 1998, ISBN 3-8001-3471-3, S. 534 f. Hans-Heiner Bergmann, Hans-Wolfgang Helb: Die Stimmen der Vögel Europas. BLV, München 1982, ISBN 3-405-12277-5. Dieter Blume, Jens Tiefenbach: Die Buntspechte. Westarp Wissenschaften Magdeburg 1997 = Die Neue Brehm Bücherei Bd. 315, ISBN 3-89432-732-4. Michael Dvorak et al. (Hrsg.): Atlas der Brutvögel Österreichs. Umweltbundesamt 1993, ISBN 3-85457-121-6, S. 260 f. Urs N. Glutz von Blotzheim (Hrsg.): Handbuch der Vögel Mitteleuropas. Bearbeitet u. a. von Kurt M. Bauer und Urs N. Glutz von Blotzheim. Aula-Verlag, Wiesbaden. Band 9. Columbiformes – Piciformes. 2., durchgesehene Auflage 1994, ISBN 3-89104-562-X, S. 917–942 (HBV). Gerard Gorman: Woodpeckers of Europe. A Study to European Picidae. Bruce Coleman, Chalfont 2004, ISBN 1-872842-05-4, S. 106–116; S. 44; 35. Josep del Hoyo et al.: Handbook of the Birds of the World. Band 7: Jacamars to Woodpeckers. Lynx Edicions, 2002, ISBN 84-87334-37-7 (HBW). Hans Winkler, David Christie und David Nurney: Woodpeckers. A Guide to Woodpeckers, Piculets and Wrynecks of the World. Pica Press, Robertsbridge 1995, ISBN 0-395-72043-5. Weblinks [ Datenblatt Birdlife] (englisch, PDF; 243 kB) Beispiele zur akustischen Präsenz aller europäischen Spechte Federn des Blutspechts Spechte
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https://de.wikipedia.org/wiki/Weinbergkirche%20%28Dresden%29
Weinbergkirche (Dresden)
Die evangelische Weinbergkirche „Zum Heiligen Geist“ ist eine barocke Dorfkirche im Dresdner Stadtteil Pillnitz, benannt nach der Lage im Königlichen Weinberg. Sie ist nicht zu verwechseln mit der im 20. Jahrhundert erbauten Weinbergskirche im Dresdner Stadtteil Trachenberge. Der Sakralbau entstand ab 1723 als Ersatz für die Pillnitzer Schlosskirche, die für die Erweiterung des Schlosses Pillnitz abgerissen wurde. Er ist der erste ausgeführte Kirchenbau von Matthäus Daniel Pöppelmann, dem Architekten des Dresdner Zwingers, und gilt als „Wahrzeichen der Pillnitzer Landschaft“. Das besonders während des zweiten Teils des letzten Jahrhunderts stark verfallende Gebäude wurde in den 1990er-Jahren umfassend restauriert. Die Weinbergkirche steht unter Denkmalschutz und ist Teil der Kulturlandschaft Dresdner Elbtal. Geschichte Der Vorgängerbau Pillnitz war seit Beginn des 16. Jahrhunderts nach Hosterwitz gepfarrt und bildete seit der Reformation die Parochie Hosterwitz-Pillnitz. Zum Gottesdienst begaben sich die Einwohner des Dorfes Pillnitz in die Schifferkirche Maria am Wasser. Nachdem im Jahr 1569 der spätere Oberschenk des Kurfürsten Christian I. und Hofrat, Christoph von Loß (1548–1609), das Rittergut Pillnitz erworben hatte, kam es schon bald zu Konflikten mit dem Hosterwitzer Pfarrer. Im Jahr 1579 wandte sich Christoph von Loß an das Oberkonsistorium der evangelischen Kirche in Dresden, um den Bau einer „unabhängigen Privatkirche als Andachts- und Begräbnisstätte“ durchzusetzen. Die Grundsteinlegung für die sogenannte Pillnitzer Schlosskirche „Zum Heiligen Geist“ war am 8. Mai 1594. Es entstand ein spätgotischer Bau mit einem 30 Meter hohen Turm, der 1596 fertiggestellt wurde. Die Weihe der ersten Pillnitzer Kirche vollzog der damalige Dresdner Superintendent Polykarp Leyser. Das Dorf Pillnitz bildete nun eine von Hosterwitz unabhängige Parochie. Der Stifter Christoph von Loß verstarb 1609 und erhielt ein überlebensgroßes Epitaph in der Kirche. Auch weitere Mitglieder der Familie von Loß, wie Joachim von Loß († 1633) und seine älteste Tochter Sophie Sibylle Loß, verheiratete von Bünau († 1640), wurden in der Schlosskirche beigesetzt. Sophie Sibylles Ehemann Günther von Bünau († 1659) und seine zweite Ehefrau Elisabeth von Löser († 1649) stifteten 1648 anlässlich ihrer Eheschließung und des Endes des Dreißigjährigen Krieges den Altar der Kirche. Unter Günther von Bünau kam es zur Wiedervereinigung der Kirchspiele Hosterwitz und Pillnitz – beide Kirchspiele bilden noch heute die Evangelisch-Lutherische Kirchgemeinde Dresden-Hosterwitz-Pillnitz. Im Jahr 1694 erhielt das Sächsische Kurhaus Pillnitz von Günther von Bünaus Sohn Heinrich, dem im Gegenzug Lichtenwalde zugesprochen wurde. Ab 1707 befand sich Pillnitz im Besitz der Gräfin Constantia von Cosel, bevor unter August dem Starken ab 1720 der Bau des Schlosses Pillnitz auf dem Grundstück begann, auf dem sich die Schlosskirche befand. Dem Abriss der Kirche stimmte das Oberkonsistorium der evangelischen Kirche in Dresden nur unter der Bedingung eines Kirchenneubaus in Pillnitz zu. Am 11. Mai 1723 gab August der Starke, der zunächst eine Erweiterung der Kirche Maria am Wasser als Alternative erwogen hatte, den Befehl zum Kirchenneubau auf einem Grundstück im Königlichen Weinberg. Dafür sollten sowohl Baumaterialien als auch Altar, Glocken und Orgel der alten Schlosskirche im neuen Kirchengebäude wiederverwendet werden. Die Baukosten der neuen Kirche in Höhe von 2000 Talern übernahm das Sächsische Oberbauamt. Die Schlosskirche „Zum Heiligen Geist“ wurde im Mai 1723 abgebrochen. An ihrer Stelle entstand der 1818 abgebrannte Venustempel, ein Speisesaal, in dem Porträts von Hofdamen und Mätressen hingen. Heute befände sich der Standort der ehemaligen Kirche zwischen dem Neuen Palais und dem „Löwenkopf“ an der Elbe. Bau der Weinbergkirche August der Starke hatte angewiesen, dass die „Erbauung einer andern [Kirche] unweit des Dorffs an der Weinbergs-Preße“ erfolgen sollte. Mit dem Entwurf wurde der damalige Oberlandbaumeister Matthäus Daniel Pöppelmann beauftragt, die Bauausführung hatte Christoph Schumann inne, der auch am Umbau des Schlosses Moritzburg und des Japanischen Palais’ mitgewirkt hatte. Im Beisein unter anderem von Valentin Ernst Löscher, August Christoph von Wackerbarth und Bildhauer Johann Benjamin Thomae wurde am 24. Juni 1723 der Grundstein der neuen Weinbergkirche gelegt, die in Anlehnung an den Vorgängerbau auch Neue Schlosskirche „Zum Heiligen Geist“ genannt wurde. Die Weinstöcke waren im Mai gezogen worden, im Juli überführte man die sterblichen Überreste aus sechs Grüften der alten Kirche in die bereits Anfang Juli fertiggestellten Gruftgewölbe der neuen Kirche. Mit dem Aufsetzen des Turms und dem Aufziehen der Glocken der alten Schlosskirche am Reformationstag 1723 wurde – nach nur fünf Monaten Bauzeit – der äußere Bau der Kirche beendet. Der Innenausbau der Kirche dauerte bis 1725. Die Kirchweihe war am 11. November 1725. Die Weinbergkirche diente bis 1918 sowohl den evangelischen Mitgliedern des Fürsten- und Königshofes als auch der Gemeinde als Gotteshaus. Die Weinbergkirche bis 1990 Im 18. Jahrhundert erfolgten Umbauten in der Kirche. Kleinere Renovierungen am Dachstuhl fanden 1800 und 1839 statt. Während des ersten großen Umbaus von 1852 bis 1853 wurde die Kanzel versetzt und das Gestühl im Altarraum entfernt. Im Jahr 1876 erhielt die Kirche die Turmuhr. Der Einbau einer neuen Orgel im Jahr 1891 erforderte einen Umbau der westlichen Emporen mit neuen seitlichen Zugängen. Nach der Anschaffung eines Ofens zum Heizen der Kirche erhielt die Weinbergkirche um 1900 einen Schornstein. Im Jahr 1910 erhielt ein neuer Ofen einen anderen Standort. Für die Umsetzung des Ofens musste der Zugang zur Sakristei verlagert werden. Die Erhaltung der Kirche lag bis 1918 in der Hand des sächsischen Hofes, so wie der (katholische) König es zur Bauzeit zugesagt hatte. Mit dem Ende der Monarchie ging das Gebäude auf die staatliche Domänenverwaltung über. Als sich 1930 schließlich Finanzministerium und evangelisch-lutherischen Landeskirche über eine Kostenteilung verständigt hatten, folgten 1932 Dachreparaturen. Bereits zu dieser Zeit wurde der langsame Verfall eines Teils der Kirche beklagt, so die Lage der wertvollen Grabdenkmale an den feuchten Kirchmauern und die verblassten Farben der Kirche. Mit der Bodenreform 1945 ging die Weinbergkirche in das Eigentum der Evangelisch-Lutherischen Landeskirche Sachsens über. Die Kirche wurde 1954 renoviert, verfiel aber danach zunehmend. Ihre Nutzung für Gottesdienste endete 1976, als sie zum Erntedankfest entwidmet wurde. Die Landeskirche, die nicht über die Mittel zum Erhalt der Kirche verfügte, beantragte die Übertragung des Bauwerks an den Staat. Neben verfallsbedingten Mängeln an Dach, Fenstern und Verputz waren weitere Schäden durch Vandalismus und Diebstahl verursacht worden. Im Jahr 1983 ging die Kirche nach langwierigen Verhandlungen in das Eigentum der Stadt Dresden über, die sie unter den zu den Staatlichen Kunstsammlungen vereinigten Dresdner Museen als Rechtsträger einsetzte. Die Kirche wurde teilweise gesichert und als Lagerraum benutzt. Erst nach der Wende erhielt die verfallene Weinbergkirche wieder mehr Beachtung. Restaurierung und heutige Nutzung Im Jahr 1990 gründete sich die Interessengemeinschaft Weinbergkirche Pillnitz e. V. unter anderem mit dem Ziel, Spenden für die Restaurierung der Kirche zu sammeln. Die Gemeinschaft organisierte zum Beispiel Benefizkonzerte und warb um Fördermittel. Das erste Elbhangfest unter dem Titel Von Bähr zu Pöppelmann machte 1991 auf den Zustand sowohl der Weinbergkirche als auch der im Wiederaufbau befindlichen Loschwitzer Kirche aufmerksam. Im Juni 1991 konnte der seit November 1990 mit Spendengeldern rekonstruierte Dachreiter der Weinbergkirche übergeben werden. Im Jahr 1992 wurde das Dach neu gedeckt und im folgenden Jahr der Außenputz der Kirche erneuert sowie in Anklang an die ursprüngliche Farbgebung in roten und gelben Tönen illusionistisch bemalt. Die äußere farbliche Wiederherstellung war 1993 abgeschlossen. Im selben Jahr ging die Kirche in den Besitz des Freistaates Sachsen über. Im Jahr 1994 wurde der Einsatz der Interessengemeinschaft für das Pöppelmannsche Bauwerk mit der Silbernen Halbkugel des Deutschen Preises für Denkmalschutz ausgezeichnet. Es folgte die Restaurierung des Kircheninneren, die im Jahr 1995 weitgehend abgeschlossen war. Die feierliche Übergabe der restaurierten Kirche erfolgte am 12. November 1995, die Weihe der restaurierten Jehmlich-Orgel fand anlässlich des Elbhangfestes 1997 statt. Seither finden wieder einige Gottesdienste der Evangelisch-Lutherischen Kirchgemeinde Hosterwitz-Pillnitz in der Weinbergkirche statt. Ansonsten wird die Kirche vor allem für Hochzeiten, Konzerte und Ausstellungen genutzt. Jedes Jahr findet um die Kirche ein Frühlingsfest, im Oktober ein Weinfest und am dritten Adventssonntag ein Weihnachtsmarkt statt. Die Weinbergkirche ist auch ein „landschaftsgebundenes Bauwerk“. Sie befindet sich als farbiger Blickfang im Großen Königlichen Weinberg. der seit 1976 nahezu vollständig wiederaufgerebt wurde. Seit den 1990er-Jahren werden unter anderem Müller-Thurgau, Traminer und Weißburgunder angebaut. Baubeschreibung Erstentwurf Die Weinbergkirche war „Pöppelmanns frühester ausgeführter Kirchenbau“. Er entwarf zunächst einen Bau für einen ebenen Standort, „wahrscheinlich sogar im Hochwassergebiet der Elbe, da er vier Stufen vor die Eingänge legt(e).“ Die Sakristei war im Erstentwurf an den Altarbereich angeschlossen und lag auf der schmalen – in Bezug auf den ausgeführten Bau – Ostseite der Kirche. Gegenüber dem Altar plante Pöppelmann eine schmale Orgelempore. Im ausgeführten Bau wurde die Sakristei in den Hang hinein an die nördliche Längsseite der Kirche angebaut, wohingegen das Hauptportal statt auf der Nord- auf der Südseite lag. Pöppelmann plante einen reich dekorierten Dachreiter, der schließlich in einfacherer Form ausgeführt wurde. Während der Renovierung der Weinbergkirche in den 1990er-Jahren wurde auch über eine farbliche Gliederung der Turmfassade diskutiert, die jedoch schließlich 1992 mit Kupfer gedeckt wurde. Der verwirklichte Kirchentypus wurde nachfolgend auch bei anderen sächsischen Kirchenbauten, wie der Kirche in Rammenau und der in Röhrsdorf bei Pirna umgesetzt. Äußeres Die Weinbergkirche wurde auf rechteckigem Grundriss errichtet. Im Norden wurde eine Sakristei im ansteigenden Gelände angebaut, die während der Restaurierung der Kirche in den 1990er-Jahren verlängert wurde. Der Hauptzugang befindet sich an der Südseite, die als „Schauseite von fünf Achsen“ ausgebildet ist. Über eine zweiläufige Treppe gelangt man zum Portal der Weinbergkirche. Es besitzt als einzigen Fassadenschmuck eine zwischen 1726 und 1727 von Johann Benjamin Thomae gefertigte Sandsteinplastik. Sie enthält über einem Fries in einem gesprengten Giebel eine Doppelkartusche mit dem kursächsischen und polnischen Wappen. Darüber befinden sich das Monogramm AR für Augustus Rex, König August II. von Polen, und die Königskrone. Cornelius Gurlitt erwähnte eine Inschrift über dem Portal, von der trotz Übermalung um 1900 Reste sichtbar waren. Sie wurde im Zuge der Restaurierung in den 1990er-Jahren konserviert und mit Farbe überdeckt. Ein zweiter Zugang ist über die Westseite der Kirche möglich; zum dortigen schmucklosen Eingang führt eine einläufige Treppe. Beim Bau der Weinbergkirche wurden in ihrer Mitte Gruftgewölbe angelegt. Die Beisetzung der Toten aus der alten Schlosskirche ging über einen Eingang unter dem südlichen Hauptzugang vonstatten. Zunächst verschlossen nur die Grundmauern der Kirche diesen Eingang, später entstand davor noch die Treppe. Die Weinbergkirche hat ein Walmdach mit drei Gaupen und einem zentralen, hölzernen Dachreiter. Er hat bis auf Firsthöhe einen quadratischen Grundriss und baut sich danach „in derben Barockformen [achtseitig] auf“. Er wird von einer helmartigen Dachhaube abgeschlossen; an der Spitze befindet sich auf einer Turmkugel eine Wetterfahne mit der Inschrift „ARPo 1723“ für Augustus Rex Poloniae und einer Krone. Das Jahr 1723 verweist auf den Zeitpunkt der Grundsteinlegung. Die Höhe der Kirche beträgt ohne Wetterfahne 31,10 Meter. Die Fassaden wurden ursprünglich „als Ersatz für eine kostbare Gliederung aus Sandstein … als Putzbau ausgeführt und mit einer Illusionsarchitektur, Gewänden mit Schattenkanten, Verdachungen und Wandpfeilern bemalt“. Damit glich die Kirche äußerlich dem Schloss Pillnitz. Die frühesten Zeichnungen zeigen die Putzfassaden der Kirche jedoch bereits in einem übertünchten Zustand, der bis in die 1990er-Jahre unverändert blieb. Die ursprüngliche Farbgebung der Fassade konnte im Zuge der Restaurierung in den 1990er-Jahren durch Untersuchung des Putzes rekonstruiert und wiederhergestellt werden. Inneres Der Kirchenraum misst rund 20 mal 10 Meter und ist acht Meter hoch. Unter Einbeziehung des Gruftgewölbes beträgt die Höhe der Kirche 9,90, die Breite inklusive Außenmauern 21,8 und die Tiefe mit Außenmauern 12,6 Meter. Der Boden ist mit Sandsteinplatten ausgelegt, der Altar ist um eine Stufe erhöht. Die zwölf hohen Fenster sind im Stichbogen geschlossen und von Sandsteingewänden umrahmt. Sie wurden nach dem Vorbild der zerstörten Originalfenster gefertigt und der Kirche im Zuge der Restaurierung in den 1990er-Jahren gespendet. Zwei Fenster aus getöntem Glas, um die Jahrhundertwende an der Ostseite eingefügt, waren in den 1990er-Jahren nicht mehr erhalten und wurden nicht rekonstruiert. Die flache Decke ist mit einfachen Stuckleisten verziert. Hinter dem Hauptportal befinden sich auf der Südseite in Richtung Osten ebenerdige Logen mit einem Aufgang zu den Emporen. Sie gehören zum erhöhten Altarbereich, der die Ostseite der Kirche einnimmt. Dort steht der Altar, davor der Taufstein und an der Nordseite die Kanzel. Gegenüber dem Haupteingang befindet sich der Eingang zur Sakristei. Den hinteren Teil des Kirchenschiffs nehmen drei Betstübchen ein, über denen der Orgelchor liegt. Neben dem Westportal befinden sich an der rechten und linken Seite Zugänge zu den Emporen und zum Glockenturm. Bei der Restaurierung der Kirche wurde durch Farbuntersuchungen entdeckt, dass sich hinter dem Altar und der Kanzel bereits um 1725 gemalte rote Vorhänge befanden. Sie sollten möglicherweise den weißen Altar und die weiße Kanzel im ebenfalls in Weiß gehaltenen Kirchenraum hervorheben. Den gemalten Vorhang hinter dem Altar stellten die Restauratoren wieder her. Da die Kanzel 1853 versetzt wurde, konnte der andere Vorhang am ursprünglichen Ort nicht wiederhergestellt werden. Er wäre heute teilweise von den verlängerten Emporen verdeckt. Bestuhlung Die Kirche bietet Platz für 450 bis 500 Personen. Im 18. Jahrhundert waren „der Beichtstuhl, der Kirchväterstuhl und 2 Reihen Männersitze“ im Altarraum aufgestellt; weitere Männersitze befanden sich auf den Emporen. Das Gestühl für Frauen stand im Kirchenschiff und war zudem außerhalb des Altarraums an der Kirchenwand aufgestellt. Bis 1728 wurden unter dem Chor auf der Westseite drei Betstübchen für reiche Pillnitzer angebaut. Sie lagen hinter den „Weiber-Stühlen“ unter der Orgelempore und mussten von den Besitzern auf eigene Kosten erbaut werden. Zudem musste eine Gebühr an die Kirche entrichtet werden. Die Bestuhlung im Altarraum wurde 1853 entfernt, als die Kanzel dorthin versetzt wurde. Die seitlichen Bänke im Kirchenschiff wurden 1954 entfernt. Emporen Die Emporen der Kirche waren ursprünglich kürzer als heute. Sie nahmen zunächst die Süd- und Westseite ein; unter der Südempore wurde eine Hof- und Herrschaftsloge im Altarbereich und darüber eine Loge für Hofbeamte eingebaut. Die Emporen wurden bei der Renovierung von 1852 bis 1853 um ein Viertel verlängert und nehmen seit 1892 die halbe Nordseite bis zum Altarraum ein. Bei dem Einbau einer neuen, größeren Orgel im Jahr 1891 wurden die zweite Westempore bis zur Orgeltiefe zurückgenommen, der Orgelchor auf der ersten Westempore vergrößert und neue seitliche Zugänge zu den Westemporen geschaffen. Die Emporen haben zwei Etagen und stehen auf quadratischen Säulen; „die Brüstungen sind in lange rechteckige Felder getheilt.“ Altar Den Altar schuf im Jahr 1648 der aus Colditz stammende Bildhauer Johann Georg Kretzschmar (1612–1653, Schwiegersohn des Dresdner Bildhauers Sebastian Walther) nach dem Ende des Dreißigjährigen Krieges. Die Rückwand trägt die Inschrift „Johann George Kretzschmer, bilthauer in Dresden, den 19. 8ber anno 1648.“ Der Sandsteinaltar ist 2,70 Meter breit und 5,85 Meter hoch. Über der einfachen Mensa befindet sich die Predella mit dem Wappen der Stifterfamilien von Bünau auf der linken und von Löser auf der rechten Seite. Beide Wappen, getrennt durch einen Puttenkopf, sind farbig gehalten. Die Predella ist „durch Anläufe und Rollwerk gefüllt“ und wird von zwei Piedestalen begrenzt, auf denen je eine von Weinranken umwundene korinthische Säule steht. Zwischen den Säulen im Mittelfeld des Altars stellt ein 1,32 mal 1,73 Meter großes Relief das Abendmahl mit Christus und den zwölf Jüngern dar, auf dem Tisch befinden sich das Osterlamm und der Weinkelch. Eine vierfache Säulenanreihe an jeder Seite gibt dem Relief Tiefe; über der Szene ist an einem Kreuzrippengewölbe ein Leuchter angebracht. Auf konsolenartigen Voluten neben den Säulen stehen zwei metergroße Apostel-Figuren. Das linke Podest trägt Petrus mit Buch und Schlüssel, das rechte Paulus mit Buch und Schwert. Architrav und Fries oberhalb der Apostelfiguren werden von der Deckendarstellung des Reliefs unterbrochen, während das Gesims durchgehend ist. Über dem Gesims sitzen mit übergeschlagenen Beinen zwei Engelsfiguren mit Leidenswerkzeugen. Die linke hält einen Essigschwamm an einem Rohr und eine Rute, die rechte eine Rute und eine Lanze. Im Ziergiebel zwischen beiden Figuren befindet sich ein Relief des betenden Christus im Garten Getsemani. Im Vordergrund sind die schlafenden Jünger dargestellt. Den Altarabschluss bildet eine Figur des auferstandenen Christus, die rechte Hand segnend erhoben und in der linken die Glaubensfahne. Während Cornelius Gurlitt dem Bildhauer Kretzschmar am Altar „überall ein kräftiges, formensicheres Können“ bescheinigte, sah Walter Hentschel die Bedeutung von Kretzschmars Werk im Jahr 1966 nur im relativ guten Allgemeinzustand: Während der Restaurierung der Kirche Anfang der 1990er-Jahre wurde der Figurenschmuck am Altar ergänzt, da bereits um 1900 die Glaubensfahne, die Ruten und das Schwert der Paulus-Figur gefehlt hatten. Die weitgehend verblassten oder gänzlich verschwundenen Farben des Altars wurden von 1993 bis 1994 wiederhergestellt. Der Sandsteinaltar ist außer den farbigen Wappen in der Predella in Weiß mit vergoldeten Details gehalten. Taufstein Vor dem Altar befindet sich der rund einen Meter hohe Taufstein, der wahrscheinlich zur gleichen Zeit wie der Altar entstand und Johann Georg Kretzschmar zugeschrieben wird. Der Aufbau besteht aus Sandstein, der Deckel aus Holz. Über einem profilierten Fuß und einem runden Sockel befindet sich die zylindrische Kuppa, in die vier schwarze Felder mit Bibelzitaten in Goldlettern eingelassen sind. Die Tafeln sind von Rollwerk umschlossen. Der achtseitige Deckel mit Engelsköpfen trägt oben ein Kreuz. In einer Beschreibung des Taufsteins von Ferdinand Ludwig Zacharias aus dem Jahr 1826 wird als Abschluss kein Kreuz, sondern die Figur Johannes des Täufers genannt. Wie der Altar ist auch der Taufstein in weiß mit Goldverzierungen gehalten. Am Sockel wurde, wie auch an den Balustraden der Kirche, eine Marmorierung aufgemalt. Kanzel Die Kanzel aus Sandstein, im Altarbereich an der Nordseite gelegen, wird von einer sechskantigen Säule getragen, die in einen wulstigen Übergang mit Konsolengesims zum Kanzelkorb übergeht. Der Kanzelkorb hat die Form eines Sechsecks und ist an vier Seiten geschlossen. Eine Seite ist offen und führt zum Treppenaufgang, die sechste Seite bildet die Kirchenwand. Die Felder des Kanzelkorbs werden von dorischen Säulen begrenzt, die zwischen Postament und Architrav stehen. Rundbögen in den Feldern zwischen den Säulen sind seitlich gequadert. Im durchgehenden Fries befinden sich Triglyphen. Der Schalldeckel der Kanzel aus Holz ist wie der Kanzelkorb sechsseitig. Er gehörte zusammen mit der Brüstung des Kanzelkorbs zu einer älteren Anlage aus dem 17. Jahrhundert und entspricht in seiner Derbheit dem Stil des Altars und des Taufsteins. Wahrscheinlich ist, dass diese Kanzelteile aus der alten Schlosskirche stammen. Ursprünglich war die Kanzel über eine Treppe mit der Sakristei verbunden und befand sich in der Mitte der Nordwand gegenüber dem Hauptportal. Während der Renovierung von 1852 bis 1853 wurde die Kanzel nach Osten versetzt. Die neue Treppe zur Sakristei entstand zu dieser Zeit. Epitaphien und Denkmäler In der Weinbergkirche erinnern zahlreiche Epitaphien und Denkmäler an Mitglieder der Familien von Loß und von Bünau. Sie wurden aus der alten Schlosskirche in die Weinbergkirche überführt und im Kirchinnenraum an der Ost- und Nordseite angebracht. Ostseite Hinter dem Altar befinden sich nebeneinander drei Epitaphien. Der 2,20 Meter hohe rechte Grabstein der Ursula von Loß, geb. von Schleinitz, zeigt Christus am Kreuz, eine Inschrifttafel und Wappendarstellungen. Ursula von Loß war die Ehefrau des Joachim von Loß und verstarb 1632. Das mittlere, 2,30 Meter hohe Epitaph besteht aus einer lebensgroßen Figur des Christoph von Loß dem Älteren († 1609) in voller Rüstung mit Feldherrnstab in der rechten Hand. Gurlitt bezeichnete das Denkmal als „beachtenswerthe tüchtige Arbeit“. Der linke, 1,85 Meter hohe Grabstein mit zahlreichen Wappendarstellungen und Engelsfiguren ist der von Martha von Loß, geborene von Köckeritz. Sie heiratete Christoph von Loß’ drittgeborenen Sohn Nicol und verstarb 1645. Ihr Grabmal „ist in Spätrenaissanceformen sauber durchgeführt“. Über dem Epitaph Christoph von Loß’ dem Älteren befand sich ursprünglich ein hölzernes Totenschild, das anlässlich des Todes Günther von Bünaus 1659 gefertigt und später aus der alten Schlosskirche überführt wurde. Es zeigt mittig das Familienwappen derer von Bünau und um dieses angeordnet 16 weitere Wappen von Familien, die mit ihnen verbunden waren. Nach der Restaurierung 1996 wurde das Totenschild an die Mitte der Nordwand versetzt. Nordseite An der Nordwand am Kanzelaufgang befindet sich das Epitaph für Valentin Pflugk auf Knauthain († 1568), den Schwiegervater von Christoph von Loß dem Älteren. Der Unterbau mit den Wappen derer von Pflugk (links) und von Schönberg (rechts) – Pflugks Frau stammte aus dem Haus Roth-Schönberg – über einem Engelskopf besteht aus Sandstein, der Aufbau ist aus Alabaster gefertigt. Auf dem breiten Sockel knien links fünf Männer und rechts fünf Frauen im Profil. Zwei seitliche Pilaster tragen jeweils vier Wappen, unter anderem der Familien Pflugk, Bünau und Schönberg. Zwischen den Pilastern befindet sich ein teilweise beschädigtes Relief mit der Auferstehung Christi. Der Mittelteil des Aufbaus schließt mit einem Gebälk ab, in dem sich dorische Säulen mit Löwenköpfen abwechseln. Das Epitaph endet mit einem spitzen Giebel. In ihm befindet sich ein Relief der Dreifaltigkeit. Dargestellt ist der sitzende Gottvater, der vor sich Jesus hält und auf dessen linker Schulter die Taube sitzt. Gurlitt ordnete das Epitaph der Schule Hans Walthers zu. Unter der Kanzel befindet sich der 1,80 Meter hohe Grabstein der ersten Ehefrau Günther von Bünaus, Sophie Sibylle von Bünau, geb. von Loß, die 1640 verstarb. Auf dem Grabstein ist auf einem ovalen Feld der gekreuzigte Christus dargestellt mit Anklängen an Renaissance und Barock. Neben der Sakristeitür ist die Grabplatte Günther von Bünaus angebracht, der 1659 verstarb. Der einfache Grabstein trug ursprünglich in der Mitte eine Inschrift. An den Rändern befinden sich Wappenreliefs. Westlich davon steht der einfache Grabstein des 1654 verstorbenen Johann Albrecht Slavata von Chlum und Koschumberg, eines Vetters von Wilhelm Slavata, der in Pillnitz im Exil lebte. Neben Familienwappen enthält der Grabstein eine Inschrift. Vor allem die unteren Teile des Grabsteins sind stark beschädigt. An der westlichsten Ecke der Nordwand ist das 1,20 Meter hohe Epitaph der Anna Sophie von Bünau angebracht, die 1637 im Alter von sieben Wochen verstorben war. Das Relief zeigt das Kind im Totenhemd mit gefalteten Händen, das von kindlichen Engelsfiguren geleitet wird. Anna Sophie von Bünau war die Tochter des Günther und der Sophie Sibylle von Bünau. Verschollener Kirchenschmuck Cornelius Gurlitt erwähnte 1904 zwei Gemälde, die sich damals in der Kirche befanden. Eines war ein Brustbild Martin Luthers in Öl von Lucas Cranach aus dem Jahr 1546. Gurlitt bezeichnete das Gemälde, das an der Brüstung der Orgelempore hing, als „sorgfältig durchgeführte Werkstättenarbeit“. Ein zweites, beschädigtes Ölgemälde mit einem Bildnis Philipp Melanchthons war vermutlich „blos Copie nach Cranach“, wurde in der Sakristei aufbewahrt und später an der Kanzel angebracht. Um 1931 fiel erstmals das Fehlen beider Gemälde auf. Eine Befragung von früheren Pfarrern der Weinbergkirche ergab, dass „das Melanchthon-Bild … schon seit der Jahrhundertwende [fehlte], das Luther-Bild seit etwa 1920.“ Beide Gemälde sind verschollen. Orgel Die erste Orgel der Weinbergkirche stammte aus der alten Schlosskirche. Ihr Alter und der Erbauer sind nicht bekannt. Das Instrument hatte 6 Manualregister (C–d3: Gedeckt 8′, Flöte 4′, Gedackt 4′, Principal 2′, Quinte ′, Zimbel II) und ein Pedalregister (C–c1: Principalbass 8′); das Manual war an das Pedal koppelbar. Diese Orgel war für den Kirchenraum zu klein und wurde in einem Gutachten der Orgelbaufirma Jehmlich als der Kirche „unwürdig“ bezeichnet. 1889 erhielten die Gebrüder Jehmlich den Auftrag für eine neue Orgel. Das Instrument kostete 4200 Mark und wurde am 19. Juli 1891 geweiht. Es handelt sich um eine der frühesten pneumatischen Orgeln Sachsens (das erste derartige Instrument wurde 1888 in der Kirche in Röhrsdorf geweiht). 1907 wurde die Orgel repariert, gereinigt und gestimmt. Zum Ende des Ersten Weltkriegs im Jahr 1918 mussten die Prospektpfeifen aus Zinn zum Einschmelzen abgegeben werden, sie wurden durch Pfeifen aus Zink ersetzt. Nach dem Ende der Nutzung der Kirche im Jahr 1976 verblieb die Orgel an ihrem Standort und verfiel wie der Kirchenbau. Sämtliche Orgelpfeifen wurden gestohlen, sodass bei den Restaurierungs- und Rekonstruktionsarbeiten durch den Orgelbau Ekkehart Groß und Johannes Soldan im Jahr 1997 alle Pfeifen rekonstruiert werden mussten. Am 29. Juni 1997 feierte die Gemeinde die Wiederweihe der Jehmlich-Orgel mit Röhren-Pneumatik. Koppeln: II/I, I/P. Spielhilfen: Choralwerk, Volles Werk, Registercrescendo. Anmerkung (h) = original erhaltenes Register Glocken Die Weinbergkirche hatte zu Beginn die drei Glocken aus der alten Schlosskirche. Die große Glocke zersprang im Jahr 1780 und wurde um 1800 durch einen Neuguss von Heinrich August Weinholdt ersetzt. Eine zweite Glocke musste 1873 durch einen Neuguss von der Königlichen Stückgießerei J. G. Große ersetzt werden, ging jedoch als Metallspende während des Ersten Weltkriegs verloren. Sie wurde im Jahr 2002 durch einen Neuguss der Karlsruher Glockengießerei Bachert ersetzt. Literatur Dehio-Handbuch der deutschen Kunstdenkmäler. Dresden. Aktualisierte Auflage. Deutscher Kunstverlag, München/ Berlin 2005, S. 190–191. Dieter Fischer: Zur Geschichte und Restaurierung der Pillnitzer Weinbergkirche „Zum Heiligen Geist“. In: Dresdner Geschichtsverein e.V. (Hrsg.): Dresdner Hefte. Jahrgang 11, Heft 34, Ausgabe 2, 1993, S. 84–88. Dieter Fischer, Staatliche Schlösser und Gärten (Hrsg.): Die Weinbergkirche „Zum Heiligen Geist“ in Dresden-Pillnitz. Eine Darstellung ihrer Geschichte bis zur jetzigen Wiederherstellung. Eigenverlag, Dresden 1994. Dieter Fischer, Interessengemeinschaft Weinbergkirche Pillnitz e.V. (Hrsg.): Die Weinbergkirche „Zum Heiligen Geist“ in Dresden-Pillnitz. Geschichte und vollendete Restaurierung 270 Jahre nach der Kirchweihe. Michel Sandstein, Dresden 1996, ISBN 3-930382-15-6. Cornelius Gurlitt: Beschreibende Darstellung der älteren Bau- und Kunstdenkmäler des Königreichs Sachsen. Band 26. Meinhold, Dresden 1904. (Textlich unveränderter Nachdruck. Verlag für Kunstreproduktionen, Neustadt an der Aisch 2002, ISBN 3-89557-185-7, S. 159–168) Hans-Günther Hartmann: Pillnitz. Schloss, Park und Dorf. Hermann Böhlaus Nachfolger, Weimar 1981, S. 101–104. Hermann Heckmann: Matthäus Daniel Pöppelmann und die Barockbaukunst in Dresden. Verlag für Bauwesen, Berlin 1986, ISBN 3-345-00018-0, S. 121–123. Walter Hentschel: Dresdner Bildhauer des 16. und 17. Jahrhunderts. Hermann Böhlaus Nachfolger, Weimar 1966, S. 97, 157–158. Hartmut Mai: Matthäus Daniel Pöppelmanns Anteil am evangelischen Kirchenbau des Barocks in Dresden. In: Harald Marx (Hrsg.): Matthäus Daniel Pöppelmann. Der Architekt des Dresdner Zwingers. VEB E. A. Seemann Buch- und Kunstverlag, Leipzig 1990, S. 262–270, speziell S. 265–266. Folke Stimmel, Reinhardt Eigenwill u. a.: Stadtlexikon Dresden. Verlag der Kunst, Dresden 1994, S. 452. Weblinks Offizielle Webpräsenz Einzelnachweise Kirchengebäude in Dresden Barockbauwerk in Dresden Dresden Dresden, Weinbergkirche Dresden Erbaut in den 1720er Jahren Pillnitz Dresden Denkmalgeschütztes Bauwerk in Dresden Kulturdenkmal in Dresden Dresden Dresden, Weinbergkirche Dresden, Weinbergkirche Kirchengebäude in Europa
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Percy Ernst Schramm
Percy Ernst Schramm (* 14. Oktober 1894 in Hamburg; † 12. November 1970 in Göttingen) war ein deutscher Historiker, der vor allem die Geschichte des frühen und hohen Mittelalters sowie hanseatische Kultur- und Familiengeschichte der Neuzeit erforschte. Mit Unterbrechung durch Kriegsdienst im Zweiten Weltkrieg und einem Lehrverbot bis 1948 lehrte Schramm von 1929 bis 1970 als ordentlicher Professor der mittleren und neueren Geschichte und der Historischen Hilfswissenschaften an der Universität Göttingen. Schramms Arbeiten sind wesentlich geprägt durch den Kontakt zu Aby Warburg, den Vordenker der modernen Kulturwissenschaft, und den Kunst- und Kulturhistoriker Fritz Saxl. An Schramms unkritischer Haltung zum Nationalsozialismus zerbrach die Freundschaft zu Saxl und sie verhinderte auch den weiteren Austausch mit der von jüdischen Wissenschaftlern geführten und nach London verlegten Kulturwissenschaftlichen Bibliothek Warburg. Seit 1943 führte Schramm das Kriegstagebuch im Oberkommando der Wehrmacht. Schramm zählt zu den international renommiertesten deutschen Mittelalterhistorikern im 20. Jahrhundert. Verdienst um die Mediävistik erwarb er sich insbesondere, indem er verstärkt kulturwissenschaftliche Fragestellungen und interdisziplinäre Arbeitsweisen einführte, nach internationaler Kooperation strebte sowie die Herrscherbilder als historische Quellen auswertete. Schramms Arbeiten haben daher Pioniercharakter für die Mittelalterforschung. Sein Hauptinteresse galt der Erforschung der mittelalterlichen Herrschaftszeichen. Er leistete wegweisende Forschungen zu Symbolen und Ritualen von Herrschaft, zum ottonischen Kaisertum und zur politischen Ikonografie. Anfang der 1960er Jahre gab er das Kriegstagebuch des Oberkommandos der Wehrmacht heraus. Durch diese Edition und seine Vortragstätigkeit erwarb er sich in der Nachkriegszeit den Ruf eines führenden Experten für die Geschichte des Zweiten Weltkrieges. Schramms Arbeiten über die Geschichte seiner Familie übten in der zweiten Hälfte des 20. Jahrhunderts wesentlichen Einfluss auf die hamburgische Geschichtsforschung aus. Leben Herkunft und Jugend Percy Ernst Schramm gehörte einer seit 1675 in Hamburg beheimateten vermögenden Kaufmannsfamilie an, deren Geschichte er später selbst schrieb. Sein Vater Max Schramm wurde 1861 in Brasilien geboren. Er schlug keine kaufmännische Laufbahn ein, sondern wurde ein erfolgreicher Rechtsanwalt. Max Schramm war ab 1892 Teilhaber der bedeutenden Rechtsanwaltsfirma „Wolffson, Dehn und Schramm“. Er gehörte ab 1904 als Mitglied in der Bürgerschaft zur „Fraktion der Rechten“, ab 1912 war er gewähltes Mitglied im Senat und war von 1925 bis 1928 Zweiter Bürgermeister Hamburgs. Seine Mutter Olga, geborene O’Swald, entstammte ebenfalls einer althamburgischen Kaufmannsfamilie. Der englische Vorname geht zurück auf Olgas Vater Albrecht Percy O’Swald. Ihr Großonkel William Henry O’Swald machte die Firma „Wm. O’Swald & Co“ zum führenden Handelshaus in Ostafrika. Dank einem 1859 geschlossenen Handelsvertrag mit dem Sultan von Sansibar konnten die Geschäfte bis weit in das Innere Afrikas ausgedehnt werden. Als einziger Sohn hatte Schramm zwei jüngere Schwestern. Er wuchs im großbürgerlichen Hamburger Stadtteil Harvestehude auf. Von 1901 bis 1904 besuchte er die private Schule von Adolph Thomsen und anschließend den realgymnasialen Zweig des Johanneums. Die Eltern wollten, dass er als Kaufmann oder Anwalt einen bislang in der Familie üblichen Beruf ergriff. Schramm integrierte sich als Jugendlicher in das gesellschaftliche Leben des gehobenen Hamburger Bürgertums. Die Begeisterung für die Tradition des Großbürgertums veranlasste ihn als Gymnasiasten, sich anhand von Ahnentafeln mit der Vergangenheit zu beschäftigen. Die Nachforschungen über die Herkunft der Vorfahren waren nach Schramms Aussage entscheidend für sein Interesse an Geschichte. Noch im Elternhaus lernte er den Kulturwissenschaftler Aby Warburg kennen und wurde sein Schüler. Warburg und Schramms kulturell interessierter Vater hatten sich über dieselben gesellschaftlichen Kreise in Hamburg kennengelernt. Mit Schramm stand Warburg seit 1911 in engem Kontakt. Über Art und Umfang der Ausbildung lassen die Quellen nur wenige Schlüsse zu. Warburg förderte Schramm bei seinen genealogischen Studien und ließ ihm den notwendigen Freiraum zur geistigen Entwicklung. Er gewährte Schramm freien Zugang zu der von ihm aufgebauten Privatbibliothek. Neben der Verbindung zu Warburg begann Schramm in den Jahren vor dem Beginn des Ersten Weltkrieges, auch das Mittelalter für sich zu entdecken. Förderlich dafür waren zahlreiche Reisen und Besuche von Burgen, Kirchen und Städten. Bereits als Sechzehnjähriger hatte er die zuerst 1909 erschienene, sehr beliebte „Kaisergeschichte im Zeitalter der Salier und Staufer“ von Karl Hampe „verschlungen“. Mit siebzehn Jahren war Schramm entschlossen, Historiker zu werden. Bereits seit 1910 nahm er freiwillig Privatunterricht in Griechisch. Aus seinen Kindheitsjahren nahm Schramm den Stolz auf seine Herkunft, das Traditionsbewusstsein und ein hohes Maß an Selbstvertrauen mit. Kriegsdienst und Fronteinsatz Im August 1913 legte Schramm am Realgymnasium das Abitur ab. Im April 1914 begann er an der Universität Freiburg i. Br. das Geschichtsstudium. Im selben Jahr veröffentlichte er die Ergebnisse seiner genealogischen Studien im fünften Band des „Hamburger Geschlechterbuches“. Nach einem Semester musste er wegen des Kriegsausbruchs das Studium unterbrechen. Am 3. August 1914 meldete er sich mit 19 Jahren als Kriegsfreiwilliger zum Militärdienst. Er hielt sich überwiegend an der Ostfront auf. Durch eine Verwundung des linken Unterarmes am 15. Mai 1915 war er für ein Vierteljahr felddienstunfähig. Eine lange, fast einjährige Ruhephase ab Spätsommer 1916 nutzte Schramm für seine Weiterbildung – er erlernte die italienische Sprache – und für seine genealogischen Studien. Während des Krieges hielt er engen Briefkontakt zu seinem Lehrer Warburg. Im Juni 1916 wurde Schramm zum Leutnant befördert und im September 1917 nahm seine Abteilung an der Eroberung Rigas teil. Für den erfolgreichen Vormarsch Anfang 1918 wurde ihm das Eiserne Kreuz I. Klasse verliehen. Nach dem Frieden von Brest-Litowsk am 3. März 1918 wurde Schramms Einheit an die Westfront nach Frankreich verlegt. Dem Ersten Weltkrieg wies Schramm in seinen unveröffentlichten biografischen Aufzeichnungen zum Jahrgang 1894 wesentliche Bedeutung für seine Persönlichkeitsentwicklung zu. Er gefiel sich in seinem militärischen Rang als Rittmeister, dessen Stellung in der Kavallerie soziales Ansehen anzeigte, und kokettierte mit diesem Dienstgrad noch bis in die Zeit des Zweiten Weltkrieges. Das Kriegserlebnis an der Ostfront hinterließ bei ihm ein antipolnisches Ressentiment und eine aus dem unmittelbaren Erleben der Oktoberrevolution im Baltikum gespeiste „Furcht vor einem kommunistischen Umsturz“. Die Kriegserfahrungen stifteten einen Generationszusammenhang: Die Männer der Zwischenkriegszeit wurden von den Zeitgenossen nach Generationen gegliedert. Schramm gehörte zur „jungen Frontgeneration“ der zwischen 1890 und 1900 Geborenen und fühlte sich durch den Kriegsdienst als Angehöriger einer besonderen Generation. Studienjahre in Hamburg und München Nach Kriegsende kehrte Schramm im Dezember 1918 nach Hamburg zurück. Er kümmerte sich um seinen Lehrer Warburg, bei dem nach Bekanntwerden der Niederlage eine schwere psychische Krankheit ausbrach. Schramm bekannte sich ausdrücklich zur Weimarer Republik, allerdings bestärkten die Gebietsabtretungen im Osten „eine Tendenz zu nationalistischer Radikalisierung“ in ihm. Er stellte sich der Regierung als Zeitfreiwilliger im Freikorps Bahrenfeld zur Verfügung. Ob gegen links, gegen Polen oder „sonst jemand“, war ihm gleich. Ab dem Sommersemester 1919 studierte Schramm Geschichte, historische Hilfswissenschaften, Kunstgeschichte und Staatsrecht an der Hamburgischen Universität. Schramm gehörte zu den ersten Studenten der neu gegründeten Universität in Hamburg. An der Niederschlagung der sogenannten Sülzeunruhen in Hamburg Ende Juni 1919 war Schramm aber nicht beteiligt, da er im Sommer Hamburg verlassen und in Marburg sein Studium fortgesetzt hatte. Anlässlich des Kapp-Putsches im März 1920 begann Schramm ein Tagebuch über die ihn bewegenden Ereignisse zu führen. Den Putsch lehnte er vor allem deshalb ab, weil Kapp seinen Treueid gegenüber der Regierung gebrochen hatte. Seine tagebuchähnlichen Aufzeichnungen publizierte Schramm wenig später. Ab dem Sommersemester 1920 studierte Schramm in München, um seine Kenntnisse in der Kunstwissenschaft zu erweitern. Dort besuchte er mehrere Lehrveranstaltungen bei dem Kunsthistoriker Heinrich Wölfflin. Nach der Kriegsniederlage und der Neuordnung der staatlichen Strukturen in Deutschland standen bei vielen Intellektuellen die Fragen nach dem Besonderen der deutschen Kunst und nach dem „Wesen des Staates“ im Vordergrund. Diese Fragen beschäftigten auch Schramm sehr. Seit 1920 wandte er sich dem Mittelalter zu. Dabei beeindruckte ihn das Widmungsbild im Reichenauer Evangeliar Ottos III. stark. Das Bild inspirierte ihn wenig später sogar zum Thema seiner Doktorarbeit, in der er das „Wesen“ des von Otto geführten „Staates“ erfassen wollte. Der Gesundheitszustand Warburgs besserte sich während Schramms Aufenthalt in München nicht. 1920 begab sich Warburg in Begleitung Schramms nach Jena zur weiteren Behandlung. Auch in den Folgejahren erfreute sich Schramm besonderer Wertschätzung bei Warburg. Eine maßgebliche Rolle in der Warburg-Bibliothek spielte fortan Fritz Saxl. Er begann die Bibliothek jungen Wissenschaftlern der Universität Hamburg zugänglich zu machen. Im Jahr 1913 waren sich Schramm und Saxl in der Hamburger Bibliothek von Aby Warburg erstmals persönlich begegnet. In den 1920er Jahren bekam Schramm von kaum jemand anderem mehr menschliche und wissenschaftliche Impulse als von Saxl. Auch zu dem Kunsthistoriker Erwin Panofsky bestand eine freundschaftliche Verbindung. Neben Saxl und Warburg hatte der Historiker Otto Westphal erheblichen Einfluss auf Schramms wissenschaftliches Denken. Wissenschaftliche Anfänge in Heidelberg (1921–1929) Im Sommersemester 1921 wechselte Schramm nach Heidelberg, um sein Studium mit der Promotion bei Karl Hampe zu beenden. Während seiner Heidelberger Jahre knüpfte er Kontakte zu den Historikern Ernst Kantorowicz, Friedrich Baethgen, Otto Cartellieri, dem Germanisten Friedrich Gundolf, dem Kirchenhistoriker Hans von Schubert und dem Indologen Heinrich Zimmer. Besonders eng war die Freundschaft mit Kantorowicz. Nächtelange Gespräche mit Kantorowicz hat er ausdrücklich hervorgehoben. Zu seinem akademischen Lehrer Hampe hatte Schramm in Heidelberg ein enges Verhältnis. Wiederholt verkehrte er bei Hampes Familie privat. 1922 wurde er bei Hampe mit der Arbeit Studien zur Geschichte Kaiser Ottos III. (996–1002) summa cum laude promoviert. Hampe hielt die Dissertation für „eine wirklich bedeutsame Arbeit“. Sie blieb als ganzes ungedruckt, die Ergebnisse wurden aber in Aufsätzen veröffentlicht. Im Jahr 1922 hielt Schramm an der Bibliothek Warburg in Hamburg seinen ersten wissenschaftlichen Vortrag Das Herrscherbild in der Kunst des frühen Mittelalters. Im Frühjahr 1923 erschien unter dem Titel Über unser Verhältnis zum Mittelalter in der „Österreichischen Rundschau“ seine erste mediävistische Veröffentlichung. Weitere Arbeiten legten den Schwerpunkt auf das Kaiserzeremoniell am ottonischen Hof und dessen Bezug zur Antike. Die umfangreichste Untersuchung aus den Jahren von 1922 bis 1925 war die Abhandlung Das Herrscherbild in der Kunst des frühen Mittelalters, die in der von Saxl herausgegebenen Reihe „Vorträge der Bibliothek Warburg“ veröffentlicht wurde. Nach der Promotion hatte Schramm durch seinen Freund Saxl die Möglichkeit auf eine gut vergütete Stelle in Hamburg, wo er an einer Edition der in der Bibliothek liegenden unveröffentlichten Schriften Warburgs arbeiten sollte. Noch wichtiger war für ihn aber das Angebot aus Heidelberg von Harry Bresslau, an Editionsvorhaben der Monumenta Germaniae Historica (MGH) mitzuwirken. Die Mitarbeitertätigkeit bei Bresslau bedeutete nicht nur eine Anstellung bei den Monumenta Germaniae Historica, dem wichtigsten Institut, das sich der Erforschung der fränkischen und deutschen mittelalterlichen Geschichte und der Edition ihrer Quellen widmet, sondern bot ihm auch die Perspektive einer Habilitation an der angesehenen Universität Heidelberg. Daher entschied er sich, in Heidelberg zu bleiben. Von 1923 bis 1926 war Schramm Bresslaus Assistent und arbeitete am letzten Band der „Scriptores“-Reihe der Monumenta Germaniae Historica. Daneben wirkte er an der Ausgabe der Urkunden Heinrichs III. mit. Während seiner Assistentenzeit heiratete er im März 1925 Ehrengard von Thadden, die Tochter des pommerschen Gutsbesitzers und Landrats Dr. jur. Adolf von Thadden (1858–1932) und dessen erster Ehefrau Ehrengard, geb. von Gerlach (1868–1909). Aus der Ehe gingen drei Kinder hervor, darunter der Architekt Jost Schramm und der Osteuropahistoriker Gottfried Schramm. Schramms Heirat regte ihn dazu an, sich in der zweiten Hälfte der 1920er Jahre mit den Junkern Ostelbiens zu befassen. Im Jahr 1924 habilitierte sich Schramm in Heidelberg. In der Habilitationsschrift befasste er sich wiederum mit Otto III.; den Schwerpunkt der Untersuchung bildete der Romgedanke im Mittelalter. Von 1924 bis 1929 war er Privatdozent in Heidelberg. Seine Antrittsvorlesung hielt er über Die historischen Grundlagen der Grenzstaaten des deutschen Ostens. Die Verluste Deutschlands im Osten durch den Versailler Vertrag waren in der Weimarer Republik ein beherrschendes Thema des politischen Diskurses und beeinflussten auch Schramms wissenschaftliches Wirken. Schramm ging von einer Instabilität in Osteuropa aus, die es Deutschland ermögliche, dort zur Hegemonialmacht aufzusteigen. Er vermied aber konkrete Vorschläge, wie Deutschland machtpolitisch seine Chance im Osten wahrnehmen sollte. Eine Publikation der Antrittsvorlesung kam nicht zustande, da die für die Veröffentlichung vorgesehene „Österreichische Rundschau“ eingestellt wurde. Der Themenkomplex verlor nach einer Vorlesung im Wintersemester 1924/25 über die „Geschichte des katholischen Osteuropa“ in Schramms weiterer Arbeit schnell an Bedeutung. Zu Beginn seiner regulären Vorlesungstätigkeit lernte er im Sommersemester 1924 den Byzantinisten Georg Ostrogorsky kennen, der Schramms Interesse an Byzanz schätzte. Aus dieser Begegnung entwickelte sich eine lebenslange Freundschaft. 1928 veröffentlichte Schramm seine erste Monographie, das Werk Die deutschen Könige und Kaiser in Bildern ihrer Zeit, 751–1152. Dort erfasste er die Kaiserbilder erstmals vollständig in ihren Überlieferungen (Buchmalerei, Münzen, Siegel u. a.). Im Mai 1928 starb Schramms Vater, dessen starke Einwirkung auf den Sohn aber weiterhin anhielt. Sie zeigte sich darin, dass Schramm noch Jahrzehnte später bei jeder Veröffentlichung darüber nachdachte, ob der Vater das Geschriebene wohl gewürdigt hätte. Im Wintersemester 1928/29 vertrat Schramm Hampes Lehrstuhl in Heidelberg. Die Habilitationsschrift erschien 1929 in erweiterter und überarbeiteter Fassung als zweibändige Darstellung Kaiser, Rom und Renovatio in der von Saxl herausgegebenen Schriftenreihe „Studien der Bibliothek Warburg“. Sowohl bei der Dissertation als auch bei Kaiser, Rom und Renovatio unterstützte ihn Saxl. Nach einer Vermutung David Thimmes wäre ohne Saxls Einsatz die Schrift Kaiser, Rom und Renovatio vielleicht nie erschienen, denn Schramm hatte Ende der zwanziger Jahre das Interesse am „Romgedanken“ verloren. Zum Ende seiner Heidelberger Jahre trat er wohl im Jahr 1928 in die Deutsche Volkspartei ein. Die Mitgliedschaft erneuerte er aber nicht, als er nach Göttingen wechselte. Erste Lehrtätigkeit in Göttingen (1929–1933) Schramms im Sommer 1929 veröffentlichtes Werk Kaiser, Rom und Renovatio brachte ihm den akademischen Durchbruch. Schon vor der Drucklegung entfaltete es eine beträchtliche Wirkung und trug wesentlich dazu bei, dass Schramm bereits im Februar 1929 einen Ruf an die Universität Göttingen erhielt. Ab dem 1. April 1929 lehrte er dort als Professor für mittlere und neuere Geschichte und Historische Hilfswissenschaften. Zugleich wurde er Direktor des Historischen Seminars. In der Wissenschaftsorganisation hingegen spielte er in Göttingen keine besondere Rolle. Durch die Professur wurde Schramm auch finanziell unabhängig. Seine Berufung nach Göttingen hatte sich jedoch über Monate hingezogen, da der Kultusminister und sein Ministerialdirektor den Lehrstuhl zunächst für Soziologie vorsahen. Im Jahr seiner Berufung starb Schramms Lehrer Warburg. In den folgenden Jahren intensivierte sich die Zusammenarbeit und der Gedankenaustausch zwischen Schramm und der von Saxl geführten Kulturwissenschaftlichen Bibliothek. Schramm sondierte sogar, ob er eine Chance habe, nach Hamburg berufen zu werden, doch blieb eine solche Berufung aus. Im Jahr 1930 besuchte Schramm den im holländischen Exil lebenden Kaiser Wilhelm II. in Doorn. Als Grund für seinen Besuch hat Schramm in den 1960er Jahren das Interesse des Ex-Monarchen an den Büchern des Göttinger Kollegen Karl Brandi genannt. Der Kaiser war während des Gesprächs mit Schramm daran interessiert, wann der Adler zum kaiserlichen Emblem geworden sei. Seinen Besuch publizierte Schramm 1964 in der Festschrift für Max Braubach. Im Juli 1930 erhielt er Rufe auf Lehrstühle für Geschichte nach Freiburg und Halle. Zu diesem Zeitpunkt lehrte Schramm erst drei Semester in Göttingen; er entschied sich, dort zu bleiben. Als Ergebnis der Bleibeverhandlungen wurden seine Bezüge stark erhöht, und es wurde ein „Apparat für mittellateinische Literatur“ in der Bibliothek des Historischen Seminars eingerichtet. Auf der Basis des „Mittellateinischen Apparates“ entstand das Projekt der Herausgabe einer Bibliographie zur mittelalterlichen Geistesgeschichte. Daraus gingen mit „Aristoteles im Mittelalter“, „Vergil im Mittelalter“ und „Literatur zur lateinischen Bibelkommentierung“ drei Hefte hervor. Schramms wachsende Anerkennung in der Fachwelt zeigte sich auch darin, dass er für die Geschichtslehrerzeitschrift „Vergangenheit und Gegenwart“ Literaturberichte verfasste und 1931 in das Herausgebergremium der „Historischen Zeitschrift“ aufgenommen wurde, deren jüngster Mitherausgeber er damit wurde. Außerdem wurde er in den leitenden Ausschuss des Verbandes Deutscher Historiker gewählt. Auf internationaler Ebene begann er sich ab 1929 als Mitglied in der Internationalen Ikonographischen Kommission zu engagieren und nahm regelmäßig an den Versammlungen des Internationalen Historischen Komitees teil. Im internationalen Umfeld knüpfte Schramm Kontakte, die bis an sein Lebensende anhielten. Auch sein Privatleben entwickelte sich weiter positiv. Im Sommer 1932 kam Schramms dritter Sohn zur Welt. In seinen ersten Jahren in Göttingen nahm Schramm sein ostpolitisches Engagement wieder auf. Im Februar 1931 veranstaltete er zusammen mit Karl Brandi an der Universität Göttingen als erster deutscher Universität eine „Ostmarkenhochschulwoche“, die den Studenten die „Bedeutung der Ostmark für Volk und Reich“ näherbringen sollte. Die beiden Göttinger Historiker unternahmen Informationsreisen durch Schlesien, Ostpreußen und das Danzig­er Gebiet. Im Sommer 1932 organisierten Schramm und Brandi in Göttingen einen Deutschen Historikertag, der erstmals Probleme des deutschen Ostens auf einer deutschen Historikerveranstaltung in den Vordergrund stellte. Die behandelten Themen richteten sich unverkennbar gegen den Versailler Vertrag und die Nachbarstaaten, vor allem gegen Polen. Allerdings ging dieser Schwerpunkt nicht allein auf die Initiative Schramms und Brandis zurück. Beide waren weder Experten für die Geschichte der Deutschen in Ostmitteleuropa, noch Wortführer der geschichtswissenschaftlichen Ostforschung. Mit den politischen Umwälzungen des Jahres 1933 endeten zudem Schramms Aktivitäten auf diesem Gebiet. Ab den 1930er Jahren erforschte Schramm die Ordines, die Regeln für den Ablauf der mittelalterlichen Krönungsfeiern. Den Ausgangspunkt bildete sein 1930 im „Archiv für Urkundenforschung“ veröffentlichter Aufsatz Die Ordines der mittelalterlichen Kaiserkrönung. Sein Interesse für die Ordines wurde auch in den Lehrveranstaltungen „Die Papstwahl“ und „Die deutsche Königskrönung“ deutlich. Schramms Rolle im Nationalsozialismus (1933–1945) Verhältnis zum NS-Regime Ein eindeutiges Bild ergibt sich aus den vorliegenden biographischen Informationen über Schramms Einstellung zum Nationalsozialismus nicht. Schramms Verhältnis zum Antisemitismus etwa wird unterschiedlich wahrgenommen. Dass er in einem privaten Brief vom 31. März 1933 an Herbert von Bismarck schrieb: „Wenn der deutsche Antisemitismus für die nächste Zeit als eine Tatsache hinzunehmen ist, mit der politisch gerechnet werden muß, dann scheint er mir nur in der Form eines Kampfes gegen das Ostjudentum und das marxistische Judentum möglich“, wird im Allgemeinen als Bereitschaft gedeutet, sich mit dem Antisemitismus zeitweise zu arrangieren. Dennoch, so Folker Reichert, sei Schramm kein Antisemit gewesen. Ursula Wolf hingegen sieht bei Schramm keine fundamentalen rassischen Vorurteile, aber bestimmte zeittypische Ressentiments, zumindest gegenüber einer bestimmten sozialen jüdischen Schicht, wenn Schramm ebenfalls 1933 an seine Mutter schrieb: „Daß der jüdische Einfluß, wo er schädlich oder übermächtig war, eingedämmt wird, bzw. schon ist, begrüße ich selbstverständlich.“ Die NS-Rassenpolitik habe Schramm jedoch abgelehnt. Für Eduard Mühle war Schramm indes bereit, noch lange nach 1933 den Terror gegen Juden und andere Bevölkerungsgruppen zu verharmlosen, ja zu rechtfertigen. Manche Aspekte des NS-Regimes, die ihm missfielen, wie die Einschränkung politischer Freiheiten, tat Schramm als eine kurzfristige „revolutionäre Unruhe“ ab. Vertriebenen Wissenschaftlern wie Ernst Kantorowicz oder Siegfried Heinrich Steinberg versuchte er durch Empfehlungsschreiben zu helfen. Trotz seiner Anpassung und Zustimmung hatte Schramm auch Schwierigkeiten mit dem NS-Regime. Die Einführung der Weimarer Verfassung hielt er für einen historisch bedeutsamen Vorgang, doch auf deren Kerninhalt, die parlamentarische Parteiendemokratie, legte er kein besonderes Gewicht. 1932 trat er als Vorsitzender des Göttinger „Hindenburg-Ausschusses“ für die Wiederwahl des alten Reichspräsidenten Paul von Hindenburg ein, womit er sich gegen den Gegenkandidaten Adolf Hitler stellte. Zu diesem Zweck hielt er zahlreiche Wahlreden. Damit erreichte Schramms politische Betätigung ihren Höhepunkt. Sie brachte ihm die Ablehnung der Nationalsozialisten ein, insbesondere die der Göttinger Kreisleitung der NSDAP. Den politischen Veränderungen passte er sich allerdings schnell an, die „Machtergreifung“ begrüßte er begeistert. Beim Reichstagsbrand am 27. Februar 1933 dachte Schramm an „die fabelhaften Chancen“, ihn als Vorwand gegen die Kommunisten nutzbar zu machen. Im Mai 1933 versuchte er, Verständnis für die Bücherverbrennungen in Deutschland aufzubringen. Seine internationalen Kontakte nutzte er, um die Ereignisse im nationalsozialistischen Deutschland nach außen zu rechtfertigen. Wie viele andere Gelehrte nahm er das Regime einseitig wahr. Vom Frühjahr bis zum Sommer 1933 war er Gastprofessor an der Princeton University und hob in seinen Reden über „die Nationale Revolution in Deutschland“ die aus seiner Sicht positiven Leistungen des NS-Regimes hervor. Als besonders positiv würdigte er die „Gleichschaltung der Länder“ und die Abschüttelung „der Fesseln von Versailles“. Schramm bedauerte, dass nur wenige Menschen im Ausland miterleben würden, wie sich das neue Deutschland entwickelte. Während seiner Abwesenheit wurde Schramm von den neuen Machthabern aus dem Vorstand des Göttinger Studentenwerks entfernt. Selbst seine berufliche Stellung war in Gefahr. Deshalb kehrte er schon im Juni aus den Vereinigten Staaten zurück. Sein langjähriger Freund Otto Westphal verschrieb sich bedingungslos dem Nationalsozialismus. Er betrieb mit Alfred Schüz die berufliche Absetzung Schramms. Damit endete die jahrzehntelange Freundschaft mit Westphal; Schramm kündigte sie in einem Brief auf. Trotz der erheblichen Probleme mit dem NS-Regime hielt Schramm an seiner positiven Einstellung zu den politischen Verhältnissen in Deutschland fest. Die Gegenwart aus der Geschichte heraus deutend, verglich er in einem Brief an einen rumänischen Freund vom 20. September 1933 die politischen Umwälzungen des Jahres 1933 mit der deutschen Reformation des 16. Jahrhunderts und beschrieb ein „neues zukunftsreiches Deutschland“. Die Diktatur schien ihm den Vorzug zu besitzen, Deutschland vor politischer Zerrissenheit zu bewahren. Bei der Reichsgründungsfeier der Universität Göttingen am 18. Januar 1934 kritisierte der Althistoriker Ulrich Kahrstedt Schramms internationales Engagement. Kahrstedt warf Schramm und Brandi vor, auf dem Warschauer Historikertag 1933 nicht die deutschen Interessen im Osten vertreten zu haben. Nach diesen Vorwürfen schränkte Schramm seine Aktivitäten in der internationalen wissenschaftlichen Zusammenarbeit ein. Außerdem trat er im Januar 1934 in die Reiter-SA ein, deren Mitglied er bis 1938 blieb. Aus der Redaktion der „Historischen Zeitschrift“ wurde Schramm 1935 entfernt; 1937 musste er auch seine Tätigkeit in der Geschichtslehrerzeitschrift „Vergangenheit und Gegenwart“ einstellen. Als einem „Vertreter des Spätliberalismus“, wie ihn der Göttinger Rektor Friedrich Neumann bezeichnete, schenkte ihm die Göttinger NS-Führung kein politisches Vertrauen. Sein Aufnahmegesuch von 1937 in die NSDAP zog sich daher zwei Jahre hin. Im Jahr 1939 erreichte Schramm seine Aufnahme in die NSDAP und sogar die Rückdatierung auf das von ihm erstrebte Eintrittsjahr 1937. Im Februar 1947 behauptete er aber, er habe den Aufnahmeantrag gar nicht selbst gestellt. Dies sei vielmehr ohne sein Wissen durch die SA geschehen. Ungeachtet seiner Einstellung zum Nationalsozialismus, wurde Schramm im Mai 1937 nach London zur Krönung des englischen Königs Georg VI. eingeladen. Er war der einzige deutsche Zivilist, der eine solche Einladung erhielt – eine Anerkennung, die selbst im „Kladderadatsch“ wahrgenommen wurde. Zu diesem Zeitpunkt galt Schramm weltweit als anerkannter Experte der Krönungsforschung. Er war bereit, sein Wissen über die Herrschaftssymbole für die Politik dienstbar zu machen. Damit entfernte er sich von der Position seines Lehrers Warburg, der die politische Instrumentalisierung der Kunstgeschichte kritisch beurteilt hatte. Für die englische Krönungsfeier schlug er Hitler vor, das aus der Zeit Richards von Cornwall stammende, 1262 angefertigte und im Aachener Domschatz aufbewahrte vergoldete Taubenszepter nachbilden zu lassen und dem englischen König zum Geschenk zu machen. Während seines Englandaufenthaltes befragte ihn der Erzbischof von Canterbury Cosmo Gordon Lang nach seinem Verhältnis zum Nationalsozialismus, worauf er differenzierend antwortete: „Hinsichtlich der Wiederaufrüstung (Gleichgewicht der Kräfte) 200prozentiger Nazi. Hinsichtlich «Arbeitsfrieden», Festigung des Bauerntums, «Kraft durch Freude» 100prozentiger Nazi. Rassentheorie, Germanenkult, Bildungspolitik, NS-Weltanschauung: 100prozentiger Gegner.“ Die Außen- und Rüstungspolitik befürwortete er, weil sie dem Deutschen Reich seine internationale Stellung in der Welt zurückgeben würde. Nach der Besetzung des Sudetenlandes bejubelte er Hitler: „80 Millionen – ohne Blutvergießen. Das konnte weder Bismarck noch die Jungfrau von Orléans, sondern nur jemand, der beider Fähigkeiten vereinigte […].“ Im Jahr 1938 begrüßte er den „Anschluss Österreichs“. Ein Wechsel auf eine Professur in Leipzig scheiterte 1941 an der ihm vorgeworfenen „liberalistischen Haltung“. Schramms Frau Ehrengard von Thadden stand dem NS-Regime sehr viel distanzierter gegenüber. Nach dem Attentatsversuch vom 20. Juli 1944 wurde Schramm vom Göttinger Rektor, dem Altphilologen Hans Drexler, als Sympathisant des Widerstandes vom 20. Juli 1944 denunziert. Dank der Fürsprache der Universitätsgremien und vor allem seines militärischen Vorgesetzten Generaloberst Alfred Jodl blieben Konsequenzen für Schramm aus. Seine Schwägerin Elisabeth von Thadden wurde im September 1944 wegen „Hochverrats“ vom Volksgerichtshof zum Tode verurteilt und hingerichtet. Forschung und Lehrtätigkeit Schramms Forschungsthemen unterschieden sich von den zeittypischen Schwerpunkten der positivistischen Kaisergeschichte, der Volksgeschichte und der mittelalterlichen Verfassungsgeschichte. Zwischen 1933 und 1939 arbeitete er aber auch an Themen von tagespolitischer Relevanz. Dazu zählten seine kolonialgeschichtlichen Arbeiten zu den Hamburger Kaufleuten. Schwerpunktmäßig veröffentlichte Schramm neben den Krönungsordines zahlreiche Arbeiten zur Geschichte des Königtums in Europa. Im Jahr 1934 erschien Die Krönung bei den Westfranken und Angelsachsen und 1935 Die Krönung in Deutschland bis zum Beginn des Salischen Hauses. Gerade noch rechtzeitig zur Krönung in England am 12. Mai 1937 erschien im April 1937 in Deutschland und England seine Geschichte des englischen Königtums im Lichte der Krönung. Kurz nach Beginn des Zweiten Weltkrieges veröffentlichte er seine Darstellung Der König von Frankreich. Schramm hielt als Historiker in der NS-Zeit weiterhin wissenschaftliche Standards ein und lehnte das rein pragmatische Wissenschaftsverständnis des Nationalsozialismus ab. Aber als überzeugter Historist orientierte er sich auch an den Problemen der eigenen Zeit und ging der Frage nach, warum Deutschlands Weg zu einem mächtigen Nationalstaat so schwierig verlaufen sei. Die Arbeiten zu den mittelalterlichen Symbolen waren in diesem Sinne „eine Art Spurensuche nach dem Wesen der Völker.“ Ab 1938 verwendete er allerdings in seinen wissenschaftlichen Publikationen Begriffe und stellte Überlegungen an, die sich deutlicher an der nationalsozialistischen Gedankenwelt orientierten. So betonte er stärker die Bedeutung der germanischen Kultur für das Mittelalter. Mit seiner Symbolforschung hoffte er Einsicht in die „Geistesgeschichte der einzelnen Rassen“ zu erlangen. Nach der Einschätzung von David Thimme versuchte er mit seinen Forschungen Anschluss an die herrschende Ideologie zu finden, um die eigene Position in den veränderten akademischen Strukturen zu stärken. Allerdings stellt Thimme auch fest, „daß seine Annäherungsversuche an das politische Opportune nicht sehr weit gingen“. Ab 1933 konnte Saxl wegen seiner jüdischen Herkunft seine Forschungen in Deutschland nicht mehr fortsetzen. Ende 1933 musste er mit seinen Mitarbeitern die Kulturwissenschaftliche Bibliothek Warburg von Hamburg nach London verlagern. In London ging daraus das noch heute tätige Warburg Institute hervor. 1934 äußerte sich Edgar Wind, ein Mitarbeiter der Kulturwissenschaftlichen Bibliothek, in der Einleitung des ersten Bandes der „Kulturwissenschaftlichen Bibliographie zum Nachleben der Antike“ kritisch über das NS-Regime. Ein weiterer Mitautor der Bibliographie, Raymond Klibansky, soll gesagt haben, „daß er das Haus eines deutschen Professors nicht mehr beträte“. Schramm differenzierte nicht zwischen „Deutschlandfeindlichkeit“ und Kritik am NS-Regime. Im Januar 1935 brach Schramm die langjährige Zusammenarbeit mit Saxl und der Kulturwissenschaftlichen Bibliothek Warburg (KBW) ab. Als Begründung führte er an, dass er nicht an einem Werk mitarbeiten wolle, an dem auch „antideutsche“ Autoren beteiligt seien. Als 1936 das Soziologische Seminar an der Universität Göttingen geschlossen wurde und das Fach Geschichte dessen Bücherbestand übernahm, warf Schramm der Soziologie nicht nur intellektuelle Dürftigkeit vor, sondern sprach den Göttinger Soziologen sein politisches Misstrauen aus: deren Bibliothek habe „eine nicht unerhebliche Zahl von Büchern“ enthalten, „die gar nicht oder nur unter Vorsichtsmaßregeln den Studenten zugänglich gemacht werden können“. Schramms Forschungen bis 1939 waren von einem „eremitenhaften Arbeitsstil“ geprägt. Der für wissenschaftliche Erkenntnis wichtige Austausch mit Fachkollegen ging stark zurück. Die nationalsozialistische Herrschaft hatte die für Schramm wichtige interdisziplinäre Zusammenarbeit in den Geisteswissenschaften an der Universität Göttingen durch personelle Veränderungen zum Erliegen gebracht. Auch der „Mittellateinische Apparat“ wurde nicht weitergeführt. Schramms wichtiger Gesprächspartner Kantorowicz hatte 1938 endgültig Deutschland verlassen. Am NS-Projekt Kriegseinsatz der Geisteswissenschaften beteiligte Schramm sich nicht in besonderem Ausmaß. Mit dem Kriegsausbruch begann die Phase der Erforschung von Themen, die mit Ausnahme von wenigen Rezensionen nichts mit dem Mittelalter zu tun hatten; Studien zur Wirtschafts- und Sozialgeschichte des 19. Jahrhunderts rückten in den Vordergrund. Noch mitten im Kriegsgeschehen konnte er 1943 das knapp 800 Seiten umfassende Werk Hamburg, Deutschland und die Welt vollenden. Im selben Jahr wurde seine Heimatstadt im Rahmen der Operation Gomorrha durch alliierte Bombenangriffe schwer getroffen. Anfertigung des Kriegstagebuches und Gutachtertätigkeit im Zweiten Weltkrieg Am Zweiten Weltkrieg nahm Schramm von Beginn an als Soldat teil. Wenige Wochen nach Kriegsausbruch wurde er zum Rittmeister der Reserve befördert. Im Jahr 1941 gehörte er zur Amtsgruppe für Wehrmachtpropaganda im Oberkommando der Wehrmacht. Dort verfasste er Pressemitteilungen für in- und ausländische Zeitungen. Die Meldungen sind typische Kriegspropaganda und wurden von Generalmajor Hasso von Wedel genehmigt. Im Jahr 1942 nahm Schramm als Stabsoffizier an der Eroberung der Krim teil. Von März 1943 bis zur Kapitulation 1945 war er als Nachfolger von Helmuth Greiner Kriegstagebuchschreiber im Führerhauptquartier. In dieser Funktion fasste er alle „operativen Vorgänge“, von denen er Kenntnis hatte, nachrichtlich zusammen und nahm die Auswahl der Dokumente und Meldungen für das Kriegstagebuch vor. Der Schwerpunkt lag auf den operativen Entscheidungen und Vorgängen, unter Ausschluss der kriegsvölkerrechtlich relevanten Aspekte. Durch seine selektive Arbeitsweise vermittelt das Kriegstagebuch nur ein eingeschränktes Bild des Kriegsverlaufs aus der Sicht der obersten Führung. Am 1. Juni 1943 stieg Schramm zum Major der Reserve auf. Den Krieg hielt er seit 1943 für endgültig verloren. Eine geplante Freistellung nach Göttingen, um seinen Verpflichtungen in der Wissenschaft nachzukommen, schlug er im Frühsommer 1944 ausdrücklich aus. Schramm zog seinen Dienst bei der Wehrmacht vor. Seinen fünfzigsten Geburtstag feierte er am 14. Oktober 1944 im Führerhauptquartier. Bei Kriegsende ignorierte er den Befehl zur Vernichtung des Kriegstagebuches und sorgte für dessen Erhalt. Als er seine Rolle als Kriegstagebuchführer im Wehrmachtführungsstab gegenüber seinem Schüler Joist Grolle beschrieb, bezeichnete er sich als „Notar des Untergangs“. Schramm betätigte sich neben der Führung des Kriegstagebuches auch als Gutachter. Darunter fällt die Erstellung eines Gutachtens zur „Treibstoff-Frage“ von 1944/45. Schramm lobte die deutsche Wissenschaft für ihre Erzeugung von synthetischem Gummi (Buna) und von synthetischem Benzin. Dadurch brach sie das Rohstoffmonopol der Alliierten und unterstützte die I.G. Farben beim Aufbau von Fabriken zur Herstellung von synthetischem Treibstoff, so dass die deutsche Wehrwirtschaft und Kriegsführung weiterhin funktionieren konnte. Jörg Wollenberg vermutet einen Zusammenhang zwischen Schramms Gutachten und der Neuanlage des Außenkommandos KZ Fürstengrube im Großbauprojekt Auschwitz III. Schramm sah auch nach 1945 keine Verbindung zwischen seinem Gutachten und dem Auschwitz-Komplex. Das Gutachten ist in der 1954 veröffentlichten Festschrift für den Göttinger Völkerrechtler Herbert Kraus in geglätteter Fassung abgedruckt. Nachkriegszeit Schramm war von Mai 1945 bis zum 5. Oktober 1946 in amerikanischer Gefangenschaft. Als Kriegsgefangener schrieb er für die Historical Section der US Army eine militärische Denkschrift. In dieser Zeit nahm er die Arbeit an seinen Erinnerungen wieder auf, die er als Soldat 1942 begonnen hatte. Im Oktober 1946 kehrte er aus dem Nürnberger Gefangenenlager nach Göttingen zurück. Die britische Besatzungsmacht untersagte ihm jedoch die Rückkehr auf seinen Göttinger Lehrstuhl. Die Besatzungsbehörden hatten in einem Gutachten vom Februar 1946 Zweifel, ob er „eine positive demokratische Lehre in seinen Unterricht aufnehmen würde“. Als Kriegstagebuchführer war Schramm Zeuge der Verteidigung bei dem Nürnberger Prozess gegen die Hauptkriegsverbrecher und sagte im Juni 1946 zugunsten seines ehemaligen Vorgesetzten Generaloberst Jodl aus. Am 29. Januar 1946 war er als einer der Nachfolger für den Mittelalterlehrstuhl in Hamburg im Gespräch. Die Professur wurde aber an Hermann Aubin vergeben. Von 1946 bis 1948 war Schramm mit einem Lehrverbot belegt. Dies empfand er als bitteres Unrecht. Wie viele andere Wissenschaftler war er bestrebt, den Eindruck zu erwecken, er sei von der NS-Ideologie unberührt geblieben. Noch im Jahre 1947 konnte Schramm wieder zu mehreren emigrierten Kollegen, darunter Ernst Kantorowicz und Hans Rothfels, freundschaftlichen Kontakt aufnehmen. Kantorowicz, Rothfels und andere waren Fürsprecher in Schramms Entnazifizierungsverfahren, das von Oktober 1946 bis September 1948 dauerte. Die amerikanische Historical Division, die ein Interesse an seiner Mitarbeit hatte und für deren Vorgängereinheit er zeitweise gearbeitet hatte, gab eine positive Stellungnahme ab. Im November 1948 konnte Schramm seine Lehrtätigkeit als Göttinger Professor wieder aufnehmen. Es gelang Schramm in der Nachkriegszeit allerdings nicht, seine ehemaligen Freunde aus dem Warburg Institute zurückzugewinnen. In zwei Briefen, geschrieben im Dezember 1946 und Januar 1947, versuchte er die persönlichen und wissenschaftlichen Beziehungen zu Saxl wieder aufzunehmen. Mit dem Warburg Institute begann Schramm so zu kommunizieren, als wären die alten Verletzungen nie geschehen. Saxl hatte als Opfer des NS-Regimes kein Verständnis für Schramms Schweigen über die Vergangenheit und für seinen Versuch, „über diese Dinge zur Tagesordnung über(zu)gehen“, wie Saxl es in einem Briefentwurf formulierte. Auch in seinem Nachruf auf Saxl aus dem Jahr 1958 in den Göttingischen Gelehrten Anzeigen verlor Schramm kein selbstkritisches Wort. Er verschwieg seinen Anteil am Bruch der Freundschaft. Vielmehr soll es Saxl gewesen sein, von dem der Bruch ausging. Schramm wurde 1948 korrespondierendes und 1956 ordentliches Mitglied der Zentraldirektion der Monumenta Germaniae Historica. Zahlreiche weitere Akademien in Göttingen (Mitglied 1937), München (korrespondierendes Mitglied 1965), Wien, Stockholm, Spoleto und die American Historical Academy of Medieval Studies nahmen Schramm als Mitglied auf. 1958 wurde er in den Orden Pour le Mérite für Wissenschaften und Künste aufgenommen. Für ihn war dies die wichtigste und bedeutendste Ehrung. Ein Jahr später wurde ihm vom Verein Herold mit der Bardeleben-Medaille die höchste Auszeichnung verliehen. Schramm gehörte seit 1955 dem Wissenschaftlichen Beirat der Sachbuchreihe Rowohlts deutsche Enzyklopädie an. In der zweiten Hälfte der 1950er Jahre war das Historische Seminar in Göttingen durch Schramm und seinen Kollegen Hermann Heimpel eine der angesehensten Adressen in Deutschland für das Fach Geschichte. Schramm avancierte in der Nachkriegszeit zu einem der führenden Experten für die Geschichte des Zweiten Weltkrieges. Seine öffentlichen Vorträge in den fünfziger Jahren stießen auf große Resonanz. Er setzte sich in seinen Reden für ein ehrendes Gedenken der Weltkriegstoten ein. 1952 erstellte Schramm im Auftrag von Fritz Bauer ein Gutachten für den Prozess gegen Otto Ernst Remer. Schramm gehörte 1955 zu den Professoren, die dafür sorgten, dass der zum niedersächsischen Kultusminister ernannte Leonhard Schlüter wenige Tage nach seiner Ernennung zurücktreten musste. In den 1960er Jahren hat Schramm das Kriegstagebuch des Wehrmachtführungsstabes gemeinsam mit seinen beiden Schülern Andreas Hillgruber und Hans-Adolf Jacobsen sowie Walther Hubatsch ediert. Von 1961 bis 1964 gab er das Kriegstagebuch in vier Bänden heraus. Damit war er zugleich der Verfasser und Editor der Quelle. Im Jahr 1963 gab er die Notizen Henry Pickers über Hitlers Tischgespräche im Führerhauptquartier 1941–1942 heraus. Schramm sah nach 1945 keine Notwendigkeit zu Korrekturen an seinen Büchern über das englische oder französische Königtum. Zur mittelalterlichen Geschichte veröffentlichte Schramm in den 1950er und 1960er Jahren seine großen Werke: drei Bände Herrschaftszeichen und Staatssymbolik 1954–1956, 1962 gemeinsam mit der Kunsthistorikerin Florentine Mütherich die Denkmale der deutschen Könige und Kaiser und 1968–1971 das fünfbändige Werk Karl der Große. Lebenswerk und Nachleben. Ab 1968 erschienen in vier Bänden seine gesammelten Aufsätze zur Geschichte des Mittelalters. Noch 1958 knüpfte Schramm sprachlich wie inhaltlich an die zeitgenössische Ostforschung an, indem er den „historischen Rechtstitel[n]“ nachging, welche die Deutschen „auf die von Deutschland abgetrennten Gebiete“ besäßen. Dabei sprach er von „den Fluten“, die seit „der Hunnenzeit von Osten heranbrandeten“. Schramm relativierte aber auch die Vorstellung von einer ‚deutschen Kulturträgerschaft‘ im Osten, wies auf die von den Deutschen in Ostmitteleuropa begangenen Verbrechen hin und engagierte sich für eine deutsch-polnische Aussöhnung. Von Seiten polnischer Historiker wurde Schramms „Versuch einer neuen Sicht der polnisch-deutschen Probleme“ geradezu als „eine Sensation in der Welt der westdeutschen Intelligenz“ wahrgenommen. Letzte Jahre In den 1950er und 1960er Jahren schrieb Schramm verstärkt am Erinnerungswerk „Jahrgang 94“. Die Darstellung blieb bis zu seinem Lebensende unveröffentlicht. Seinen einstigen Freund und Förderer Saxl erwähnte er darin kein einziges Mal. Die Hälfte der Seiten nahmen die Jahre des Ersten Weltkriegs ein. Im Jahr 1963 wurde Schramm emeritiert. Im selben Jahr wurde er zum Kanzler des Ordens Pour le Mérite für Wissenschaften und Künste gewählt. Damit wurde ihm die höchste Auszeichnung zuteil, die ein Wissenschaftler in der Bundesrepublik Deutschland erhalten konnte. Ein Jahr später wurde ihm das Große Bundesverdienstkreuz mit Stern verliehen. Hinsichtlich seiner Schülerzahl war er einer der erfolgreichsten deutschen Gelehrten der Nachkriegszeit. 59 Promotionen betreute er als akademischer Lehrer. Zu seinem siebzigsten Geburtstag wurde Schramm 1964 von seinen Schülern und Freunden mit einer Festschrift geehrt. Bedeutende Schüler Schramms waren János M. Bak, Wilhelm Berges, Arno Borst, Marie Luise Bulst-Thiele, Donald S. Detwiler, Adolf Gauert, Joist Grolle, Andreas Hillgruber, Hans-Adolf Jacobsen, Norbert Kamp, Hans-Dietrich Kahl, Reinhard Rürup, Hans Martin Schaller, Ernst Schulin und Berent Schwineköper. Reinhard Elze war zwar im Studium nicht sein Schüler, sah ihn aber als seinen Lehrer für die eigene wissenschaftliche Entwicklung an. In Göttingen entstand jedoch keine Schulrichtung, vielmehr legte Schramm bei seinen Schülern früh Wert auf Selbstständigkeit. Im Jahr 1967 führte Schramm als Kanzler den deutsch-jüdischen Kunsthistoriker Erwin Panofsky, seinen ehemaligen Freund aus der Warburg-Schule, in den Orden Pour le Mérite ein. Ein selbstkritisches Wort zur Problematik seiner Vergangenheit oder zur Entfremdung blieb aus. Im Jahr 1968 bestätigte die Bergung der Cathedra Petri die von Schramm 1956 im dritten Band von Herrschaftszeichen und Staatssymbolik aufgestellte Hypothese, wonach der Holzthron um 870 für Karl den Kahlen hergestellt worden war. Schramm starb am 12. November 1970 in einem Krankenhaus in Göttingen an einem Herzinfarkt. Seine letzte Ruhestätte fand er im Familiengrab auf dem Ohlsdorfer Friedhof in Hamburg. Sein Nachlass ist der umfangreichste Teilbestand im Familienarchiv und liegt im Staatsarchiv Hamburg. Werk Schramm legte in den mehr als vier Jahrzehnten seines Wirkens etwa 355 Veröffentlichungen vor. Sie erstrecken sich von der Antike bis zum 20. Jahrhundert und sind thematisch weit gefächert von der mittelalterlichen Kaiser- und Papstgeschichte bis hin zur Sozial- und Wirtschaftsgeschichte des Bürgertums. Schramm hatte drei Arbeitsfelder: Mittelalterliche Geschichte, Geschichte des hanseatischen Bürgertums und Geschichte des Zweiten Weltkriegs. Sein Arbeitsschwerpunkt blieb von 1920 bis 1938/39 das Mittelalter, während des Zweiten Weltkriegs trat dieser Bereich stark in den Hintergrund. In den 1940er Jahren gewannen die beiden Themenfelder hamburgische Geschichte und Zeitgeschichte zunehmend an Bedeutung. Um 1967 stellte er fest, sein wissenschaftliches Werk habe sich über alle Brüche und Umwälzungen der deutschen Geschichte hinweg kontinuierlich „entfaltet“. Sein Göttinger Kollege Hermann Heimpel bestätigte dies. Dagegen konnte sein Biograph David Thimme darlegen, wie Schramm immer wieder in der Weimarer Republik, im Nationalsozialismus und in der Bundesrepublik zeitbedingte Korrekturen vornahm, weil die „Geschichtswissenschaft aufgrund ihres konstruierenden Charakters stets auf die Gegenwart, auf ihre Probleme und Herausforderungen bezogen ist“. Mittelalter Eine wesentliche Forschungsleistung Schramms ist die Entdeckung und konsequente Heranziehung der Bilder als Quellen für die Geistes-, Kultur- und Politikgeschichte des Mittelalters. Damit leistete er in der deutschen Mittelalterforschung Pionierarbeit. Als bahnbrechend gelten seine Studien zur Verwertung von Bilddenkmälern und Herrschaftszeichen als Quellen. Die Herrscherbilder würdigte er bereits 1928 als ein „aufschlußreiches Geschichtszeugnis“, da „die Herrscherbilder der deutliche Ausdruck aller der Vorstellungen [sind], die im frühen Mittelalter mit dem deutschen Königtum und dem Kaisertum verknüpft sind“. Warburg und dessen „Kulturwissenschaftliche Bibliothek“ übten auf den jungen Schramm großen Einfluss aus. Allerdings verlor die Kulturtheorie Warburgs in Schramms Methodik an Bedeutung. Schramm deutete, beeinflusst durch seinen Doktorvater Karl Hampe, Bilder verstärkt „als eindeutige Zeichen von Herrschaft“. Schramm hat vielfach wissenschaftliches Neuland betreten. Die Geschichte der Monarchie interpretierte er „nicht in herkömmlicher Weise von ihrer Machtentfaltung, sondern von ihrer Selbstdarstellung, von der Krönung bis zu den Herrschaftsgrundlagen“. Nicht die Ereignisgeschichte, sondern Krönungsriten, Herrschaftszeichen und Herrscherdarstellungen boten ihm in erster Linie die Informationen, die er zur Erklärung der Monarchie nutzte. Zu den Schwerpunkten seiner Arbeit gehörten auch das Nachleben der Antike im Mittelalter und der Einfluss von Byzanz auf das Abendland. Die Beschäftigung mit den Herrscherbildern veranlasste Schramm, Einsichten der Kunstgeschichte, der Numismatik, der Sphragistik und anderer Fächer zu berücksichtigen. Der interdisziplinäre Ansatz war ihm von Anfang an selbstverständlich. Damit ging er weit über die bisherigen Gepflogenheiten der Geschichtswissenschaft hinaus. Schramm favorisierte eine Geschichtsdeutung, die eine politische Wirkungsabsicht keineswegs ausschließt, dabei aber wissenschaftlich bleibt. Als Vorbild für sein Geschichtsverständnis galt ihm Leopold Ranke. Diesem Historiker sei es gelungen, politisch relevante Aussagen mit sachlicher Geschichtsbetrachtung zu vereinen. Für Schramm war das Mittelalter ein Höhepunkt der deutschen Geschichte. Dabei blieb er den gängigen Denkmustern seiner Zeit von einer mittelalterlichen Kaiserherrlichkeit verhaftet. Für die Hinwendung zum Mittelalter waren die Erfahrungen des verlorenen Ersten Weltkrieges entscheidend. Schramms Begeisterung für das Mittelalter bot ihm einen Kontrast zur Gegenwart der damaligen Nachkriegszeit, in der Deutschland innerlich zerrissen und nach außen schwach erschien. Die Beschäftigung mit dem Mittelalter half bei der Beantwortung der Frage, was eigentlich „deutsch“ sei. Mit seiner Dissertation Studien zur Geschichte Kaiser Ottos III. (996–1002) versuchte Schramm unter der Frage „Was wollte Kaiser Otto III.?“ das geistesgeschichtliche Umfeld und das politische Handeln des Herrschers durch Klärung der damals herrschenden Vorstellungen zu erhellen. Seine 1929 vorgelegte Darstellung Kaiser, Rom und Renovatio gilt als sein bekanntestes und wichtigstes Werk. Darin nimmt die Herrschaft Ottos III. den größten Raum ein. Schramms ideengeschichtliche Sichtweise brach mit dem Geschichtsbild einer nationalen Richtung, welche die Regierung Ottos III. unter machtpolitischem Gesichtspunkt negativ bewertete. Dem Vorwurf der älteren Forschung, Otto habe sich von einer realitätsfernen phantastischen Schwärmerei für Italien leiten lassen, trat Schramm entgegen, indem er eine planvolle Renovatio-Politik des Kaisers aufzeigte. Als Kernstück dieser Politik sah Schramm den Gedanken der Erneuerung des römischen Kaisertums, der auf die Wiederherstellung des antiken Römischen Reiches abzielte. Als wichtigstes Zeugnis betrachtete Schramm die Einführung einer Bleibulle im April 998, deren Devise Renovatio Imperii Romanorum lautete. Die Bleibulle ersetzte die bis dahin üblichen Wachssiegel zur Beglaubigung der Urkunden Ottos. Schramms neue Sichtweise hatte es zunächst schwer, sich in der Fachwelt gegen die bisherigen Urteile durchzusetzen. Ausgerechnet Schramms Lehrer Hampe bezog 1932 in seiner Monographie „Hochmittelalter“ gegen die Auffassung seines Schülers Stellung. Hampe beurteilte mittelalterliche Herrscher weiterhin danach, ob sie für einen Erhalt oder einen Verfall der monarchischen Zentralgewalt verantwortlich gemacht werden konnten. Noch vor der Veröffentlichung seiner Darstellung begründete Hampe seine traditionelle Sichtweise ausführlich in der „Historischen Zeitschrift“. Für Hampe war Otto der „begabte, für alle großen Eindrücke überempfängliche, phantasievolle Knabe“, der die machtpolitischen Anforderungen verkannt habe. Nachdem in den 1920er Jahren die Kaiseridee im Zentrum von Schramms Forschungen gestanden hatte, wandte er sich gegen Ende der 1920er Jahre vor allem den Kaiserbildern zu. Im folgenden Jahrzehnt verschob sich sein Interesse vom Kaisertum auf die Ordines für die Königskrönung. Nach 1945 begann er mit der Erforschung der Herrschaftszeichen. Dabei rückte er von der Vorkriegsfragestellung nach dem „Geist“ der Völker ab und richtete sein Augenmerk – einem zeittypischen Interesse entsprechend – auf europäische Gemeinsamkeiten. Zu seinen Hauptwerken auf diesem Gebiet zählt Herrschaftszeichen und Staatssymbolik, das von 1954 bis 1956 in der Schriftenreihe der MGH erschien. 1958 veröffentlichte er zu den mittelalterlichen Herrschaftszeichen die Darstellung Sphaira, Globus, Reichsapfel. Sie bildete den vorläufigen Schlusspunkt seiner Forschungen zu diesem Themenkomplex. Mit der Erforschung der Herrschaftszeichen knüpfte Schramm an seinen Lehrer Warburg an. Er wollte die Symbolsprache der Herrschaftszeichen entschlüsseln und dadurch Auskünfte über das ihr zugrundeliegende Denken erhalten. Noch 1956 machte er in Herrschaftszeichen und Staatssymbolik deutlich, wie sehr seine Forschungen von den Anregungen Warburgs geprägt sind. Schramms ausdrückliche Betonung auf seine Prägung durch Warburg „diente ihm auch dazu, sich die Brüche seiner eigenen Biografie als Kontinuitäten zu erklären.“ Stärker als Warburg hob Schramm die Eigenständigkeit des Mittelalters in der kulturellen Entwicklung hervor. Für ihn war das Mittelalter keine Verlängerung früherer Epochen, sondern brachte eigene Symbole hervor. Hamburgische Geschichte Schramm gilt als Pionier hanseatischer Kultur- und Familiengeschichte. Seine bedeutenden Monographien zur hamburgischen Geschichte umfassen insgesamt über 3000 Seiten. Als wichtige Arbeiten gelten Hamburg, Deutschland und die Welt. Leistung und Grenzen hanseatischen Bürgertums in der Zeit zwischen Napoleon I. und Bismarck (1943) und seine zweibändige Familiengeschichte Neun Generationen. Dreihundert Jahre deutscher „Kulturgeschichte“ im Lichte der Schicksale einer Hamburger Bürgerfamilie (1648–1948) (1963/64). Die Geschichte seiner Familie war zugleich Geschichte Hamburgs, da seine Vorfahren seit mehreren Generationen zur Führungsschicht der Stadt zählten und deren Politik mitgestalteten. Bei seinen Forschungen zur hamburgischen Geschichte stützte sich Schramm auf ein materialreiches Familienarchiv. Diese persönliche Nähe zu den Quellen erschwerte ihm aber auch den für den Historiker notwendigen Abstand zu der Überlieferung. Schramm bereicherte das Verständnis der hamburgischen Geschichte des Zeitraums von 1650 bis 1950 um wichtige Erkenntnisse in den Feldern der Wirtschafts-, Sozial- und Kulturgeschichte. Noch vor dem Einzug der Frauenforschung in die Geschichtswissenschaft widmete er sich der Rolle der Frau in der bürgerlichen Gesellschaft. Seine Themen ordnete er in deutsche und überseeische Zusammenhänge ein, womit er auf überregionales Interesse stieß. Er verstand die Geschichte Hamburgs vor allem als Kaufmannsgeschichte. Während der akademischen Zwangspause im Jahr 1939 nahm Schramm seine stadtgeschichtlichen Projekte in Angriff. Im Jahr 1939 erarbeitete er erstmals mit Hilfe seines persönlichen Hamburg-Archivs den Beitrag Die Geschichte der Familie Oswald – O’Swald. Der Aufsatz wurde 1939 im Sammelband Zur Geschichte des deutschen Handels mit Ostafrika des Hamburger Wirtschaftshistorikers Ernst Hieke veröffentlicht. Schramm wollte zusammen mit Hieke die Verdienste der Hamburger um die frühe kommerzielle Erschließung Afrikas hervorheben. Die Kolonialfrage hatte zwischenzeitlich politische Bedeutung gewonnen, als Hitler 1937 die Rückgabe der ehemaligen deutschen Kolonien forderte. In dieser Zeit stieg die Zahl kolonialwissenschaftlicher Veröffentlichungen an. Der aktuelle Tagesbezug wurde auch deutlich in Schramms Göttinger Vortrag Der deutsche Anteil an der Kolonialgeschichte bis zur Gründung eigener Kolonien. Schramm sprach von dem „Raub der Kolonien“, den Deutschland erleiden musste. Bei der Schilderung der kolonialen Tätigkeit würdigte Schramm besonders die Kaufleute der Familien Godeffroys, Woermanns und O’Swalds. Diese hätten die Grundlage dafür geschaffen, dass seit Bismarcks Kolonialerwerb „Deutsche über See auf deutschem Boden leben konnten“. Das Manuskript von Hamburg, Deutschland und die Welt hatte Schramm 1943 abgeschlossen. Kurz nach dem Zweiten Weltkrieg erschien die von ihm zusammengestellte Quellensammlung Kaufleute zu Haus und über See. Hamburgische Zeugnisse des 17., 18. und 19. Jahrhunderts (1949). Im Jahr 1950 veröffentlichte er die kolonialgeschichtliche Arbeit Deutschland und Übersee. Die Darstellung endet mit der Errichtung eigener deutscher Kolonien in den 1880er Jahren. Schramms Ausführungen basierten vor allem auf Familiendokumenten, die nach Mexiko, Brasilien und besonders nach Afrika führten. Mit seiner Arbeit wollte er nicht nur den frühen Hamburger Kolonialhandel präsentieren, sondern ein Bild von den überseeischen Aktivitäten Deutschlands insgesamt geben. Seine Darstellung gab ganz die Haltung seiner Vorfahren zu Kolonialfragen und Afrika wieder. Die deutschen Kolonialherren beschrieb er als „ehrbare Kaufleute“, die nicht durch Sklavenhandel erfolgreich gewesen seien. Damit bezog er zugleich Position zur Kritik der Siegermächte von 1918, die den Deutschen die Qualifikation zum Besitz von Kolonien absprachen. Die Deutschen hätten genauso Anspruch auf Land in Afrika wie Engländer, Franzosen oder Spanier. Afrika galt für ihn als Inbegriff der „Barbarei“. „Nirgendwo sonst gab es einen gleich teuflischen Bund zwischen Sadismus, Bestialität, Orgiasmus und magischem Irrglauben.“ Die Europäer betrachtete er als Fortschrittsbringer. Die Eingeborenen würden durch Plantagenbau eine „Verwandlung“ durchlaufen. Dabei würdigte Schramm den positiven Einfluss der Hamburger Firma Godeffroy auf die Afrikaner. Die Aussagen eines Engländers aus dem Jahr 1874 über die Afrikaner bestätigten Schramms persönliches Urteil: „Sie kommen schmutzig, falsch und wild an: nach sechs Monaten Pflanzarbeit gleichen sie nicht mehr denselben Wesen, und bis Ablauf ihrer Kontrakte sind sie so weit vorgeschritten, daß sie ebenso ungeeignet sind zur Gemeinschaft mit den brutalen Brüdern in ihrer Heimat, wie sie ehemals für die Berührung der zivilisierten Welt waren.“ Schramm sah seine Ausführungen über die deutschen Kolonialaktivitäten nicht durch die NS-Ideologie belastet und hielt an seinen Urteilen und Wertungen nach 1945 fest. Eine kritische Auseinandersetzung in der Geschichtswissenschaft zu Schramms Buch Deutschland und Übersee ist kaum zu vernehmen. Die koloniale Bewertung Afrikas wurde erst in den späten sechziger Jahren langsam hinterfragt. In seinem Werk Hamburg, Deutschland und die Welt stehen im Blickpunkt Justus Ruperti, der Kaufmann und Präses der Commerzdeputation, und dessen Schwager Ernst Merck, Chef eines Bank- und Handelshauses sowie einer von drei Abgeordneten Hamburgs in der Frankfurter Nationalversammlung. Beide sind Vorfahren mütterlicherseits von Schramm. Mit dem Buch Hamburg, Deutschland und die Welt wollte er dem „in diesem Krieg zwischen den Mühlsteinen der Weltgeschichte zermahlenen Bürgertum“ ein Denkmal setzen und zugleich Rechenschaft über seine Herkunft ablegen. Sein 1963/64 veröffentlichtes Werk Neun Generationen. Dreihundert Jahre deutscher „Kulturgeschichte“ im Lichte der Schicksale einer Hamburger Bürgerfamilie (1648–1948) behandelt die Geschichte Hamburgs exemplarisch anhand des Lebens und Schicksals von vier Angehörigen seiner Familie: der Rechtsanwälte Eduard und Max Schramm und der Kaufleute Adolph und Ernst Schramm. Die Stadt gewann durch Schramms Arbeiten an Identität und Geschichtsbewusstsein. Er engagierte sich im Hansischen Geschichtsverein. Ab 1927 gehörte er diesem Verein an, 1950 wurde er Mitglied des Vorstands und 1967 Ehrenmitglied des Vereins. Für seine Verdienste um die hamburgische Geschichte wurde ihm 1964 zum 125. Jubiläum des Vereins für Hamburgische Geschichte die Lappenberg-Medaille in Gold verliehen. In seinem dazu gehaltenen Vortrag stellte Schramm die These von Hamburg als Sonderfall in der Geschichte auf. Schramm sah in der Geschichte Hamburgs „vom 16. Jahrhundert bis 1914 keine rückläufige Phase, nicht einmal eine solche des Stillstands“. Der Senat der Freien und Hansestadt Hamburg verlieh ihm 1964 die Medaille für Kunst und Wissenschaft der Freien und Hansestadt Hamburg. Zweiter Weltkrieg Schramms Edition des Kriegstagebuches ist bis heute eine wesentliche Quelle für die Darstellung des Zweiten Weltkrieges. Neben dieser Edition hatte er sich bereits seit Ende der vierziger Jahre mit der Geschichte des Zweiten Weltkriegs beschäftigt. Er veröffentlichte Arbeiten zu zahlreichen Aspekten der Kriegsgeschichte: Geschichte des Zweiten Weltkrieges (1951); Die Treibstofffrage 1943–1944 (1954); Die Invasion 1944 (1959); Hitler als militärischer Diktator (1961); Hitler als militärischer Führer (1962). Der Schwerpunkt lag dabei auf der militärischen Ereignisgeschichte. Erstmals hielt er im Wintersemester 1952/53 eine Vorlesung über Die Geschichte des Weltkriegs. Sie stieß mit 900 bis 1000 Hörern auf große öffentliche Resonanz und wurde in Abständen von zwei Jahren wiederholt. Seine Kriegsgeschichte folgte der Betrachtungsweise eines Wehrmachtoffiziers. Die Verbrechen der Wehrmacht blieben ausgespart. Schramms politisch-publizistisches Wirken war dabei von dem Bestreben bestimmt, dass sich ein Ereignis wie der Zweite Weltkrieg nicht noch einmal ereignen dürfe und dass einer möglichen Dolchstoßlegende vorgebeugt werden solle. Reflexionen über die Rolle der Historiker oder gar über ein eigenes Fehlverhalten blieben nach 1945 aber aus. Nach dem Krieg befleißigte er sich der Dämonisierung und Pathologisierung des Nationalsozialismus, insbesondere als „Hitlerismus“. Als „historisches Problem“ sah er nicht den Tod von Millionen von Juden an, sondern die „Verführung von Millionen“ Menschen durch Hitler. Schramm forderte wiederholt dazu auf, „die Rattenfängerrolle Hitlers“ zu durchschauen und eine „Katastrophe wie die des Zweiten Weltkrieges zu verhindern“. Seine These von Hitlers „Doppelgesichtigkeit und Hintergründigkeit“ konnte zur Rechtfertigung des Verhaltens auch der „Getreuesten“ dienen; sie wurde in einer Studie von Nicolas Berg (2003) als „apologetische Konstruktion“ analysiert. Seine Ausführungen zum Charakterbild Hitlers wurden im Frühjahr 1964 in einer großen „Spiegel“-Serie „Anatomie eines Diktators“ veröffentlicht und fanden vielfach Zustimmung. Eine solche Perspektive bei der Auseinandersetzung mit der nationalsozialistischen Vergangenheit war in den Nachkriegsjahrzehnten durchaus nicht ungewöhnlich. Auf Kritik stießen aber schon damals Leserbriefe Schramms, in denen er Hitler isoliert als Volksverführer darstellte. Die Rolle der Bevölkerung und vor allem den Anteil der deutschen Elite am NS-Regime überging er. Nach seinem Biographen Thimme ist Schramms Publikation „vielleicht Ausdruck einer Wende in der Geschichte des deutschen Umgangs mit der nationalsozialistischen Vergangenheit“. In seinen letzten Lebensjahren beschäftigte sich Schramm weniger mit dem Zweiten Weltkrieg. Wirkung Wissenschaftliche Nachwirkung Schramms Arbeiten übten schon früh Einfluss auf jüngere Historiker wie Wilhelm Berges und Hans-Walter Klewitz aus. Schramms Schüler Reinhard Elze veröffentlichte 1960 eine Edition der Ordines der Kaiserkrönung und brachte damit auch ein Projekt seines Lehrers zum Abschluss. Helmut Beumann gab 1975 einen Überblick über die deutsche Mediävistik. Neben den verfassungsgeschichtlichen Forschungen sah er die größte Leistung der Nachkriegsmediävistik in der „politischen Ideengeschichte“, also der Untersuchung der geistigen Hintergründe politischen Handelns. Dabei waren Schramms Arbeiten über den Zeugniswert von Herrschaftszeichen impulsgebend und grundlegend. Die seit den 1980er Jahren verstärkt betriebene Forschung auf dem Gebiet interkultureller Transferprozesse würdigte Schramm als Ideengeber. Die Mediävistik erinnerte sich an Schramm als einen Vertreter „des fragegeleiteten, detailversessenen Forschens“. Schramms Buch Kaiser, Rom und Renovatio entfaltete eine enorme Wirkung. Im Jahre 1957 erschien eine zweite Auflage, ein um Nachträge erweiterter fotomechanischer Nachdruck der Ausgabe von 1929. Die fünfte und bislang letzte Auflage wurde 1992 veröffentlicht. In seinen Grundthesen blieb das Buch jahrzehntelang unwidersprochen. Erst seit den 1990er Jahren wurde Schramms Deutung der Selbstdarstellung Ottos III. zunehmend kritisiert. Knut Görich (1993) wertete die Renovatio-Devise nicht als Herrschaftsprogramm, sondern als kurzfristige Reaktion auf aktuelle politische Veränderungen in Rom. Gerd Althoff (1996) übte grundsätzliche Kritik an einer Forschung, die von politischen Ereignissen auf Konzepte schließt; dies sei voreilig, da mit der Schriftlichkeit und den umsetzenden Institutionen wichtige Voraussetzungen fehlten. Auch Schramms Verständnis der hamburgischen Geschichte ist nicht mehr unumstritten. Seine Ausführungen über die frühneuzeitliche Sozialstruktur der Stadt werden als zu harmonisierend eingestuft. Schramms Bild einer offenen Bürgergesellschaft ohne soziale Barrieren, in der „vom Bürgermeister bis zum letzten Mann im Hafen“ alle Hamburger nur eines Standes seien, wird als korrekturbedürftig angesehen. Neuere Untersuchungen konnten außerdem zeigen, dass Schramms Bild von Hamburg als einer Stadt, die vom 16. Jahrhundert bis zum Jahr 1914 einen ungebremsten stadtgeschichtlichen Aufstieg erlebt hat, für das 18. Jahrhundert und vor allem für die „Franzosenzeit“ einige Ergänzungen und auch Einschränkungen erhalten muss. Wissenschaftsgeschichtliche Forschung Heutzutage gelten Schramms Ausführungen selbst als eine wissenschaftsgeschichtliche Quelle, da sie die Sichtweise eines modernen Historikers zeigen, dessen Herkunft sich bis in die Kolonialzeit zurückführen lässt. Im Jahr 1987 wurde erstmals die Geschichte der Universität Göttingen im Nationalsozialismus systematisch untersucht. Robert P. Ericksen befand, Schramms historische Interessen seien „kongenial mit rechter, und daher auch mittelbar mit nationalsozialistischer Politik“. Ericksen warf die Frage auf, ob es Brandi und Schramm wirklich um unvoreingenommene Forschung ging oder ob sie in erster Linie an politisch verwertbaren Ergebnissen interessiert waren. Nach Ericksen, der sich auf Aussagen verschiedener Zeitzeugen beruft, spazierte Schramm „gern in seiner Uniform der Reiter-SA mit Reitpeitsche und Stiefeln durch Göttingen“. Über Schramms Verhalten urteilt Ericksen, er habe „dem nationalsozialistischen Staat im Frieden und im Krieg, deutlich ohne Zögern“ gedient. Zu diesen Ausführungen nahm Schramms Schüler Joist Grolle zwei Jahre später Stellung. Grolle hielt am 9. April 1989 den Festvortrag anlässlich der Feier der 150. Wiederkehr des Gründungstages des Vereins für Hamburgische Geschichte. Der Vortrag behandelte die Gegenwartsgebundenheit des Historikers und dessen begrenzte Wahrnehmung der eigenen Zeit. Ausführlich befasste sich Grolle mit Schramms Verhalten in der NS-Zeit und resümierte: „Wer näher hinsieht, stößt auf einen Mann, der in die Klischees nachträglicher Schwarzweißmalerei nicht paßt.“ Grolle wertete einige Formulierungen in Hamburg, Deutschland und die Welt (1943) über die Judenemanzipation in Hamburg als „Konzessionen an Zeitgeist und Zeitumstände“. Das dort gezeichnete Bild der Hamburger Juden fand Grolle aber „ganz überwiegend freundlich“. Er hielt das Buch sogar für „ein erstaunliches Dokument verdeckter Regimekritik“. Anders urteilte Ursula Wolf (1996). Sie erblickte in Hamburg, Deutschland und die Welt eine „Substruktur“, die eine „zumindest punktuelle und zeitweise Zustimmung“ Schramms zur NS-Ideologie ausdrücke. Wolf warf Schramm eine „mangelnde Resistenz gegenüber nationalsozialistischem Ideengut“ vor. In seiner umstrittenen Darstellung der Mediävistik des 20. Jahrhunderts ging der amerikanische Mediävist Norman Cantor 1991 hingegen so weit, Schramm mit dem verurteilten Kriegsverbrecher Albert Speer gleichzusetzen. Grolle veröffentlichte weitere Studien über Schramms hamburggeschichtliche Arbeiten und verfolgte das Zerbrechen der Freundschaft mit Saxl. Schramms Bedeutung für die hamburgische Geschichtsforschung würdigte Grolle mit den Worten: „Kein neuerer Autor hat das geschichtliche Bild der Hansestadt so nachhaltig geprägt […]“ Im Jahr 2006 legte David Thimme die bis heute umfassendste Arbeit über Schramm vor. Dabei untersuchte Thimme die Zusammenhänge zwischen der sich entwickelnden mediävistischen Arbeit Schramms und der Lebensgeschichte des Gelehrten. Wolfgang Hasberg (2011) fragte nach dem Beitrag der Mittelalterforschung von 1918 bis 1933 zur Kulturgeschichte und beschäftigte sich dabei ausführlich mit Schramm. Schriften (Auswahl) Ein Verzeichnis der Schriften Schramms bis 1962, bearbeitet von Annelis Ritter, erschien in: Peter Classen, Peter Scheibert (Hrsg.): Festschrift Percy Ernst Schramm zu seinem siebzigsten Geburtstag von Schülern und Freunden zugeeignet. Band 2. Steiner, Wiesbaden 1964, S. 281–316 (korrigiert und ergänzt in: David Thimme: Percy Ernst Schramm und das Mittelalter. Wandlungen eines Geschichtsbildes (= Schriftenreihe der Historischen Kommission bei der Bayerischen Akademie der Wissenschaften. Band 75). Vandenhoeck & Ruprecht, Göttingen 2006, ISBN 3-525-36068-1, S. 629–637). Monographien Kaiser, Rom und Renovatio. Studien und Texte zur Geschichte des römischen Erneuerungsgedankens vom Ende des Karolingischen Reiches bis zum Investiturstreit (= Studien der Bibliothek Warburg. Band 17, 1–2, ). 2 Bände (Band 1: Studien. Band 2: Exkurse und Texte.). Teubner, Leipzig u. a. 1928 (2. Auflage, Sonderausgabe, fotomechanischer Nachdruck der Ausgabe von 1929. Gentner, Darmstadt 1957; auch: Nachdruck der Ausgabe von Leipzig 1929. Wissenschaftliche Buchgesellschaft, Darmstadt 1992, ISBN 3-534-00442-6). Herrschaftszeichen und Staatssymbolik. Beiträge zu ihrer Geschichte vom dritten bis zum sechzehnten Jahrhundert (= Schriften der Monumenta Germaniae Historica. Band 13, 1–3, ). Mit Beiträgen anderer Verfasser. 3 Bände. Hiersemann, Stuttgart 1954–1956. dazu: Herrschaftszeichen und Staatssymbolik. Nachträge aus dem Nachlass (= Schriften der Monumenta Germaniae Historica. Band 13, Nachtragsband). Monumenta Germaniae Historica, München 1978, ISBN 3-921575-89-3. Sphaira, Globus, Reichsapfel. Wanderung und Wandlung eines Herrschaftszeichens von Caesar bis zu Elisabeth II. Ein Beitrag zum „Nachleben“ der Antike. Hiersemann, Stuttgart 1958. Neun Generationen. Dreihundert Jahre deutscher „Kulturgeschichte“ im Lichte der Schicksale einer Hamburger Bürgerfamilie (1648–1948). 2 Bände. Vandenhoeck & Ruprecht, Göttingen 1963–1964. Deutschland und Übersee. Der deutsche Handel mit den anderen Kontinenten, insbesondere Afrika, von Karl V. bis zu Bismarck. Ein Beitrag zur Geschichte der Rivalität im Wirtschaftsleben. Westermann, Braunschweig u. a. 1950. Denkmale der deutschen Könige und Kaiser (= Veröffentlichungen des Zentralinstituts für Kunstgeschichte in München. Band 2 und 7): Band 1: Percy Ernst Schramm, Florentine Mütherich: Ein Beitrag zur Herrschergeschichte von Karl dem Großen bis Friedrich II. 768–1250. Prestel, München 1962; 2., ergänzte Auflage 1981, ISBN 3-7913-0124-1. Band 2: Percy Ernst Schramm, Hermann Fillitz: Ein Beitrag zur Herrschergeschichte von Rudolf I. bis Maximilian I. 1273–1519. Prestel, München 1978, ISBN 3-7913-0436-4. Gewinn und Verlust. Die Geschichte der Hamburger Senatorenfamilien Jencquel und Luis (16. bis 19. Jahrhundert). Zwei Beispiele für den wirtschaftlichen und sozialen Wandel in Norddeutschland (= Veröffentlichung des Vereins für Hamburgische Geschichte. Band 24, ). Christians, Hamburg 1969. Herausgeberschaften Henry Picker: Hitlers Tischgespräche im Führerhauptquartier 1941–1942. Im Auftrag des Verlags neu herausgegeben von Percy Ernst Schramm, in Zusammenarbeit mit Andreas Hillgruber und Martin Vogt. Seewald, Stuttgart 1963. Kriegstagebuch des Oberkommandos der Wehrmacht (Wehrmachtführungsstab). 1940–1945. 4 (in 8) Bände. Geführt von Helmuth Greiner und Percy Ernst Schramm. Im Auftrag des Arbeitskreises für Wehrforschung. Bernard & Graefe, Frankfurt am Main 1961–1969. Literatur Nekrologe Ahasver von Brandt: Percy Ernst Schramm †. [Nachruf]. In: Hansische Geschichtsblätter. Bd. 89 (1971), S. 1–14. Reinhard Elze: Nekrolog. Percy Ernst Schramm. In: Deutsches Archiv für Erforschung des Mittelalters. Bd. 27 (1971), S. 655–657. Digitalisat. Heinrich Fichtenau: Percy Ernst Schramm. In: Almanach der Österreichischen Akademie der Wissenschaften. Bd. 121 (1971), S. 368–372. Hermann Heimpel: Königtum, Wandel der Welt, Bürgertum. Nachruf auf Percy Ernst Schramm. In: Historische Zeitschrift. Bd. 214 (1972), S. 96–108. Hans Patze: Percy Ernst Schramm zum Gedächtnis. In: Blätter für deutsche Landesgeschichte. Bd. 107 (1971), S. 210–211 (Digitalisat). Reinhard Wenskus: Nachruf auf Percy Ernst Schramm 14. Oktober 1894 – 12. November 1970. In: Jahrbuch der Akademie der Wissenschaften Göttingen. 1971 (1972), , S. 51–54. Darstellungen János Bak: Percy Ernst Schramm (1894–1970). In: Helen Damico, Joseph B. Zavadil (Hrsg.): Medieval Scholarship. Biographical Studies on the Formation of a Discipline. Band 1: History (= Garland Reference Library of the Humanities. Bd. 1350). Garland Publishing, New York NY u. a. 1995, ISBN 0-8240-6894-7, S. 247–262. Peter Classen, Peter Scheibert (Hrsg.): Festschrift Percy Ernst Schramm zu seinem siebzigsten Geburtstag von Schülern und Freunden zugeeignet. 2 Bände. Steiner, Wiesbaden 1964. Joist Grolle: Percy Ernst Schramm – ein Sonderfall in der Geschichtsschreibung Hamburgs. In: Zeitschrift des Vereins für Hamburgische Geschichte. Bd. 81, 1995, S. 23–60. (online) Joist Grolle: Der Hamburger Percy Ernst Schramm. Ein Historiker auf der Suche nach der Wirklichkeit (= Vorträge und Aufsätze. Bd. 28). Verein für Hamburgische Geschichte, Hamburg 1989, ISBN 3-923356-32-3 (Auszüge sind in der Zeitung Die Zeit erschienen). Eckart Henning: „Das Unsichtbare sinnfällig machen“. Zur Erinnerung an Percy Ernst Schramms „Herrschaftszeichen“. In: Herold-Jahrbuch. NF Bd. 12, 2007, , S. 51–60. Manfred Messerschmidt: Karl Dietrich Erdmann, Walter Bußmann und Percy Ernst Schramm: Historiker an der Front und in den Oberkommandos der Wehrmacht und des Heeres. In: Hartmut Lehmann, Otto Gerhard Oexle: Nationalsozialismus in den Kulturwissenschaften. Band 1: Fächer – Milieus – Karrieren (= Veröffentlichungen des Max-Planck-Instituts für Geschichte. Bd. 200). Vandenhoeck & Ruprecht, Göttingen 2004, ISBN 3-525-35198-4, S. 417–446. Frank Rexroth: Geschichte schreiben im Zeitalter der Extreme. Die Göttinger Historiker Percy Ernst Schramm, Hermann Heimpel und Alfred Heuß. In: Christian Starck, Kurt Schönhammer (Hrsg.): Die Geschichte der Akademie der Wissenschaften zu Göttingen (= Abhandlungen der Akademie der Wissenschaften zu Göttingen. NF Bd. 28). Band 1. De Gruyter, Berlin u. a. 2013, ISBN 978-3-11-030467-1, S. 265–299 (online). David Thimme: Die Erinnerungen des Historikers Percy Ernst Schramm. Beschreibung eines gescheiterten Versuchs. In: Zeitschrift des Vereins für Hamburgische Geschichte. Bd. 89, 2003, S. 227–262 (online). David Thimme: Percy Ernst Schramm und das Mittelalter. Wandlungen eines Geschichtsbildes (= Schriftenreihe der Historischen Kommission bei der Bayerischen Akademie der Wissenschaften. Bd. 75). Vandenhoeck & Ruprecht, Göttingen 2006, ISBN 3-525-36068-1 (Zugleich: Gießen, Universität, Dissertation, 2003/2004). (Digitalisat) Rezensionen zu Thimme: Patrick Bahners: Auch ich bin ein Buchmaler. Die Legende vom Historiker: Percy Ernst Schramm und die Bibliothek Warburg. In: Frankfurter Allgemeine Zeitung. Nr. 230, 4. Oktober 2006, S. L40 (online); Christoph Auffarth in: Jahrbuch der Gesellschaft für niedersächsische Kirchengeschichte. Bd. 106, 2008, , S. 255–257; Wolfgang Hasberg in: Das historisch-politische Buch. Bd. 55, 2007, S. 561–563; Hans-Christof Kraus in: Archiv für Kulturgeschichte 90 (2008), S. 497–500; Rudolf Schieffer in: Deutsches Archiv für Erforschung des Mittelalters. Bd. 63, 2007, S. 639–640 (online); Bernd Schneidmüller in: Archiv für Sozialgeschichte. Bd. 50, 2010, (online); Jörg Wollenberg in: Sozial.Geschichte. Zeitschrift für historische Analyse des 20. und 21. Jahrhunderts. Bd. 22, 2007, , S. 171–174; Eckart Henning in: Herold-Jahrbuch. NF Bd. 12, 2007, S. 257–259; Ludger Körntgen in: H-Soz-u-Kult, 4. März 2008, (online); Joist Grolle in: Zeitschrift des Vereins für Hamburgische Geschichte. Bd. 93, 2007, S. 311–313 (online). Weblinks Veröffentlichungen von und über Percy Ernst Schramm im Opac der Regesta Imperii Leben, Schriften, Literatur über P.E. Schramm Mitarbeiter bei den Monumenta Germaniae Historica (MGH) München Nürnberger Prozess gegen die Hauptkriegsverbrecher, Personen-Index: Schramm Nachlass Bundesarchiv N 980 Anmerkungen Neuzeithistoriker Mittelalterhistoriker Hochschullehrer (Georg-August-Universität Göttingen) NSDAP-Mitglied SA-Mitglied DVP-Mitglied Leutnant (Preußen) Person im Ersten Weltkrieg (Deutsches Reich) Träger des Eisernen Kreuzes I. Klasse Major (Heer der Wehrmacht) Deutscher Kriegsgefangener der Vereinigten Staaten Zeuge in den Nürnberger Prozessen Träger des Pour le Mérite (Friedensklasse) Mitglied der Bayerischen Akademie der Wissenschaften Mitglied der Niedersächsischen Akademie der Wissenschaften zu Göttingen Mitglied der Österreichischen Akademie der Wissenschaften Mitglied der Königlich Schwedischen Akademie der Wissenschaften Träger des österreichischen Ehrenzeichens für Wissenschaft und Kunst Träger des Großen Bundesverdienstkreuzes mit Stern Person (Hamburg) Deutscher Geboren 1894 Gestorben 1970 Mann
1020535
https://de.wikipedia.org/wiki/Vernon%20A.%20Walters
Vernon A. Walters
Vernon Anthony Walters (* 3. Januar 1917 in New York; † 10. Februar 2002 in West Palm Beach, Florida) war ein US-amerikanischer Soldat, Nachrichtendienstler und Diplomat. Er diente über fünf Jahrzehnte lang acht verschiedenen US-Präsidenten als antikommunistischer Kämpfer im Kalten Krieg, zunächst in ausführender Rolle, später als Planer von offenen und verdeckten Aktionen und Verhandlungen in aller Welt. In die öffentliche Wahrnehmung geriet Walters erst im letzten Drittel seiner Karriere, vor allem 1972–1976 als stellvertretender Direktor der Central Intelligence Agency (CIA), 1985–1989 als Botschafter bei den Vereinten Nationen und 1989–1991 als Botschafter in der Bundesrepublik Deutschland während der Deutschen Wiedervereinigung. Leben Herkunft und Privates Walters wurde in New York als Sohn britischer Einwanderer geboren und lebte während seiner Kindheit und Jugend mit seinen Eltern ab 1923 in Frankreich und ab 1928 in Großbritannien. Fünf Jahre lang besuchte er das Stonyhurst College, ein Jesuiten-Internat in Lancashire, England. Er sprach schon als Kind sechs westeuropäische Sprachen fließend und erwarb später zudem hervorragende Russisch- und grundlegende Chinesisch-Kenntnisse. Mit 16 Jahren kehrte er ohne formalen Schulabschluss in die USA zurück und arbeitete im Versicherungsbüro seines Vaters, insbesondere als Schadensermittler. Der gläubige Katholik ging nach Möglichkeit auch auf Reisen täglich zur Messe. Walters war nie verheiratet und es gibt auch keine Hinweise darauf, dass er jemals eine sexuelle Beziehung zu einer Frau oder einem Mann gehabt hätte. In seinen Erinnerungen gab er für das Jahr 1942 an, keine sexuelle Beziehung unterhalten zu haben. Walters beschreibt auch, wie in den 1960er Jahren französische Nachrichtendienste mehrfach versucht hätten, ihn sowohl mit Frauen als auch Männern zu verführen, bis sie schließlich akzeptierten, dass Walters darauf nicht ansprach. Der Pfarrer einer Kirche, die er im Ruhestand regelmäßig besuchte, beschrieb ihn als „keuschen Junggesellen“. Aus seinem Privatleben ist nur seine besondere Vorliebe für Schokolade bekannt, die er selbst in den knappen Zeiten beim Militär ständig gegen Zigaretten eintauschen wollte. Soldat im Zweiten Weltkrieg 1941 wurde Walters in die US-Armee eingezogen. Durch seine Sprachkenntnisse aufgefallen, wurde er im ersten Jahr zu einem Offizierslehrgang berufen. Zunächst als Militärpolizist ausgebildet, wechselte er früh zum militärischen Nachrichtendienst der US-Army. Dort wurde er in ständig wechselnden Verbindungsstäben, Einheiten, Ausbildungsstellen und als Dolmetscher eingesetzt. Eine seiner ersten Tätigkeiten war die Jagd auf vermeintliche deutsche Spione in Folge des Unternehmens Pastorius. Nach Eintritt der USA in den Zweiten Weltkrieg am 11. Dezember 1941 nahm er 1942 bei Oran an der Operation Torch, der Invasion Französisch-Nordafrikas teil. Die dortigen französischen Kolonien standen unter Kontrolle des Vichy-Regimes, das mit dem Deutschen Reich kollaborierte. Aufgrund mutiger Einsätze und inoffizieller Verhandlungen mit den Franzosen wurde er mehrfach rasch befördert. Er war an den Verhandlungen mit dem formal neutralen Portugal über die Nutzung der Azoren als Stützpunkt für die US-Luftstreitkräfte zum Schutz der Konvois über den Atlantik beteiligt und hatte Anteil daran, dass Brasilien mit einem Expeditionscorps in den Krieg eintrat. Im Stab der 5. US-Armee unter Generalleutnant Mark W. Clark war er den über 25.000 Brasilianern des Força Expedicionária Brasileira als Verbindungsoffizier zugeteilt und verbrachte das Jahr 1944 an der italienischen Front, wo er bei einer Explosion verwundet wurde. Im Juni 1944 war er persönlicher Adjutant von General Clark beim Einmarsch in Rom. Kurzzeitig diente er als Dolmetscher für US-Präsident Harry S. Truman. Auf diesen Positionen knüpfte Walters zu Offizieren verschiedener alliierter Armeen, die in der Nachkriegszeit hochrangige Positionen in Militär oder Politik ihrer Länder erreichten, persönliche Beziehungen. Brasilien, Marshallplan und Weißes Haus Am Ende des Zweiten Weltkriegs standen die brasilianischen Armeeeinheiten mit Walters bei Genua. Er wurde noch im Jahr 1945 als stellvertretender Militärattaché an die US-Botschaft in Rio de Janeiro versetzt. 1948 wurde er Mitglied des persönlichen Stabes von Averell Harriman, der in Paris das Hauptquartier zur Durchführung des Marshallplans aufbaute. Mit Harriman reiste Walters mehrfach in alle beteiligten Staaten, darunter auch Griechenland. Dort war der Zweite Weltkrieg beinahe nahtlos in den Griechischen Bürgerkrieg zwischen der offiziellen, von den Westalliierten gestützten Regierung und den linksgerichteten, von den Kommunisten dominierten Partisanen übergegangen. Letztere sahen sich um die Beteiligung an der Macht entsprechend ihrem Anteil am Kampf gegen die Deutschen und ihrem Rückhalt in der Bevölkerung gebracht. Als Harriman 1949 zum Berater und internationalen Troubleshooter (Krisenmanager) von Präsident Truman berufen wurde, blieb Walters in seinem Stab und arbeitete als Berater und Dolmetscher im Weißen Haus. Als ein Grund für seinen weiteren Aufstieg gilt seine Verbindung mit Fritz G. A. Kraemer, der ihn protegiert habe. 1950 reiste Walters mit Truman und Harriman zu einem Treffen mit US-General Douglas MacArthur, um Meinungsverschiedenheiten über die Strategie im Koreakrieg beizulegen. Kurzzeitig wurde Walters in Korea zum ständigen Verbindungsmann zwischen MacArthur und dem Weißen Haus eingesetzt. Seine Aufgabe war es, den wenig kooperativen Oberbefehlshaber, der insbesondere gegen den erklärten Willen der politischen Führung den massiven Einsatz von Napalm und Atomwaffen forderte, enger an Washington zu binden. NATO, Iran und wieder im Weißen Haus 1951 warb General Dwight D. Eisenhower Walters in seinen Dolmetscher- und Beraterstab beim Aufbau des neuen NATO-Hauptquartiers SHAPE in Paris ab. Unmittelbar nachdem Walters diesen Posten angetreten hatte, lieh Harriman sich seinen ehemaligen Mitarbeiter noch einmal für eine schwierige Mission aus. In Kooperation mit den Briten verhandelte Harriman mit dem iranischen Premierminister Mohammad Mossadegh über eine Entschädigung für die Enteignung und Verstaatlichung der Anglo-Iranian Oil Company. Nachdem diese Verhandlungen erfolglos blieben, überzeugten die USA 1953 Schah Mohammad Reza Pahlavi, von seinem verfassungsmäßigen Recht Gebrauch zu machen und seinen Premierminister abzusetzen. Die CIA unterstützte die Absetzung Mossadeghs mit der Operation Ajax. Zurück im NATO-Hauptquartier in Paris diente Walters in der Protokollabteilung als Assistent Eisenhowers und nach dessen Wahl zum US-Präsidenten im November 1953 formal in der Abteilung für Logistik und Beschaffung, einer Position, die seiner Qualifikation nicht entsprach. Jedoch nahm er in dieser Zeit nach eigenen Aussagen an nachrichtendienstlichen Schulungen teil. Ab 1955 arbeitete Walters wieder in Washington bei der ständigen NATO-Gruppe. Zugleich war er Dolmetscher für Präsident Eisenhower und Vizepräsident Richard Nixon. Für Eisenhower übersetzte er bei Staatsbesuchen und internationalen Konferenzen, so bei den Vier-Mächte-Konferenzen 1955 in Genf und 1960 in Paris, welche vom „U-2-Zwischenfall“ um den Abschuss von Gary Powers überschattet wurde. Nixon begleitete er 1958 auf einem umstrittenen Staatsbesuch quer durch Südamerika. In Caracas, Venezuela kam es dabei zu gewaltsamen Ausschreitungen. In seinen Memoiren lobte Walters Nixons persönlichen Mut und die Entschlossenheit, die dieser damals gezeigt habe. Militärattaché In den 1960er Jahren machte Walters Karriere als Militärattaché an verschiedenen US-Botschaften in Europa und Südamerika. Rom Ab 1960 hielt Walters in Italien den Kontakt zum italienischen Heer. Dieses wurde nach dem Zweiten Weltkrieg mit massiver Hilfe der USA und der NATO ausgebaut und hatte hohen Koordinierungsbedarf. Walters traf in Rom auch wieder auf den Leiter des italienischen Nachrichtendienstes SIFAR, General Giovanni De Lorenzo, mit dem ihn eine persönliche Freundschaft aus dem Zweiten Weltkrieg verband. De Lorenzo arbeitete zu dieser Zeit unter dem Codenamen „Piano Solo“ den Plan für einen Staatsstreich für den Fall einer Regierungsbeteiligung der italienischen Eurokommunisten aus. Über eine eventuelle Beteiligung Walters an den Plänen gibt es unterschiedliche Angaben. Zeugen sagten aus, dass Walters bei einem Treffen in der US-Botschaft den Einsatz amerikanischer Truppen zur Unterstützung des Staatsstreiches vorschlug. Es gab auch direkte Hinweise auf eine Beteiligung der NATO/CIA-Geheimorganisation Gladio und der katholischen, rechtsextremistischen und mit der Mafia verflochtenen Untergrundbewegung rund um die Geheimloge Propaganda Due. Untersuchungsakten aus dem Jahr 1967, die 1991 freigegeben wurden, bestätigen die Planungen und erwähnen frühzeitige Informationen an US-Diplomaten, widersprechen aber der These, dass amerikanische Behörden und Walters an den Vorbereitungen oder überhaupt inhaltlich beteiligt gewesen wären. Brasilia Ende 1962 wurde Walters wieder nach Brasilien versetzt und nahm die Position des Militärattachés an der US-Botschaft in Brasília ein. Präsident John F. Kennedy hatte ihn auf Vorschlag von Botschafter Lincoln Gordon und dem außenpolitischen Berater im Weißen Haus, Richard Goodwin, persönlich für den Posten nominiert. Offiziell gab ihm Botschafter Gordon am ersten Tag den Auftrag: Von Ihnen erwarte ich drei Dinge: Erstens will ich wissen, was in den Streitkräften vor sich geht; zweitens will ich durch Sie einen gewissen Einfluss auf sie ausüben; und drittens – das ist das Wichtigste – verschonen Sie mich mit Überraschungen! Dann gab er Walters Hintergrundinformationen über die sich gerade entwickelnde Kubakrise. Walters stand zu diesem Zeitpunkt bereits unter der Beobachtung der östlichen Nachrichtendienste. Eine kommunistische Zeitung in Brasilien hieß ihn als „Chefspezialist des Pentagon für Militärputsche“ willkommen und brachte ihn mit dem Putsch gegen König Faruq von Ägypten 1952, Präsident Arturo Frondizi in Argentinien und Präsident Manuel Prado y Ugarteche in Peru 1962 in Verbindung. Sein Auftrag sei, „Präsident João Goulart zu stürzen und durch eine Marionetten-Regierung der USA zu ersetzen“ Walters wies die Vorwürfe zurück und verwies darauf, dass das brasilianische Volk zu stolz sei, um die Einmischung eines Ausländers zu akzeptieren. Walters Kontakte zu den brasilianischen Militärs waren exzellent. Allein 13 Offiziere, die er aus seiner Zeit in Italien persönlich kannte, waren mittlerweile zu Generälen aufgestiegen. Enge persönliche Freunde waren der Armeestabschef General Humberto Castelo Branco und der Leiter des Militärgeheimdienstes General Golbery do Couto e Silva. Die innenpolitische Lage in Brasilien verschlechterte sich in den nächsten Jahren deutlich. Gesellschaftliche Spannungen entstanden aus dem sozialen Ungleichgewicht zwischen Kleinbauern und Landlosen gegenüber Latifundistas (Großgrundbesitzern). Die USA und Walters sahen überall kommunistische Einflüsse am Werk, die ihre Interessen insbesondere an den Rohstoffen des Landes gefährdeten. Nach dem Tod Kennedys wurde die CIA durch seinen Nachfolger Lyndon B. Johnson ermächtigt, eine antikommunistische Bewegung in der Landbevölkerung zu fördern. Eine Landreform zu Lasten der Großgrundbesitzer und die Versetzung einiger ultrakonservativer Offiziere vom Generalstab auf unwichtige Posten lösten in Washington, konservativen Kreisen und im Militär Ängste vor einem „zweiten Kuba“ oder „zweiten China“ aus. Ostern 1964 putschten Generäle gegen Präsident Goulart. General Castelo Branco wurde nach einer kurzen Übergangsfrist zum neuen Staatspräsidenten ernannt. Für den Fall eines Bürgerkriegs hatten die USA schon im Vorfeld des Putsches eine Einsatzgruppe der US-Marines, ein Tankschiff mit Panzer- und Flugzeugtreibstoff und ein Flugzeug mit Munitionslieferungen bereitgestellt. Walters behauptete 1975 in einer Anhörung vor dem Church Committee des US-Kongress, dass er, obwohl Militärattaché, von diesen Vorbereitungen nichts gewusst habe. Diese Aussage war nach später freigegebenen Dokumenten eine offene Lüge. Er berichtete am 30. März 1964 nach Washington, dass er sich in der Nacht mit den Verschwörern getroffen hatte und der Putsch auf ein Signal warte, das in derselben Woche erwartet würde. Aus dem Bericht geht hervor, dass Walters voll in die Vorbereitungen des Putsches eingebunden war. Er kannte die Kommunikation zwischen den Verschwörern im Oberkommando und den Truppenteilen und war informiert, wer unter welchen Umständen wie reagieren würde. Paris Im Jahr 1967 sollte Walters wieder nach Europa versetzt werden, diesmal als Militärattaché in Frankreich. Der Vietnamkrieg der USA war im Laufe des Jahres 1966 eskaliert, so dass die Beziehungen zu den ehemaligen Kolonialherren Indochinas elementar wichtig waren. Zur Vorbereitung ging Walters für vier Wochen nach Saigon, um Eindrücke von seinem nunmehr vierten Krieg aus erster Hand zu gewinnen. Im Nachhinein nannte er Vietnam „einen der nobelsten und selbstlosesten Kriege“, den die Vereinigten Staaten je geführt haben. In Paris angekommen, war seine Aufgabe zunächst, bei französischen Militärs alle erdenklichen Informationen über vietnamesische Offiziere, Waffen, militärische Einrichtungen und sonstige Anlagen zu beschaffen. Seine Bekanntschaft mit Staatspräsident Charles de Gaulle und Georges Pompidou aus dem Zweiten Weltkrieg und seine früheren Parisaufenthalte erleichterten ihm seine Aufgaben, trotz des 1966 erfolgten Rückzugs Frankreichs aus der militärischen Struktur der NATO. Im August 1969 etablierte Henry Kissinger, Sonderbotschafter des neuen US-Präsidenten Richard Nixon, Walters als Kommunikationsführer für Geheimverhandlungen mit der Regierung von Nordvietnam über die Pariser Botschaften. Nur mit Kenntnis des Staatspräsidenten Pompidou schmuggelte Walters Kissinger fünfzehnmal ins Land, sprach viele Male direkt mit Lê Đức Thọ und später auch mit den Vertretern Chinas über den Krieg in Asien. Über die mit seiner Hilfe etablierten Kanäle handelte Kissinger schließlich 1973 den Abzug der Amerikaner aus Vietnam aus. Neben seinen regulären und geheimen Aufgaben in Paris setzte Nixon Walters als Sonderbotschafter ein. Er entsandte ihn 1971 zu einem inoffiziellen Besuch zum spanischen Diktator Francisco Franco, um die Planungen zu einem Übergang zur Demokratie nach Francos Tod zu beraten. Außerdem begleitete Walters Präsident Nixon als Berater und Dolmetscher auf Staatsbesuchen in verschiedenen europäischen Ländern. Über Walters Qualität als Übersetzer sagte Charles de Gaulle damals zu Nixon: „Sie haben eine glänzende Rede gehalten, aber Ihr Dolmetscher war eloquent.“ Stellvertretender Direktor der CIA Anfang Mai 1972 wurde Walters von Präsident Nixon zum Deputy Director of Central Intelligence (DDCI) berufen. Als solcher war er der operative Leiter der Central Intelligence Agency (während der Direktor eine politische Position bekleidet). Obwohl Walters als Angehöriger des Militärischen Geheimdienstes Defense Intelligence Agency (DIA) bislang kein Angehöriger der CIA war, hatte er ausreichend enge Beziehungen, um die Leitung wahrzunehmen. Während in Europa der Kalte Krieg und die Bedrohung durch die Sowjetunion in den 1970er Jahren zunehmend als weniger drängend wahrgenommen wurden, verlagerten sich die realen oder befürchteten Konflikte zwischen den Supermächten auf andere Teile der Welt. In Washington und Langley wurden Lateinamerika und Schwarzafrika als Schauplätze des Kampfes identifiziert. Kritiker werfen der US-Außenpolitik und insbesondere den Nachrichtendiensten vor, in „Schwarz-Weiß-Denken“ verfallen zu sein und demokratische Werte und Menschenrechte dem Kampf gegen den Kommunismus untergeordnet zu haben. Walters erste Krise fand jedoch im eigenen Land statt. Am 17. Juni 1972 wurden fünf Personen bei einem Einbruch ins Hauptquartier der Demokratischen Partei im Washingtoner „Watergate-Hotel“ festgenommen, die sich als Mitarbeiter des Wahlkampfteams Nixons herausstellten. Einer von ihnen stand auch auf der Gehaltsliste der CIA. Als Ermittlungen des FBI schrittweise den Verbindungen der Einbrecher näherkamen und so drohten, die Brisanz der Watergate-Affäre zu enthüllen, machte Nixons Berater Harry Robbins Haldeman im Juni 1972 dem Präsidenten den Vorschlag, Walters den Auftrag zu geben, das FBI zu stoppen, und Nixon stimmte dem zu. Nixons Berater John Ehrlichman und Haldeman diskutierten mit Walters, dass die CIA das FBI auffordern müsse, die Ermittlungen mit Hinweisen auf geheime Staatsinteressen einzustellen. Während Walters einige Tage lang versuchte, die Hintergründe aufzudecken, unternahm er es tatsächlich, das FBI zu bremsen. Bald war er aber nach seinen eigenen Aussagen überzeugt, dass es keine Staatsgeheimnisse zu schützen gab, und hatte persönlichen Anteil daran, dass sich die CIA anschließend aus der Affäre heraushielt. Nixon fühlte sich von der CIA verraten. Die Tonbandaufzeichnung des Gesprächs zwischen Haldemann und Nixon wurde im August 1973 im Rahmen der Ermittlungen als Transkript veröffentlicht. Unter der Bezeichnung Smoking Gun wurde es als unwiderlegbarer Beweis für den Missbrauch der Behörde zu politischen Zwecken angesehen. Der Präsident hatte keine Wahl mehr, als drei Tage später zurückzutreten. Die nächsten Jahre gehörten zu den turbulenten Zeiten der CIA. Neben vielfältigen Aktionen im Ausland wurden durch die Ermittlungen rund um die Watergate-Affäre weitere Skandale der US-Nachrichtendienste CIA und FBI bekannt und führten erstmals zu ausführlichen Untersuchungen der Geheimdienstaktivitäten durch das Church Committee des US-Kongress. Walters war der konstante Faktor, als innerhalb weniger Jahre vier verschiedene Direktoren die politische Leitung der CIA innehatten – von Juli bis September 1973 amtierte er selbst als Director of Central Intelligence, weil der Posten unbesetzt war. Mitte des Jahres 1973 kam es zu Geiselnahmen und der Ermordung amerikanischer Diplomaten im Libanon, die Walters veranlassten, zu Geheimverhandlungen mit Ali Hassan Salameh als Vertreter der PLO nach Marokko zu reisen. Walters persönliche Verantwortung in dieser Zeit ist schwer zu beurteilen, Akten sind nur bruchstückhaft freigegeben und er schweigt in seinen Memoiren. Aufgrund seiner früheren Tätigkeiten ist aber anzunehmen, dass er sich in besonderem Maße für verdeckte Operationen in spanisch- und portugiesischsprachigen Ländern einsetzte. Und genau diese Regionen wurden in Walters Amtszeit zu besonderen Schwerpunkten der CIA. Im September 1973 fand das „Project FUBELT“ der CIA seinen Abschluss: Unter der Führung von General Augusto Pinochet putschte die Armee in Chile gegen Präsident Salvador Allende. Dessen Sturz hatten die USA seit seiner Wahl 1970 geplant und durch eine Kombination von wirtschaftlichem Druck und direkter Unterstützung der Generäle durch DIA und CIA gefördert. Kissinger sagte kurz nach dem Sturz Allendes, sie (die USA) hätten es nicht (selbst) getan, aber die größtmöglichen Voraussetzungen geschaffen. 1974 stürzte die Nelkenrevolution in Portugal die Reste der Salazar-Diktatur: Die CIA koordinierte mit intensiver deutscher Beteiligung sofort eine massive Unterstützung der linksdemokratischen Kräfte unter Mário Soares gegen radikalere Kommunisten. Über die parteinahen Stiftungen der SPD und CDU flossen einige Millionen Mark aus Mitteln der CIA und des BND ins Land. Im folgenden Jahr intensivierte die CIA ihr Engagement in Schwarzafrika. Als Reaktion auf die Revolution in Portugal wurde Angola im November 1975 unabhängig, und sofort entbrannte ein Stellvertreterkrieg zwischen den USA und der Sowjetunion. Die USA und Südafrika unterstützten die UNITA von Jonas Savimbi gegen die marxistische MPLA, auf deren Seite bis zu 50.000 kubanische Soldaten kämpften. Ende 1975 wurde die „Operation Condor“ zur Zusammenarbeit der Geheimdienste aus sechs lateinamerikanischen Staaten gegründet, die von Militärdiktaturen regiert wurden. Die CIA unterstützte die beteiligten Dienste technisch und logistisch und organisierte Schulungen in der School of the Americas. Schwerpunkt der Zusammenarbeit war die Verfolgung echter oder vermeintlicher Regimegegner in Lateinamerika und international. Die oft, aber nicht durchweg politisch links stehenden Verdächtigen wurden grenzüberschreitend überwacht, verfolgt und ermordet, im Fall des chilenischen Diplomaten und Ex-Außenministers Orlando Letelier sogar mit einer Autobombe in Washington, D.C. Im März 1976 putschten in Argentinien Generäle, die teilweise von den USA ausgebildet worden waren und der CIA nahestanden. Sie errichteten eine Schreckensherrschaft mit 2.300 nachweislich Ermordeten, rund 10.000 Verhafteten und 20.000 bis 30.000 ohne nachweisliche Spur Verschwundenen. Die wirksame juristische Aufarbeitung dieser Verbrechen hat in vielen der Länder erst im 21. Jahrhundert begonnen. Obwohl Walters als Antikommunist der Republikanischen Partei nahestand, betonte er, dass er unter Präsidenten beider US-Parteien gedient habe. Trotzdem trat er, als der Sieg des Demokraten Jimmy Carter im Laufe des Jahres 1976 absehbar war, nicht nur vom Führungsamt in der CIA zurück, sondern auch im Rang eines 3-Sterne-Generals (Lieutenant General) aus der US-Armee aus und nutzte seine Erfahrungen und Verbindungen als Unternehmensberater und Autor. Daneben unterrichtete er unregelmäßig an der School of the Americas. Sonderbotschafter unter Reagan Ende 1980 wurde Präsident Jimmy Carter nach nur einer Amtszeit abgewählt. Sein Nachfolger Ronald Reagan bat Walters noch vor der Amtsübernahme um eine erste Geheimmission, ernannte ihn Anfang 1981 zum Sonderbotschafter und machte ihn zu seinem internationalen Troubleshooter. Walters Aufgabenbereich war global. Im Auftrag Reagans reiste er um die Welt, überbrachte Diplomatische Noten, verhandelte in Krisen, baute persönliche Beziehungen aus und holte Geiseln in die USA zurück. Gerne reiste er einen oder zwei Tage vor dem vereinbarten Termin ins Zielland ein, fuhr mit öffentlichen Verkehrsmitteln und unterhielt sich mit Busfahrern, um die Stimmung in der Bevölkerung zu erfassen. Bei anderen Gelegenheiten setzte er auf den größtmöglichen Effekt und flog mit einer Sondermaschine des US-Außenministeriums, um den Gastgebern die Bedeutung seines Anliegens zu vermitteln. Nach eigenen Aussagen reiste er ausschließlich unter seinem richtigen Namen. Auch gegenüber schwierigen Verhandlungspartnern behielt er stets seinen Stil bei. Ein flexibler Verhandler, der seinen Gesprächspartner instinktiv einschätze und bei Bedarf auch unkonventionell ansprach. 1984 besuchte er zweimal den „Kleptokraten“ Präsident Mobutu Sese Seko in Zaire, um ihn zu Wirtschaftsreformen und Schuldentilgung im Rahmen des „Pariser Clubs“ sowie der weiteren Unterstützung der UNITA im benachbarten Angola zu bewegen. Walters schmeichelte dem exzentrischen Mobutu so sehr, dass US-Botschafter Grove für die weitere Zusammenarbeit das Schlimmste befürchtete, aber Walters hatte die Stimmung Mobutus richtig erfasst und hatte Erfolg. Später erklärte Walters dem Botschafter: „Wer denkt, Schmeichelei würde nicht funktionieren, dem wurde nie geschmeichelt.“ Zwei Hauptthemen beschäftigten Walters in dieser Zeit besonders: erstens der Bürgerkrieg in Nicaragua, bei dem die USA Partei für die Contra-Rebellen gegen die Sandinistas des gewählten Präsidenten Daniel Ortega ergriffen. Nachdem der US-Kongress die weitere Unterstützung der Contras mit dem Boland-Amendment untersagt hatte, entwickelte das Weiße Haus eine illegale Fortsetzung der Förderung, unter anderem finanziert durch geheime und illegale Waffengeschäfte mit dem Iran. Die daraus resultierende Iran-Contra-Affäre wurde 1986 zum größten Skandal in der Amtszeit Reagans. Zweitens war ihm die Unterstützung der illegalen Gewerkschaftsbewegung Solidarność in Polen wichtig. Der engagierte Katholik Walters organisierte die Zusammenarbeit der USA mit Papst Johannes Paul II. zur Förderung der Untergrundarbeit während der Dauer des Kriegsrechts ab Dezember 1981. Er bat den Papst aber auch um Unterstützung in der amerikanischen Innenpolitik: 1982 sprachen sich die Bischöfe der Katholischen Kirche in den Vereinigten Staaten gegen die Atomrüstung aus und forderten einen auch einseitigen Verzicht auf jeden Einsatz gegen zivile Ziele. Nachdem Ende des Jahres Walters und Außenminister George Shultz den Papst aufforderten, mäßigend auf die Bischöfe einzuwirken, wurden die Sprecher der US-Bischofskonferenz nach Rom beordert, wo der Präfekt der Glaubenskongegration, Joseph Ratzinger, ihnen erklärte, sie wären zu solchen Aussagen nicht berechtigt. Der Einfluss war vergebens, im Februar 1983 stellten sich die Bischöfe auf die Seite der Freeze-Bewegung und verlangten in einem Hirtenbrief ein Einfrieren der Atomrüstung. Wiederholt reiste er außerdem nach Lateinamerika. Eine seiner ersten Reisen führte ihn nach Guatemala, wo seit 30 Jahren Bürgerkrieg herrschte und die USA die ständig wechselnden Militärregierungen mit Waffen und Geld unterstützten. Walters verhandelte 1981 mit General Fernando Garcia, bevor ein von der CIA gestützter Putsch 1982 Efrain Ríos Montt an die Macht brachte. Auch hier brutalisierte sich die Militärdiktatur im Kampf gegen die Landbevölkerung, was an der massiven Unterstützung der USA für die Regierung kaum etwas änderte. Anfang 1982 pendelte Walters zusammen mit US-Außenminister Alexander Haig zwischen Washington und Buenos Aires, um den Ausbruch des Falklandkriegs zu verhindern. Im März 1982 entsandte Präsident Reagan Walters zum kubanischen Präsidenten Fidel Castro, um ihm ein Angebot zur Normalisierung der Beziehungen zu unterbreiten, wenn Kuba auf die Unterstützung kommunistischer Bewegungen in Lateinamerika verzichtet und politische Reformen im eigenen Land zulässt. Castro lehnte erwartungsgemäß entschieden ab. Seit 1980 unterstützten die USA die Mudschahidin im seit 1979 von der Sowjetunion besetzten Afghanistan. Walters war am Ausbau der amerikanischen Zusammenarbeit mit Pakistan beteiligt, bei der insbesondere der pakistanische Nachrichtendienst ISI aufgebaut wurde, der in späteren Jahren die Entwicklung der Taliban aus dem islamistischen Flügel der Mudschahidin förderte. 1983 verübte der Islamische Dschihad einen verheerenden Anschlag auf die US-Marines-Barracks in Beirut, der Walters zu ausgiebigen Besuchen in der Region veranlasste. Botschafter bei den Vereinten Nationen Im Februar 1985 berief Präsident Reagan Walters zum Botschafter bei den Vereinten Nationen in New York, eine Position, die damals dem Kabinett des Präsidenten angehörte. Damit endete seine intensive Reisetätigkeit nicht, sondern er machte es zu seinem Stil, wann immer möglich, wichtige Fragen und Konflikte bei der jeweiligen Regierung vor Ort zu klären. Von 1981 bis 1989 bereiste er so 142 der damals 159 Mitgliedstaaten der UNO. Öffentlich wahrgenommen wurde Walters, als er 1986 vor der UNO die US-Luftangriffe auf Libyen (Operation El Dorado Canyon) als Vergeltung für einen Bombenanschlag in Berlin verteidigte. Zu weiteren Schwerpunkten seiner Tätigkeit gehörten die Überwachung der Rüstungskontrollverträge mit der Sowjetunion, Verhandlungen in den Geiselkrisen des Jahres 1985 im Libanon, Internationale Zusammenarbeit im „Krieg gegen Drogen“, Verhandlungen über den Waffenstillstand 1988 im Ersten Golfkrieg zwischen Irak und Iran, Wahlen zur Vorbereitung der Unabhängigkeit Namibias von der Besetzung durch Südafrika und die internationale Beobachtung des Abzugs der sowjetischen Truppen aus Afghanistan. Anders als seine Vorgänger trat Walters in der amerikanischen Öffentlichkeit als Verfechter der Vereinten Nationen auf und hatte so Anteil daran, dass die USA den Finanzboykott gegen die UNO aufgaben. Botschafter in Deutschland Anfang 1989 wurde George H. W. Bush als Präsident der USA vereidigt, der 1976 als Direktor der CIA und von 1981 bis 1988 als Vizepräsident und Koordinator der Außenpolitik unter Reagan Walters Vorgesetzter war. Er entsandte Walters als Botschafter der USA in der Bundesrepublik Deutschland nach Bonn. Laut seinen Erinnerungen war die Stelle nicht als ruhiger Posten gedacht. Der designierte Außenminister James Baker habe ihm die Stelle mit den Worten „Dort wird es ums Ganze gehen“ angeboten, weil seit dem Amtsantritt Gorbatschows Veränderungen im Ostblock absehbar waren und die US-Botschaft in Bonn traditionell sowohl in politischer wie in nachrichtendienstlicher Hinsicht führend für die Beziehungen zu den ost-europäischen Satellitenstaaten war. Walters führt in seinen Erinnerungen an, dass er nicht nur den Zusammenbruch der DDR, sondern auch die Möglichkeit einer schnellen Wiedervereinigung wesentlich früher erkannt habe als seine Vorgesetzten in Washington, als die deutsche Bundesregierung und insbesondere Moskau. Am 4. September 1989 machten seine Äußerungen eine Schlagzeile in der International Herald Tribune „Walters: German Unity Soon“. Die Öffnung der „Mauer“ am 9. November 1989 überraschte ihn nicht besonders. Am nächsten Morgen organisierte er ein Flugzeug für Bundeskanzler Helmut Kohl, damit dieser nach Berlin kommen konnte, war selbst vor Ort und besichtigte die Lage von einem Hubschrauber aus, bevor er an die Glienicker Brücke fuhr und dort mit Ost- und Westdeutschen sprach. Walters führte in den folgenden Monaten für seine Regierung viele Verhandlungen im Rahmen der Deutschen Wiedervereinigung, insbesondere zur Vorbereitung des Zwei-plus-Vier-Vertrags. Über die Rolle Deutschlands sagte er: Die Deutschen haben die Lektion der Geschichte gelernt und werden ihren Beitrag leisten, um die Welt von Furcht und Aggression freizuhalten. Bonn war Walters' letzter Posten im Dienst der USA. Im Juni 1991 kündigte er den Eintritt in den Ruhestand an. Nach dem Ausscheiden aus dem diplomatischen Dienst trat er als Redner und Autor an die Öffentlichkeit. Walters starb im Februar 2002 im Alter von 85 Jahren in West Palm Beach, Florida und wurde auf dem Nationalfriedhof Arlington begraben. Auszeichnungen Vernon A. Walters war Träger der Army Distinguished Service Medal mit zwei Oak Leaf Clusters und der Legion of Honor-Auszeichnung, erhielt 1991 von Präsident Bush die Presidential Medal of Freedom verliehen und wurde in die Military Intelligence Hall of Fame aufgenommen. Er war ebenfalls Träger des Großen Verdienstkreuzes der Bundesrepublik Deutschland und mehrerer Kriegsauszeichnungen alliierter Nationen. 1991 wurde er mit der Lucius D. Clay Medaille geehrt. Walters wurde 1991 stellvertretend für die Soldaten der US-Garnison seit Kriegsende und für seine Verhandlungen bei deren Abzug das Ehrenbürgerrecht der Stadt Neu-Ulm verliehen. Der deutsche Verein Atlantik-Brücke verlieh den Vernon A. Walters Award an eine deutsche oder amerikanische Persönlichkeit „in Anerkennung ihrer hervorragenden Verdienste um die deutsch-amerikanischen Beziehungen“. Zitate Ich werde nicht geschickt, wenn ein Erfolg wahrscheinlich ist. Eine meiner Hauptaufgaben ist es, die Letzte Ölung zu geben, kurz bevor der Patient stirbt. – Vernon A. Walters, 1989 Es wird im Jahr 3000 Probleme mit den Menschenrechten bei den Regierungen des Mars und des Mondes geben. Es gibt eben einige Probleme, die niemals gelöst werden. – Vernon A. Walters, 1981 in Guatemala, angesprochen auf die besondere Brutalität des guatemaltekischen Regimes. Meine Überzeugung, dass die Vereinigten Staaten die einzige echte Chance sind, damit die Freiheit in dieser Welt überleben kann. – Vernon A. Walters, 1991 nach 50 Jahren im Dienst der USA auf die Frage, was ihn motiviere. Er war großartig als unser James Bond. – Winston Lord, Präsident des Council on Foreign Relations über Walters Rolle bei den Geheimgesprächen mit Nordvietnam. Publikationen In vertraulicher Mission (Originaltitel: Silent Mission. übersetzt von Hans-Ulrich Seebohm). Bechtle, Esslingen 1990, ISBN 3-7628-0490-7. (amerikanisches Original 1978) (Autobiografie bis 1976) Die Vereinigung war voraussehbar. übersetzt von Helmut Ettinger. Siedler, Berlin 1994, ISBN 3-88680-529-8. (über die Zeit als Botschafter in Deutschland) Literatur Klaus Eichner, Ernst Langrock: Der Drahtzieher. Vernon Walters – ein Geheimdienstgeneral des Kalten Krieges. Kai Homilius Verlag, Berlin 2005, ISBN 3-89706-877-X. (einseitige Biografie aus der Feder eines Ex-Stasi-Offiziers) Weblinks Nachruf auf Vernon Walters von der Webseite der CIA (englisch) von der neokonservativen National Review (Kopie im Internet Archive, englisch) Vernon A. Walters, 85, Former Envoy to U.N. The New York Times, 15. Februar 2002 (englisch) zur Rolle der Vereinigten Staaten in Deutschland während des Kalten Krieges (englisch) Einzelnachweise Botschafter der Vereinigten Staaten in Deutschland Ständiger Vertreter der Vereinigten Staaten bei den Vereinten Nationen Person (Central Intelligence Agency) Generalleutnant (United States Army) Nachrichtendienstliche Person im Kalten Krieg Träger der Army Distinguished Service Medal Träger des Großen Bundesverdienstkreuzes Träger der Presidential Medal of Freedom Ehrenbürger von Neu-Ulm US-amerikanischer Militärattaché US-Amerikaner Geboren 1917 Gestorben 2002 Mann
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https://de.wikipedia.org/wiki/Wechsell%C3%A4uten
Wechselläuten
Wechselläuten (auch Permutationsläuten oder Variationsläuten, englisch change ringing) ist eine hauptsächlich im angelsächsischen Kulturraum verbreitete Kunstform des manuellen Glockenläutens. Beim Wechselläuten erklingen die (drei bis zwölf, manchmal mehr, selten aber über sechzehn) Glocken in festgelegten Abfolgen, wobei die Reihenfolge bei jedem Durchgang („Wechsel“) variiert wird. Die feste Regel lautet, dass während eines gesamten Läutens („peal“), das mehrere Stunden dauern kann, keine Reihenfolge zweimal erscheinen darf, jeder Wechsel muss sich von allen anderen unterscheiden – ausgenommen am Anfang und am Schluss, wo die Glocken einfach mehrmals der Reihe nach von oben nach unten durchgeläutet werden („rounds“). Aus der Regel, dass kein Wechsel doppelt erscheinen darf, wurden kunstvolle mathematische Muster entwickelt, die durch feste Schemata für jede Einzelglocke die Einhaltung dieser Regel sicherstellen. Diese Schemata müssen von den Glöcknern auswendig beherrscht werden. Eine spezielle Fachsprache fasst die Bewegungen einzelner Glocken innerhalb der Reihenfolge szenisch auf und spricht beispielsweise davon, dass zwei Glocken „einander jagen“. Ursprünglich für Kirchenglocken entwickelt, wird das Wechselläuten auch mit Handglocken praktiziert. Dies war vor allem in der Zeit des Zweiten Weltkriegs verbreitet, als in England die Kirchenglocken nicht geläutet wurden und die Glöckner auf andere Trainingsmöglichkeiten ausweichen mussten. Technik Kirchenglocken Technische Voraussetzung für das Wechselläuten mit Kirchenglocken ist ein Glockenstuhl, der eine kontrollierte Rotation jeder einzelnen Glocke aus der Ruhelage um 360 Grad wieder in die Ruhelage erlaubt. Dazu ist auf der Achse jeder Glocke ein hölzernes Rad angebracht, in dem das Glockenseil geführt wird. Geläutet wird von einer unterhalb des Glockenstuhls gelegenen Läutestube aus, wo die Seile enden. Kurz vor seinem Ende hat jedes Seil ein farbiges wollenes Polster (sally) eingewoben, das als Markierung dient und den Griffkomfort verbessert. Zu Beginn des Läutens wird die Glocke „aufgeschwungen“ (rung up), d. h. durch wiederholtes Ziehen und Zurückschwingenlassen wird die Glocke zu immer weiteren Ausschlägen bewegt, bis sie über den oberen Totpunkt hinausschwingt und sich dort mit der Öffnung nach oben in einem labilen Gleichgewicht befindet. Eine auf der Achse angebrachte Hemmung stützt sich nun an einen Gleitstock am Joch und hält die Glocke in dieser Lage. Sind alle Glocken aufgeschwungen, kann das Läuten beginnen. Um seine Glocke zu läuten, lenkt sie der Läuter mit einem kurzen Zug am Seil wieder über den Totpunkt zurück, worauf sie durch ihr Eigengewicht eine volle Drehung vollführt und auf der anderen Seite kopfüber mit der Hemmung am Gleitstock stehen bleibt. Dabei schlägt der Klöppel auf den Glockenkörper und lässt die Glocke genau einmal erklingen. Diese Aktion heißt „Handzug“ (handstroke). Damit die Glocke sich von beiden Seiten geringfügig über den Totpunkt hinweg drehen kann, ist der Gleitstock zwischen zwei Anschlägen verschiebbar montiert. Das Glockenseil ist nach dem Handzug deutlich weiter um das Rad gewickelt als vorher, das sally befindet sich nun über dem Kopf des Läuters. Beim nächsten Zug kehrt sich der Vorgang um, die Glocke ertönt erneut und kehrt zu ihrer Ausgangsstellung zurück: der sogenannte „Rückzug“ (backstroke). Zwischen der letzten Glocke im Rückzug und der folgenden ersten im Handzug wird ein Intervall doppelter Länge eingelegt. Ansonsten werden die Glocken unmittelbar nacheinander geläutet. Die Frequenz des Läutens ist dadurch relativ hoch. Eine nicht allzu schwere Glocke lässt sich etwa 30-mal in der Minute anschlagen. Entsprechend dauert das einmalige Durchläuten eines Geläuts von sechs Glocken etwa zwei Sekunden, was einem Intervall von einer Drittelsekunde zwischen den Schlägen entspricht. Ein möglichst flüssiger Ablauf der einzelnen Schläge ist ein Maß für gutes Zusammenwirken einer Läutemannschaft und wird als good striking bezeichnet. Handglocken Beim Wechselläuten mit Handglocken gibt es zwei unterschiedliche Techniken. Die erste imitiert im Prinzip das Läuten mit Kirchenglocken: Ein Aufwärtsschlag der Glocke entspricht dem Handzug, ein Abwärtsschlag dem Rückzug. Falls nicht speziell für das Kirchengeläut trainiert werden soll, kann eine Person auch mehrere Glocken bedienen. Alternativ dazu sind die Glocken in absteigender Tonhöhe von rechts nach links auf einem Tisch ausgelegt. In dieser Folge schlägt jeder Glöckner das vor ihm liegende Paar Glocken bei jedem Durchgang einmal an. Die Wechsel ergeben sich durch das Vertauschen entsprechender Glocken beim Zurücklegen; auf diese Weise lassen sich die Glocken immer in derselben Reihenfolge von rechts nach links durchläuten. Grundlagen Traditionell werden die Glocken in absteigender Reihe durchnummeriert. Die Sopranglocke (englisch treble) wird mit 1 bezeichnet, die zweithöchste mit 2 und so weiter. Die höchste Nummer entspricht damit der tiefen Bassglocke, die im Geläut als tenor bezeichnet wird. Das einfache Durchläuten der Glocken in absteigender Folge heißt Runde (round). Üblicherweise bilden eine oder mehrere Runden Auftakt und Abschluss des eigentlichen Wechselläutens. Jeder der auf die einleitende Runde folgenden Wechsel ist eine echte Permutation der Glocken, das heißt jede Glocke wird bei jedem Wechsel genau einmal geläutet; außerdem darf sich die Reihenfolge der Glocken bis zum Schluss bei keinem Wechsel wiederholen. Umgesetzt werden diese Regeln auf zwei verschiedene Arten: Beim sogenannten call change ringing wird bei jedem Wechsel auf Zuruf des leitenden Glöckners ein Paar Glocken benannt, das seine Plätze tauscht. Beim method ringing folgen die Wechsel einem von vornherein fest vorgegebenen Schema, einer Methode (method). Die Krönung des Wechselläutens ist es, wenn alle möglichen Permutationen der Glocken in einem sogenannten extent in Folge geläutet werden. Bei einem Geläut von Glocken gibt es (n Fakultät) mögliche Permutationen, eine Zahl, die mit der Anzahl der beteiligten Glocken rasant wächst. So gibt es bei sechs Glocken 720 mögliche Permutationen, bei sieben sind es 5.040 und bei zwölf bereits 479.001.600. Zyklus (peal) bedeutete ursprünglich einen extent von sieben Glocken, er umfasste also 5.040 Wechsel. Mit mehr als sieben Glocken ist ein extent kaum durchzuführen – die 479.001.600 Wechsel eines Zwölfergeläuts zu läuten dauerte über 30 Jahre – so dass in diesem Fall ein Läuten mit mindestens 5.000 Wechseln einen Zyklus darstellt. Bei weniger als sieben Glocken wird für den gleichen Titel eine Folge von mindestens 5.040 Wechseln gefordert. Unterhalb dieser Grenze spricht man von einem Satz (touch). Methoden Nomenklatur Die Benennung der Methoden, wie Plain Bob Minor, Kent Treble Bob Major folgt dem Schema [Name] [Klasse] [Läuteart]. Die Läuteart (Minor, Major, …) bezeichnet dabei die Anzahl der Glocken, die an der Methode beteiligt sind. Sie ist nicht mit der Größe des Geläuts gleichzusetzen, oft wird mit den oberen Glocken eine „kleinere“ Methode geläutet, bei der man die tiefen Glocken an ihrer festen Position mitläuten lässt. Die Klasse (Bob, …) gibt die Eigentümlichkeit der Konstruktion an (Bob = Scherschritt), nach der die Methode klassifiziert werden kann. Als individuelle Namen findet man schließlich gerne Orte (Kent, London, …) oder einfach den Erfinder der Methode (Stedman, Annable’s London, …). Bei mehr als zwölf beteiligten Glocken werden die ungeraden Läutearten nach der Anzahl der möglichen Transpositionen benannt (Sextuples, Septuples etc.), die geraden nach der Anzahl der beteiligten Glocken (wie bei Bristol Surprise Sixteen). Bei weniger als vier Glocken ist die einfache Jagd (plain hunt) die einzige regelkonforme Methode. Notation Üblicherweise wird eine Methode in einer Matrix notiert, bei der jede Zeile einem Wechsel entspricht. Um den „Weg“ einer Glocke in diesem Schema leichter nachvollziehen zu können, wird dieser gerne farblich markiert. Man spricht daher von der blue line einer Glocke. Folgendes Beispiel zeigt einen Teil der blue line der fünften Glocke bei einer einfachen Jagd mit sechs Glocken. Der Weg der Sopranglocke ist hier rot markiert. 123456 214365 241635 426153 462513 645231 654321 563412 536142 351624 315264 132546 123456 Die einfache Jagd ist eine der simpelsten Methoden: Jede Glocke rückt bei jedem Wechsel um einen Platz in eine vorgegebene Richtung, bleibt einmal auf der Außenposition stehen und rückt dann in entgegengesetzter Richtung weiter; ein Verfahren, das in seiner Notation zu einer Art Zopfmuster führt. Die Muster bzw. die blue lines müssen von den Glöcknern im Übrigen auswendig beherrscht werden, da physische Hilfsmittel – wie Spickzettel – beim Wechselläuten prinzipiell nicht erlaubt sind. Mathematische Aspekte Das Wechselläuten stellt nicht nur ein anschauliches Anwendungsbeispiel für die mathematische Disziplin der Gruppentheorie dar, die mathematische Analyse bietet einen eleganten Weg für das Verständnis der Struktur und damit für den Beweis der Korrektheit einer Methode. Verließe man sich auf reines Abzählen und Vergleichen, würde der Nachweis, dass unter den mindestens 5000 Wechseln eines Zyklus keiner doppelt auftritt, keine kleine Herausforderung darstellen. Ausgangspunkt der Betrachtung ist die Feststellung, dass die Wechsel mit den Elementen einer Permutationsgruppe identifiziert werden können. Methoden sind – wie der Name sagt – keine willkürlichen Abfolgen von Wechseln, sondern nach einem bestimmten Muster aufgebaut. Kann man dieses Muster einer Methode mit einem entsprechenden Muster einer Permutationsgruppe identifizieren, so erlaubt die genaue Kenntnis des Aufbaus der Gruppe eine ebenso genaue Beschreibung des Aufbaus der Methode. Grundbegriffe Zwei nacheinander ausgeführte Permutationen von n Glocken bilden offensichtlich wieder eine derartige Permutation. Eine Menge, bei der eine Verknüpfung von je zwei ihrer Elemente wieder ein Element der Menge ergibt, wird – etwas vereinfacht gesagt – in der Mathematik Gruppe genannt. Die Menge der Permutationen von n Objekten bildet dabei die Symmetrische Gruppe von n Elementen, kurz . Auch das Unverändertlassen der Reihenfolge der Objekte stellt dabei eine Permutation dar, diese identische Abbildung ist das so genannte Neutrale Element e der Gruppe. Untergliedert wird eine Gruppe durch ihre Untergruppen: Teilmengen, die für sich genommen wieder eine Gruppe bilden. Die Anzahl der Elemente einer Untergruppe ist immer ein Teiler der Gesamtzahl der Gruppenelemente. Der Quotient wird als Index der Untergruppe bezeichnet. Der Index gibt die Anzahl der Nebenklassen an, in die die Gruppe durch die Untergruppe zerlegt wird. Findet man beispielsweise in einer Gruppe, die aus 24 Elementen besteht, eine Untergruppe mit sechs Elementen, kann man sich die ganze Gruppe als aus vier „Kopien“ der Untergruppe zusammengesetzt vorstellen. Beispiel: Plain Bob Minimus Plain Bob Minimus umfasst als extent von vier Glocken 24 Wechsel. Diese entsprechen den Elementen der Gruppe . Bezeichnet man mit a die Permutation, die die äußeren Paare der Reihe vertauscht und die Transposition des mittleren Paares mit b, so ergeben sich die ersten acht Wechsel von Plain Bob Minimus aus der (auf das neutrale Element e folgenden) abwechselnden Anwendung von a und b, also . Eine erneute Anwendung von b würde einen vorzeitig zur ursprünglichen Runde zurückbringen. Fortgesetzt wird daher durch eine dritte Permutation c, welche die beiden letzten Glocken vertauscht. Der nächste Wechsel entspricht dann (ab)³ac und wenn man zur Abkürzung w = (ab)³ac setzt, erhält man das zweite Drittel von Plain Bob Minimus aus den Permutationen und das letzte Drittel – nach einer weiteren Anwendung von c – aus . Hintergrund ist, dass die beiden Permutationen a und b eine Untergruppe der erzeugen, die Diedergruppe , welche aus den erstgenannten acht Elementen besteht. Die drei Teile von Plain Bob Minimus können mit den drei Nebenklassen , und der Untergruppe identifiziert werden. Die beiden Hauptforderungen beim Wechselläuten, dass kein Wechsel doppelt auftaucht und dass bei einem Wechsel keine Glocke um mehr als eine Stelle nach vorne oder hinten rücken darf, sind auf diese Weise relativ einfach geprüft: Die Eindeutigkeit der Wechsel ergibt sich aus der Tatsache, dass die Nebenklassen einer Untergruppe eine Partition der gesamten Gruppe bilden, die Bewegung der Glocken wird durch die drei erzeugenden Permutationen a, b und c vorgegeben, von denen alle drei die genannte Bedingung erfüllen. Geschichte Anfänge Schriftliche Zeugnisse für das organisierte Läuten von Kirchenglocken aus säkularen Anlässen finden sich in England ab dem 15. Jahrhundert. Ab dieser Zeit lässt sich gut die beständige Verbesserung von Glockenstühlen und zugehöriger technischer Ausstattung nachweisen. Entscheidend für die Entwicklung des Wechselläutens war die Idee, ein Rad zur Führung des Seils und zur Kraftübertragung einzusetzen. Im 15. Jahrhundert wurde zwar schon ein halbes Rad zu diesem Zweck benutzt, aber erst der Einsatz des Dreiviertelrades in der zweiten Hälfte des 16. Jahrhunderts erlaubte eine kontrollierte Umdrehung der Glocke um 180 Grad. Zentren der Entwicklung waren – schon allein aufgrund der Infrastruktur – die Städte, allen voran London, das 1552 über 80 Kirchen mit Geläuten von drei bis sechs Glocken zählte. Der deutsche Gelehrte Paul Hentzner, der sich 1598 in London aufhielt, notierte in seinem Reisetagebuch: Hentzners Verbindung von Wechselläuten mit ausgiebigem Alkoholgenuss darf in dieser Form allerdings bezweifelt werden, vermutlich wurde er hier von seinen Gewährsleuten etwas auf den Arm genommen. Frühe Formen des Wechselläutens bestanden lediglich in der ständigen Wiederholung einer bestimmten Reihenfolge der Glocken, bekannt sind rounds (123456), queens (135246) oder tittums (142536), die je nach Geschmack durch call changes variiert werden konnten. Methoden kamen im frühen 17. Jahrhundert auf. Die heutigen Techniken gehen im Wesentlichen auf diese Zeit zurück. Das erste grundlegende Lehrbuch „Tintinnalogia, or, the Art of Ringing.“ von Richard Duckworth und Fabian Stedman stammt aus dem Jahr 1668. Duckworths Rückblick ist konform zur Datierung, die sich aus weiteren Quellen ergibt. Organisation in Zünften Um 1600 entstanden in den großen Städten die ersten unabhängigen Vereinigungen von Anhängern der jungen Kunst in Form von Zünften. Älteste nachweisbare war die 1603 gegründete Company exercising the Arte of Ringing knowne and called by the name of the Schollers of Cheapeside in London, weitere frühe Gründungen waren die Society of Ringers of St Hugh an der Kathedrale von Lincoln (1612) oder die Society of St Stephen’s Ringers in Bristol (um 1620). Die städtischen Zünfte waren die treibende Kraft für den enormen Aufschwung, den das Wechselläuten ab der zweiten Hälfte des 17. Jahrhunderts erlebte. Die beständige Entwicklung und Erprobung neuer Methoden für immer größere Geläute wurde im Wesentlichen durch die Konkurrenz der angesehenen Gesellschaften vorangetrieben. Die Autoren der klassischen Lehrbücher der folgenden Zeit entstammten durchweg ihren Reihen. Schon der erwähnte Klassiker Tintinnalogia war von Duckworth der „Noble Society of Colledge-Youths“ zugeeignet worden. Diese noch als Ancient Society of College Youths existente Londoner Gesellschaft von 1637 soll der Kopie eines Manuskriptes aus dem Jahr 1738 zufolge am 7. Januar 1690 in der Kirche St Sepulchre-without-Newgate in London den ersten vollen Zyklus geläutet haben und zwar mit sieben Glocken nach der Methode Plain Bob Triples. Aufgrund der nicht ganz einwandfreien Quellenlage und des frühen Datums wird die korrekte Durchführung der Methode aber bezweifelt. Anerkannt ist hingegen der volle Zyklus, der am 2. Mai 1715 in der Kirche St Peter Mancroft in Norwich geläutet wurde und damit – zumindest für das Gebiet außerhalb Londons – das Erstlingsrecht beanspruchen kann. Die Zünfte waren nicht an eine feste Kirche gebunden, es war nachgerade üblich, Gastspiele in der näheren und weiteren Umgebung abzuhalten. Regelmäßig wurden die großen Gesellschaften zur Einweihung eines neuen oder vergrößerten Geläuts in das Umland eingeladen, wo sie durch eine Demonstration ihres Könnens zur wachsenden Popularität des Wechselläutens und der Verbreitung der jeweils neuesten Methoden beitragen konnten. Die vorherrschende Stellung der städtischen – genauer: der Londoner – Zünfte blieb aber bis zum Ende des 19. Jahrhunderts bestehen. Wechselläuten als säkularer Sport Die Umsetzung der Reformation in England führte in der Mitte des 16. Jahrhunderts zu einer Vereinfachung der Liturgie, nach der Glocken nur noch sehr eingeschränkt bei Gottesdiensten eingesetzt wurden. Daneben hatte der Machtverlust der Kirche als Institution zur Folge, dass die Kontrolle über sowohl kirchlich als auch weltlich genutzte Ressourcen – und Glocken waren schon immer zu säkularen Zwecken eingesetzt worden – in der Regel vollständig in die Hände der jeweiligen Gemeinden überging. Die Folgezeit brachte den vermehrten Ausbau bestehender Geläute, eine deutliche Zunahme des organisierten Läutens bei weltlichen Festtagen und erstmals (strenge) Regelungen bezüglich des so genannten pleasure ringings. Der ebenfalls in dieser Zeit aufkommende Puritanismus stand jeglicher Art von Vergnügung deutlich ablehnend gegenüber. Nachdem 1595 eine ähnliche Initiative am Einspruch von Elisabeth I. gescheitert war, verabschiedete das englische Parlament 1643 ein Gesetz, das die Ausübung diverser Freizeitaktivitäten für den Sonntag verbot, unter anderem „ringing bells for pleasure“. Auch wenn der Puritanismus mit der Restauration der englischen Monarchie 1660 wieder an Bedeutung verlor, hat diese zeitweilige Ächtung des Wechselläutens just an dem Tag, an dem Gottesdienst stattfindet, wohl einen weiteren Beitrag zu seiner Entwicklung hin zum säkularen Sport geleistet. Für das 18. Jahrhundert ist eine Vielzahl von sportlichen Wettkämpfen belegt. Üblicherweise schrieb ein Gastwirt, der ansässige Landadel oder eine Gemeinde öffentlich einen Wettbewerb aus und stiftete einen eher bescheidenen Sachpreis. Die konkurrierenden Mannschaften hatten eine oder mehrere standardisierte Methoden – drei 120er-Sätze bei einem Fünfergeläut oder zwei 360er-Sätze bei einem Sechsergeläut waren die Regel – möglichst fehlerfrei zu absolvieren, die Leistung bewertete eine Jury. Nicht selten waren Zweikämpfe rivalisierender Vereine, häufig mit beachtlichen Wetteinsätzen. Hier bestand die Herausforderung entweder darin, einen längeren peal als die Konkurrenz zu läuten oder einen vorgegebenen peal in kürzerer Zeit. Entwicklung in neuerer Zeit Mitte des 19. Jahrhunderts fand in der Anglikanischen Kirche unter dem Einfluss der Oxford-Bewegung eine neue Hinwendung zu liturgischer Tradition statt. Eine Folge war die so genannte Belfry Reform („Glockenstuhlreform“), die dem Wechselläuten wieder Anerkennung verschaffen und es in das kirchliche Leben reintegrieren sollte. Insbesondere gab die Einführung von Verbänden auf Grafschafts- und Diözesanebene feste Strukturen vor. 1891 gründete sich als Dachverband das Central Council of Church Bell Ringers. Ihm sind 67 Zünfte und Vereinigungen hauptsächlich aus Großbritannien und Irland aber auch aus Australien, Neuseeland, Kanada, den USA, Südafrika, Simbabwe und Italien angeschlossen. Nachrichtenorgan ist die seit 1911 herausgegebene und wöchentlich erscheinende Zeitung Ringing World. Den englischen Glöcknern stehen heutzutage die Geläute von über 5.000 Kirchtürmen zur Verfügung. Kürzere Sätze von wenigen Minuten bis hin zu quarter-peals, also Viertelszyklen, die etwa eine Dreiviertelstunde dauern, sind in England regelmäßig vor oder nach Gottesdiensten oder bei Hochzeiten und ähnlichen Anlässen zu hören. Das Läuten eines vollen Zyklus ist nach wie vor eine Besonderheit; immerhin geht man von etwa 4.000 Zyklen aus, die pro Jahr geläutet werden. Den Rekord für den längsten bekannten Zyklus halten Mitglieder der Ancient Society of College Youths. Vom 5. auf den 6. Mai 2007 läuteten sie mit sechs Handglocken in fast genau 24 Stunden 72.000 Wechsel nach 100 verschiedenen Treble Dodging Minor-Methoden. Auf Kirchenglocken wurde ein vollständiger extent auf acht Glocken, also 40.320 Zyklen, bisher erst ein einziges Mal geläutet, am 27. Juli 1963 in Loughborough. Verbände oder überregionale Komitees organisieren regionale und nationale Wettbewerbe unterschiedlicher Disziplinen. Prestigeträchtigste Veranstaltung ist der National Twelve Bell Striking Contest, der jährlich an wechselnden Orten stattfindet. Wechselläuten in der Literatur Die früheste literarische Erwähnung findet das Wechselläuten um 1600 in Berichten von Kavalierstouren deutscher Adliger durch Europa, den Vorläufern der heutigen Reiseführer. Neben dem zitierten Paul Hentzner, der als Tutor eines schlesischen Patriziersohnes 1598 England bereiste, ist als Autor noch Friedrich Gerschow zu erwähnen, späterer Professor an der Universität Greifswald und 1602 als Begleiter des Herzogs Philipp Julius von Pommern-Wolgast in London. Gerschow berichtet in seinem Tagebuch von einem großen Läuten an fast allen Kirchen Londons und erwähnt dabei auch den sportlichen Charakter dieser Veranstaltung. Georg Christoph Lichtenberg referiert 1799 in seiner Erklärung der Hogarthischen Kupferstiche eine Legende, die sich um Richard Whittington rankt. Whittington war Anfang des 15. Jahrhunderts Oberbürgermeister von London und soll dieser Legende zufolge in seiner Kindheit als armer Küchenjunge im Haushalt eines reichen Kaufmanns gedient haben. Als der Knabe in einer verzweifelten Lage ausgerissen sei, habe ihn das Läuten der Glocken von St. Mary-le-Bow wieder auf den rechten Pfad zurückgebracht, was mit späterem Reichtum, Glück und Ansehen belohnt wurde. Lichtenberg nimmt diese Geschichte zum Anlass für einen kurzen Exkurs zum Wechselläuten. Bemerkenswert ist seine Beschreibung der Verhältnisse in London am Ende des 18. Jahrhunderts: Auch wenn Lichtenberg in seinen weiteren Ausführungen dem Wechselläuten selbst im Vergleich zur deutschen Art des Glockenläutens recht wenig abzugewinnen scheint, schließt er fast versöhnlich: Das wohl populärste literarische Werk, in dem das Wechselläuten zudem noch eine zentrale Rolle spielt, ist Dorothy L. Sayers’ 1934 erschienener Kriminalroman Der Glocken Schlag. Schon die Gliederung des Buches ist eine metaphorische Übertragung des Aufbaus eines peals auf den Fortgang der Handlung. Während Sayers ihren Detektiv Lord Peter Wimsey einen mysteriösen Todesfall in einem englischen Dorf aufklären lässt und dabei die Charaktere in den Vorder- und Hintergrund treten lässt wie die Glocken im Verlauf eines peals, gibt sie dem Leser durch Schilderungen wie die dem in der Neujahrsnacht gegebenen neunstündigen „Kent Treble Bob Major“ auch eine Einführung in die Kunst des Wechselläutens. Ein vom Bayerischen Rundfunk unter der Regie von Otto Kurth produziertes vierteiliges Hörspiel trägt den Titel Glocken in der Neujahrsnacht. In Connie Willis’ Science-Fiction-Roman Doomsday Book (deutsch: Die Jahre des Schwarzen Todes) bilden die vorweihnachtlichen Übungen und Auftritte einer Gruppe von mit Handglocken arbeitenden „Bell Ringers“ einen ironischen Gegensatz zu der sich parallel dazu abzeichnenden Katastrophe. In der Episode „Ring Out Your Dead“ der Fernsehreihe Inspector Barnaby steht ein Wechselläuten-Wettbewerb im Zentrum der Handlung, wobei die örtliche Glöcknermannschaft Ziel der Morde ist. In der Fernsehserie Der Doktor und das liebe Vieh engagiert sich Tristan Farnon in der örtlichen Bell Ringers Association, wenn es ihm dabei auch eher um die Geselligkeit geht als um das Wechselläuten, für das er kein Geschick zeigt. In der letzten gedrehten Spezialfolge Brotherly Love unterläuft ihm ein typischer Anfängerfehler: Er gibt seiner Glocke so viel Schwung, dass die Hemmung bricht, die Glocke mehrmals rotiert und Tristan vom immer weiter aufgewickelten Seil nach oben gezogen wird. Als traditionelle Strafe muss er anschließend im Pub die Getränke für die gesamte Mannschaft zahlen. Siehe auch Beiern (Brauch) Läuteordnung Literatur Otto Bayer: Kleine Campanologie für Uneingeweihte. In: Sayers: Der Glocken Schlag. Rowohlt, Reinbek 1978, ISBN 3-499-14547-2. Richard Duckworth, Fabian Stedman: Tintinnalogia, or, the Art of Ringing. London 1668; 2. Auflage 1671 bei Project Gutenberg. Jean Sanderson (Hrsg.): Change Ringing: The History of an English Art. Central Council of Church Bell Ringers, 1987 ff. (3 Bände), ISBN 0-900271-50-7. Dorothy L. Sayers: Der Glocken Schlag. Rowohlt, Reinbek 1978, ISBN 3-499-14547-2. Ian Stewart: Der Gruppentheoretiker von Notre Dame. In: Pentagonien, Andromeda und die gekämmte Kugel. Elsevier, München 2004, ISBN 3-8274-1548-9. Arthur T. White: Fabian Stedman: The First Group Theorist? In: American Mathematical Monthly, 103, 1996, S. 771–778. Seitensprünge im Glockenturm - über die Kunst des change ringing. Feature. Text und Regie: Regina Leßner, Produktion Deutschlandfunk Kultur 2014. Weblinks Handglockenchor Hannover: Kurze Einführung (deutsch) Mathematical Impressions: Change Ringing, praxisnahe Erklärungen mit Videoaufnahmen von Läutemannschaften und Glocken (englisch) Portal mit weiterführenden Links (englisch) Aufzeichnungen von Geläuten mit bis zu 16 Glocken (englisch) Einzelnachweise Glockengeläut Musik (England) Wikipedia:Artikel mit Video
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https://de.wikipedia.org/wiki/Marienkirche%20%28Rostock%29
Marienkirche (Rostock)
Die Marienkirche ist die evangelisch-lutherische Hauptkirche Rostocks und ein Hauptwerk der norddeutschen Backsteingotik. 1232 wurde eine frühgotische Vorgängerkirche erstmals urkundlich erwähnt, der Bau der heutigen dreischiffigen Basilika begann um 1290 und war um die Mitte des 15. Jahrhunderts abgeschlossen. Der Turm hat heute eine Höhe von 86,32 Metern. Der gedrungene Baukörper der Marienkirche wird durch das große Querhaus und den mächtigen Westbau mit einem Turmmassiv geprägt – eine ursprünglich geplante Doppelturmanlage wurde nicht ausgeführt. Der Innenraum hat den Charakter eines Zentralbaus, da das Querhaus das Langhaus genau in der Mitte der Kirche durchdringt und fast ebenso lang wie der Bau in seiner west-östlichen Ausdehnung ist. St. Marien ist besonders reich ausgestattet. Bedeutend sind vor allem der Hauptaltar, die Predigtkanzel, die Orgel, ein Bronze-Taufbecken und eine astronomische Uhr. Vorreformatorische Kunst des Mittelalters ist wegen des Bildersturms zur Zeit der Reformation nur in geringen Resten überliefert. Wie die Petrikirche und die Nikolaikirche gehört die Marienkirche zur Evangelisch-Lutherischen Innenstadtgemeinde Rostock der Propstei Rostock im Kirchenkreis Mecklenburg der Evangelisch-Lutherischen Kirche in Norddeutschland. Geschichte der Pfarrgemeinde Die Geschichte der Stadt Rostock begann um die Wende vom 12. zum 13. Jahrhundert mit einer Siedlung an der Warnow um die Petrikirche, die nach der Verleihung des lübischen Stadtrechts durch Heinrich Borwin I. 1218 nach Süden erweitert wurde und mit der Nikolaikirche eine zweite Kirche erhielt. Die Marienkirche wird erstmals in einer Urkunde von 1232 als Pfarrkirche einer selbständigen Siedlung erwähnt, die sich westlich an die ältere Stadt anschloss und über einen eigenen Markt und ein Rathaus verfügte. Nach weiterer Ausdehnung in Richtung Westen entstand 1252 die Neustadt als dritte eigenständige Siedlung, deren Mittelpunkt die Jakobikirche war. Als sich die Siedlungen in den Jahren 1262 bis 1265 vereinigten, wurde der mittlere Siedlungskern zum Verwaltungszentrum der Stadt, so dass sich die Marienkirche zur zentralen Rats- und Hauptpfarrkirche Rostocks entwickelte. Im Gegensatz zu vergleichbaren Kirchen in Lübeck oder in Stralsund bildet die Rostocker Marienkirche kein Ensemble mit dem Rathaus am zentralen Platz der Stadt, sondern liegt nordwestlich ein wenig abseits des Neuen Marktes zwischen der Kröpeliner und der Langen Straße. Seit 1260 war St. Marien eine Lateinschule angegliedert, deren Patronat beim Rat der Stadt lag. Das Kirchenpatronat lag dagegen bis zur Reformation beim Landesherrn, dem mecklenburgischen Fürstenhaus, die Kirchenaufsicht wurde jedoch ebenfalls von der Stadt ausgeübt. Der für Rostock zuständige Bischof hatte seinen Sitz in Schwerin. Finanziert wurde die Pfarrei aus dem Kirchenzehnt, Stolgeldern, Oblationen (Spenden wie der Opferstock), Legaten und Stiftungen. Von diesen Geldern wurde unter anderem eine „Kirchenfabrik“ getragen, die faktisch die selbstverwaltete Bauaufsicht der Kirchengemeinde möglich machte. Neben dem Pfarrer übten diese Aufsicht Laien, meist Ratsmitglieder, aus dem Pfarrbezirk aus. Am 12. November 1419 wurde die Universität feierlich in St. Marien eröffnet. Der Pfarrherr der Kirche, Nikolaus Türkow, wirkte an der Gründung der Universität persönlich mit und die Kirche blieb ihr lange eng verbunden. Noch heute weist das „Professorengestühl“ unterhalb der Fürstenloge darauf hin, dass die Marienkirche bis zur Jahrhundertwende um 1900 die Funktion einer Universitäts- und Ratskirche hatte. 1531 wurde in Rostock die Reformation eingeführt, die von der Petrikirche ausging, wo Joachim Slüter wirkte. Besonders in der nachreformatorischen Zeit wirkten bedeutende Theologen als Hauptpastoren an der Marienkirche, darunter Valentin Curtius, Georg von Venediger und Lucas Bacmeister der Ältere; Archidiakone waren Johann Quistorp der Ältere und Heinrich Müller. Johannes Saliger (1568/69) und die nach ihm benannten Beatiner sorgten vorübergehend für Unruhe in der Gemeinde. Besonders im 17. Jahrhundert wirkten in St. Marien auch bekannte Kirchenmusiker, darunter die Kantoren Daniel Friderici und Erasmus Sartorius sowie die Organisten David Ebel und Nicolaus Hasse. Seit 2007 ist Karl-Bernhardin Kropf Organist und Kantor. Während der Umbruchszeit 1989 war die Marienkirche, wie auch andere Rostocker Kirchen, Anlaufstelle oppositioneller Kräfte, die sich zu Friedensgebeten und Mahngottesdiensten unter der Leitung von Pastor Joachim Gauck versammelten. Auch Joachim Wiebering, Landessuperintendent des Kirchenkreises Rostock und Pfarrer an der Marienkirche, engagierte sich frühzeitig und war der erste Vorsitzende des Runden Tisches in Rostock. Von der Kirche gingen ab dem 19. Oktober 1989, immer am Donnerstag, die Demonstrationen gegen das SED-Regime aus, an denen bis zu 40.000 Rostocker teilnahmen. 1998 wurden die im Stadtkern gelegenen Kirchengemeinden St. Jakobi, St. Marien und St. Petri/St. Nikolai vereinigt. Die Gemeinde heißt seither „Evangelisch-Lutherische Innenstadtgemeinde Rostock“. Baugeschichte Nach dem Zusammenschluss der vier Kernsiedlungen 1265 genügte der alte Kirchenbau dem Repräsentationsbedürfnis der aufstrebenden Hansestadt nicht mehr, so dass bis etwa 1279 eine frühgotische dreischiffige Hallenkirche aus Backstein errichtet wurde. Von dieser Vorgängerkirche ist heute noch das Sockelgeschoss mit abschließendem Kleeblattbogen und der Giebelwand am Westbau erhalten. Nach westfälischem Vorbild hatte der Bau ein breites Mittelschiff und schmale Seitenschiffe und wahrscheinlich einen chorlosen Ostabschluss. Nachdem die Marienkirche durch den Zusammenschluss der drei Teilstädte 1265 zur Hauptkirche der aufstrebenden Hansestadt geworden war, entstand der Wunsch, die ältere Hallenkirche durch eine größere und repräsentativere dreischiffige Basilika mit Umgangschor zu ersetzen. Vorbild war die Lübecker Marienkirche, mit der Rostock konkurrieren wollte. Auch eine Doppelturmanlage wie die des Lübecker Vorbilds war für die Rostocker Marienkirche geplant. Fast gleichzeitig begannen die Arbeiten am Schweriner Dom und am nahegelegenen Doberaner Münster des dortigen Zisterzienserklosters. Andere Hansestädte hatten kurze Zeit vorher mit dem Bau großer backsteingotischer Kirchen begonnen oder zogen bald darauf nach. Die Umbauarbeiten begannen um 1290 an der Ostseite der Kirche und schritten sehr langsam nach Westen fort. Erst Mitte des 14. Jahrhunderts wurde die ältere Hallenkirche abgebrochen, nachdem die neuen Außenwände fertiggestellt waren. Der ältere Turmbau wurde übernommen und erweitert, die geplante Doppelturmanlage aber nicht ausgeführt, nachdem sich das südliche Turmmauerwerk während der Bauarbeiten ein wenig nach Osten geneigt hatte. Zu dieser Zeit wurden auch die mächtigen verstärkten Vierungspfeiler errichtet, die in größerem Abstand zueinander stehen als die Pfeiler der übrigen Joche. Dies deutet darauf hin, dass der Bau des einschiffigen Querhauses frühzeitig geplant war. Ein Einsturz des mit 31,5 m lichter Höhe sehr hohen Langhausgewölbes 1398 und eine anschließende Neukonzeption mit der Errichtung des Querhauses, von dem eine Inschrift neben dem südlichen Querschiffportal berichtet, wird in der Forschung heute angezweifelt, da alles auf eine kontinuierliche Bauentwicklung um 1398 hindeute. Charakteristisch für die Bauphase um 1400 ist die Verwendung schichtweise verlegter lehmgelber und grün glasierter Ziegel, während in älteren Bauteilen durchweg roter Backstein vermauert wurde. 1420 ist in Urkunden von Altären in den Seitenschiffen die Rede, was deren damalige Fertigstellung voraussetzt. Um 1440 wurde das Turmmassiv um ein Stockwerk erhöht, 1454 wurden die Gewölbe vollendet und die Kirche damit nach oben geschlossen. In nachreformatorischer Zeit wurde der Innenraum von St. Marien dem protestantischen Ritus angepasst. Von den vierzig Altären, die für die Zeit um 1500 bezeugt sind, blieben mit dem Rochusaltar und einem Flügel des Marienaltars nur noch zwei erhalten. 1723/24 wurden die Wände des Innenraumes erstmals weiß gekalkt. 1723/24 und 1843 wurden die Innenwände weiß getüncht. Von der einstigen Ausmalung hat sich ein Rankenfries aus dem 14. Jahrhundert in der mittleren Turmhalle erhalten. Weitere Wandmalereien wurden 2005 bei Sanierungsarbeiten gefunden und freigelegt. Die heutige Turmspitze und der Dachreiter auf der Vierung stammen von 1796, auf Stichen des 16. Jahrhunderts sind jedoch bereits ähnliche Dachkonstruktionen zu sehen. In den Jahren 1901/02 wurden die Kupferdächer noch einmal saniert. Im Zweiten Weltkrieg überstand St. Marien als einzige der vier Rostocker Stadtkirchen die schweren Bombenangriffe von 1942 und 1944, die die Altstadt gut zur Hälfte vernichteten, vergleichsweise glimpflich. Eine Reihe von Brand- und Phosphorbomben trafen die Kirche bei insgesamt drei Luftangriffen: die Turmlaterne, der Dachstuhl und die beiden kleinen Türme brannten. Diese Brände konnten dank schnellen Eingreifens unter Lebensgefahr durch den damaligen Küster Friedrich Bombowski, seine Tochter, weitere beherzte Bürger und Brandwachen der Wehrmacht gelöscht werden. Sie machten auch eingeschlagene Phosphorbomben unschädlich, bevor sie zu stärkeren Bränden führten. Die Tochter erlitt 1942 eine schwere Rauchgasvergiftung und starb an den Folgen im Mai 1945 im Alter von 24 Jahren. Notdürftig instand gesetzt, konnte die Kirche in den Nachkriegsjahrzehnten ihrer Bestimmung gemäß genutzt werden. Der Verschleiß durch Undichtigkeiten und Alterung setzte sich aber fort und machte eine umfassende Gesamtrestaurierung nötig, die 1992 begonnen und 2021 abgeschlossen wurde. Baubeschreibung Grundriss St. Marien ist eine dreischiffige Basilika. Das zweijochige Langhaus und das Querhaus treffen sich in der quadratischen zentralen Vierung und bilden einen kreuzförmigen Grundriss, der dem Bau den Charakter eines Zentralbaus gibt. Das Querhaus ist mit 73 Metern fast ebenso lang wie der 76 Meter messende Kirchenbau in seiner gesamten West-Ost-Ausdehnung einschließlich des Westbaus und der östlichen Choranlage. Der Chor umfasst zwei rechteckige Joche und einen 5/8-Schluss. Die Verlängerungen der Seitenschiffe bilden den Chorumgang mit fünf radial angelegten Kapellen. Die Seitenschiffe sind in allen vier Jochen um jeweils zwei Kapellen an der Nord- und Südfassade erweitert. Die Mittelschiffbreite beträgt 11 Meter, die Raumhöhe 31,5 Meter. Damit ist der Innenraum von St. Marien nach der Lübecker Marienkirche (38 m), den Wismarer Kirchen St. Nikolai (37 m), St. Georgen (35 m) und St. Marien (32 m) sowie der Stralsunder Marienkirche (32,4 m) der sechsthöchste unter den großen Kirchen der Backsteingotik. Das südliche Ende des Querhauses mit drei querrechteckigen Jochen schließt mit einer Schaufront ab, die das Kirchenportal bildet, während das nördliche Ende des Querhauses einen fünfseitigen Abschluss erhielt. Außenbau Der mächtige Westbau ragt mit seinem Turmmassiv kaum über den übrigen Baukörper hinaus, der vom Querhaus dominiert wird. Der in rotem Backstein ausgeführte blockhafte Turm besteht im unteren Teil noch aus dem Sockelgeschoss des frühgotischen Vorgängerbaus, der oben von einem Kleeblattbogenfries abgeschlossen wird. Die drei spitzbogigen Gewändeportale, von denen das größte in der Mitte zugemauert ist, werden von einer rechteckigen Portalrahmung umfasst, die noch typisch romanisch ist. Die teilweise vermauerten Spitzbogen- und Rundfenster haben frühgotische Formen. Über diesem ältesten Teil der Kirche erheben sich drei einheitlich gestaltete Stockwerke, die in drei Blöcke untergliedert sind: Neben dem Mittelteil sind die seitlichen Blöcke durch streifenförmige Steinverlegung hervorgehoben. Diese Untergliederung wird als Hinweis auf eine ursprünglich geplante Doppelturmfassade gewertet. Jedes Stockwerk hat im Mittelteil ein, in den Außenteilen jeweils zwei, auf der Nord- und Südseite je drei spitzbogige Blendfenster und wird von einem Spitzbogenfries abgeschlossen. Die Turmecken sind durch aufgesetzte Lisenen abgesetzt. Der Mittelteil überragt die Seiten um ein Stockwerk mit spitzbogigen Fenstern als Schalllöcher für die Glocken und hat oberhalb des dritten Geschosses als Besonderheit einen älteren Fries mit einfach gestalteten Flachreliefs. Die glasierten Tonfiguren aus dem 13. Jahrhundert stellen wahrscheinlich die Apostel, Jesus und Maria dar sowie Propheten in den Arkadenzwickeln. Möglicherweise stammt der Fries vom Lettner der Vorgängerkirche. Statt der nicht ausgeführten Doppelturmanlage erhebt sich über dem Westbau ein Zeltdach, das von einer zierlichen Laterne bekrönt wird. Das nach 1290 gebaute Langhaus hebt sich durch den schichtweisen Wechsel von gelbem Backstein und grün lasierten Ziegeln vom Westbau ab. Eine Ausnahme davon macht der östliche Kapellenkranz aus dem frühen 15. Jahrhundert, bei dem ebenfalls rote Backsteine verwendet wurden. Die fünf Kapellen schließen den Chor polygonal ab. Zwischen den dreiteiligen Spitzbogenfenstern der Kapellen befinden sich Strebepfeiler mit Fialtürmchen, die erkennbar geplanten Strebebögen wurden jedoch nicht ausgeführt, wodurch der Kirchenbau einen sehr kompakten Charakter hat. Die Kapellen des Chorumgangs werden lediglich unter dem Dachabschluss durch einen Kleeblattbogenfries geschmückt. Das nach 1398 errichtete Querhaus ist in der gleichen Schichtung gelber und grün lasierter Backsteine gemauert wie das Langhaus und fast ebenso lang wie dieses. Die Südfassade des Querhauses ist mit großem fünfteiligem Mittelfenster und blendengeschmücktem Giebel als Schaufront gestaltet und bildet den Haupteingang der Kirche. Im Tympanon befinden sich barocke Figuren der christlichen Tugenden aus der Mitte des 18. Jahrhunderts. Über der zentralen Vierung erhebt sich ein barocker Dachreiter mit Spitzhelm und Laterne. Innenraum Der Innenraum der Marienkirche wird durch das Portal des südlichen Querhauses in Höhe des dritten Jochs betreten. Der Blick durch das gesamte Querhaus bis zu den drei hohen Spitzbogenfenstern im Norden ist unverstellt. Die Vierung bildet als Schnittstelle von Quer- und Langhaus fast genau die Mitte des Kirchenbaus von St. Marien. Lediglich das östliche Langhaus ist durch den Chor, der durch drei Stufen erhöht und somit hervorgehoben ist, länger als die drei übrigen Gebäudeteile. Das westliche Langhaus wirkt durch den Einbau des massiven Orgelprospekts dagegen verkürzt. Massige, gedrungen wirkende Pfeiler tragen über mehrfach gekehlte Bögen als oberen Raumabschluss ein Sterngewölbe, in den Seitenschiffen einfachere Kreuzrippengewölbe. Die sechs Pfeiler der Chorapsis stammen noch aus der Zeit vor Errichtung des Querhauses. Vorgelegte Dienste nehmen die Gewölberippen auf und leiten sie zum Boden. Die Stelle des üblichen Kapitellkranzes nimmt hier umlaufendes Laubwerkornament ein. Inschriften zufolge stammt das Blattwerk der übrigen Pfeiler von 1723/24. Während das dem Eingangsportal gegenüberliegende nördliche Querhaus und der Chorumgang recht hell wirken, dringt vergleichsweise wenig Licht in den Chorraum und den Raum unterhalb der Orgelempore, da die Seitenschiffdächer sehr hoch angesetzt sind. Die Glasmalereien der Fenster des südlichen Querhauses reduzieren den Lichteinfall zusätzlich. Bauzustand und Sanierung Seit 1992 konnte durch die Arbeit eines Fördervereins, die finanzielle Unterstützung von Bürgern, Bund und Land Mecklenburg-Vorpommern, der Stadt Rostock, der Deutschen Stiftung Denkmalschutz und anderer Stiftungen eine umfassende Sanierung St. Mariens in Angriff genommen werden. In der Zeit zwischen 1992 und 2005 konnten so 5,5 Millionen Euro aufgebracht werden. Seit 2004 sind die Kirchendächer wieder abgedichtet, Mauerwerk gesichert und Gewölbe restauriert worden. 2008 wurde die Sanierung der Hochgewölbe sowie der Fenster im Chorraum und im Südquerhaus abgeschlossen. Anschließend begann die Sanierung des Westbaues einschließlich der Turmdächer und des Geläutes, die 2010 beendet wurde. 2011 wurden die Fenster in der Apsis des Nordquerhauses sowie bis Anfang 2014 die Gewölbe im Kapellenkranz saniert. Im Juni 2021 wurde der letzte Sicherungsabschnitt an Fenstern des nördlichen Seitenschiffs abgeschlossen. Ausstattung Die Marienkirche weist neben der Nikolaikirche Stralsund die reichste erhaltene Ausstattung im Ostseegebiet auf, obwohl große Teile davon dem Bildersturm der Reformationszeit zum Opfer fielen. Hauptaltar Der Hochaltar mit zweigeschossigem barockem Architekturaufbau aus Holz wurde 1720/21 von Baudirektor Christian Rudolph Stoldt aus Berlin entworfen und von Berliner Künstlern ausgeführt: dem Maler Andreas Weißhut, dem Bildhauer Hinrich Schaffer und dem Tischler Friedrich Möller. Der Altar ist grauoliv gefasst, die plastischen Figuren sind weiß, goldene Ornamente akzentuieren die Komposition. Der geschwungene Grundriss steht im Scheitel des Chorraumes und passt sich dem Chorschluss an. Links und rechts schließen sich Beichtstühle an den Altar an, die von den beiden alttestamentlichen Königen und reuigen Sündern David und Manasse bekrönt werden. Motiv des gemalten Hauptfeldes ist die Auferstehung Jesu Christi, eingefasst von zwei Skulpturen, die die Gesetzestafeln, ein Buch, Sonne und Mond tragen. Außen wird diese Etage von den Personifikationen der christlichen Tugenden – Glaube, Liebe und Hoffnung – sowie der Stärke umrahmt. In der Sockelzone darunter ist das Abendmahl dargestellt. Eine geschnitzte, von Putten getragene Kartusche mit einer Darstellung des Auferstandenen als Salvator Mundi bildet den Übergang vom Hauptfeld zu einem oberen Stockwerk des Altares. Auch dieses Gemälde, dessen Motiv die Herabkunft des Heiligen Geistes während des Pfingstfestes ist, wird von vier plastischen Personifikationen der Tugenden umrahmt. An der Spitze des Altars befindet sich das in einem ausladenden Strahlenkranz ruhende Auge Gottes. Kanzel Die Predigtkanzel befindet sich in ungewöhnlich großer Entfernung zum Altar am südwestlichen Vierungspfeiler. Der Grund dafür dürfte die relativ schlechte Akustik der Marienkirche gewesen sein, die eine größtmögliche Nähe zum Kirchenvolk nötig machte. Es ist eine Renaissance-Holzkanzel, die 1574 angeblich der aus Antwerpen stammende, aber in Rostock ansässige Bildhauer Rudolf Stockmann († 1622) schuf. Da Stockmann, dessen Werk auch die Kanzeln der Petri- und der Jakobikirche sowie zahlreiche Epitaphien sind, jedoch erst ab 1577 in Rostock nachweisbar ist, ist diese Zuschreibung umstritten. Auf die Kanzel gelangt man über einen um den Pfeiler geschwungenen Aufgang, der von einem Eingangsportal abgeschlossen wird. Dieses Portal ist im Aufbau der Architektur eines Triumphbogens mit seitlichen korinthischen Säulen und einem Bogenfeld über der Tür nachgebildet. Dieses Feld trägt ein Relief mit der Darstellung des Barmherzigen Samariters zwischen Mose und Johannes dem Täufer, darüber Jakobs Ringen mit dem Engel. Das Geländer der Treppe ist zeittypisch mit reichen, vergoldeten Reliefs und Ornamenten geschmückt, die am Kanzelkorb in noch prächtigerer Form und vollplastisch mit Darstellungen der Passion und Auferstehung Christi fortgesetzt werden. Ihr ikonographisches Programm ist charakteristisch für die norddeutsche Kunst der Reformationszeit. Der Schalldeckel wurde 1723 von dem Tischler Friedrich Möller und dem Bildhauer Dittrich Hartig aus Rostock gefertigt. Er ist dem Dekor der Spätrenaissance des älteren Korbs angepasst und stellt Szenen der Apokalypse des Johannes dar. In den Holzschnitzereien fehlten einige Figuren, und sie waren stark verschmutzt. Die Kanzel wurde deshalb von 2014 bis Frühjahr 2016 für 140.000 Euro restauriert. Orgel und Fürstenloge Die erste Erwähnung einer Orgel findet sich im Jahr 1452. Am Westwerk, dem Standort der heutigen Orgel, schuf in den Jahren 1590 bis 1593 der Mecklenburger Orgelbauer Heinrich Glowatz ein großes Instrument mit etwa 54 Registern auf drei Manualen und Pedal (Die vorhandenen Quellen beschreiben das Instrument leicht unterschiedlich). Wegen Abnutzung und Einsturzgefahr wurde dieses Instrument 1766 von dem Rostocker Orgelbauer Paul Schmidt abgetragen und durch ein neues ersetzt. Der bis zum Gewölbe ansteigende prachtvolle Orgelprospekt (1767 bis 1769) mit unterbauter älterer Fürstenempore, erbaut 1749–1751 unter Christian Ludwig II., Herzog zu Mecklenburg, und dem Ratsgestühl im westlichen Abschluss des Langhauses wurde von mehreren Rostocker Künstlern geschaffen: den Bildhauern J. A. Klingmann und J. G. Bergmann, dem Tischler Kählert und den Malern Hohhenschildt, Marggraf und Brochmann. Wie die beiden anderen raumbeherrschenden Elemente, Altar und Kanzel, sind auch die Orgel und die Fürstenloge in Grauoliv mit goldenen Ornamenten gefasst. Die Fürstenloge befindet sich direkt unter der Orgel. Sie wurde von Jean Laurent Legeay im Stil des Rokoko gestaltet und 1749 bis 1751 errichtet. Sie wird von zwei verglasten Balkonen flankiert und von einem Baldachin mit dem Wappen des Hauses Mecklenburg-Schwerin und den Initialen Christian Ludwigs II. gekrönt. Es ist einer der größten Herrschaftsstühle in einer Kirche. Über der Fürstenloge ragt der Orgelprospekt auf. Die Fassade der am 2. Juli 1770 eingeweihten Orgel von Paul Schmidt ist erhalten. Da sein Orgelwerk „windsüchtig“ war, wie die Inschriften auf der Orgelempore berichten, wurde 1789 ein Um- bzw. Neubau nötig, den Ernst Julius Marx von 1790 bis 1793 ausführte. Im Inneren der Orgel ist von Schmidts Instrument nahezu nichts mehr erhalten. Nach weiteren Veränderungen im 19. und zu Beginn des 20. Jahrhunderts wurde die Orgel zuletzt 1938 von der Orgelbaumanufaktur Sauer (Frankfurt/Oder) umgebaut. Den Plan für diesen neobarocken Umbau entwarf der Berliner Domorganist Fritz Heitmann. Über 30 Register stammen aber noch aus der Zeit vor 1938, zudem wurden die Schleifladen von Marx beibehalten. Im Zweiten Weltkrieg war die Orgel notdürftig durch eine hohe Barriere von Sandkisten gegen Brandbomben geschützt. 1983 wurde das Instrument generalüberholt und 2007 von Einwirkungen der Gewölberestaurierung gereinigt. Es ist eine viermanualige Orgel mit elektropneumatischer Traktur und 83 klingenden Registern mit vier freien Kombinationen und folgender Disposition: Koppeln: I/II, I KW/III, III/II, IV/I, IV/II, IV/III, I/P, II/P, III/P, IV/P, Generalkoppel Spielhilfen: 4 freie Kombinationen Im Jahr 2009 wurde ein Kolloquium zur Zukunft der Orgel veranstaltet. Seit 2019 gibt es konkrete Überlegungen zur Neu- bzw. Umgestaltung des Instruments. Herausforderungen sind die Akustik und die ungünstige Gehäuseform, die vorliegende Schadstoffbelastung, fehlender Brandschutz, problematischer Allgemeinzustand und die Berücksichtigung der Anliegen des Denkmalschutzes. Gegenwärtiger Organist ist Karl-Bernhardin Kropf. Bronzefünte Das gotische Taufbecken (hier eine „Bronzefünte“) in der nördlichsten Chorkapelle ist die bedeutendste und größte mittelalterliche Erztaufe im Ostseegebiet. Die Inschrift an der Unterkante des Deckels nennt Rostock als Ort des Gusses und datiert diesen oder die Weihe des Taufkessels auf Ostern 1290. Damit ist die Fünte das älteste Ausstattungsstück der Marienkirche. Die Werkstatt ist unbekannt; auf eine niedersächsische Herkunft der Künstler weisen ikonografische Ähnlichkeiten etwa mit dem Taufbecken im Hildesheimer Dom. Auch mit dem Taufkessel von St. Martini in Halberstadt bestehen Ähnlichkeiten. Kessel und Deckel sind stilistisch und technisch unterschieden und stammen wohl von verschiedenen Künstlern. Der runde, sich konisch nach unten verjüngende Kessel wird von vier Männerfiguren mit großen Amphoren getragen, die Personifikationen der vier Paradiesströme ähneln, hier aber durch Inschriften als Allegorien der vier Elemente bezeichnet sind. Zwei Streifenzonen auf dem Becken und drei auf dem Deckel – jeweils durch Schriftbänder voneinander getrennt, die in gotischen Majuskeln verkürzte Formen des Ave Maria und des Salve Regina enthalten – sind mit reichem Figurenschmuck bedeckt. Anders als die Reliefs des Kessels sind die Figuren des spitzkegeligen Deckels nicht mitgegossen, sondern wurden nachträglich aufgenietet. Die Szenen der beiden Reihen auf dem Kessel stellen unter kleeblattbogigen Säulenarkaden Leben und Passion Christi dar. Der unterste Streifen des Deckels zeigt Taufe und Himmelfahrt Jesu im Hochrelief. Eine ikonografische Besonderheit ist der Typus des entschwindenden Jesus, wobei Christus hier Fußabdrücke auf der Erde hinterlässt. Begleitfiguren verkörpern die Einheit der Kirche. Der mittlere Deckelstreifen ist mit den klugen und törichten Jungfrauen besetzt, ganz oben sind drei weibliche Heilige dargestellt. Ein sich in die Lüfte emporschwingender Adler auf einem achtteiligen Knauf krönt die insgesamt 2,95 Meter hohe Fünte. Die monumentale Größe rührt von der bis ins 15./16. Jahrhundert üblichen Sitte, Täuflinge mit dem ganzen Körper in das Wasser einzutauchen. Ursprünglich war die Fünte im mittleren Turmuntergeschoss aufgestellt. Während des Zweiten Weltkrieges war sie zum Schutz vor den Luftangriffen in die Dorfkirche Belitz ausgelagert, 1945 vor Eintreffen der Roten Armee vergraben worden und 1951 kehrte sie nach St. Marien zurück. Dadurch hat das Metall teilweise Schaden genommen, die Flügel des Adlers mussten nach dem Krieg durch Holzflügel ersetzt werden und konnten erst 1998 gegen bronzene ausgetauscht werden. Astronomische Uhr Im Chorumgang füllt hinter dem Hochaltar eine elf Meter hohe astronomische Uhren-Anlage den gesamten Raum zwischen zwei Pfeilern aus. Das Ziffernblatt ist über 16 m2 groß. Urkunden belegen, dass eine erste Uhr 1379 vermutlich vom Uhrmacher Nikolaus Lilienfeld erbaut wurde, der 1394 auch die astronomische Uhr in St. Nikolai zu Stralsund anfertigte. Es war deshalb vermutlich eine Astrolabiumsuhr – gleich wie die noch erhaltene (nicht mehr gängige) Stralsunder Uhr. Auftraggeber dieser ersten Uhr war die Marientiden-Bruderschaft, der sogenannte „Herren-Kaland“, in dessen Besitz sich die Kapelle befand. Mitglieder dieser Bruderschaft waren ausschließlich die Spitzen der Rostocker Gesellschaft, darunter der Bürgermeister, Universitätsprofessoren, Mitglieder des Fürstenhauses und der Adel der Region. Gegenüber der Uhr stand der Marienaltar der Bruderschaft mit einem bedeutenden Marien-Gnadenbild. Zum 26. Oktober 1472 hatten der Schweriner Bischof Werner Wolmers und Michael von Rentelen in Rostock einen Ablass zugunsten der Marienkirche erteilt, damit sie ein neues Kupferdach und eine neue Uhr bekommen könne. Am gleichen Tag erhielt auch der große Herren-Kaland eine Ablassbestätigung für bestimmte gute Werke. Die neue Uhr war die erneut vom Herren-Kaland in Auftrag gegebene Astronomische Uhr. Im selben Jahr ersetzte Hans Düringer die wahrscheinlich zwischenzeitlich zerstörte Uhr durch eine neue, die keine Astrolabiumsuhr mehr ist. Die zueinander relativen Bewegungen am Himmel werden nicht mehr anschaulich dargestellt. Sie werden einzeln mit rotierenden Zeigern, gleich wie die Bewegung der Sonne relativ zum Horizont, durch den Stundenzeiger angedeutet. Die Uhr wurde wenig umgebaut oder erweitert, so dass sie heute noch in ihrem annähernd originalen Zustand ist. Sie funktioniert auch noch und die fünf Werke werden täglich von Hand aufgezogen. 1641 bis 1643 erfolgte die erste größere Instandsetzung und Erweiterung, die der Uhrmachermeister Lorenz Borchhard (aus Rostock) ausführte. Das Uhrengehäuse erhielt einen Renaissance-Rahmen. Das Figurenspiel wurde erweitert und durch ein Musikspiel ergänzt. Das Musikspiel, dessen Melodien über eine Walze mit veränderbaren Stiften frei programmiert werden können, ertönt zu jeder vollen Stunde. Der über der Hauptuhr angebrachte Figurenumzug erscheint zur 12. und zur 24. Stunde. 1710 wurde die Spindel-Waag-Hemmung durch eine Pendel-Haken-Hemmung ersetzt. Der äußere Ring der Hauptuhr ist die Skala für die 2-mal-12-Stunden-Zählung einer Großen Uhr. Dazu gehört der im Uhrzeigersinn drehende Stundenzeiger. Nach innen schließen sich eine Tierkreiszeichenskala und eine Skala mit Monatsbildern an. Im Zentrum drehen sich außer dem Stundenzeiger zwei Scheiben im Gegenuhrzeigersinn. Die vordere Sonnenscheibe dreht sich über der darunter liegenden Mondscheibe. Beide tragen an ihrem Rand je einen Sonnen- bzw. Mondzeiger. Der Sonnenzeiger überstreicht mit seiner Scheibe in 365 Tagen die Tierkreiszeichen- und die Monatsbilderskala (Anzeige des Tierkreiszeichens, das die Sonne durchläuft, und des Monats). Der Mondzeiger überstreicht mit seiner Scheibe in 27 1/3 Tagen (siderischer Monat) die Tierkreiszeichen-Skala (Anzeige des Tierkreiszeichens, das der Mond durchläuft; Zusammentreffen mit dem Sonnenzeiger nach jeweils einem synodischen Monat). Die Sonnenscheibe hat eine runde exzentrische Öffnung. Unter der Öffnung ist die Mondscheibe über je einen halben Umfang hell bzw. dunkel. Auf diese Weise werden die Mondphasen als Bildchiffre angezeigt (dunkle Öffnung bei Neumond, helle Öffnung bei Vollmond, dazwischen teilweise dunkel und hell bzw. hell und dunkel bei zunehmendem bzw. abnehmendem Mond). 1943 wurde die Uhr zum Schutz gegen Bombenangriffe eingemauert und erst 1951 wieder freigelegt. 1974/77 wurden die aus insgesamt 2000 Einzelteilen bestehenden fünf Werke restauriert. Unter der Hauptuhr befindet sich ein Kalendarium. Dessen Kalenderscheibe läuft im Uhrzeigersinn einmal im Jahr herum. Auf sie ist ein fixer radialer Zeiger, der von einer links neben der Scheibe unterhalb deren Mitte befindlichen Person (Kalendermann) gehalten wird, gerichtet. Mit seiner Hilfe sind die Angaben in den fünf äußeren Kreisskalen der Scheibe ablesbar. Es handelt sich um das Kalenderdatum (Monat und Tag) und „ewige“, jedem Tag des Jahres fest zugeordnete Angaben (Tagesbuchstabe, Tagesheiliger und Uhrzeit des Sonnenaufgangs). Die inneren Skalen der Scheibe enthalten konstante Daten eines Kalenderjahres, die in einer kreisförmigen Tabelle dargestellt sind. Dass die Scheibe sich zusammen mit dem Jahreskalender dreht, ist eigentlich unnötig. Auf der sechsten Skala von außen haben 133 Jahreszahlen Platz. Jeder dieser Zahl folgen Jahreskonstanten (Goldene Zahl, Sonntagsbuchstabe, Sonnenzirkel, Römer-Zinszahl, Tagesdistanz zwischen Weihnachten und Beginn der Fastenzeit und Osterdatum). Vier dieser Konstanten (außer Römerzinszahl) stehen im Zusammenhang mit dem Osterdatum. Tag- und Nachtlänge sind durch je ein Fenster in einer ruhenden zentralen Abdeckscheibe von zwei weiteren, innersten Skalen ablesbar. An dieser Abdeckscheibe ist auch ein weiterer radial über der drehenden Scheibe angebrachter Stab befestigt, dessen Funktion unklar ist. Die derzeitige Scheibe ist die vierte, wegen der beschränkten inneren Tabelle jeweils nur während 133 Jahren benutzbaren Kalenderscheiben. Ihre Tabelle reicht von 1885 bis 2017. Ab November 2017 wurde die ab 2018 gültige fünfte Scheibe montiert. Sie wurde von Manfred Schukowski berechnet und folgt in der Gestaltung der Scheibe von 1855, wurde zum 1. Januar 2018 in Gebrauch genommen und reicht bis 2150. Flankierend dazu wurde die Mechanik überholt. Diese Uhr ist ausführlich dokumentiert. Rochusaltar Der zwischen Spätgotik und Frührenaissance stehende Rochusaltar aus der Zeit um 1530 in der südöstlichen Chorkapelle ist eine Stiftung der Zunft der Barbiere und Wundärzte, deren Schutzheilige Cosmas und Damian den linken Flügel des Triptychons ausfüllen. Im Zentrum des Schnitzretabels stehen die beinahe lebensgroßen, fast vollplastischen Figuren der Heiligen Rochus, Sebastian und Antonius. Während Rochus und Sebastian Schutzheilige gegen Pest und Seuchen sind, wurde Antonius zum Schutz vor Mutterkornvergiftungen und Tierseuchen angerufen. Im rechten Altarflügel sind Christophorus und der heilige Bischof Hugo von Rouen dargestellt. Im Gesprenge vervollständigen Maria und vier weibliche Heilige das gestalterische Programm: Katharina von Alexandrien, Barbara und Margarethe, die wie Christophorus zu den Vierzehn Nothelfern zählen, und Dorothea. Der Schnitzaltar mit den für den norddeutschen Raum untypischen großen Vollplastiken ist wohl importiert worden oder setzt zumindest die Kenntnis süddeutscher Vorbilder voraus. Als Herkunftsregion kommt besonders der Niederrhein in Betracht. Darauf weisen Formelemente wie Kielbogenabschlüsse und das Gesprenge hin. Vergleichbares gibt es jedoch auch in der Lübecker Werkstatt des Benedikt Dreyer. Es ist ein erhaltener Nebenaltar von ehemals 39, die in dieser Kirche standen. Weitere Ausstattung Ein einzelner, beidseitig bemalter Retabelflügel, angeblich von einem Marienaltar, ist im südlichen Querhausarm erhalten. Er zeigt auf beiden Seiten jeweils vier Szenen, von der Verkündigung der Geburt Jesu durch den Erzengel Gabriel bis zur Anbetung der Könige und der Passion Christi. Aus stilistischen Gründen wird er um 1430/40 datiert und in den Umkreis des Hamburgers Meister Francke eingeordnet. Dem Künstler werden neben dem Marienaltar die Malereien der Hauptaltäre der Wismarer Georgenkirche und der Johanniskirche in Malchin zugeschrieben, nach dem der Maler den Notnamen Meister des Malchiner Altars erhielt. Gegenüber dem Eingangsportal, im nördlichen Querhaus, steht der ehemalige Hochaltar der Nikolaikirche. Der Altar stammt aus einer Rostocker Werkstatt und wurde im dritten Viertel des 15. Jahrhunderts geschnitzt. Die gleiche Werkstatt schuf den Altar in der Heiligkreuzkirche. In der westlich daran angrenzenden Kapelle, der sogenannten „Brökerkapelle“, steht eine spätgotische Mondsichelmadonna, die wahrscheinlich aus dem ersten Viertel des 16. Jahrhunderts stammt. An der nördlichen Wand der Kapelle hängt ein Teppich mit Applikationsarbeiten aus der ersten Hälfte des 16. Jahrhunderts. Die Motive lassen auf eine liturgische Bestimmung des Wandteppichs zum Fest der Verkündigung des Herrn schließen. In das Fenster darüber sind die einzigen spärlichen Reste mittelalterlicher Glasmalerei der Marienkirche eingearbeitet. An der linken Wand der Kapelle hängt ein weißes Leinentuch mit bunter Seidenstickerei, das sogenannte „Hochzeitstuch“, aus dem 16. Jahrhundert, auf dem über einem Wappen ein Paar dargestellt ist. Tiere, ein Dudelsackspieler, Ranken- und Blütenornamentik füllen den Rest des gut drei Meter langen und knapp 70 Zentimeter breiten Tuches aus. An Pfeilern und Wänden finden sich zahlreiche Tafelbilder, darunter zwei Lazarusdarstellungen des 17. Jahrhunderts, und mehrere Porträts von Pastoren aus dem 17. und 18. Jahrhundert. Von den einstigen Glasmalereien haben sich infolge der Kriegsschäden nur Reste erhalten. Die Darstellung des Jüngsten Gerichts im südlichen Querhaus stammt aus dem Jahr 1906 und wurde von einer Innsbrucker Werkstatt geschaffen. Im Chorumgang hängt ein Schiffsmodell des Fregattseglers „Carl Friedrich“ von 1840. Im östlichen Langhaus hängen 2 Gemälde des Rostocker Malers Egon Tschirch. In „Die zerstörte Stadt“ hielt Tschirch die großflächige Vernichtung des Zentrums Rostocks 1942 fest. Die nur zum Teil beschädigte Marienkirche erhebt sich aus Ruinen. Grabkapellen und Epitaphe Die Seitenschiffkapellen am Langhaus und am Chor dienten früher als Grüfte und wurden mit aufwendigen hölzernen Architekturschauwänden versehen. Drei dieser Grüfte sind heute noch im südwestlichen Seitenschiff des Langhauses vorhanden. Die erste Langhauskapelle in der Ecke neben dem Eingangsbereich ist das Meerheimbsche Erbbegräbnis von 1820 mit einer Schauwand in Form einer Tempelfront. Zwei Epitaphe der Spätrenaissance für die Familien von Kosse und von Lehnsten füllen den Zwischenraum zur nächsten Kapelle aus. Hier ist die Grabkapelle der Familie von Heinen. Nach dem Tod des dänisch, norwegischen Generals Albrecht Christoffer von Heinen (geboren 3. März 1651, gestorben 2. Mai 1712) ließ dessen Ehefrau um 1714 diese mittelalterliche Einsatzkapelle errichten. Zunächst nur für den General vorgesehen wurden später auch seine Ehefrau Margareta von Heinen (1672–1732), die Tochter Friederike Maria von Heinen (–1748) und der Sohn Christian Ludwig von Heinen (16. Januar 1698–21. September 1749) hier bestattet, in den einzigen drei Sandsteinsarkophagen der St.-Marien-Kirche. Die Kriegswaffen über der Eingangstür weisen auf die militärische Karriere Albrecht Christopher von Heinens hin, zentral ist als Memento mori der Tod als liegendes Skelett mit Stundenglas und Hippe dargestellt. Daneben liegt die frühere „Schusterkapelle“, später „Vorsteherstube“, die im 18. Jahrhundert Grabkapelle der Familie von Clausenheim war, wovon ihr monumentales Wappen über der Abgrenzung zum Kirchenschiff zeugt, und dann Begräbnisstätte für den Rostocker Zweig der Schriftstellerfamilie Mann war. Wie die meisten Sarkophage aus der Marienkirche wurden auch sie auf Friedhöfe umgebettet. Die Fenster über der Kapelle wurden 1896 von August Friedrich Mann gestiftet und zeigen Bildnisse mehrerer Familienmitglieder. Zwischen beiden Kapellen hängt das Gulesche Epitaph aus dem frühen 17. Jahrhundert. Weitere Epitaphe und zahlreiche Grabsteine sind über den ganzen Kirchenraum verteilt. Glocken Das historische Geläut der Kirche hatte sich infolge des Zweiten Weltkriegs auf vier Glocken reduziert, die außerdem an verschiedenen Orten genutzt bzw. gelagert wurden. In der nordöstlichen Kapelle des Chorumgangs standen bis 2009 die beiden ältesten Kirchenglocken der Marienkirche, die beide gesprungen waren. Um 1300 wurde die Bürgerglocke gegossen; die Große Glocke goss Rickert de Monkehagen im Jahre 1409. Beide wurden 1950 geschweißt, die Risse brachen aber beim Probeläuten wieder auf. Die Kronen dieser beiden Glocken waren schon Jahrzehnte vorher wegen technischer Änderungen der Aufhängung abgetrennt worden. Nahezu unbeschädigt war die Bleichermädchen genannte Glocke, die von 1980 bis 2009 an der Ecke von Langhaus und südlichem Querschiff stand. Diese Glocke stammt ebenfalls aus der Gießerwerkstatt Monkehagen und wurde 1450 gegossen. Diese drei Glocken wurden 2009 zusammen mit der im Kirchenschiff von St. Petri abgestellten, 1554 von Hans Lavenpris gegossenen Wächterglocke in das Glockenschweißwerk Lachenmeyer in Nördlingen gebracht. 2010 erhielten die beiden großen Glocken neue Kronen, ihre Risse wurden geschweißt. Die kleineren Glocken erhielten neue Kronenhenkel. Im November 2010 kehrten sie in den Turm zurück. Am 14. Januar 2011 wurde die vom Bildhauer Wolfgang Friedrich gestaltete Betglocke zur Entlastung des Altbestandes in der Karlsruher Glockengießerei Bachert gegossen. Im Mai 2011 wurden dann die vier mittelalterlichen und die neuen Glocke geweiht und in Dienst genommen. Am 28. Oktober 2011 goss dieselbe Gießerei schließlich noch die ebenfalls von Wolfgang Friedrich gestaltete Sakramentsglocke, die zur zusätzlichen Schonung des Altbestandes angeschafft worden ist. Von 1980 bis 2010 bestand das Geläute der Marienkirche aus drei Glocken. Die älteste wurde 1548 von Peter Matze gegossen (≈1.250 kg, Durchmesser ≈1.300 mm, Schlagton e1) und überstand 1942 die Zerstörung der Petrikirche; sie gelangte danach in den Turm der Marienkirche. Im Jahr 1979 lieferten Apoldas letzter Glockengießermeister Peter Schilling und seine Frau Margarete Schilling zwei Bronzeglocken (3456 kg, Durchmesser 1710 mm, Schlagton h0 und 1948 kg, Durchmesser 1400 mm, Schlagton d1). Diese Glocken hingen an tief gekröpften Stahljochen, die zu erheblichen Klangeinbußen führten. Dieses Dreiergeläut soll, technisch saniert, im Rahmen des für die Petrikirche projektierten Glockenprojekts wieder in Betrieb gehen, um das notdürftige Eisenhartguss-Geläut im Glockenträger vor der Kirche zu ersetzen. In der Turmlaterne hängt starr die Stundenglocke von 1379, die ebenfalls aus der Werkstatt Monkehagen stammt und seit Dezember 2009 wieder über einen Uhrschlag-Hammer verfügt. Übersicht über das heutige Geläut an St. Marien nach der Restaurierung der mittelalterlichen Glocken und Zuguss von Betglocke und Sakramentsglocke: Glocken-Ritzzeichnungen Die 1409 gegossene große Glocke der Marienkirche weist seltene, kunsthistorisch bedeutsame Glocken-Ritzzeichnungen auf. Literatur Gerd Baier: Die Marienkirche zu Rostock (Das christliche Denkmal, Heft 6). 3., verbesserte Auflage, Union-Verlag, Berlin 1988 (1. Auflage 1972), ISBN 3-372-00126-5, (Digitalisat) Gerd Baier, Heinrich Trost: Die Bau- und Kunstdenkmale in der mecklenburgischen Küstenregion. Herausgegeben von der Arbeitsstelle Schwerin des Instituts für Denkmalpflege. Henschel, Berlin 1990, ISBN 3-362-00523-3, S. 380–394. Georg Dehio, Gerd Baier: Handbuch der Deutschen Kunstdenkmäler. Mecklenburg-Vorpommern. Neubearbeitung durch Hans-Christian Feldmann. Deutscher Kunstverlag, München / Berlin 2000, ISBN 3-422-03081-6, S. 466 ff. Julia von Ditfurth: Meisterwerk der Schnitzkunst. Das Rochusretabel in der Rostocker Marienkirche. Ludwig, Kiel 2017. Antje Grewolls: Die Kapellen der norddeutschen Kirchen im Mittelalter. Ludwig, Kiel 1999, S. 292–304. Uwe Hartmann: Das Rochusretabel in der Rostocker Marienkirche. Kontinuität und Wandel im Kult um den hl. Rochus in der Reformationszeit. In: Uwe Albrecht, Hartmut Krohm, Matthias Weniger (Hrsg.): Malerei und Skulptur des späten Mittelalters und der frühen Neuzeit in Norddeutschland. Berlin 2004, S. 355–365. Tilman Jeremias (Hrsg.): … die thronende Marienkirche – eine Gottesburg. Aus der Geschichte von St. Marien Rostock. KSZ-Verl. & Medien, Rostock 2007, ISBN 978-3-930845-75-0. Gottfried Kiesow: Wege zur Backsteingotik. 2. Auflage. Deutsche Stiftung Denkmalschutz, Monumente-Publikationen, Bonn 2007, ISBN 3-936942-34-X. Ulrich Nath: Die Glocken von St. Marien, Eigenverlag Innenstadtgemeinde Rostock, Rostock 2002. Ulrich Nath, Joachim Vetter: Die Orgel der St.-Marien-Kirche zu Rostock. Stiftung der St.-Marien-Kirche zu Rostock e.V., 2004. Ulrich Nath: Die Kanzel der St.-Marien-Kirche zu Rostock. Ev-luth. Kirchgemeinde St.-Marien-Kirche, 2004. Sabine Pettke: Vom Rochusaltar in St. Marien. In: Sabine Pettke (Hrsg.): Nachträge zur Reformationsgeschichte Rostocks, Bd. 2. Rostock 2010, S. 269–273. Manfred Schukowski unter Mitarbeit von Wolfgang Erdmann u. Kristina Hegner: Die Astronomische Uhr in St. Marien zu Rostock. 2., erweiterte u. aktualisierte Auflage Königstein im Taunus, Verlag Langewiesche 2010 (= Die Blauen Bücher), ISBN 978-3-7845-1236-5. Manfred Schukowski und Thomas Helms: Sonne, Mond und zwölf Apostel. Die Astronomische Uhr in der Marienkirche zu Rostock. Thomas Helms Verlag, Schwerin 2012, ISBN 978-3-940207-76-0. Monika Soffner-Loibl: Die St.-Marien-Kirche zu Rostock. Kunstverlag Peda, Passau 2020, ISBN 978-3-89643-797-6. Weblinks Die Astronomische Uhr der St.-Marien-Kirche zu Rostock Website der Kirchengemeinde Orgelprojekt der Marienkirche Marien-Kantorei Rostock Stiftung St.-Marien-Kirche zu Rostock e. V. Historische Rostocker Bauwerke – Die St.-Marien-Kirche Einzelnachweise Marienkirche Marienkirche Kirchengebäude der Propstei Rostock Kirchengebäude der Backsteingotik Marienkirche Renaissance-Kanzel Gotisches Taufbecken Disposition einer Orgel Kirchengebäude in Europa Marienkirche Marienkirche Wikipedia:Artikel mit Video
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Australien
Australien (amtlicher deutscher Name; , deutsch veraltet Australischer Bund) ist ein Staat auf der Südhalbkugel der Erde, der die gesamte Landmasse des australischen Kontinents, die ihr südlich vorgelagerte Insel Tasmanien, die subantarktische Macquarieinsel mit ihren Nebeninseln und als Außengebiete die pazifische Norfolkinsel, die Kokosinseln, die Weihnachtsinsel sowie die Ashmore- und Cartierinseln und die Heard und McDonaldinseln im Indischen Ozean umfasst. Seit dem Antarktis-Vertrag von 1933 erhebt das Land auch Ansprüche auf das Australische Antarktis-Territorium. Seine Nachbarstaaten sind Neuseeland im Südosten sowie Indonesien, Osttimor und Papua-Neuguinea im Norden. Australien hat etwa 25,8 Millionen Einwohner und ist dünn besiedelt. Mit einer Fläche von mehr als 7,6 Millionen km² nimmt es unter den Staaten der Erde den sechsten Platz ein. Die Hauptstadt ist Canberra, die größte Stadt ist die Metropole Sydney. Weitere Ballungsräume sind Melbourne, Brisbane, Perth, Adelaide und Gold Coast. Australien ist gemessen an seinem Pro-Kopf- und Gesamtvermögen eines der wohlhabendsten Länder der Welt und belegte 2021 von 191 Staaten den fünften Platz des Index der menschlichen Entwicklung. Das Land verfügt über eine hochmoderne Service- und Dienstleistungsökonomie und über bedeutende Rohstoffvorkommen. Seine Kultur und Wirtschaftskraft machen es zu einem attraktiven Ziel für Migranten, allerdings legt die Migrations- und Asylpolitik Australiens strenge gesetzliche Kriterien für die Einwanderung an. Begriff Die Bezeichnung „Australien“ ist etymologisch vom lateinischen Begriff terra australis abgeleitet, was „südliches Land“ bedeutet. Schon in der Antike wurde angenommen, dass es einen südlich gelegenen Kontinent gibt, der terra australis incognita genannt wurde. Die Verbreitung des Namens Australien geht auf den Entdeckungsreisenden Matthew Flinders (1774–1814) zurück, der den Namen Australia nach seiner Umrundung des Kontinents von 1801 bis 1803 in seine händisch angefertigte Karte eintrug und sie in einem Buch über seine Reise im Jahr 1814 publizierte. Am Ende der 1820er Jahre hatte sich der Name Australia allgemein durchgesetzt. Eine andere Version schildert Australien als „zu Ehren des spanischen Hauses Österreich“ so benannt in der Geschichte des Domus Austria, des damaligen Weltreiches des Habsburger, die Maximilian III. bei Franz Guillimann in Auftrag gab. Heutzutage wird die Bezeichnung „Australien“ mehrdeutig verwendet. Geografisch versteht man darunter die zentrale Landmasse des Kontinents abzüglich der Südostspitze des Kontinents vorgelagerten Insel Tasmanien. Politisch dient die englische Bezeichnung „Australia“ als Kurzform der offiziellen Staatsbezeichnung „Commonwealth of Australia“, die die Insel Tasmanien als Bundesstaat sowie die australischen Außengebiete einschließt. Umgangssprachlich bezeichnet man das Land auch als Oz, was sich von der Kurzform des Wortes „Australia“ in der englischen Aussprache herleitet. Die Sammelbezeichnung Down Under fasst die Länder Australien, Neuseeland und deren umliegende Inseln zusammen. Geografie Die Fläche des australischen Kontinents umfasst nahezu 7,7 Millionen Quadratkilometer. Davon sind circa 59.000 km² Wasserfläche. Es handelt sich damit um den flächenmäßig sechstgrößten Staat der Erde. Die Küstenlinie ist nach offizieller Vermessung 25.760 km lang. Den tiefsten Punkt des australischen Kontinents bildet der im Bundesstaat South Australia gelegene Salzsee Lake Eyre, der 17 m unter dem Meeresspiegel liegt. Der höchste Punkt der Hauptlandmasse ist der Mount Kosciuszko mit 2228 m, der höchste Berg des ganzen australischen Hoheitsgebiets ist mit 2745 m der auf der unbewohnten Insel Heard gelegene Big Ben. Das australische Kerngebiet ist in drei Zeitzonen aufgeteilt. Die australischen Außengebiete liegen teilweise in anderen Zeitzonen. Australiens Nord-Süd-Ausdehnung von der Kap-York-Halbinsel bis zum Südostkap auf Tasmanien beträgt ungefähr 3860 km. Die Ost-West-Ausdehnung beläuft sich auf circa 4000 km. Großlandschaften Es lassen sich geographisch drei Großlandschaften unterscheiden: die östliche, die mittlere und die westliche Großlandschaft. Die westliche Großlandschaft, das Tafelland des westaustralischen Plateaus, nimmt etwa 60 % der australischen Landmasse ein. Hier liegen die großen Trockengebiete der Großen Sandwüste, der Kleinen Sandwüste, der Gibsonwüste, der Großen Victoriawüste und der Nullarbor-Wüste. Kleinere Gebirge wie die MacDonnell Ranges und Inselberge wie der Uluru sind in großer Anzahl vorhanden. Östlich schließt sich die mittlere Großlandschaft, das Sedimentbecken der Mittelaustralischen Senke beziehungsweise das zentrale Tiefland, an. Hier befindet sich mit der Simpsonwüste sowohl die trockenste Region des Landes als auch das größte Fluss-System, das Murray-Darling-Becken. In der mittleren Großlandschaft befinden sich sowohl periodisch austrocknende Süßwasserseen als auch Salzseen. Die Mehrheit der australischen Bevölkerung lebt in der östlichen Großlandschaft; die westliche und die mittlere Großlandschaft sind überwiegend unbewohnbar. Die östliche Großlandschaft umfasst die Übergänge vom Gebirge bis hinunter zur Küstenlandschaft. Dabei sind der Küste des Bundesstaates Queensland Korallenriffe vorgelagert, die in ihrer Gesamtheit das Great Barrier Reef bilden. Das diesen Teil des Landes prägende Gebirge ist der Höhenzug der Great Dividing Range, die sich von Norden nach Süden über 3200 km erstreckt. Tasmanien wird geologisch als Fortsetzung der Gebirgskette der Great Dividing Range angesehen. In den zur Great Dividing Range gehörenden Snowy Mountains befindet sich der Mount Kosciuszko, mit 2229 m die höchste Erhebung der australischen Landmasse. Zwischen dem Gebirge und dem Küstenstreifen liegt die Ökozone von Wäldern gemäßigten Klimas. Die großen Wüsten- und Halbwüstengebiete Australiens gehören komplett zum Outback. Damit werden die weitgehend unbesiedelten Wildnisregionen bezeichnet, die über 70 Prozent der gesamten Fläche ausmachen. Schutzgebiete Anfang Juni 2022 gab es in Australien über 11.000 geschützte Landgebiete mit zusammen über 1,8 Millionen km² Fläche, darunter zwölf Weltnaturerbe-Gebiete, 755 Nationalparks (insgesamt rund 353.000 km²) und 91 Indigenous Protected Areas (insgesamt rund 747.600 Millionen km² auf dem Land der Aborigines und von ihnen gemanagt). 1997 waren es im Vergleich 5645 Gebiete mit 0,6 Millionen km². Es gibt mit fast 50 Typen sehr viele verschiedene Arten von Nationalparks und Schutzgebieten: Der stärkste Schutz vor Eingriffen besteht in den beiden internationalen IUCN Schutzgebietskategorien 1a und 1b (Strict Nature Reserve/Wilderness Area), von denen es in Australien über 2.500 Stück gibt (die größten liegen fast ausnahmslos im Outback). Siedlungen Die Hauptstadt Canberra, zwischen Sydney und Melbourne gelegen, ist eine Stadt vom Reißbrett, eine Planhauptstadt. Sie entstand als Kompromiss, weil sich Sydney und Melbourne nicht darauf einigen konnten, welche der beiden Städte Hauptstadt des Commonwealth of Australia werden sollte. Die bevölkerungsreichsten Städte sind die Küstenstädte Sydney (5,0 Millionen Einwohner), Melbourne (4,7 Millionen Einwohner), Brisbane (2,3 Millionen Einwohner), Perth (2,1 Millionen Einwohner) und Adelaide (1,2 Millionen Einwohner); die landeinwärts gelegene Hauptstadt Canberra (356.100 Einwohner) liegt nach Gold Coast und Newcastle nur auf Platz 8. Klima Durch die globale Erwärmung ist die Wahrscheinlichkeit von Waldbränden und Buschfeuern in Australien gestiegen. Der Klimabericht des Australischen Wetterdiensts und der Forschungsorganisation CSIRO belegt dies. Bereits unterhalb von einem Grad Erwärmung dehnt sich „mit hoher Konfidenz“ die Waldbrandsaison aus. Im Jahr 2019 gab es in Australien Brände auf rund vier Millionen Hektar Fläche. Dies entspricht der Fläche der Schweiz. Flora und Fauna Geschichte Vor Ankunft der Europäer Die Aborigines leben seit mindestens 50.000 Jahren auf dem Kontinent. Galt früher der nördliche Weg über Sulawesi und Neuguinea als die Route der ersten Menschen, die in Australien ankamen, lassen Funde in Osttimor der letzten Jahre den Weg über die Insel Timor wahrscheinlicher wirken. Trotz der isolierten Lage des Kontinents standen die Aborigines in Kontakt zu anderen Kulturen. Bis zur Überflutung der Landbrücke zu Neuguinea vor ungefähr 6000 Jahren bestand ein fast ungehinderter kultureller Austausch zwischen Neuguinea und dem Norden Australiens. Vor circa 4230 Jahren (Stand 2013) kam es infolge der Einwanderung von Menschen vom indischen Subkontinent zu einer Vermischung der Aborigines mit den Neuankömmlingen, was sich an einer plötzlich veränderten Verarbeitung von Pflanzenteilen sowie einer veränderten Herstellungsweise bei Steinwerkzeugen ablesen lässt. Gleichzeitig tauchte der Dingo erstmals auf dem australischen Kontinent auf. Nachdem die neu entstandenen Inseln der Torres Strait vor etwa 1000 Jahren durch melanesische Seefahrer besiedelt wurden, kam es durch die Begegnungen zwischen ihnen und den angestammten Bewohnern des nördlichen Australiens zu einer Vermischung beider Ethnien. Auch Fischer von den Australien nahegelegenen indonesischen Inseln sowie Händler aus den entfernten Gestaden Chinas und Indiens besuchten vermutlich die australischen Küsten seit mehreren Jahrhunderten. Deren kultureller Einfluss wird in vielen Rinden- und Felsmalereien der im Norden ansässigen Aborigines-Stämme wie z. B. der Yolngu auf Milingimbi deutlich. Die Bevölkerungszahl Australiens zum Zeitpunkt der Ankunft der Europäer ist umstritten, Schätzungen für diese Zeit lagen 2007 zwischen 750.000 und 1.500.000 Einwohnern. Erste Sichtungen durch Europäer Lange vor der Entdeckung Australiens durch europäische Seefahrer im 17. Jahrhundert stellte der griechische Gelehrte Claudius Ptolemäus bereits in der Antike die Theorie von der Existenz eines Südkontinentes auf, den er „Terra Australis incognita“ nannte. Seiner Theorie zufolge musste dieser Südkontinent als Gegengewicht zu den Landmassen auf der Nordhalbkugel dienen. Diese Theorie hielt sich durch das gesamte Mittelalter bis zur „Europäischen Expansion“ in der Frühen Neuzeit, was dazu führte, dass die Kartografen diesen angenommenen Südkontinent auf ihren Weltkarten eintrugen. Von europäischer Seite erreichten vermutlich bereits im 16. Jahrhundert portugiesische, französische, spanische und vor allem niederländische Seefahrer die Küsten Australiens und gingen an Land. Als erste gesicherte Entdeckung gilt die Ankunft des Niederländers Willem Jansz an der Küste der im Nordosten Australiens liegenden Kap-York-Halbinsel im Jahre 1606. Sein Landsmann Dirk Hartog erreichte 1616 die australische Westküste und betrat die der Küste vorgelagerte und heute nach ihm benannte Dirk-Hartog-Insel. Im Jahr 1619 segelte der niederländische Seefahrer Frederick de Houtman auf einer seiner Forschungsfahrten entlang der Westküste Australiens von der Höhe des heutigen Perth ausgehend nordwärts und stieß auf die später nach ihm benannten Houtman Abrolhos, an denen im Juli 1629 das Handelsschiff Batavia der Niederländischen Ostindien-Kompanie (VOC) unter dem Kommandeur François Pelsaert strandete. Wie Hartog „entdeckten“ später auch 1696 Willem de Vlamingh und 1699 William Dampier die am weitesten westlich liegende Stelle des australischen Kontinents. Die beiden letzten kartografierten Teile der Küste, und Dampier gab ihr den Namen Shark Bay. Da die Landschaft an der Westküste trocken und unfruchtbar wirkte, war das Interesse gering, dieses Land in Beschlag zu nehmen. Deshalb maß keiner der niederländischen Schiffskommandanten diesen Funden eine entscheidende Bedeutung zu. Erst 1642 entschloss sich die Niederländische Ostindien-Kompanie, die geographischen Verhältnisse in diesem Gebiet durch eine gezielte Expedition zu erforschen. Bei dieser Expedition fuhr der Niederländer Abel Tasman von Mauritius aus einen weit südlicheren Kurs als frühere VOC-Kommandeure. Er verfehlte dabei zwar vollständig den Kontinent Australien, entdeckte dabei aber die der Südspitze des Kontinents vorgelagerte Insel, der er im Jahre 1644 den Namen „Neuholland“ gab. Diese Bezeichnung wurde von den Briten im Jahre 1824 zu Ehren ihres europäischen Entdeckers Abel Tasman durch den bis heute gültigen Namen Tasmanien ersetzt. Der englische Seefahrer William Dampier stieß 1688 nahe dem King Sound an der Mündung des Fitzroy River auf die australische Nordküste und erreichte, wie schon oben erwähnt, 1699 abermals Australien an seinem westlichsten Punkt. Auf beiden Reisen fertigte Dampier jeweils Aufzeichnungen über die angetroffene Fauna und Flora, die Ureinwohner sowie den Küstenverlauf an. Vor dem Jahr 1770 wurden jedoch von keinem der europäischen Ankömmlinge Gebietsansprüche erhoben. Kolonisation und weitere Erkundung Der britische Kommandant James Cook verfolgte im Rahmen seiner ersten Expedition, der Ersten Südseereise (1768–1771), die primär und offiziell dem Zweck diente, den Venustransit am 3. Juni 1769 auf Tahiti zu beobachten, ebenso den geheimen Auftrag, den Ozean um den 40. südlichen Breitengrad zu erforschen, um den postulierten „Südkontinent“ zu finden. Hierbei erreichte er am 28. April 1770 die im Vergleich zur Westküste fruchtbarere Ostküste Australiens und kartografierte diese. Dabei stellte er fest, dass das vom holländischen Seefahrer Willem Jansz zu Beginn des 17. Jahrhunderts bereits entdeckte und teilweise kartografierte Land, das seitdem die Bezeichnung „Neuholland“ trug, und „Neuguinea“ voneinander getrennt waren. Daraufhin nahm er im Juni 1770 die Ostküste „Neuhollands“ für das Königreich Großbritannien formell als Kolonie New South Wales in Besitz. Nachdem die USA von Großbritannien unabhängig geworden waren, suchte die britische Regierung nach neuen Möglichkeiten, Strafkolonien für ihre Sträflinge einzurichten. Ziel war die Ausdünnung der Unterschicht und so führten schon geringe Vergehen zur Verschiffung in die Sträflingskolonie Australien. Am 26. Januar 1788 trafen daher die ersten elf Schiffe der „First Fleet“ („Ersten Flotte“) mit Siedlern und Verurteilten unter der Führung von Arthur Phillip im Port Jackson ein. Die neue Ansiedlung wurde Sydney genannt, zu Ehren des damaligen britischen Innenministers Lord Sydney. Bis 1868 wurden 160.000 Gefangene dorthin verbannt. Von 1801 bis 1803 umsegelte der Entdeckungsreisende Matthew Flinders mit weiteren Forschern und dem Aborigine Bungaree als erster den gesamten Kontinent. Gründung neuer Kolonien 1792 landete eine französische Expedition auf Tasmanien, um das Land zu erkunden. Daraufhin entschieden sich die Briten, auch hier möglichst schnell eine Kolonie einzurichten. 1803 errichteten sie Risdon Cove am Derwent River, ein Jahr später Hobart Town, ebenfalls am Derwent, und George Town am Tamar River. 1825 wurde das damalige Van-Diemen’s-Land zu einer eigenständigen Kolonie erklärt. 1813 gelang es Gregory Blaxland, William Lawson und William Charles Wentworth in New South Wales zum ersten Mal, die Blue Mountains zu überqueren. Der Erfolg der Blaxland-Expedition trug zur Besiedlung der westlich dieses Gebirges gelegenen Gebiete bei. 1824 entstand eine neue Strafkolonie in der Mündung des Brisbane River. Die Abgeschiedenheit dieser Lage sollte die Sicherheit der Kolonie erhöhen. Nachdem jedoch auch freie Siedler verstärkt zu den fruchtbaren Weidegründen des Nordens drängten, gab die Kolonie das Land 1842 zur Besiedlung frei. 1859 wurde Queensland als von New South Wales unabhängige Kolonie ausgerufen. 1835 handelten tasmanische Geschäftsleute den Aborigines 240.000 Hektar in der Gegend des heutigen Melbourne ab und gründen Port Phillip. Obwohl dieser Handel als illegal galt, gab die Kolonieführung dem Druck der wachsenden Bevölkerung nach und musste auch hier das Land offiziell zur Besiedlung freigeben. 1851 separierte sich die neue Kolonie Victoria offiziell von New South Wales. Die Kolonie New South Wales nahm zunächst den gesamten östlichen Teil des Kontinents ein, nur das westliche Drittel blieb weiterhin als Neuholland von den Briten unbeansprucht. Um die Gefahr einer Kolonisierung Westaustraliens durch Frankreich zu verhindern, gründeten die Briten 1827 hier Siedlungen am Swan River. Die Kolonie wurde ursprünglich als Swan River Colony gegründet. Western Australia wurde erst 1829 mit Gründung von Perth ausgerufen. Obwohl ursprünglich keine Sträflinge hierher verschickt werden sollten, forderten die freien Siedler 1850 die Aufhebung dieser Praxis, um die neue Kolonie mit billigen Arbeitskräften auszustatten. South Australia wurde ebenfalls als sträflingsfreie Kolonie geplant. Im Zuge der systematischen Kolonisierung nach Plänen von Edward Gibbon Wakefield wurde Land verkauft, die Erlöse wurden darauf verwandt, freie Siedler in die Kolonie zu bringen. 1836 wurde Adelaide gegründet, im selben Jahr wurde South Australia als Provinz Großbritanniens ernannt. Zu dieser Zeit nahmen die Konflikte zwischen Siedlern und Aborigines zu, es kam zu einer Vielzahl von Massakern. Weg zur Nation Nordöstlich von Melbourne wurde am 22. August 1851 in Victoria Gold gefunden, was die Geschichte Australiens prägte und für mehrere Jahre einen Goldrausch auslöste. Minenarbeiter in Ballarat initiierten im November 1854 den Eureka-Stockade-Aufstand. Die Aufständischen forderten demokratische Reformen, der Aufstand wurde allerdings am 3. Dezember 1854 endgültig von britischen Militärs und lokalen Polizeikräften niedergeschlagen. Da nun Menschen freiwillig nach Australien kamen, konnte das Land nicht mehr gut als Strafkolonie genutzt werden und der Weg zu einer eigenen Nation war geebnet. Zwischen 1855 und 1890 erhielten die einzelnen Kolonien das Privileg des Responsible Government und damit eine größere Unabhängigkeit vom britischen Empire. London behielt allerdings vorerst die Kontrolle über Außenpolitik, Verteidigung und Außenhandel. Nach einem großen Schafschererstreik entstand 1898 „Waltzing Matilda“, die heimliche Nationalhymne Australiens. In den Kolonien begannen die Planungen für einen Zusammenschluss der Einzelstaaten. Der Australische Bund Am 1. Januar 1901 formierten sich die einst voneinander unabhängigen Kolonien zum Commonwealth of Australia. Die erste Hauptstadt Australiens wurde Melbourne. Am 26. September 1907 erhielt der Australische Bund mit dem Dominionstatus die nahezu vollständige Unabhängigkeit vom Mutterland Großbritannien. Im Jahr 1911 wurde das Australian Capital Territory geschaffen, um die neue Hauptstadt Canberra aufzunehmen. Melbourne blieb aufgrund der lang andauernden Bauarbeiten in Canberra aber noch bis 1927 Regierungssitz. Auch das 1863 gegründete Northern Territory wurde aus der Kontrolle der Provinz South Australia in das Commonwealth überführt. Aus Loyalität zu Großbritannien entsandte Australien sowohl im Ersten als auch im Zweiten Weltkrieg Truppen nach Europa. Die Niederlage des ANZAC im ersten Militäreinsatz des Landes in der Schlacht von Gallipoli 1915 gilt vielen Australiern als Geburt der Nation. Mit dem Statut von Westminster von 1931 wurde den Dominions des Empire formal die Unabhängigkeit verliehen. Das australische Parlament stimmte dem aber erst 1942 zu. Der Sezessionsversuch Westaustraliens von 1933 scheiterte. Nach der britischen Niederlage in Asien 1942, insbesondere nach dem Fall von Singapur, und der drohenden japanischen Invasion verlagerten sich die militärischen Aktivitäten ab 1942 von Europa auf den australischen Kontinent. Australien wandte sich zunehmend den USA als neuem starken Alliierten zu. Dies wurde 1951 mit dem ANZUS-Abkommen formalisiert. Nach dem Zweiten Weltkrieg wurde eine aktive Einwanderungspolitik betrieben, die zur Massenimmigration aus Europa führte; nach der Aufgabe der weißen Einwanderungspolitik auch aus Asien und anderen Erdteilen. Dies führte in kurzer Zeit zu starken demografischen Veränderungen, aber auch zu wirtschaftlichem Aufschwung. Im Jahr 1986 gab Großbritannien mit dem Australia Act die letzten Kompetenzen bezüglich der australischen Verfassung ab. Als 1988 der 200. Jahrestag der ersten weißen Siedler gefeiert wurde, wurde dies von lautstarken Protesten der Aborigines begleitet. 1999 stimmte die Bevölkerung in einem Referendum mit einer Mehrheit von 55 % gegen die Schaffung einer Republik und behielt somit formal die Monarchie unter der britischen Krone. Bevölkerung Seit dem Beginn des 20. Jahrhunderts hat sich im Englischen zur Bezeichnung der Australier der umgangssprachliche Begriff „Aussie“ sowie dessen alternative Schreibweise „Ozzie“ etabliert. Demografie Im Jahr 2021 lebten in Australien 25,8 Millionen Menschen. Die Zusammensetzung der australischen Bevölkerung spiegelt die Einwanderungsmuster des Landes wider. 2,4 % der Bevölkerung bezeichnen sich als zumindest teilweise indigener Abstammung, rund 92 % der Bevölkerung sind europäischer und 7 % asiatischer Abstammung. Rund 85 % der Australier mit europäischen Vorfahren sind britischer beziehungsweise irischer Abstammung. Weitere europäische Herkunftsländer bilden Italien (916.121), Deutschland (898.674), Griechenland (378.270), Polen (170.354), Kroatien (126.270), Nordmazedonien (93.570) und Serbien (69.544). Über 1,3 Millionen Australier haben mindestens einen deutschen Vorfahren. Die asiatischen Einwanderer stammen vorwiegend aus China, Indien, Vietnam, Pakistan und Sri Lanka. 79 % der Bevölkerung sprechen Englisch beziehungsweise australisches Englisch, was es zur am meisten gesprochenen Sprache macht. Je rund 2 % der Bevölkerung sprechen entweder Italienisch oder eine der chinesischen Sprachen. Seitdem in den 1960er Jahren die „weiße“ Einwanderungspolitik Australiens allmählich aufgehoben wurde, verstärkt sich vor allem die Immigration aus den asiatischen Ländern. In den 1990er Jahren wuchs die Bevölkerung durch Einwanderung um 1,4 % jährlich. Mehr als ein Viertel der Bevölkerung ist nicht im Land geboren. Die Anzahl der Geburten pro Frau lagen 2020 statistisch bei 1,8. Die Lebenserwartung der Einwohner Australiens ab der Geburt lag 2020 bei 83,5 Jahren (Frauen: 85,5, Männer: 81,7). Bei Aborigines lag sie um 20 Jahre niedriger (WHO, 1999). Die Kindersterblichkeit liegt bei 4,7 pro 1000 Geburten. Im Jahr 2016 betrug das Median-Alter 38,6 Jahre, womit Australiens Bevölkerung zu den jüngsten der westlichen Welt gehörte. Australien ist sehr stark urbanisiert. Im Jahr 2021 lebten 86 Prozent der Einwohner Australiens in Städten, vor allem in den großen Zentren an der Südostküste, auf Tasmanien und im Großraum Perth. Das Zentrum des Landes ist nahezu menschenleer. Indigene Die indigene Bevölkerung des australischen Kontinents setzt sich aus den Aborigines des Festlands und den Torres-Strait-Insulanern zusammen, die auf den Inseln der Torres-Straße zwischen Queensland und Papua-Neuguinea leben. Vor der Ankunft der Europäer betrug ihre Zahl Schätzungen zufolge zwischen 300.000 und 750.000 Menschen. Diese stellten jedoch kein einheitliches Volk dar, sondern gehörten einer Vielzahl verschiedener Gruppen an, die jeweils zwischen 100 und 1500 Menschen umfassten und sich kulturell voneinander unterschieden. Eines der kulturellen Unterscheidungsmerkmale bildete die Sprache. Zu Beginn der Besiedlung durch die Briten im Jahr 1788 wurden von den Ureinwohnern 500 bis 600 unterschiedliche Sprachen und Dialekte benutzt, die den Australischen Sprachen und dem Melanesischen zuzuordnen sind. Die britische Krone deklarierte Australien als „Terra Nullius“ (Niemandsland), also unbewohntes Land, als sie das Land für sich in Anspruch nahm. Damit wurden den Aborigines jegliche Rechte auf ihr Land abgesprochen. Erst 1965 erhielten die Aborigines das Wahlrecht auf nationaler Ebene. Mit der Errichtung einer Zelt-Botschaft vor dem Old Parliament House in Canberra 1972 sollte der Dialog zwischen indigener Bevölkerung und Regierung gefördert werden. Allerdings wurde erst 1992 mit dem Mabo-Urteil die Bezeichnung Australiens als Niemandsland revidiert, wodurch es für Aborigines und Torres-Strait-Insulaner möglich wurde, unter bestimmten Voraussetzungen Ansprüche auf Land zu erheben. Trotz dieser Verbesserungen im Status unterscheidet sich die indigene Bevölkerung Australiens auch heute noch vom Rest der Bevölkerung, vor allem in der Gesundheits-, Kriminalitäts- und Arbeitslosenstatistik. Zwischen 1900 und 1972 wurden in einem staatlichen Programm etwa 35.000 Aborigine-Kinder unter Zwang aus ihren Familien entfernt, in staatliche Institutionen verbracht oder in weiße Familien adoptiert; man spricht von den sogenannten „Gestohlenen Generationen“. Ursprünglich als Programm zum Wohle des Kindes geplant, gilt dieser Akt heute als versuchter Ethnozid und eklatanter Verstoß gegen die Menschenrechte. Mit der wachsenden Aufmerksamkeit für an den Aborigines verübtes Unrecht in der australischen Bevölkerung während des Mabo-Prozesses kam es 1995 zu offiziellen Untersuchungen zu den Kindesverschleppungen. Am 26. Mai 1997 wurden die Ergebnisse dieser Untersuchung in dem Report „Bringing Them Home – Report of the National Inquiry into the Separation of Aboriginal and Torres Strait Islander Children from Their Families“ veröffentlicht. Zum Jahrestag dieser Veröffentlichung wird seitdem der National Sorry Day begangen, zu dem landesweit Versöhnungsveranstaltungen stattfinden. Heute bezeichnen sich 649.171 Australier selbst als indigenen Ursprungs (Stand 2016), also rund 2,8 % der Bevölkerung. 29 % von ihnen leben in New South Wales, 27 % in Queensland, 14 % in Western Australia und 13 % im Northern Territory. Im letztgenannten Territorium stellen sie 25 % der Gesamtbevölkerung, South Australia und Victoria haben nur geringe Anteile indigener Bevölkerung. Die meisten Aborigines haben ihre traditionelle Lebensweise zum größten Teil aufgegeben, das heißt, sie leben heute nicht mehr in der ursprünglichen Stammesform, wie sie seit Tausenden von Jahren existiert. Mehr als 70 % der Aborigines haben sich den übrigen Menschen angepasst und leben heute meistens in Städten. Die Interessen der indigenen Bevölkerung gegenüber der Regierung wurden bis 2005 vor allem von der ATSIC vertreten. Nach deren Auflösung im Juli 2005 wurde die Zuständigkeit auf das Department of Immigration and Multicultural and Indigenous Affairs übertragen. Religion Die Mehrheit der Australier gehört christlichen Religionsgemeinschaften an (Quelle: Volkszählung 2016). Dabei bezeichneten sich 22,6 % als römisch-katholisch, 13,3 % als Anglikaner und weitere 16,3 % als Mitglieder anderer christlicher Kirchen. Zum Buddhismus bekennen sich 2,4 %, zum Islam 2,6 % zum Hinduismus 1,9 %. Als konfessionslos betrachten sich 30,1 % der Australier. Von 9,6 % der Bevölkerung wurde die Frage nach der Religionszugehörigkeit nicht beantwortet. Bildungssystem Administration und Finanzierung des australischen Bildungssystems werden gemeinsam vom Australischen Bund und den einzelnen Bundesstaaten beziehungsweise Territorien geregelt. Zwischen den Bundesstaaten respektive Territorien gibt es dabei nur geringe Unterschiede. Schulbildung Im Alter von sechs Jahren besuchen australische Kinder im preparatory year für ein Jahr die Vorschule. Danach folgt der Besuch der sechs bis sieben Jahre währenden Grundschule, primary school genannt. Die weiterführenden Schulen, die secondary schools, führen nach weiteren fünf bis sechs Jahren zum regulären Schulabschluss. Eine Unterrichtspflicht besteht in den meisten Bundesstaaten bis zum 15. Lebensjahr, in Tasmanien bis zum 16. Lebensjahr. Mit einem Anteil von 72,3 % der Schüler absolviert die Mehrheit von ihnen die vollen 13 Jahre der Schullaufbahn (Stand 1999). Im PISA-Ranking von 2015 erreichen australische Schüler Platz 23 von 72 Ländern in Mathematik, Platz 14 in Naturwissenschaften und Platz 15 beim Leseverständnis. Die Leistung liegt damit über dem Durchschnitt der OECD-Staaten. Spezielle Förderprogramme gibt es für Schüler abgelegener Gebiete, die durch Fernunterricht ausgebildet werden. Bekanntestes Beispiel ist die Alice Springs School of the Air. Um den Ausbildungsstandard der indigenen Bevölkerung anzuheben, wurde 1989 die National Aboriginal and Torres Strait Islander Education Policy (AEP) verabschiedet. Im Jahr 2000 wurden neue Standards formuliert und ein Aktionsplan für eine effektivere Ausbildung der Aborigines beschlossen. Universitäten Als erste Universität Australiens wurde 1850 die Universität Sydney gegründet. 2022 verfügte Australien über 40 staatliche Universitäten, dazu kommen eine private und zwei internationale Universitäten. 2020 studierten dort 1,496 Mio. Menschen. An den staatlichen Universitäten werden die meisten Studienplätze für Inlandsstudenten von der Regierung gefördert. Der Zugang zu diesen Plätzen hängt hauptsächlich von der Qualifikation der Studenten ab. Diese zahlen ihre Studiengebühren nicht im Voraus, über ein staatliches Programm (HECS-HELP) werden Kredite gewährt. Ein Studium an privaten Universitäten ist nur mit Zahlung von Studiengebühren möglich. Auslandsstudenten können das sogenannte „overseas student program (OSP)“ wahrnehmen, jedoch besteht für Auslandsstudenten („Not Australian citizens or Australian permanent residents“) generell die Verpflichtung zur Zahlung von Studiengebühren. Mit der aktiven Bildungspolitik der australischen Universitäten wird mittlerweile von einem australischen Bildungskontinent gesprochen. Der Bildungssektor ist inzwischen Australiens Haupteinnahmequelle in Milliardenhöhe – noch vor dem Tourismussektor. Insbesondere Studierende der südostasiatischen Oberschichten nehmen die australischen Bildungsangebote gerne an. Das System für das Universitätsstudium entspricht im Wesentlichen dem britischen. Politik Der Australische Bund ist eine parlamentarische Monarchie auf demokratisch-parlamentarischer Grundlage nach dem Westminster-System. Der Staat ist föderal organisiert, die einzelnen Bundesstaaten haben jeweils eigene Parlamente mit weitgehenden Kompetenzen zur Gesetzgebung. Frauen durften in Australien seit Juni 1902 auf nationaler Ebene wählen und gewählt werden. Zwar war Australien nach Neuseeland der zweite Staat, der das Frauenwahlrecht einführte, doch beschränkte es sich auf weiße Frauen. Der Commonwealth Electoral Act von 1902 schloss Aborigines aus, auch wenn dies dem Buchstaben des Gesetzes nach nicht unmittelbar erkennbar war. Eine Bestimmung schrieb vor: „Kein Aborigine […] darf seinen Namen auf die Wählerliste setzen.“ Die Aborigines erhielten erst 1962 von der nationalen Regierung das Wahlrecht zugestanden. Im Jahr 1924 wurde für alle volljährigen Australier die Wahlpflicht eingeführt, der sie auf nationaler und bundesstaatlicher Ebene nachkommen müssen. Nationalfarben Die farbliche Gestaltung der Nationalflagge Australiens sowie das offiziellen Wappen von Regierungsstellen sind an die Insignien des britischen Königshauses angelehnt. Bis März 1984 hatte Australien jedoch keine eigenen Nationalfarben. Der Generalgouverneur Sir Ninian Stephen erklärte am 19. April 1984 Gold und Grün zu den offiziellen Landesfarben von Australien. Diese offiziellen Nationalfarben sind vom floralen Symbol Australiens, der Gold-Akazie (lat. Acacia pycnanth) abgeleitet, die in Australien Golden Wattle genannt wird. Um ihre Eigenständigkeit gegenüber des britischen Königs zu demonstrieren, verwenden die Australier bei den Farben ihrer Vereine und Sportklubs sehr oft die Nationalfarben, was man sehr gut bei internationalen Wettkämpfen beobachten kann. Daneben gibt es noch die Flagge der Aborigines in den Farben Gelb (für die Sonne), Schwarz (für die Aborigines) und Rot (für die rote Farbe der Erde Zentralaustraliens). Die Flagge wird häufig verwendet. Die Verbreitung der Flagge der Torres-Strait-Insulaner ist dagegen noch gering. Nationalhymne 1977 wurde in einer landesweiten Abstimmung Advance Australia Fair zur offiziellen Nationalhymne Australiens gewählt. Schon 1984 wurden an ihr Änderungen vorgenommen, weil vielen Bürgern die britische Ausrichtung der ursprünglichen Version zu weit ging. Die Komposition geht auf Peter Dodds McCormick zurück. Die erste Aufführung fand im Jahre 1878 statt. Für kurze Zeit galt auch Waltzing Matilda, das auf einem Text von Andrew Barton Paterson basiert, neben Advance Australia Fair als Nationalhymne, wurde jedoch bei der Abstimmung auf den zweiten Platz verwiesen. Dennoch erfreut sich Waltzing Matilda großer Beliebtheit und gilt für viele Australier als heimliche Nationalhymne. Bundesverfassung Gemäß der Verfassung von Australien setzt sich das Zweikammern-System des australischen Parlaments aus dem Repräsentantenhaus als Unterhaus, dem Senat als Oberhaus und König Charles III. als Staatsoberhaupt zusammen. Der König wird, wie in jedem Commonwealth Realm, durch einen Generalgouverneur vertreten (seit 1. Juli 2019: David Hurley), der jedoch in der Regel keine Macht über das Parlament ausübt. Die 151 Abgeordneten des Repräsentantenhauses werden alle drei Jahre in Wahlkreisen nach dem Mehrheitswahlrecht gewählt. Die Abgeordnetensitze werden der Bevölkerungszahl entsprechend auf die Bundesstaaten und Territorien verteilt. Im Senat ist jeder Staat mit zwölf Senatoren vertreten, die beiden Territorien mit jeweils zwei. Die Senatoren werden jeweils für sechs Jahre gewählt, alle drei Jahre finden Wahlen für die Hälfte der Sitze des Senats statt. Für alle Wahlen auf Bundes- und Bundesstaatsebene besteht eine Wahlpflicht. Die am stärksten vertretene Partei stellt die Regierung, der Vorsitzende dieser Partei wird Premierminister. Parteien seit 2010 Die größten Parteien sind die Liberal Party, Labor Party und National Party, wobei in den letzten Jahren entweder national-liberale Koalitionen oder die Labor australische Regierungen bilden konnten. Kleinere Parteien, die international Bekanntheitsgrad erreichen und im australischen Parlament vertreten sind, sind die The Greens und One Nation. Weitere kleinere Parteien haben regionale Bedeutung und sind in den Senaten auf Bundesstaatenebene vertreten. Regierung Vom 24. Juni 2010 bis zum 27. Juni 2013 war Julia Gillard von der Australian Labor Party Premierministerin des Australischen Bundes und löste damit Kevin Rudd ab. Dieser war zuvor vom Amt des Regierungschefs und Parteivorsitzenden zurückgetreten, da er keine Unterstützung in der Partei mehr besaß. Gillard kündigte bei ihrem Amtsantritt Neuwahlen in den nächsten Monaten an. Die Parlamentswahlen fanden am 21. August 2010 statt und führten zu einer Nahezu-Patt-Situation zwischen Labor und der National-Liberalen Koalition. Nur mit Hilfe von einigen unabhängigen Abgeordneten hatte die Labor-geführte Regierung eine hauchdünne Mehrheit. Am 27. Juni 2013 wurde Kevin Rudd erneut zum Premierminister gewählt, nachdem er seine Nachfolgerin im Amt wiederum als Parteivorsitzende der Australian Labor Party abgelöst hatte. Bei den Bundeswahlen am 7. September 2013 gewann Tony Abbott von der National-Liberalen Koalition und löste somit den amtierenden Premierminister Kevin Rudd ab. Er wurde am 15. September 2015 nach einer Kampfabstimmung von Malcolm Turnbull abgelöst. Am 24. August 2018 wurde Scott Morrison Premierminister. Er führte die Regierungen Morrison I und Morrison II. Zwei Tage nach der Parlamentswahl am 21. Mai 2022 wurde Anthony Albanese als Premierminister vereidigt. Staatsoberhaupt Politische Indizes Bundesstaaten, Territorien und Außengebiete Australien besteht aus den sechs Bundesstaaten Queensland, New South Wales, Victoria, Tasmania, South Australia und Western Australia, den drei Territorien Australian Capital Territory, Jervis Bay Territory und dem Northern Territory sowie sieben Außengebieten. Sowohl der Australische Bund insgesamt als auch jeder einzelne der Bundesstaaten besitzt ein Parlament, eine eigene Regierung sowie einen eigenen Gouverneur als direkten Repräsentanten des Staatsoberhauptes des Vereinigten Königreiches. Die Außengebiete unterstehen entweder dem Australischen Bund oder einem der Bundesstaaten oder einem Ministerium. Die Wahlen der Senatoren für die Zweite Kammer des Nationalstaates erfolgen nach dem Verhältniswahlrecht mittels Single Transferable Vote. Mit Ausnahme Queenslands, das ein Einkammersystem aufweist, bestehen die Parlamente bei jedem der anderen Bundesstaaten sowie den Territorien aus jeweils zwei Kammern. Die Abgeordneten für die jeweilige Erste Kammer, das Unterhaus, werden in der Regel in Einerwahlkreisen mit Hilfe des Instant-Runoff-Voting, einer besonderen Form des Mehrheitswahlrechts, gewählt. Die Ausnahmen von dieser Regel bilden die Wahlen zu den Ersten Kammern, den Unterhäusern, des Hauptstadtterritoriums (Australian Capital Territory) sowie Tasmaniens. Hier kommt das Verhältniswahlrecht in Form der Single Transferable Vote zur Anwendung. In den meisten der Einzelstaaten kommt diese Form des Verhältniswahlrechts ebenfalls bei den Wahlen der Senatoren für die Zweite Kammer der jeweiligen Parlamente zur Anwendung; eine Ausnahme hierbei bildet die Wahl zur Zweiten Kammer Tasmaniens. Die Bundesstaaten besitzen die ausschließliche Gesetzgebungskompetenz für Bildung, Gesundheit und Verkehrswesen sowie für Polizei und Justiz. Der Chef der Landesregierung eines Bundesstaates wird analog zum nationalen Regierungschef als Premierminister bezeichnet. Indigene Landrechte Von den rund 2700 indigenen lokalen Gemeinschaften, die es heute in Australien gibt, befinden sich über 90 % im Outback. Für die Aborigines, die im Outback leben, hat der Besitz und die Nutzung ihres angestammten Landes große Bedeutung. In der Kolonialzeit wurden die Ureinwohner faktisch enteignet und hatten keinerlei Anspruch auf das Land, in dem sie seit mehr als 60.000 Jahren lebten. Nach jahrzehntelangen Verhandlungen verfügen die indigenen Australier heute wieder über verschiedene Formen der Landrechte: Nach den Land Rights Acts der Bundesstaaten und Territorien sind sie Eigentümer einer Fläche, die fast so groß ist wie Fennoskandinavien (2022 etwa 17 % der Landesfläche). Allerdings liegt der überwiegende Teil aller Flächen im Outback und das Landeigentum darin besteht zum größten Teil aus Wüsten und Halbwüsten. Hinzu kommen Besitzrechte nach dem Native-Title-Bundesgesetz, die 2022 für 53 % der gesamten Landesfläche – allerdings in sehr unterschiedlicher Weise je Titel und zum Teil mit erheblichen Einschränkungen – anerkannt wurden. Im Gegensatz etwa zum kanadischen Nunavut sind die australischen Indigenen trotz der großzügig erscheinenden Landrechte rechtlich weit von einer Territorialautonomie entfernt. Gesellschaftspolitische Probleme Rassismus und Diskriminierung Auf Grund mangelnder Integration in die Mehrheitsgesellschaft und von Diskriminierung durch diese gehören viele Aborigines zum ärmsten Teil der australischen Gesellschaft. Ihre Kindersterblichkeit ist im Vergleich zur weißen Bevölkerung doppelt so hoch. Sie haben einen erschwerten Zugang zur Bildung. Ihre Arbeitslosenquote ist mit 20 % fast dreimal so hoch wie die der Durchschnittsbevölkerung. Ihre Lebenserwartung liegt im Durchschnitt zehn Jahre unter der der weißen Bevölkerung. Seit den 1960er Jahren rückte zunehmend die Frage nach Landrechten der Aborigines in den Mittelpunkt gesellschaftspolitischer Auseinandersetzungen und erst seit dem Urteil Mabo v. Queensland (No. 2) von 1993 können Landrechte von einem Aborigine-Stamm erfolgreich eingeklagt werden. Seit der verstärkten Einwanderung vorder- und südostasiatischer Migranten mit dem Ende der White Australia Policy in den 1960er Jahren kam es mehrfach zu rassistischen Ausschreitungen wie den Cronulla Riots im Dezember 2005. Seit dem Racial Discrimination Act von 1975 ist Rassendiskriminierung per Gesetz verboten und alle diskriminierenden Gesetze, die in den Staaten oder Territorien noch existierten, außer Kraft gesetzt worden. Durch den bundesweit geltenden „Human Rights (Sexual Conduct) Act – Section 4“ sind homosexuelle Handlungen seit 1994 legalisiert und heute gesellschaftlich weitgehend akzeptiert. In fünf Bundesstaaten existieren Antidiskriminierungsgesetze für Homosexuelle. Die Gleichgeschlechtliche Ehe wurde 2018 eingeführt. Umweltprobleme CO2-Emissionen Die erste Amtshandlung der 2007 gewählten Labor-Regierung von Kevin Rudd war die Ratifizierung des Kyoto-Protokolls. Dies bedeutete, dass durch eine CO2-Steuer (carbon tax), und eine Besteuerung der energieintensiven Bergbauunternehmen, Anreize zur Senkung des Treibhausgas-Ausstoßes gegeben werden sollten. Die gesetzliche Umsetzung stieß auf erheblichen Widerstand sowohl der australischen Bergbauindustrie als auch innerhalb der Labor-Partei, die den von ihr gestellten Premierminister Kevin Rudd abwählte. Da die carbon tax zu höheren Energiepreisen wie z. B. bei den Strompreisen führte, stieß diese Form der Besteuerung auch in der Bevölkerung auf Widerstand. Mit Premierministerin Julia Gillard wurden die sozialen Folgekosten dieser höheren Energiepreise mit einem Maßnahmenpaket kompensiert: Von einer Anhebung des Steuerfreibetrags sowie pauschaler Ausgleichszahlungen (lump-sum CASH-bonuses) profitierten vor allem Geringverdiener wie Pensionäre, Alleinerziehende, Familien mit geringem Einkommen und alleinstehende Geringverdiener. Diese Ausgleichszahlungen erfolgten bereits vor der Einführung der Carbon tax, 2012. Mit diesem Preissignal im Sinne einer ökologisch-sozialen Marktwirtschaft sollten die bisher in Australien kaum genutzten Erneuerbaren Energien relativ gesehen preisgünstiger werden als die im Tagebau günstig abzubauende fossile Kohle. Externalisierte Folgekosten wie die Versauerung der Meere sowie die globale Erwärmung wurden marktwirtschaftlich eingepreist (internalisiert). 2017 stellte in Victoria eines der größten Braunkohlekraftwerke Australiens, das Kraftwerk Hazelwood, seinen Betrieb ein. Dies geschah aus Kostengründen vor dem Ende der genehmigten Betriebserlaubnis, die bis ins Jahr 2031 reichte. Sein im Jahr 2011 geschätzter Kohlendioxid-Ausstoß pro Jahr belief sich auf 17 Millionen Tonnen. Neozoen Seit Jahren bewegt Australien die Frage, wie die Zahl der Kamele in Australien begrenzt werden kann, da diese die Umwelt zunehmend schädigen. 2009 wurde die Zahl der Dromedare auf rund eine Million Tiere geschätzt. Es wurde erwartet, dass sich die Zahl in acht Jahren verdoppele, und es wird befürchtet, dass Teile des Wüstenökosystems Australiens vernichtet werden. Tatsächlich lagen die Schätzungen zu hoch. Nach Abschuss von etwa 160.000 Tieren und weiteren 100.000 Opfern einer Dürre wird die Population auf etwa 300.000 Tiere neu eingeschätzt. Bei der Lösung dieses Problems treten Konflikte zwischen Tier- und Naturschützern auf. Die sehr große Zahl von Hausmäusen stellt ebenfalls ein großes Probleme dar. Besonders in den Bundesstaaten New South Wales und Victoria kam es in den letzten Jahren vermehrt zu Mäuseplagen, die durch die passenden klimatischen Bedingungen noch verstärkt wurden. Die Bekämpfung der Nagetiere erfolgt meist mit Gift; dieses könnte aber Greifvogelpopulation stark beeinträchtigen. Ein weiteres ungelöstes Problem ist die rasche Verbreitung der ausgesetzten giftigen Aga-Kröte, die australische Kleintierpopulationen existenziell bedroht. Aktuelle Migrationspolitik Seit 2001 gibt es eine Australische Migrationszone in der heutigen Form auf See (siehe Karte), die in Folge der Tampa-Affäre von der damaligen australischen Regierung errichtet wurde. Diese Migrationszone sollte verhindern, dass Boatpeople (deutsch: Bootsflüchtlinge) australisches Festland betreten, denn nur auf australischem Boden kann, nach geltendem Recht, ein Asylantrag gestellt werden. Die nationalkonservative Regierung verwirklichte nach ihrem Amtsantritt mit dem Department of Immigration and Border Protection im Jahr 2013 eine Null-Toleranz-Politik gegen Boatpeople, die Operation Sovereign Borders genannt wird. Schiffe mit Flüchtlingen werden bereits auf hoher See abgefangen, entweder zur Rückkehr gezwungen oder die Boatpeople in Internierungslager in Einwanderungshaft genommen. Von 2013 bis Ende 2017 wurden 31 Boote mit Boatpeople vom australischen Grenzschutz abgewiesen oder zur Umkehr gezwungen. Im Haushaltsjahr 2016/2017 beliefen sich die Kosten für den Grenzschutz auf See und an Land auf 4 Milliarden A$. Australien nimmt durchaus Asylsuchende auf. Im Finanzjahr 2015/2016 waren es 8640 Flüchtlinge aus Syrien und dem Irak. Zwischen 2013 und 2014 erteilte Australien 13.800 Flüchtlingen ein Visum, im Vorjahreszeitraum 2012/2013 stellte es noch 20.000 Visa für Flüchtlinge aus. Die obligatorische Abschiebehaft mitsamt anschließender Deportation der Boatpeople in andere Länder sind in Australien wenig umstritten. Am 31. Dezember 2016 befanden sich 1364 asylsuchende Boatpeople in australischen Internierungslagern, darunter 263 auf der Weihnachtsinsel, die anderen waren in Drittländern auf den Inseln Nauru und Manus (siehe weiter unten). Im März 2017 befanden sich auf australischem Hoheitsgebiet acht Lager für Asylsuchende, darunter sind fünf Internierungslager (Immigration detention centres), in denen die Asylsuchenden in Einwanderungshaft festgehalten werden. In weiteren drei gesonderten Einrichtungen (Alternative places of detention) werden Asylsuchende untergebracht, die aufgrund bestimmter Kriterien nicht in Internierungslagern festgehalten werden können. Dort werden sie unter Supervision gestellt und ihnen gewisse Freiheiten gewährt. Die Unterbringung erfolgt in geeigneten Privathäusern, Hotels, Motels und Krankenhäusern. Generell gibt die lagerartige Unterbringung Anlass für Kritik von Menschenrechtsorganisationen. Die dritte Form ist die Unterbringung in der Allgemeinheit (Community placement), die eine Bewegungsfreiheit mit gewissen Auflagen gewährt. Am 31. Dezember 2016 wurden 25.252 Personen gezählt, die sich in Australien mit einem sogenannten Visa E aufhielten, ein sogenanntes Überbrückungsvisum. Es sind Menschen, deren Aufenthalt befristet genehmigt ist und die nach einem Verlassen Australiens nicht mehr zurückkommen dürfen. Eine Besonderheit bildeten zwei Internierungslager, die außerhalb des Hoheitsgebiets von Australien lagen: das Nauru Regional Processing Centre auf Nauru und das Manus Regional Processing Centre auf der Insel Manus in Papua-Neuguinea. Nach Interventionen der UNO und Menschenrechtsgruppen erklärte das Verfassungsgericht von Papua-Neuguinea das Lager auf Manus für rechtswidrig. Reuters berichtete, dass einige Dutzend Asylanten auf Manus finanzielle Angebote der australischen Regierung für ihre Rückkehr in ihre Heimatländer angenommen hätten. Das Flüchtlingslager Manus wurde Ende 2017 geschlossen. Die etwa 380 Menschen wurden in neue Lager verlegt. Gleichzeitig betreibt Australien eine offene Einwanderungspolitik hinsichtlich der legalen Migration. 2020 waren 30 Prozent der Bevölkerung im Ausland geboren, was eine der höchsten Quoten weltweit ist. Australien nimmt vor allem hochqualifizierte Einwanderer auf, die nach einem Punktesystem ausgewählt werden. Migranten in Australien kamen vor allem aus der ehemaligen Kolonialmacht Großbritannien, den asiatischen Ländern wie Indien und China sowie dem Nachbarland Neuseeland. Außen- und Sicherheitspolitik In den internationalen Beziehungen wird Australien zumeist als Mittelmacht bezeichnet. Seine ökonomischen und militärischen Ressourcen erlauben es Canberra, auf der internationalen Bühne seiner Stimme Gehör zu verschaffen, allerdings nicht bei jedem Thema und nicht im Alleingang. Gerne sieht sich das Land hierbei als ehrlicher Makler in internationalen Verhandlungen. Das Gewicht Australiens zeigte sich zum Beispiel in den Verhandlungen zur Chemiewaffenkonvention, zum Umweltprotokoll des Antarktisvertrages und im Rahmen der Uruguayrunde. Die Außen- und Sicherheitspolitik Australiens ist von der Gemeinsamkeit der angelsächsischen Kultur des Landes vor allem mit den Vereinigten Staaten, aber auch mit Neuseeland und dem Vereinigten Königreich bestimmt. Als zunehmende Herausforderung erweist sich für Canberra die Aufgabe, die Beziehungen zu den Vereinigten Staaten mit denen zur Volksrepublik China auszubalancieren. Von hoher Bedeutung sind auch die Verbindungen zu Indonesien, Japan und Indien. Im Jahre 2005 wurde ein neues Anti-Terror-Gesetz in Australien eingeführt. Beziehungen zu den USA Australien pflegt eine umfassende wirtschaftliche, wissenschaftliche und militärisch-strategische Zusammenarbeit mit den USA, die sich auch in der Gründung des ANZUS-Bündnisses niederschlug. Nach dem faktischen Ende von ANZUS in den 1980er Jahren nahmen die USA Australien in ihre Liste der wichtigsten Verbündeten außerhalb der NATO auf. Mit dieser Klassifikation genießt Australien in der strategischen Partnerschaft Privilegien, die nicht einmal vielen NATO-Staaten zugänglich sind. Australien ist seit 1945 Mitglied der Vereinten Nationen, seit 1995 Mitglied in der WTO und ist Vertragsstaat des ICC. Beziehungen zu Asien In den 1990er Jahren versuchte der damalige Premierminister Paul Keating Australien näher an seine asiatischen Nachbarn heranzuführen. Dies scheiterte jedoch aufgrund gegensätzlicher Interessen und kultureller Differenzen. Der pro-amerikanische Kurs der konservativen Regierung unter Premierminister John Howard wurde von den benachbarten Staaten weitgehend nicht geteilt, sondern kritisch aufgenommen. Insbesondere Howards Zustimmung zu Bushs Doktrin der sogenannten Präemptivschläge nach den Attentaten von Bali im Oktober 2002 zog sofort offizielle Proteste der Nachbarstaaten Indonesien, Philippinen, Malaysia und Thailand nach sich. Wie seit 1951 sieht auch das aktuelle Weißbuch des Verteidigungsministeriums vor allem im ANZUS-Abkommen mit Neuseeland und den USA den Grundstein der nationalen Sicherheitspolitik, weniger in einer multilateralen regionalen Einbindung. Als weniger bedeutend ist das seit 1971 existierende Five Power Defence Arrangements (FPDA) von Australien, Neuseeland, Großbritannien, Singapur und Malaysia einzuordnen, welches vorsieht, dass die drei Erstgenannten den beiden südostasiatischen Staaten im Falle eines Angriffs zu Hilfe kommen. Seit 1997 führen die See- und Luftstreitkräfte der fünf Länder regelmäßig gemeinsame Manöver durch. Grenzstreitigkeiten mit Osttimor Mit dem nördlich gelegenen Osttimor gab es über Jahre Streit über die Grenzziehung in der Timorsee und die damit verbundene Nutzung der dortigen Erdöl- und Erdgaslager. Während der indonesischen Besetzung Osttimors vereinbarten Australien und Indonesien eine Grenzziehung zu Gunsten Australiens. Mit der Unabhängigkeit Osttimors im Mai 2002 wurde neu verhandelt und man vereinbarte ein 50-jähriges Moratorium betreffs der Grenzfrage und eine gemeinsame Nutzung der Bodenschätze. Eine Einigung nach dem Seerechtsübereinkommen der Vereinten Nationen konnte nicht erzielt werden, weil Australien wenige Monate vor der Unabhängigkeit Osttimors aus dem Regelwerk austrat. 2013 wurde bekannt, dass Australien während der letzten Verhandlungen das Kabinett Osttimors mit Wanzen abgehört hatte. Osttimor verklagte Australien daher vor dem Internationalen Schiedsgericht und pochte auf eine Grenzziehung gemäß dem Seerechtsübereinkommen, womit die Erdöl- und Erdgasfelder alleinig in osttimoresischem Territorium liegen würden. Die Beziehungen zwischen den beiden Ländern waren deswegen angespannt. So hatte seit Antritt der national-liberalen Koalitionsregierung 2013 kein australischer Minister mehr Osttimor besucht. Im Januar 2017 erklärten die Regierungen Australiens und Osttimors, dass der Treaty on Certain Maritime Arrangements in the Timor Sea (CMATS) aufgelöst werden soll. Am 6. März 2018 wurde ein neuer Grenzvertrag von den beiden Staaten unterzeichnet, der die bisherigen Vereinbarungen zugunsten Osttimors abänderte. Beziehungen zur Europäischen Union In den Beziehungen zwischen der EU und Australien stehen seit Jahrzehnten ökonomische Themen im Vordergrund, wobei insbesondere Agrarfragen immer wieder zu Streitigkeiten zwischen den beiden Partnern führten. Der Beitritt Großbritanniens zur Europäischen Wirtschaftsgemeinschaft (EWG) im Jahre 1973 bedeutete für Australien einen erschwerten Zugang zum britischen Markt und wurde in weiten Kreisen von Politik und Gesellschaft als Verrat des ehemaligen Mutterlandes aufgefasst. Die bitteren Gefühle wurden verstärkt, da die protektionistische Agrarpolitik der EWG bzw. EU die ansonsten wettbewerbsfähige Agrarindustrie des fünften Kontinents benachteiligte. In den letzten Jahren rückten jedoch verstärkt andere wirtschaftliche Themen auf der politischen Agenda nach oben. Dies ist auch dem Umstand geschuldet, dass seit 25 Jahren die EU der wichtigste Wirtschaftspartner Australiens ist. Grundlage für die bilateren Beziehungen zwischen Australien und der EU ist die „gemeinsame Erklärung“ von 1997. Im Jahr 2008 wurde ein weiteres Partnerschaftsabkommen abgeschlossen, dem ein gemeinsamer Aktionsplan zugrunde liegt. Das Abkommen soll der Partnerschaft Impulse verleihen für intensivere Kooperation in den Bereichen Bildung, Wissenschaft, Technologieentwicklung, Umwelt und Klimaschutz. In der Klimapolitik sowie der nationalen und internationalen Sicherheitspolitik verfolgt die australische Regierung ähnliche Ziele wie die Europäische Union. In der Agrarpolitik unterscheiden sich die Ziele Australiens und der EU jedoch voneinander. Während Australien den Zugang zum EU-Binnenmarkt stärken möchte, verhält sich die EU in Bezug auf die Landwirtschaft ihrer Mitgliedsstaaten protektionistisch gegenüber Mitbewerbern, die von außerhalb der EU in den EU-Binnenmarkt exportieren möchten. Beziehungen zu Deutschland Die Staaten Deutschland und Australien verbindet ein enger wirtschaftlicher, kultureller und diplomatischer Austausch. Im Rahmen einer 2013 geschlossenen strategischen Partnerschaft kooperieren beide Staaten auch zunehmend in sicherheitspolitischen Fragen. Militär und Kriegsbeteiligung Erster Weltkrieg Neun Tage nach dem Beginn des Ersten Weltkriegs erfolgten ab dem 6. August 1914 erste Kriegshandlungen Australiens an der Seite von Großbritannien mit der Besetzung der Kolonie Deutsch-Neuguinea durch die Australian Naval and Military Expeditionary Force, ein 2000 Mann starkes Freiwilligen-Expeditionskorps. Am 15. August 1914 wurde die First Australian Imperial Force (AIF) gebildet, die bedeutendste australische Expeditionsstreitmacht im Ersten Weltkrieg, die aus mehreren Waffengattungen bestand. Die AIF setzte erstmals gemeinsam mit alliierten Truppen das Armeekorps Australian and New Zealand Army Corps (ANZAC) außerhalb des asiatischen Raums in der verlustreichen Schlacht von Gallipoli in der Türkei ein, in der von den australischen Soldaten 26.111 verwundet und 8141 getötet wurden. Diese Schlacht hat die australische Bevölkerung hinsichtlich ihrer Haltung zum Krieg und zur Wehrpflicht bis heute tief beeinflusst. Nach dieser Schlacht wurde das australische Militär bis zum März 1916 an der Palästinafront eingesetzt. Anschließend beteiligten sich fünf Infanterie-Divisionen der AIF an den Kämpfen an der Westfront in Frankreich und Belgien. Ferner nahmen auch australische Soldaten an Kämpfen auf unterschiedlichen, einzelnen Kriegsschauplätzen teil. Zweiter Weltkrieg Australien führte im Zweiten Weltkrieg zwei Kriege, einen gegen das Deutsche Reich, Italien und seine Verbündeten in Europa als Teil des Britischen Commonwealth und einen an der Seite des Vereinigten Königreichs, der Vereinigten Staaten und anderer Verbündeter gegen Japan und seine Verbündeten im Pazifikkrieg bis September 1945. Zwischen Februar 1942 und November 1943 war Australien das Ziel von insgesamt 97 Luftangriffen der Kaiserlich Japanischen Marineluftstreitkräfte. Während der Luftangriff auf Darwin am 19. Februar 1942 der erste, schwerste und folgenreichste aller dieser Luftangriffe war, blieben die meisten weiteren Luftangriffe ohne größere Folgen. Ein Landungsversuch der Japaner in Australien erfolgte im Verlauf des gesamten Krieges nicht. Nach dem Rückzug der meisten australischen Kräfte aus dem Mittelmeerraum nach Ausbruch des Pazifikkriegs beteiligte sich die Royal Australian Air Force intensiv am alliierten Luftkrieg gegen das Deutsche Reich. Zwischen 1942 und Anfang 1944 kam den australischen Streitkräften eine Schlüsselrolle im Pazifik zu, wo sie in dieser Zeit das größte alliierte Truppenkontingent stellten. Ab Mitte 1944 kämpften australische Soldaten hauptsächlich an Nebenfronten; sie führten bis Kriegsende fortlaufend Offensivoperationen gegen die japanischen Truppen durch. Nach dem Zweiten Weltkrieg Australiens Streitkräfte, die Australian Defence Force (ADF), bestehen aus drei Teilstreitkräften: der Royal Australian Navy, der Australian Army und der Royal Australian Air Force. Die Truppenstärke der ADF wurde in den letzten Jahrzehnten deutlich reduziert und beträgt aktuell etwa 51.000 Soldaten. Ihre Ausbildung und Ausrüstung begründen trotz ihrer verhältnismäßig geringen Größe neben der wirtschaftlichen Attraktivität des Landes den Status Australiens als regionale Ordnungsmacht innerhalb des indo-pazifischen Raums. Daher führt es aktuelle UN-Friedensmissionen in der Region an, beispielsweise in Osttimor und auf den Salomonen. Mit rund 50.000 Soldaten beteiligte sich Australien in den Jahren 1962 bis 1972 am Vietnamkrieg. Während dieser Zeit wurden ungefähr 2400 Soldaten verwundet, 520 fielen. Außerdem ist Australien am Irakkrieg beteiligt gewesen und unterhielt ein Kontingent im Irak, das bis Juli 2009 entsprechend dem Wahlversprechen der amtierenden Labor-Regierung abgezogen wurde. Es verblieben etwa 100 Soldaten zum Schutz der australischen Botschaft im Land. Der bis dato umfangreichste und bedeutendste internationale Einsatz Australiens war der Beitrag zu den Operationen in Afghanistan, wo die ADF mit etwa 1500 Soldaten vertreten war. Australien gab 2017 knapp 2,0 % seiner Wirtschaftsleistung oder 27,5 Mrd. Dollar für seine Streitkräfte aus und lag damit weltweit auf Platz 13. Seit 2014 beteiligt sich Australien auch an der Koalition gegen die Terrormiliz Islamischer Staat. Nach dem russischen Einmarsch in die Ukraine verkündete Scott Morrison, das Budget für Verteidigung mit 31 Mrd. Australischen Dollars aufzustocken. Außerdem soll das Militär um 18.000 auf 81.000 Truppen vergrößert werden. Infrastruktur Australiens Verkehrswesen wird durch die großen Entfernungen im Landesinneren und die hohe Bevölkerungsdichte entlang des schmalen Streifens der Ost- und Südküste geprägt. Bezogen auf die Einwohnerzahl verfügt das Land über sehr viele Kilometer an Straßen und Wegen, weist einen hohen Motorisierungsgrad auf und besitzt ein engmaschiges Flugnetz. Im Logistics Performance Index, der von der Weltbank erstellt wird und die Qualität der Infrastruktur misst, belegte Australien 2018 den 18. Platz unter 160 Ländern. Flugverkehr Australien gehört zu den Ländern mit den dichtesten Flugnetzen überhaupt. Es gibt etwa 400 öffentliche und privat verwaltete Flugplätze. Wichtigste Fluggesellschaft ist die 1920 gegründete Qantas Airways. Ein bedeutendes Drehkreuz für den internationalen Flugverkehr ist der Kingsford Smith International Airport in Sydney. Der Inlands-Flugverkehr ist seit 1990 dereguliert, d. h. Flugpreise werden ohne Mitwirken seitens der Regierung durch den freien Wettbewerb bestimmt. Zunehmend ist auch der Anteil an Ballonfahrten mit dem Heißluftballon als Freizeitbeschäftigung speziell für Touristen. Straßenverkehr In Australien herrscht Linksverkehr. Vor allem im dicht besiedelten Südosten des Landes spielt der Straßenverkehr eine bedeutende Rolle. Die erste Straße Australiens wurde in den Jahren von 1789 bis 1791 von Sydney nach Parramatta gebaut. Das heutige australische Straßennetz beläuft sich insgesamt auf etwa 913.000 km, von denen circa 353.000 km befestigt, das heißt entweder asphaltiert oder betoniert, sind. Ein großer Teil des Warenverkehrs im Outback wird mit Hilfe von Road Trains transportiert. Ein Road Train ist ein spezieller Typ eines Lastzuges, bestehend aus einem Sattelzug mit Zugmaschine und Sattelauflieger, an den in Australien bis zu drei Anhänger gekuppelt werden. Dadurch erreichen die Road Trains eine Gesamtlänge von bis zu 53,5 m sowie beladen ein Gesamtgewicht von bis zu etwa 140 Tonnen. Die ersten Fernstraßen in Australien wurden von den Hauptstädten an den Küsten in einem speichenförmigen Muster ins Landesinnere gebaut, um die ersten ländlichen Ansiedlungen mit den Hauptstädten zu verbinden. Im Jahr 1955 wurde das australische National-Route-Nummerierungsschem eingeführt um die Navigation durch Australien zu vereinfachen. Man erkennt eine National Route an den Schildern mit schwarzer Schrift auf weißem Grund. Schienenverkehr 1854 verkehrte die erste Dampfeisenbahn zwischen der Innenstadt und dem Hafen Melbournes. Zahlreiche private Gesellschaften betrieben in der Folgezeit die Eisenbahnlinien des Landes. Dies führte dazu, dass zum Zeitpunkt der Föderationsbildung (1901) drei voneinander abweichende Spurweiten vorlagen, was große Probleme aufwarf. Erst seit etwa 1970 ist die Durchfahrt von Sydney nach Perth ohne systembedingtes Umsteigen möglich. Teilweise wird hier – und nur hier – mit Dreischienennetz gefahren. Die Gesamtlänge des staatlichen Eisenbahnnetzes beträgt etwa 34.000 km. Die Gesamtlänge der privat betriebenen Schienennetze beläuft sich auf etwa 5500 km. Private Schienennetze werden in der Pilbara-Region Western Australia vor allem zum Transport von Eisenerz, in Queensland für den Transport von Kohle und Zuckerrohr genutzt. Verglichen mit dem Straßenverkehr spielt der Personen- und Gütertransport auf den Schienen inzwischen eine untergeordnete Rolle. Es gibt dennoch Neubauprojekte wie beispielsweise die kürzlich fertiggestellte Eisenbahnlinie von Alice Springs nach Darwin, die unter dem Namen The Ghan bekannt ist. Die Transaustralische Eisenbahn von Sydney nach Perth ist für den Fracht- und den Fremdenverkehr von Bedeutung. Australien plant zudem den Einsatz von Hochgeschwindigkeitszügen. In den Ballungsräumen Brisbane, Melbourne, Perth und Sydney, in denen die Hälfte der Bevölkerung lebt, existieren gut ausgebaute S-Bahn-Netze. Straßenbahnen sind in Australien recht selten und bestehen meist nur aus wenigen Linien, das Straßenbahn-Netz in Melbourne ist jedoch das längste der Welt. Das U-Bahn-Netz der Metropole Sydney, die Sydney Metro, ist seit der Eröffnung im Mai 2019 die erste vollwertige U-Bahn auf dem Kontinent. Wirtschaft Wirtschaftsgeschichte Die Wirtschaftsgeschichte Australiens begann mit der Landung von etwa 1000 Sträflingen, Royal Marines und Seeleuten auf elf Schiffen der First Fleet im Port Jackson am 26. Januar 1788. Davor lebten auf dem australischen Kontinent die Aborigines als Jäger und Sammler. Die Briten erklärten das Land zur Terra nullius und eigneten es sich an. Mit der Anwendung dieses Rechtsbegriffs wurde Australien zu einem Land erklärt, das niemand gehört. Die Briten kolonisierten es jahrzehntelang in Form der Sträflingskolonie Australien. Kolonie New South Wales (1788–1810) Nach der Landung im Jahr 1788 übergab die britische Kolonialregierung Land an höhere Offiziere und Sträflinge mit Privilegien. Dies geschah in Form einer „land grant“, einer Landübereignung. Sträflingen ohne das Privileg einer Landübereignung wurde lediglich erlaubt, Wirtschaftsgüter in geringem Umfang selbst zu produzieren. Das Kommissariat der Regierung der Kolonie New South Wales nahm als Lieferant von Gütern, Geld und Devisen eine herausragende Stellung im wirtschaftlichen Leben der Kolonie ein. Obwohl das wirtschaftliche Leben durch die Verteilung von Gütern, Bewirtschaftung von Geld und ausländischer Währung durch die Kolonialregierung reguliert war, entwickelte sich privates Eigentum an Land und privat vergütete Arbeit. Dies wurde geduldet und nicht sanktioniert. Die Offiziere des New South Wales Corps nutzten dies aus und verquicken private und dienstliche Interessen. Die Offiziere des Militärs eigneten sich rücksichtlos Land privat an und führten aufgrund der Knappheit von offiziellen Geldmünzen in der Kolonie Rum als Währung ein. Als die britische Kolonialregierung dagegen einschritt, entstand die Rum Rebellion, die dazu führte, dass im Jahr 1808 zahlreiche Offiziere die Kolonie verlassen mussten. Weitere Kolonien Bereits in den Jahren ab 1810 war erkennbar, dass sich die koloniale Wirtschaft nicht nur auf eine Selbstversorgung beschränken musste, sondern auch Außenhandel betreiben konnte. Bedeutend für die weitere wirtschaftliche Expansion war die Blaxland-Expedition im Jahr 1813, die einen Weg über die Blue Mountains hinweg ins Landesinnere Australien ermöglichte. Weitere Erkundungen und Entdeckungen folgten. Deshalb konnte die koloniale Wirtschaft wachsen. Neben der erstgegründeten Kolonie New South Wales entstanden Western Australia (1829), South Australia (1836), Victoria (1851), Queensland (1859) und Tasmanien (1856) als britische Kolonien (das Northern Territory wurde 1911 aus South Australia abgespalten und dem Commonwealth of Australia unterstellt). Güter wurden nicht nur in New South Wales verbraucht, sondern ab den 1820er Jahren nach England und ins nordwestliche Europa exportiert. Es handelte sich zuerst vor allem um Wolle, Hölzer und Walöl. In dieser Zeit erfolgte eine umfangreiche Landnahme und eine gewaltsame Verdrängung der Aborigines aus ihren Stammesgebieten durch Siedler. Diese wurden „squatters“ genannt und eigneten sich Land ohne Rechtstitel an, was erst im Jahr 1846 durch Gouverneur George Gipps geregelt bzw. beendet wurde. 1831 wurde es in der Kolonie New South Wales möglich, Land käuflich zu erwerben. Eine erste Wirtschaftskrise entstand in den 1840er Jahren, die von Bankenpleiten begleitet war. Diese Wirtschaftskrise wurde durch die Goldfunde von 1851 in Victoria überwunden. Infolge des Goldrausches in Australien wanderten zahlreiche Menschen ein. Es waren vor allem Engländer, aber auch andere Nationalitäten wie Chinesen. Bereits in den 1840er Jahren endete die Sträflingsdeportation im östlichen Siedlungsgebiet Australiens. Freie Siedler ließen sich nieder, gesetzliche Regelungen zur Sicherung der bürgerlichen Rechte und des Eigentums wurden erlassen. Es begann der Aufbau eines demokratischen Wahlsystems. Der Bergbau entwickelte sich. In den 1870er Jahren wurde mehr Gold als Wolle exportiert. Durch die australischen Goldfunde entwickelte sich eine rege Bautätigkeit, insbesondere in Victoria. Weizenexporte begannen im Jahr 1870 in South Australia. Ab den 1880er Jahren wurde Zink, Blei und Silber bei Broken Hill abgebaut. Die Goldfunde stagnierten und durch anhaltende Dürren in den 1890er Jahren geriet Australien in eine wirtschaftliche Rezession. Im Verlauf dieser Rezession wurden Löhne gekürzt und in der Folge bildete sich die australische Arbeiterbewegung in zahlreichen und heftigen Streiks (Schafscherer-Streik (1891) und Schafscherer-Streik (1894), Broken-Hill-Streik, Maritime-Streik) aus. In den 1890er Jahren ermöglichten neue Methoden der Kühlung den Export von Fleisch-, Molkereiprodukten und Früchten. Commonwealth Am 1. Januar 1901 schlossen sich die früher voneinander unabhängigen Kolonien zum Commonwealth of Australia zusammen. Diese neue Regierung erhielt Rechte zu starken Eingriffen in Märkte. Sie konnte die Lohnhöhe und Preise bestimmen. Das Commonwealth regulierte den inneraustralischen Markt und verfolgte die White Australia Policy, eine Politik, die die Zuwanderung von Nichtweißen blockierte. Diese Politik änderte sich erst nach dem Zweiten Weltkrieg, als infolge der boomenden Wirtschaft eine hohe Nachfrage nach Arbeitskräften entstand. Nach 1950 waren Rohstoffe auf dem Weltmarkt stark nachgefragt und die australische Regierung förderte den Abbau von Rohstoffen intensiv. Das wirtschaftliche Wachstum Australiens wurde vor allem durch die Fahrzeug-, Chemieproduktion, Herstellung elektrischer und elektronischer Ausrüstung sowie von der Eisen- und Stahlproduktion bestimmt. Dieses Wachstum wurde auch durch die beiden Weltkriege nicht wesentlich negativ beeinflusst. In der Zeit nach dem Zweiten Weltkrieg entstand eine langfristige positive Wachstumsrate mit hoher Beschäftigung. Ihren Höhepunkt erreichte die industrielle Produktion in der Mitte der 1960er Jahre. Das 1910 eingeführte Australische Pfund wurde im Jahr 1966 auf den Australischen Dollar ins Dezimalsystem umgesetzt. Zudem wurde das Einheitensystem vom angloamerikanischen Maßsystem auf das metrische Einheitensystem umgestellt. Als zu Beginn der 1970er Jahre die Weltkonjunktur einbrach, wuchsen Arbeitslosigkeit und Inflation in Australien an. In den Jahren 1982 bis 1983 verharrte die australische Wirtschaft in einer Rezession. 1983 kam die Australian Labor Party mit dem Premierminister Bob Hawke und Finanzminister Paul Keating an die Regierung. Hawke setzte darauf, dass mehr Beschäftigung entstehen könnte, wenn es gelänge, die Reallöhne zu stabilisieren bzw. zu senken. Keating widersprach dem und warnte, dass Australien sich damit zu einer „banana republic“ entwickeln würde. Labor entschied daraufhin, australische Firmen sollten ausländische Investitionen zulassen. Sie lockerte auch die Wettbewerbsbedingungen. Die Rezession wurde daraufhin durch einen starken Beschäftigungsanstieg aufgehoben und die Arbeitslosenquote erreichte mit 2 % wieder den Stand von 1972. Die weiter oben genannten Maßnahmen wurden in der folgenden Zeit ausgeweitet. Die Labor Party verlor die Wahlen im Jahr 1996 an John Howard von der Liberal Party of Australia. Seine Regierung setzte auf Deregulierung, unter anderem des Währungs- und Finanzsystems, das sich noch stärker dem internationalen Kapital öffnen sollte. Schutzmaßnahmen für die Industrie und Landwirtschaft und Wettbewerbsbeschränkungen wurden zurückgefahren bzw. aufgehoben. Einige staatliche Aufgaben wurden privatisiert und das Transport- und Telekommunikationswesen dereguliert. 2005 lag die Arbeitslosenquote bei 5 %. In der Folge führten fallende Transportkosten, neue effektive Telekommunikations- und Informationstechnologien, Investitionen mit ausländischem Kapital, wirtschaftliches Wachstum in Ostasien, vor allem in China, zu kontinuierlich steigenden Wachstumsraten der australischen Wirtschaft. Reformen im Bildungswesen und Anpassungen der Ausbildungsinhalte an Hochschulen und Universitäten des Landes sorgten dafür, dass Wettbewerbsfähigkeit anstieg. Im Jahr 2000 betrug der Anteil der Dienstleistungen 70 % des nationalen Einkommens. Seit den 1990er Jahren hat Australien eine der höchsten Wirtschaftswachstumsraten unter den OECD-Staaten. Seit 1995 hat es keine wirtschaftliche Rezession erlebt. Aktuell Im Jahr 2015 betrug das Wachstum Australiens 2,4 %. Die Arbeitslosenquote lag im September 2016 bei 5,8 %. Der Dienstleistungssektor Australiens ist mit 60 bis 65 Prozent des Bruttoinlandsproduktes (BIP) bedeutend, der seinen Schwerpunkt im Bereich Finanzen, Immobilien und Unternehmensdienstleistungen hat. Der Anteil des Bergbaus am BIP liegt bei etwa zehn Prozent und der der Landwirtschaft bei zwei Prozent. Beide Sektoren haben allerdings einen bedeutenden Anteil an Australiens Exportvolumen und sind stark vom Wachstum der Weltwirtschaft abhängig. Die wichtigsten Exportgüter Australiens sind Kohle, Eisenerz, Gold, Erdöl/-Produkte und Erdgas. Beim Export von verflüssigtem Gas wird erwartet, dass Australien in den nächsten fünf Jahren Weltmarktführer werden wird. Bei Kohle ist Australien seit den 1980er Jahren der weltweit größte Exporteur. Durch das Absinken des weltwirtschaftlichen Wachstums der vergangenen Jahre ging der Export der Rohstoffe Australiens stark zurück und es entstand eine Lücke im Staatshaushalt. Die konservative Regierung unter Turnbull versuchte diese Lücke durch die Erhöhung der Verbrauchssteuer von 10 auf 15 Prozent zu schließen. Diese Erhöhung der Mehrwertsteuer (Goods and Service Tax) scheiterte am innerparteilichen Widerstand. Durch die Orientierung auf den Export von Rohstoffen ist der Anteil des verarbeitenden Gewerbes in Australien und die Beschäftigung in diesem Wirtschaftsbereich gering. Zusätzlich werden beispielsweise Holden (GM-Konzern) und Toyota ihre Pkw-Produktion in Australien im Jahr 2017 einstellen. Dies zieht vermutlich einen Wegfall von 40.000 Arbeitsplätzen nach sich und bedeutet das Ende der Automobilproduktion in Australien. Diesen Wegfall von Arbeitsplätzen kann auch der in Australien wachsende Wirtschaftsbereich Informations- und Kommunikationstechnologie, E-Commerce, Bio-, Nano- und Medizintechnologie nicht ausgleichen. Die australische Leistungsbilanz ist seit Jahren defizitär, die Anteile am BIP schwankten in der Vergangenheit von minus zwei bis minus sechs Prozent. Die Verschuldung der privaten Haushalte Australiens war im Jahr 2016 beträchtlich. Australien war, laut einer Studie der Bank Credit Suisse aus dem Jahre 2017, das Land mit dem neuntgrößten nationalen Gesamtvermögen weltweit. Der Gesamtbesitz der Australier an Immobilien, Aktien und Bargeld belief sich auf insgesamt 7.407 Milliarden US-Dollar. Das Vermögen pro erwachsene Person beträgt 402.603 Dollar im Durchschnitt und 195.417 Dollar im Median (Deutschland: 203.946 bzw. 47.091 Dollar). Das Vermögen pro Kopf war damit sowohl im Durchschnitt als auch im Median das dritt-höchste der Welt (hinter Island und der Schweiz). Der Gini-Koeffizient bei der Vermögensverteilung lag 2016 bei 68,2, was auf eine moderate Vermögensungleichheit hindeutet. Australiens derzeit wichtigste Importprodukte sind, neben Rohöl und raffiniertem Öl, Wirtschaftsgüter wie Pkws und Medikamente. Australien zählt zu den 20 größten Volkswirtschaften der Erde. Im Global Competitiveness Index des Global Competitiveness Report, der die Wettbewerbsfähigkeit eines Landes misst, belegt Australien im Jahr 2017 Platz 21 unter 137 Ländern. Im Index für wirtschaftliche Freiheit belegt das Land im Jahr 2017 den fünften Platz unter 180 Ländern. Australien zählt zu den liberalsten Volkswirtschaften der Welt. Kennzahlen Außenhandel Die große Fläche des Landes in Verbindung mit dem kleinen Binnenmarkt und das Vorhandensein von Rohstoffen prädestiniert Australien zum Exportland für Primärprodukte. Diese Tatsache macht das Land aber auch empfindlich gegenüber starken Schwankungen der Weltmarktpreise dieser Güter. Wichtige Exportgüter sind daher landwirtschaftliche Produkte und Bodenschätze. Das Land ist Mitglied der Cairns-Gruppe, die sich für die Liberalisierung von Agrarexporten einsetzt. Die Großunternehmen in Australien prägen die Exportbilanz. Die 100 größten Unternehmen des Landes hatten 2001 für rund 50 Milliarden australische Dollar Waren- und Dienstleistungsexporte erbracht und lieferten damit rund ein Drittel der gesamten Ausfuhr des Landes. Im Jahre 2001 lag der australische Export bei rund 154 Milliarden australische Dollar und machte über 20 % des BIP aus. Australien bildet mit seinem Nachbarland Neuseeland unter der Bezeichnung Closer Economic Relations seit 1983 eine Freihandelszone. Australien ist Mitglied der APEC, G20, OECD und WTO und betreibt Freihandelsabkommen mit ASEAN, Chile, Neuseeland, Singapur, Thailand und den Vereinigten Staaten. Speziell das ANZCERTA Vertragsabkommen mit Neuseeland zeigt die enge Verschränkung beider Volkswirtschaften. Im Jahr 2010 war Australien die 21. größte Export- und die 19. größte Importnation. Unter der Bezeichnung Austrade betreibt das Department of Foreign Affairs and Trade eine Agentur zur Förderung von Handel und Investitionen mit einem globalen Netzwerk von Büros. Größter Handelspartner im Jahr 2008 mit 17 % (25 Milliarden Euro) aller importierten Waren war die Europäische Union. Im Jahr 2010 entfielen 60 % des Außenhandelsanteils auf Asien, wobei China Japan im Jahr 2007 als wichtigsten Wirtschaftspartner Australiens ablöste. Im Jahr 2014 exportierte Australien Waren und Dienstleistungen im Wert von 243 Mrd. USD und importierte diese im Wert von 219 Mrd. USD. Die Handelsbilanz wies damit einen Überschuss von 24 Mrd. USD aus. Die größten Exporte aus Australien waren Eisenerz mit 60 Mrd., Kohle und Briketts 37,2 Mrd., Flüssigerdgas 16,3 Mrd., Gold 16,3 Mrd. und Erdöl 9,1 Mrd. USD. Die größten Importe waren Treibstoffe mit 16,6 Mrd., Erdöl 16,2 Mrd., Pkw 15,7 Mrd., Computer 7,37 Mrd. und Medikamente 6,5 Mrd. USD. Nach China exportierte Australien im Jahr 2014 Waren und Dienstleistungen im Wert von 82,9 Mrd., nach Japan 43,1 Mrd., Südkorea 19 Mrd., Indien 11,1 Mrd. und in die Vereinigten Staaten 10 Mrd. USD. Die australischen Importe aus China erreichten einen Wert von 45,7 Mrd., Vereinigte Staaten 24,5 Mrd., Japan 15,4 Mrd., Singapur 11,8 Mrd. und Deutschland 10,6 Mrd. USD. Landwirtschaft und Fischerei Landwirtschaft ist in Australien ein wichtiger Wirtschaftsfaktor. Mehr als 400.000 Arbeitnehmer sind in der Landwirtschaft beschäftigt. 2 % des BIP werden hier erwirtschaftet. Etwa 80 % der landwirtschaftlichen Produktion werden exportiert. Große Flächen des Landes dienen als Weideland, wobei besonders im Outback extensive Weidewirtschaft (Ranching) auf Sheep- oder Cattle-Stations betrieben wird. Auf diesen Weideflächen werden ca. 130 Millionen Schafe und mehr als 25 Millionen Rinder gehalten. Australien ist führend in der Produktion von Wolle, 29 % der Weltproduktion stammen von hier. Nur 6 % der Landesfläche werden zum Anbau von Nahrungs- und Futterpflanzen genutzt. Weizenanbau hat daran mit 45 % den größten Anteil. Abgesehen von den klimatisch begünstigteren Gebieten des Südostens sind die meisten Anbaugebiete von Bewässerung abhängig. 2019 musste wegen der starken Dürre erstmals seit 2007 wieder Weizen (aus Kanada) importiert werden. Neben Weizen mit einer jährlichen Produktion von über 30 Millionen Tonnen spielt der Zuckerrohranbau mit mehr als 35 Millionen Tonnen eine große Rolle. Australiens Weinindustrie hat ein Exportvolumen von mehr als 2,3 Milliarden Australische Dollar. Wichtige Anbaugebiete sind das Barossa Valley in South Australia, Hunter Valley in New South Wales und Victorian Sunraysia in Victoria. Die am meisten angebauten Traubensorten sind Chardonnay, Shiraz und Cabernet Sauvignon. Australien ist eines der wenigen Länder, die unter strengen Kontrollen den Anbau von Schlafmohn zur Opium-Gewinnung für die Pharma-Industrie erlauben. Die Fischerei spielt eine untergeordnete Rolle, trotzdem ist Australien Mitglied der South Pacific Regional Fisheries Management Organisation (SPRFMO), die sich als internationale zwischenstaatliche Organisation von 15 Mitgliedern das Ziel gesetzt hat, die Fischbestände im Südpazifik zu überwachen und zu bewirtschaften. Bodenschätze Australien verfügt über große Vorkommen an Energierohstoffen und mineralischen Rohstoffen. Die Bodenschätze wie Kohle, Eisenerz, Gold, Diamanten und andere Mineralien werden zumeist im Tagebau abgebaut. Australien ist der weltgrößte Exporteur von Steinkohle. Im Jahr 2002 förderten australische Minen 343 Millionen Tonnen Kohle und 116 Millionen Tonnen Eisenerz. Durch Milliardeninvestitionen, unter anderem von BHP Billiton, wurde die Ausbeute von Eisenerz bis zum Jahr 2011 auf 600 Millionen Tonnen gesteigert; der Preis stieg von 2001 bis 2011 um 700 %. Der größte Anteil des Eisenerzes wird nach China exportiert. Beim Gold stammen mit 282 Tonnen 12 % auf dem Weltmarkt aus Australien. Australien hat zudem das reichhaltigste Vorkommen an Seltenen Erden weltweit, die an der Erzlagerstätte am Mount Weld in Western Australia gefördert werden. Für Tantal ist Australien der wichtigste Exporteur auf der Welt. Bei Edelsteinen fördert Australien mehr als 90 % der Weltproduktion an Opalen, vor allem im Gebiet der Stadt Coober Pedy in South Australia. Australien ist das drittgrößte Exportland der Welt von Uran. Atomkraftwerke betreibt es aber nicht. Seit den späten 1960er Jahren ist der Uranabbau und -export das bedeutende Hauptfeld politischer Auseinandersetzungen zwischen Regierungen und Gruppierungen der Antiatomkraftbewegung in Australien, die Argumente gegen die Umweltzerstörung, gegen die Zerstörung des Traumzeitlands der Aborigines und gegen die Weiterverbreitung von Massenvernichtungswaffen vortrugen, um damit die Atomindustrie zurückzudrängen. Tourismus Die Tourismusbranche erwirtschaftet 8 % der australischen Wirtschaft. Seit den 1970er Jahren stiegen die Besucherzahlen stark an. Im Jahr 2003 besuchten 4,35 Mio. Touristen Australien, im Jahr 2016 waren es bereits rund 8,2 Mio. internationale Touristen. Die Tourismuseinnahmen betrugen 32,4 Mrd. US-Dollar. Die australische Tourismusbehörde prognostiziert bis 2020 weiterhin einen Anstieg. Zu den am häufigsten vertretenen Nationalitäten gehören Neuseeländer, Chinesen, Briten, US-Amerikaner, Japaner, Singapurer, Malaysier, Koreaner, Hongkong-Chinesen, Inder und Deutsche. Die über 510.000 in der Tourismusbranche arbeitenden Menschen erwirtschaften rund 35 Mrd. AUD pro Jahr. Das Land ist in der ganzen Welt für die Reiseform des Work & Travel bekannt, die man mit einem Working-Holiday-Visum nutzen kann. Dazu muss man zwischen 18 und 30 Jahre alt sein. Ungefähr 40 % aller Touristen, die Australien besuchen, sind zwischen 18 und 30 Jahre alt. Jährlich wird dieses Angebot von über 20.000 deutschen Bürgern genutzt. Es herrscht generelle Visumspflicht für alle Ausländer, ausgenommen Neuseeländer. Die Visumspflicht gilt selbst für Einreisende aus den Ländern des Commonwealth. Auch für touristische Kurzaufenthalte ist ein Visum Voraussetzung. Je nach Reisezweck und -dauer ist hierbei ein unterschiedliches Touristenvisum erforderlich. Das kostenlose Visum eVisitor (subclass 651), welches in allen EU-Staaten und weiteren ausgewählten 30 Ländern Europas beantragt werden kann, erlaubt eine Aufenthaltsdauer von maximal drei Monaten, während jedoch jegliche Art bezahlter Arbeit untersagt ist. Alternativ besteht die Möglichkeit des kostenpflichtigen Visums ETA (Electronic Travel Authority). Im Falle eines längeren Aufenthalts sowie für Geschäftsreisen ist das Visum Visitor Visa (subclass 600) erforderlich, welches sich in die Varianten tourist stream, business stream und sponsored family stream unterteilt. Hauptziele der ausländischen Besucher sind neben Sydney vor allem die einzigartigen Naturlandschaften – allen voran das Great Barrier Reef, der Uluṟu (Ayers Rock) und der Kakadu-Nationalpark. Sydney, Melbourne, Brisbane, Gold Coast, Cairns, Perth, Adelaide und Canberra zählen zu den am häufigsten besuchten Städten. Elektrische Energie Stromerzeugung, Rolle der Steinkohle Die Stromerzeugung in Australien wurde im Jahr 2000 noch zu 80 % mit Kohlekraftwerken gewährleistet, die restlichen 20 % werden hauptsächlich durch Gas- und Wasserkraftwerke gedeckt. Aufgrund der hohen Fördermengen fossiler Brennstoffe ist das Land von Importen dieser Bodenschätze nahezu unabhängig. 2021 war Australien nach Indonesien der zweitgrößte Kohleexporteur der Welt. Atomkraftwerke zur Stromerzeugung gibt es nicht. Der hohe Anteil fossiler Brennstoffe führte allerdings zu einem hohen Ausstoß von Treibhausgasen und trägt zur globalen Erwärmung bei. Australien zeigte sich zögerlich bei Selbstverpflichtungen zur Reduktion von Treibhausgasen. Als vorletzter Industriestaat ratifizierte es am 3. Dezember 2007 das Kyoto-Protokoll. Die Regierung unter Premierminister Scott Morrison verpflichtete sich lediglich zu einer Reduktion der Treibhausgasemissionen bis zum Jahr 2030 um 25 %, verglichen mit dem Niveau des Jahres 2005, ein Wert, der weit unter den Zielwerten anderer Industriestaaten (Vereinigte Staaten, Europäische Union, Vereinigtes Königreich) lag. Umweltexperten forderten eine Reduktion zwischen 50 und 74 %, damit Australien die Ziele des Übereinkommens von Paris erfülle. Auch der Zielsetzung der meisten Industriestaaten, bis 2050 eine CO2-neutrale Wirtschaft zu entwickeln, wollte sich Australien nicht anschließen. Das Festhalten Australiens an der Kohle als Hauptenergielieferanten führte weltweit zu anhaltender Kritik von Umweltorganisationen. Trotz geographisch günstiger Voraussetzungen (sehr viele Sonnenstunden im Jahr, küstennahe Regionen wie Brisbane oder Perth) wurde das Potenzial regenerativer Energien anfangs kaum erschlossen. So wurde Solarstrom lange Zeit nur in entlegenen Wüstenregionen genutzt, die nicht ans Stromnetz angeschlossen sind. Das Potenzial für Windenergie wurde wenig genutzt, obgleich neue Windenergieanlagen günstiger Strom erzeugten als neue Kohle- und Gaskraftwerke. Ende 2017 wurde das bis dahin größte Batteriespeicher-Projekt der Welt fertiggestellt. Anfänglich mit 100 MWh geplant, wurde das Projekt schließlich mit 129 MWh abgeschlossen. Neben Windkraftanlagen werden auch Solaranlagen zur Energiegewinnung genutzt. Die Batteriespeicher kommen von Tesla, Inc., die Windkraftanlagen von Vestas Wind Systems. Das Hybridkraftwerk befindet sich im Kennedy Energy Park in Queensland und ist das erste Projekt in Australien, welches diese drei Technologien miteinander verbindet; finanziert wurde das Projekt unter anderem von der Australian Renewable Energy Agency (ARENA). Ein Folgeprojekt der gleichen Partner mit einer Batteriespeicherkapazität von 20 MWh wurde 2018 im Bundesstaat Victoria in Auftrag gegeben. Der Speicher soll in Kombination mit einem Windpark installiert werden. Dieser hat eine Nennleistung von 194 MW und wird 2020 in Betrieb genommen. Er soll unter anderem auch ein 40 Hektar großes Gewächshaus versorgen. Weitere große kombinierte Kraftwerke sind in Planung, so zum Beispiel das Projekt Kaban Green Power Hub, das auf 130 MW oder 157 MW Windkraftleistung und einen 100-MW-Batteriespeicher ausgelegt ist. Baubeginn soll Ende 2020 oder Anfang 2021 sein. 2018 lief ein Projekt zum Bau von 50.000 Photovoltaikanlagen mit Batteriespeichern für Wohn- und Gewerbegebäude an. Partner ist die Firma Tesla, Inc.; mit Stand Juli 2018 wurden bereits 100 Haushalte mit entsprechender Technik ausgestattet. Im Endausbau, der für 2022 erwartet wird, sollen die Speicher bei einer Speicherkapazität von 650 MWh eine Leistung von 250 Megawatt bereitstellen. Das Gesamtsystem soll als Virtuelles Kraftwerk arbeiten und das südaustralische Stromnetz stabilisieren. Das Projekt wird vollständig von der Regierung finanziert. Die ausgewählten Haushalte dürfen den Strom nutzen, um ihre eigenen Energiekosten zu senken. Stromverteilung Seit dem Jahr 2000 erfolgt in Australien die Stromverteilung im Niederspannungsnetz mit einer Netzspannung von 230 V bei einer Frequenz von 50 Hertz und einer Toleranz von +10 % bis −6 % gemäß Standards Australia-Norm „AS60038-2000 – Standard Voltages“. Vorher lag die Spannung bei 240 V. Der verwendete Stecker ist vom Typ I. Staatshaushalt Der Staatshaushalt umfasste 2015 Ausgaben von umgerechnet etwa 560 Mrd. US-Dollar, dem standen Einnahmen von umgerechnet 513 Mrd. US-Dollar gegenüber. Daraus ergibt sich ein Haushaltsdefizit in Höhe von 2,3 % des Bruttoinlandsprodukts. Im Jahr 2017 lag die Staatsverschuldung bei 41,9 % des BIP. Von der Ratingagentur Standard & Poor’s werden die Staatsanleihen Australiens mit der Bestnote AAA bewertet (Stand 2018). Der Anteil der Staatsausgaben (in % des BIP) betrug in folgenden Bereichen: Gesundheit: 6,3 % (2014) Bildung: 5,3 % (2013) Militär: 1,9 % (2016) Bilaterale Wirtschaftsbeziehungen Im Nachfolgenden sind die bilateralen Wirtschaftsbeziehungen Australiens mit Ländern im deutschsprachigen Raum dargestellt. Australisch-deutsche Wirtschaftsbeziehungen Deutschland ist derzeit der zwölftgrößte Handelspartner Australiens. Mehr als 300 Töchter deutscher Unternehmen sichern in Australien mit insgesamt ca. 650 Betriebsstätten etwa 100.000 Arbeitsplätze. 2010 betrug das Volumen des bilateralen Warenverkehrs über 10 Mrd. Euro. Deutschland importierte 2010 Waren im Wert von etwa 2,23 Mrd. Euro. Der Export deutscher Waren betrug etwa 7,86 Mrd. Euro. Den Schwerpunkt der deutschen Exporte bilden Kraftfahrzeuge und -teile, chemische, pharmazeutische und elektrotechnische Erzeugnisse, Kunststoffe und Maschinen. Die Wichtigsten australischen Exportgüter nach Deutschland waren im Jahr 2019 Gold, Steinkohle und Erze. Australisch-schweizerische Wirtschaftsbeziehungen Im Jahr 2011 stieg der schweizerische Export nach Australien auf 2,5 Mrd. CHF. Die Importe der Schweiz aus Australien stiegen gegenüber dem Vorjahr von 320 Mio. CHF auf 487 Mio. an. Die Schweizer Investitionen in Australien beliefen sich im Jahr 2009 auf 13 Mrd. USD. 2011 kam die Schweiz auf den fünften Platz in der Rangliste der ausländischen Investitionen Australiens. Mit diesen Investitionen wurden 40.000 Arbeitsplätze in Australien geschaffen. Im Jahr 2011 reisten im Vergleich zum Vorjahr 8,2 % mehr australische Touristen in die Schweiz, und 43.000 Touristen aus der Schweiz reisten nach Australien. Australisch-österreichische Wirtschaftsbeziehungen Österreichische Exporte nach Australien erreichten im Jahr 2014 einen Wert von 792,93 Millionen Euro, dabei handelte es sich vor allem um LKW und Motorräder, Baumaschinen, elektrische Maschinen, pharmazeutische Erzeugnisse, Metallwaren (Beschläge und Schlösser). Die österreichischen Importe waren im Jahr 2014 mit 87 Millionen Euro gering. Es waren dies Steinkohle, Baumaschinen, Mess- und Prüfgeräte, elektrische/elektronische Apparate und Goldmünzen. Kultur Anfangs wurde die Kultur Australiens ausschließlich von dessen Ureinwohnern, den Aborigines, geprägt. Mit der Besiedlung durch die Europäer dominierte unter diesen Siedlern der Einfluss der britischen Kolonialmacht. Für die europäischstämmigen Siedler und ihre Nachfahren verband sich mit dem Entstehen einer eigenen nationalen Identität die Entwicklung einer nationalen australischen Kultur. Heute ist diese in allen Bereichen geprägt von den Einflüssen der unterschiedlichen Einwanderergruppen, vermischt mit den Ausdrucksformen der indigenen Kulturen der verschiedenen Stämmen der Aborigines. Feiertage Der Australia Day ist Australiens offizieller Nationalfeiertag und wird am 26. Januar gefeiert. Er erinnert an die Ankunft der First Fleet in Sydney Cove am 26. Januar 1788. Diese Ankunft markierte den Beginn der Deportation britischer Strafgefangener nach Australien und mithin den Beginn der Besiedlung Australiens durch die Europäer. Ein weiterer wichtiger Feiertag ist der ANZAC Day am 25. April. Er ist der Jahrestag der ersten Militäraktion von australischen und neuseeländischen Truppen im Ersten Weltkrieg, der Landung auf Gallipoli 1915. Auch ist der Melbourne Cup Day bei der Bevölkerung sehr beliebt. Er findet am ersten Dienstag im November statt und ist im Bundesstaat Victoria ein offizieller Feiertag. Das Pferderennen wurde vom Victoria Turf Club das erste Mal 1861 ausgetragen. Australische Küche Die australische Küche zog ihre Inspiration zunächst aus der englischen Küche, die mit den britischen Sträflingen und Siedlern ab dem 18. Jahrhundert nach Australien kam, bis ab dem 19. Jahrhundert die chinesische Küche Einzug in das Land hielt. Mit der zunehmenden Einwanderung von Italienern und Griechen nach dem Ende des Zweiten Weltkriegs änderten sich langsam die Essgewohnheiten. Unter dem Einfluss zugezogener Migranten aus Vorderasien sowie von Vietnamesen, Thailändern und zahlreichen anderen Nationalitäten entwickelte sich Modern Australian Cuisine, eine der vielfältigsten Küchen der Welt. Australien hat reiche Vorkommen an Fischen und Meeresfrüchten, auf seinen Weideflächen große Populationen von Schafen und Rindern sowie in den Zonen mit gemäßigtem Klima eine beträchtliche Agrarwirtschaft, was sich auf den Speisekarten des Landes widerspiegelt. Das Barbecue ist beliebt und hat große Tradition in der australischen Kultur. Viele der australischen Weine weisen eine ausgezeichnete internationale Reputation auf, zudem besteht in dem Land eine ausgeprägte Kaffeekultur. Kunst Älteste Zeugnisse abbildender Kunst in Australien sind Felsgravierungen der Aborigines, die teilweise auf 30.000 v. Chr. datiert werden. Mit dem Übergang von der Rindenmalerei mit natürlichen Pigmenten zu Arbeiten mit Acryl auf Leinwand stieg die internationale Aufmerksamkeit und die Verkaufbarkeit der Kunstwerke der Aborigines seit den frühen 1970er Jahren stark an. Die ersten Gemälde europäischer Siedler verwendeten meist Tiere oder Aborigines als Motive, waren stilistisch und farblich aber an europäischen Vorbildern orientiert. Conrad Martens passte allerdings die europäische Malerei an die australischen Verhältnisse an. Mit der Aneignung des französischen Impressionismus durch die Heidelberger Schule in Melbourne gegen Ende des 19. Jahrhunderts gelang australischer Kunst erstmals internationale Anerkennung. Die expressionistische Bewegung im Australien der 1940er Jahre, vertreten unter anderem durch Sidney Nolan und Arthur Boyd, beeinflusste auch die Werke etablierter Maler wie Russell Drysdale und William Dobell. Lange Jahre konnte die moderne Bildende Kunst in Australien nicht Fuß fassen; dies dauerte von der Großen Depression bis ans Ende der 1950er‑Jahre. Danach dominierte der abstrakte Expressionismus die Bildende Kunst Australiens. Wichtige Impulse lieferte hierfür die Wanderausstellung French Painting Today von 1953. Heutige Arbeiten australischer Künstler werden zunehmend von Kunstformen der asiatischen Nachbarländer beeinflusst. Zeitgenössische Kunst verwendet darüber hinaus vielfältige Medien, um vor allem aktuelle Themen darzustellen wie die Umweltproblematik oder gesellschaftliche Veränderungen. Wichtigste Kunstpreise für Porträt-Malerei sind der Doug Moran National Portrait Prize und der Archibald Prize, für australische Landschaftsgemälde oder figürliche Skulpturen der Wynne-Prize sowie für Genremalerei und Wandbilder der Sir John Sulman Prize. Literatur Die Entwicklung einer eigenständigen australischen Literatur begann erst Mitte des 19. Jahrhunderts. Die Gedichte und Balladen der frühen Autoren wie Henry Lawson oder A. B. ‚Banjo‘ Paterson behandeln vor allem das Leben im australischen Busch. Auch später richtete sich der Fokus vor allem auf den australischen Kontinent und seine Bewohner. Mit der Aufnahme internationaler und sozialer Themen nach dem Zweiten Weltkrieg wurde die Literatur des Landes auch international stärker beachtet. Patrick White erhielt 1973 als bisher einziger Australier den Nobelpreis für Literatur, australische Träger des Booker Prize sind Peter Carey und Thomas Keneally. Wichtigste nationale Auszeichnung der Literaturszene ist der Miles Franklin Award. Film Im Jahre 1896 wurde in Sydney das erste Kino des Landes eröffnet. Der 1901 von der australischen Heilsarmee gedrehte Film Soldiers of the cross gilt als erster „echter“ Film der Welt. Anfang des 20. Jahrhunderts gab es schon eine boomende Filmindustrie. Bis in die 1930er Jahre wurden über 250 Stummfilme produziert. Mit der Übernahme des Vertriebs durch britische und US-amerikanische Firmen kam es jedoch zur Krise der australischen Filmproduktion. Trotzdem wurden auch weiterhin Produktionsfirmen gegründet, die in den 1930er Jahren Tonfilme vor allem zu australischen Themen drehten. Bekannte Regisseure dieser Zeit sind Ken G. Hall und Charles Chauvel. Chauvel drehte auch den ersten australischen Farbfilm, Jedda, ein vor allem mit Aborigines besetztes Drama. 1969 beschloss die australische Regierung eine Verstärkung der Filmförderung. In den folgenden Jahren konnten dann Filme mit australischer Thematik internationale Erfolge feiern. Einer der ersten dieser Filme war 1975 Picknick am Valentinstag von Peter Weir. In den nächsten Jahren folgten dann unter anderem die Mad-Max-Reihe von George Miller, Breaker Morant von Bruce Beresford und Gallipoli von Peter Weir, der inzwischen auch in Hollywood erfolgreich Regie führt. 1985 wurde Crocodile Dundee – Ein Krokodil zum Küssen mit Paul Hogan in der Hauptrolle zum Überraschungserfolg. Weitere internationale Erfolge waren 1992 Strictly Ballroom von Baz Luhrmann, 1994 Muriels Hochzeit von P. J. Hogan und Priscilla – Königin der Wüste von Stephan Elliott, 1996 Shine – Der Weg ins Licht von Scott Hicks, 2002 Long Walk Home von Phillip Noyce, sowie 2004 Somersault von Cate Shortland. Im Jahre 2008 erschien der Monumentalfilm Australia von Baz Luhrmann, der mit den australischen Weltstars Hugh Jackman und Nicole Kidman in den Hauptrollen als eine Art nationales Filmepos konzipiert war. Der Film erhielt jedoch nur mäßige Kritiken. Weitere international bekannte Schauspieler sind Eric Bana, Cate Blanchett, Toni Collette, Russell Crowe, Elizabeth Debicki, Errol Flynn, Mel Gibson, Rachel Griffiths, Chris Hemsworth, Heath Ledger, Olivia Newton-John, Miranda Otto, Guy Pearce, Margot Robbie, Geoffrey Rush, Richard Roxburgh oder Naomi Watts. Seit 1999 sind die Fox Studios in Sydney Produktionsort vieler Hollywood-Filme. Hier wurden unter anderem Mission: Impossible II, Teile von Australia, die zweite und dritte Episode der Star-Wars-Serie sowie Thor: Love and Thunder gedreht. Musik Klassische Ensembles mit internationalem Ansehen sind die Symphonieorchester Sydneys, Melbournes und Tasmaniens sowie das Australische Jugendorchester und das Australische Kammerorchester. Als Vater einer eigenständigen australischen Kunstmusik gilt der Komponist Alfred Hill. Komponisten wie Peter Sculthorpe und John Antill haben in ihre Werke auch Einflüsse der Aborigines und der asiatischen Nachbarländer übernommen. Von der jüngeren Komponistengeneration haben sich Brett Dean, Georges Lentz und Liza Lim international einen Namen gemacht. Country-Musik im US-amerikanischen Stil ist vor allem in ländlichen Gebieten des Südostens beliebt. Das jährlich in Tamworth stattfindende zehntägige Country Music Festival ist das zentrale Ereignis dieser Musik-Szene. Slim Dusty war ein bekannter australischer Country-Musiker. Ein Vertreter des australischen Jazz ist Graeme Bell. International bekannte Künstler der Pop- und Rock-Musik sind unter anderem die The Seekers, Bee Gees, INXS, AC/DC, Kylie Minogue, Natalie Imbruglia, Rose Tattoo, 5 Seconds of Summer, Men at Work, Flash and the Pan, Midnight Oil, The Church, The Go-Betweens, Press Club, Silverchair, The Dissociatives, Parkway Drive, Delta Goodrem, Crowded House, Icehouse, Tame Impala, King Gizzard & the Lizard Wizard und Nick Cave. Aborigine-Bands wie Yothu Yindi oder Archie Roach versuchen eine Fusion von traditioneller indigener Musik mit Rock-Elementen. Zu letzterem Genre zählt auch die Band Powderfinger. Tanz und Theater Die Australische Oper mit Sitz in Sydney, die von dem dänischen Architekten Jørn Utzon geplant worden war, bringt etwa 300 Vorstellungen jährlich auf die Bühne. Die Koloratursopranistin Joan Sutherland gilt als bekanntestes Mitglied des Ensembles. Das nationale Ballett-Ensemble ist das 1961 gegründete Australian Ballett in Melbourne. Auf Tourneen durch Australien werden jährlich etwa 185 Aufführungen klassischen und modernen Balletts angeboten. Das Ballett gilt als eines der besten der Welt. Bedeutende Choreographen sind Robert Helpmann und Graeme Murphy. Murphy gründete auch die Sydney Dance Company, die auf dem Gebiet des modernen Tanzes in Australien führend ist. Das Bangarra Dance Theatre und das Aboriginal and Islander Dance Theatre verschmelzen traditionelle Tänze der indigenen Bevölkerung und modernen Tanz. Klassisches Theater, aber auch moderne Inszenierungen, werden von der Sydney Theatre Company aufgeführt. Der führende Theaterautor Australiens ist David Williamson, der unter anderem der australischen Mittelklasse in seinen Stücken den Spiegel vorhält. In den fünf Sälen des 1973 eröffneten Sydney Opera House werden neben Konzerten und Opern auch Theaterstücke und Filme vorgeführt. Museen Das älteste Museum Australiens ist das 1827 am Hyde Park in Sydney errichtete Australian Museum. Es enthält umfangreiche naturhistorische Sammlungen, aber auch Sammlungen zur Geschichte und Kultur der indigenen Bevölkerung. Ein weiteres naturhistorisches Museum von Bedeutung ist das Museum Victoria, gegründet 1854 in Melbourne, mit einer 12 Millionen Exemplare umfassenden Sammlung. Australische Kunst von den kolonialen Anfängen bis zu zeitgenössischen Künstlern beherbergt die Art Gallery of New South Wales, gebaut um 1880 in Sydney. Auch europäische und asiatische Werke zählen zu den Objekten dieses Museums. Die hier angeschlossene Yiribana Gallery ist die weltweit größte Sammlung indigener australischer Kunst. Medien Australiens Medien sind weltweit am stärksten monopolisiert und dabei mit den drei Familien Fairfax, Murdoch und Packer verbunden, die über die zweite Hälfte des zwanzigsten Jahrhunderts die australische Medienlandschaft beherrschten. Mit Stand 2021 dominieren die Medienunternehmen News Corporation und Nine Entertainment Company sowohl den Fernseh- als auch den Zeitungsmarkt des Landes. Frank Packer stieg 1934 nach dem Tod seines Vaters Robert Clyde Packer in das Zeitungsgeschäft seiner Familie ein und gründete im Jahr 1936 das Medienunternehmen Australian Consolidated Press (ACP), das er bis zu seinem Tode 1974 leitete. 1956 gründete er den ersten Fernsehsender Australiens TCN-9 Sydney aus dem sich das Nine Network entwickelte, eine der größten australischen Rundfunkgesellschaften. Franks Sohn Kerry Packer übernahm die Familiengeschäfte 1974. Unter ihm fusionierten ACP und Nine Network 1994 zu Publishing and Broadcasting (PBL), dem seinerzeit führenden Medienkonzern des Landes. Die Leitung des Unternehmens ging 1998 an Kerrys Packers Sohn James Packer über, der seither neben dem Mediengeschäft zudem neue Märkte im Bereich Glücksspiel erschloss. 2007 wurde PBL aufgespalten: James Packer konzentrierte sich auf das Glücksspielsegment Crown Limited und die Packer-Familie zog sich aus dem Medienteil Consolidated Media Holdings (CMH) immer weiter zurück. In der Folge wurde aus der Holding PBL Media am 2. Dezember 2010 die Nine Entertainment Company. Im Jahr 2012 wurde CMH vom Mitbewerber News Corporation übernommen. Dem Medienunternehmer Keith Murdoch gehörten zum Zeitpunkt seines plötzlichen Todes im Jahr 1952 zwei Zeitungen und ein Radiosender im südaustralischen Adelaide, darunter die für das Medienunternehmen namensgebende Tageszeitung The News. Keiths Sohn Rupert Murdoch übernahm die Leitung des Unternehmens und baute es ab Ende der 1960er Jahre zum international tätigen Medienkonzern News Corporation aus. Erste internationale Zukäufe waren die beiden britischen Boulevardzeitungen News of the World und The Sun im Jahr 1969, vier Jahre später folgte mit der San Antonio News der Schritt in die Vereinigten Staaten von Amerika. Am 28. Juni 2013 wurde die News Corporation in 21st Century Fox umbenannt, zugleich wurden die gesamte Zeitungssparte in das neue Unternehmen News Corp. ausgegliedert. Zu News Corp. gehört unter anderem mit The Australian eine auflagenstarke, landesweit erscheinende Zeitung. Fairfax Media wurde 1841 als John Fairfax and Sons gegründet. Zu dieser Zeit hatte John Fairfax die Tageszeitung The Sydney Morning Herald erworben. Die Fairfax-Familie hielt die Kontrolle über das Medienunternehmen, das neben nationalen (wie The Australian Financial Review) und regionalen Zeitungen (wie The Age in Melbourne) mit hoher Auflage auch diverse Radiosender umfasste. Im Dezember 1990 brach das Unternehmen unter seiner Schuldenlast zusammen. Hauptaktionäre von Fairfax waren zu dieser Zeit der kanadische Medienunternehmer Conrad Black mit einem Anteil von 25 % sowie Kerry Packer, der über Publishing and Broadcasting mit 15 % beteiligt war. Blacks Versuch, mehrheitlicher Anteilseigner bei Fairfax zu werden, scheiterte am Widerstand der australischen Regierung. Er verkaufte seinen Anteil 1996 an Brierley Investments Limited (BIL) aus Neuseeland. In den Folgejahren übernahm Fairfax dort einige namhafte Zeitungen. Im Jahr 2018 verkündeten die Nine Entertainment Company und Fairfax ihren Zusammenschluss zu Australiens größtem Medienunternehmen. Neben Nine Network agieren landesweit mit Seven Network (Sendestart 1963) und Network Ten (Sendestart 1964) zwei weitere kommerzielle TV-Netzwerke auf dem Fernsehmarkt. Als nationale Rundfunkanstalten betreiben die Australian Broadcasting Corporation (ABC, Sendestart Radio 1929, Fernsehen ab 1956) und Special Broadcasting Service (SBS, Sendestart 1980) je ein landesweit zu empfangendes Fernsehprogramm sowie mehrere Radioprogramme. Die Radioprogramme von SBS werden in 68 Sprachen ausgestrahlt, darunter auch auf Deutsch. Mit Community Entertainment Television (CETV) und Foxtel starteten 1995 zwei Pay-TV-Programmanbieter. CETV wurde später in Austar umbenannt und im Jahr 2012 von Foxtel übernommen. Foxtel gehört seit 2018 zu 65 % zu News Corp., die restlichen 35 % hält das australische Telekommunikationsunternehmen Telstra. In der Rangliste der Pressefreiheit von Reporter ohne Grenzen rutschte Australien 2020 um fünf Ränge auf Platz 26 ab. Damit lag das Land allerdings noch klar vor Spanien (29), Frankreich (34) und Großbritannien (35). Deutschland belegte in dem Jahr die elfte Position. Australiens Abstufung liegt jedoch nicht alleine in der bedenklichen Medienmonopolisierung begründet. Ein weiterer Faktor sind zunehmend restriktive Gesetze zur Kontrolle der Medien, die davon profitieren, dass die Verfassung von Australien keine Pressefreiheit kennt. Hiergegen protestiert die Medienbranche mit der Kampagne Media Freedom – Your Right To Know. Offiziell ist das Australian Press Council für die Pressefreiheit zuständig. Eine Mediengesetz-Novelle mit Ziel, eine Urheberrechtsabgabe für Presseerzeugnisse gegenüber Internetkonzernen wie Google oder Facebook durchzusetzen, eskalierte im Februar 2021. Trotz verbreiteter Kritik erklärte sich Google noch vor der Verabschiedung des Gesetzes bereit, der Nine Entertainment Company 30 Millionen Dollar pro Jahr für die Nutzung von Nachrichteninhalten zu zahlen. Facebook hingegen sperrte den Zugang zu australischen Nachrichtenseiten über seine Plattform für Nutzer in Australien. Als Begleitschaden wurden kurzfristig auch die Facebook-Auftritte des Wetterdienstes Bureau of Meteorology, Gesundheitsbehörden wie SA Health, ACT Health oder Queensland Health sowie Facebook-Angebote von australischen Rettungsdiensten und Feuerwehren blockiert. Australiens Finanzminister Josh Frydenberg vermeldete am 23. Februar 2021 nach erneuten Verhandlungen eine Einigung mit Facebook. Nach dem Wunsch der australischen Regierung soll das Regelwerk Tech-Firmen einen Anreiz bieten, Abkommen ohne staatliche Intervention direkt mit Medienanbietern zu schließen. Im Jahr 2020 nutzten 89,6 Prozent der Einwohner Australiens das Internet. Sport Sport ist ein wichtiger Teil der australischen Kultur, gefördert durch ein Klima, das Outdoor-Aktivitäten begünstigt. Laut der Volkszählung des Jahres 2001 sind 23,5 % der über vierzehnjährigen Australier regelmäßig im organisierten Sport aktiv. Bekannte australische Sportler sind die Sprinterin Cathy Freeman und der Schwimmer Ian Thorpe. Australien hat an sämtlichen modernen Olympischen Spielen und allen Commonwealth Games teilgenommen, gehörte 1912/14 zu den Vorreitern der Finanzierung von Spitzensport durch den Staat, war in den Jahren 1956 und 2000 Gastgeber der Olympischen Sommerspiele und bisher fünfmal Gastgeber der Commonwealth Games (1938, 1962, 1982, 2006 und 2018). Auch Fernsehübertragungen von Sportereignissen sind beliebt, die Olympischen Sommerspiele sowie Finalspiele lokaler und internationaler Football-Turniere erreichen höchste Einschaltquoten. Special Olympics Australien wurde 2003 gegründet und nahm mehrmals an Special Olympics Weltspielen teil. Der Verband hat seine Teilnahme an den Special Olympics World Summer Games 2023 in Berlin angekündigt. Die Delegation wird vor den Spielen im Rahmen des Host Town Programs von Potsdam betreut. Zu den beliebten Mannschaftssportarten Australiens zählen zwei Varianten des Rugby: Rugby League sowie Rugby Union. Daneben ist Australian Football, in Australien vor allem unter den Namen Footy oder Aussie Rules, der Nationalsport. Australian Rules ist eine bedeutend nur in Australien verbreitete Sportart, die auf einem ovalen Feld gespielt wird. Internationale Erfahrungen können die Spieler nur im einmal jährlich stattfindenden International-Rules-Turnier sammeln. Dabei wird eine Mischung aus Australian Rules und Gaelic Football gespielt. Bei der Beurteilung, ob Rugby oder Football der beliebteste Sport ist, sind regionale Unterschiede auszumachen. So gilt die Gegend um Melbourne als Hochburg des Aussie Rules, während rund um Sydney eher Rugby der Nummer-eins-Sport ist. Die Wallabies, Australiens Rugby-Union-Nationalmannschaft, gewann bisher zweimal die Weltmeisterschaft (1991 und 1999). Außerdem war man zweimal Gastgeber dieses Turniers, 1987 zusammen mit Neuseeland und 2003 alleine. Die Weltmeisterschaft 2027 soll wieder in Australien stattfinden. Die Kangaroos sind die mit Abstand erfolgreichste Mannschaft bei Rugby-League-Weltmeisterschaften. National und international erfolgreich sind außerdem die Teams in Cricket und Netball. Die australische Cricket-Nationalmannschaft ist nach England die älteste Mannschaft mit Teststatus und beide Länder spielen um die älteste Trophäe im internationalen Cricket, The Ashes. Australien ist fünfmaliger Cricketweltmeister (1987, 1999, 2003, 2007 und 2015) und war zusammen mit dem Nachbarn Neuseeland zweimal Gastgeber dieses Turniers (1992 und 2015). Australien gewann auch die Champions Trophy zweimal: 2006 und ICC Champions Trophy 2009. Beim T20 World Cup 2021 in Oman und den Vereinigten Arabischen Emiraten gewann Australien seinen ersten Weltmeisterschaftstitel in diesem Format, nachdem man Neuseeland mit acht Wickets bezwang. Australien war Gastgeber des T20 World Cup 2022, den England gewann, und wird zusammen mit Neuseeland den T20 World Cup 2028 anbieten. Nachdem Australien das Finale der World Test Championship 2021–2023 gegen Indien mit 209 Runs gewonnen hatte, wurden die Australier das erste Team, das jeden ICC-Titel mindestens einmal gewinnen konnte. Aber auch im Rad- und Schwimmsport werden herausragende Leistungen erbracht. 2011 gewann mit Cadel Evans erstmals ein Australier die Tour de France, das bedeutendste Radrennen der Welt. Seit 1905 findet eines der vier Tennis-Grand-Slam-Turniere in Australien statt: die Australian Open in Melbourne. Das Land hat mehrere Topspieler hervorgebracht, zu den erfolgreichsten gehören Roy Emerson und Rod Laver. Die Formel 1 gastiert regelmäßig in Australien. Der Große Preis von Australien wurde seit 1985 in Adelaide gefahren und findet seit 1996 jährlich in Melbourne statt. Mit Jack Brabham kam ein dreifacher Weltmeister der Formel 1 aus dem Land. Daniel Ricciardo ist seit 2011 in der Formel 1 aktiv, Mark Webber war es von 2002 bis 2013. Insgesamt kommt das Land auf 14 Formel-1-Rennfahrer. Im ebenfalls beliebten Motorradrennsport brachte das Land Weltmeister wie Casey Stoner, Wayne Gardner, Mick Doohan, Troy Bayliss oder Troy Corser hervor. Zu den WM-Läufen der Motorrad-Weltmeisterschaft und der Superbikes strömen jährlich viele Zuschauer zur Strecke von Phillip Island. In den Winterschneegebieten der Australischen Alpen und auf Tasmanien ist Wintersport möglich, in vielen Städten wurden auch Eishockey-Stadien gebaut. In den letzten Jahren gewinnt der Fußball in Australien nicht nur durch die Leistungen der Nationalmannschaft an Begeisterung. Die A-League ist die höchste Spielklasse im australischen Vereinsfußball. 2015 war das Land Gastgeber der Fußball-Asienmeisterschaft und konnte erstmals den Titel holen. Zuvor war Australien viermal Ozeanienmeister und nahm an fünf Weltmeisterschaften teil. Im Basketball zählt insbesondere die Nationalmannschaft der Damen zur Weltspitze. Siehe auch Gesellschaft für Australienstudien Liste deutscher Bezeichnungen australischer Orte Literatur Wolfgang Babeck: Einführung in das australische Recht mit neuseeländischem Recht (= Schriftenreihe der Juristischen Schulung. Band 195). Verlag C. H. Beck oHG, München 2011, ISBN 978-3-406-61959-5. Bettina Biedermann, Heribert Dieter (Hrsg.): Länderbericht Australien (= Schriftenreihe. Band 1175). Bundeszentrale für politische Bildung, Bonn 2012, ISBN 978-3-8389-0175-6. Ian Crawshaw: Australia walkabout. Reiseführer für das Australien der Aborigines und Torres Strait Islander. Herausgegeben von Sabine Muschter. Intuitiv media, Kiel 2009, ISBN 978-3-00-029490-7. Albrecht Hagemann: Kleine Geschichte Australiens (= Beck’sche Reihe. Band 1594). Verlag C. H. Beck oHG, München 2004, ISBN 978-3-406-51101-1. Robert Hughes: Australien. Die Besiedelung des fünften Kontinents (= Knaur. Band 4866). Aus dem Amerikanischen von Karl A. Klewer. 3. Auflage. Verlagsgruppe Droemer Knaur GmbH & Co. KG, München 1995, ISBN 978-3-426-04866-5. Stuart Macintyre: A concise history of Australia (= Cambridge Concise Histories). 3. Auflage. Cambridge University Press, Cambridge 2009, ISBN 978-0-521-51608-2. Hermann Mückler: Australien, Ozeanien, Neuseeland. (Neue Fischer Weltgeschichte, Bd. 15), S. Fischer Verlag, Frankfurt am Main 2020, ISBN 978-3-10-010845-6. Filme Weblinks Offizielle Website der australischen Regierung (englisch) Länderinformationen des Auswärtigen Amtes zu Australien Länderprofil des Statistischen Bundesamtes Museum of Australian Democracy at Old Parliament House, Unterseite: Democracy. Museum of Australian Democracy at Old Parliament House in Verbindung mit den National Archives of Australia, 2011, abgerufen am 12. Januar 2017 (Präsentiert 110 Schlüsseldokumente, die die Grundlage der australischen Nation bilden; englisch). Einzelnachweise Commonwealth Realm Staat in Australien und Ozeanien Föderale Monarchie (Staat) Mitgliedstaat der Vereinten Nationen Mitgliedstaat der OECD Gegründet 1901
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https://de.wikipedia.org/wiki/Das%20Leben%20der%20Anderen
Das Leben der Anderen
Das Leben der Anderen ist ein deutscher Politthriller aus dem Jahr 2006. Mit seinem Spielfilmdebüt gelang Florian Henckel von Donnersmarck, der auch das Drehbuch verfasst hat, ein weltweiter Besuchererfolg. Das Drama stellt den Staatssicherheits-Apparat und die Kulturszene Ost-Berlins in den Mittelpunkt und setzt sich zudem ernsthaft und kritisch mit der Geschichte der DDR auseinander. Es greift das Thema auf, dass wahre Kunst das Gute im Menschen hervorzubringen vermag, und zeichnet die Möglichkeit einer Versöhnung zwischen Opfern und Tätern. In den wichtigsten Rollen sind Ulrich Mühe, Sebastian Koch, Martina Gedeck und Ulrich Tukur zu sehen. Die Produktion entstand mit relativ geringem Budget und unüblich niedrigen Darstellergagen. Die Kritik bedachte die schauspielerischen Leistungen mit größtem Lob. Viele Rezensenten äußerten sich zufrieden, dass nach einer Reihe von Komödien über die DDR endlich ein Spielfilm das Thema in ernsthaftem Stil behandelte. Gespalten war man jedoch in der Beurteilung, ob der Film die historischen Aspekte angemessen wiedergibt. Der Film wurde mit Auszeichnungen überhäuft, darunter 2006 der Deutsche Filmpreis (sieben Preise bei elf Nominierungen), der Bayerische Filmpreis (in vier Kategorien) und der Europäische Filmpreis (in drei Kategorien) sowie der Oscar für den besten fremdsprachigen Film. Im begleitenden Filmbuch und im DVD-Audiokommentar gab es Aussagen von Mühe und Donnersmarck, die sich auf mutmaßliche Stasi-Tätigkeiten von Jenny Gröllmann und Gregor Gysi bezogen. Darüber kam es zu gerichtlichen Auseinandersetzungen; in der Folge durften die ursprünglichen Medien mit diesen Aussagen nicht mehr vertrieben werden. Handlung Im Ost-Berlin des Jahres 1984 wird der Stasi-Hauptmann Gerd Wiesler (Kürzel HGW XX/7) damit beauftragt, in einem „OV“ (kurz für Operativer Vorgang im MfS-Jargon) belastendes Material gegen den Theaterschriftsteller Georg Dreymann zu sammeln. Er hält den als „Staatsschriftsteller“ gefeierten Dramatiker selbst für beobachtenswert, ahnt aber nicht, aus welchem Motiv Kulturminister Bruno Hempf dieses Vorhaben veranlasst hat. Hempf will Dreymann ausschalten, um dessen unpolitische Lebensgefährtin, die Schauspielerin Christa-Maria Sieland, für sich allein zu gewinnen. Wiesler „verwanzt“ mit einem Trupp der Stasi die Wohnung, in der Dreymann und Sieland leben, und richtet auf dem Dachboden des Hauses eine Abhörstation ein. Dabei beobachtet er ein Treffen von Sieland und Hempf. Sein Vorgesetzter Grubitz weist ihn an, keine Informationen über den Minister zu sammeln, und stellt ihm einen Karriereschub bei erfolgreicher Observation in Aussicht. Wiesler ist enttäuscht darüber, dass sich der Operative Vorgang nicht gegen „Feinde des Sozialismus“ richtet, sondern rein privaten Zielen dient. Als Sieland zu später Stunde von Hempf vor ihre Wohnung gefahren wird, lockt Wiesler ihren Lebensgefährten an die Haustür, um ihn so über die Affäre in Kenntnis zu setzen. Durch die Bespitzelung erhält Wiesler, alleinstehend und ohne nennenswertes Privatleben, Einblick in die Welt der Kunst und des offenen Geistes sowie in zwischenmenschliche Beziehungen, wie er sie selbst nicht pflegt. Dreymanns Versuch, bei Minister Hempf für seinen Freund Albert Jerska, einen seit sieben Jahren mit Berufsverbot belegten Regisseur, ein gutes Wort einzulegen, ist ohne Erfolg geblieben. Nach dem Suizid Jerskas setzt sich der Schriftsteller ans Klavier und spielt die „Sonate vom Guten Menschen“, eine Klavier-Etüde, deren Druckausgabe ihm Jerska zum Geburtstag geschenkt hat. Wiesler ist von der Musik sehr gerührt. Bald entwendet er aus Dreymanns Wohnung einen Brecht-Band, den er in seiner Freizeit liest. Seine gelernte Motivation dazu, seine Nachbarn auszuspionieren, wird zunehmend von ethischen Maßstäben hinterfragt. Als Folge dieses Sinneswandels unterschlägt er in seinen Berichten die sich entfaltenden oppositionellen Aktivitäten Dreymanns, dessen Einstellung zur Staatsführung sich verändert hat, und schreibt stattdessen Belangloses, das er frei erfindet. Sieland hat sich unter dem Druck mit dem Minister eingelassen, leidet unter den regelmäßigen Treffen mit ihm und ist tablettenabhängig. In einer Kneipe sucht Wiesler das Gespräch mit ihr, indem er sich als unbekannter Bewunderer ausgibt, und ermutigt sie zur Ehrlichkeit. Darauf kehrt sie zu Dreymann zurück, statt die Nacht mit Minister Hempf zu verbringen. Ein Redakteur des bundesdeutschen Magazins Der Spiegel schmuggelt eine Schreibmaschine mit rotem Farbband ins Land (eine heimische Kolibri, gemeint ist wahrscheinlich das Neckermann-Exportmodell „Brillant Junior“) und überlässt sie Dreymann. Der Dramatiker schreibt darauf, motiviert durch den Suizid seines Freundes Jerska, einen Bericht über die außergewöhnlich hohe, seit 1977 von den Behörden nicht mehr veröffentlichte Selbstmordrate in der DDR. Der Spiegel druckt den Text anonym ab. Die Westveröffentlichung erzürnt die Stasi-Führung. Von Sielands Rückweisung verletzt, informiert Hempf Grubitz über ihren illegalen Medikamentenbezug. Sie wird durch die Stasi festgenommen und verhört. Bei ihrer Vernehmung durch Grubitz kann sie dem Druck nicht standhalten, lässt sich als „IM“ anwerben und verrät Dreymann als Urheber des Spiegel-Artikels. Bei der folgenden Wohnungsdurchsuchung finden die Stasi-Beamten die Schreibmaschine jedoch nicht, die sie als Beweis benötigen. Grubitz, der mittlerweile Zweifel an Wieslers Loyalität hat, setzt daraufhin ein erneutes Verhör von Sieland an, das von Wiesler durchgeführt und von Grubitz überwacht wird. In diesem Verhör gibt die Schauspielerin das Versteck der Schreibmaschine preis. Noch vor der diesmal durch Grubitz durchgeführten Hausdurchsuchung eilt Wiesler zu Dreymanns Wohnung und entfernt die Schreibmaschine. Sieland, die nicht wissen kann, auf welcher Seite Wiesler steht, läuft angesichts der bevorstehenden Entdeckung der Schreibmaschine vor einen zufällig vorbeikommenden LKW und wird tödlich verletzt. Grubitz, der die Schreibmaschine nicht aufgefunden hat, entschuldigt sich bei Dreymann für die Maßnahme. Obwohl er Wiesler nichts nachweisen kann, versetzt er ihn zur Strafe auf einen eintönigen Posten bei der Briefüberwachung. Nach der Wiedervereinigung wird dasselbe Stück von Dreymann wie gegen Anfang des Filmes in geänderter Dramaturgie aufgeführt. Dabei trifft der Autor im Foyer auf Hempf. Dreymann fragt den Ex-Minister, warum man ihn nie überwacht habe, worauf Hempf herablassend antwortet, er solle mal hinter seine Lichtschalter schauen. Die Entdeckung der Überwachungstechnik in seiner Wohnung veranlasst Dreymann, bei der BStU Einsicht in seine Stasi-Akten zu nehmen, denen er entnimmt, dass er von Stasi-Mitarbeiter „HGW XX/7“ gedeckt wurde und dieser auch die Schreibmaschine im letzten Moment entfernt hat. Er identifiziert ihn als Wiesler und macht diesen ausfindig. Wiesler verdient seinen Lebensunterhalt nun mit dem Austragen von Wurfsendungen. Dreymann nimmt keinen Kontakt zu ihm auf. Zwei Jahre später veröffentlicht Dreymann den Roman Die Sonate vom Guten Menschen. Wiesler, durch eine Schaufensterauslage darauf aufmerksam geworden, liest darin „HGW XX/7 gewidmet, in Dankbarkeit“, und kauft das Buch. Auf die Frage des Verkäufers nach einer Geschenkverpackung antwortet er mehrdeutig: „Nein. Es ist für mich.“ Entstehung Stoffentwicklung und Vorproduktion Ab 1997 studierte Donnersmarck an der Münchner Filmhochschule Spielfilmregie, wo die erste Idee zu Das Leben der Anderen entstand. Anders als viele Abgänger verbrachte er anschließend keine Übungsjahre beim Fernsehen und fasste gleich einen Kinofilm ins Auge. 2001 begann er eine fast vier Jahre dauernde Recherche. Er führte Gespräche mit Opfern und Tätern der Stasi und suchte die historischen Orte auf. Zur Niederschrift der ersten Fassung bezog er nach eigenen Angaben für einen Monat eine Zelle im Zisterzienserstift Heiligenkreuz im Wienerwald, dessen Abt sein Onkel Gregor war. Schließlich übersiedelte er von München nach Berlin, um das Buch dort zu Ende zu bringen. Als wissenschaftlicher Berater stand ihm Manfred Wilke, Leiter beim Forschungsverbund SED-Staat, zur Seite. Die Jungproduzenten Max Wiedemann und Quirin Berg hatten bereits an der Filmhochschule einen Kurzfilm Donnersmarcks produziert. Koproduzent war Dirk Hamm von Creado Film. Für den Verleih konnte Donnersmarck Buena Vista International gewinnen, unter den Fernsehsendern den Bayerischen Rundfunk und arte. Ergänzende Fördermittel erhielt das Projekt vom FilmFernsehFonds Bayern, vom Medienboard Berlin-Brandenburg und von der Filmförderungsanstalt. Das Budget des Filmes belief sich auf etwa 1,8 Millionen Euro. Mit diesem Etat konnte der Film nur entstehen, weil Schauspieler und Stab für einen Bruchteil ihrer regulären Gagen arbeiteten. Darsteller Sebastian Koch meinte, jeder arbeite „für weniger als die Hälfte der üblichen Gage, aus der Überzeugung heraus, einen wichtigen Film zu machen“. Ulrich Mühe hatte schon sehr viele Drehbücher zum Thema DDR erhalten, aber an keinem Interesse gefunden, weil sie „immer zu kurz gefaßt, immer zu kurz gesprungen“ waren. Donnersmarcks Buch überraschte ihn mit seiner Stimmigkeit und Einfühlung in die Zeit. Für die Filmmusik wünschte sich Donnersmarck den libanesischen Komponisten Gabriel Yared, dessen frühere Arbeiten den Regisseur begeisterten und der üblicherweise für viel höher budgetierte Produktionen arbeitet. Damit Yared sich eine Vorstellung vom Film machen konnte, übersetzte Donnersmarck das gesamte Drehbuch auf französisch. Yared ließ sich für die Mitwirkung gewinnen. Ihn unterstützte Stéphane Moucha, der seine Kompositionen orchestrierte und gelegentlich als Mitkomponist wirkte. Dreharbeit und Nachproduktion Für die Aufnahmen zwischen dem 26. Oktober und dem 17. Dezember 2004 standen lediglich 37 Drehtage zur Verfügung. Die knappe Zeit erlaubte keine Improvisation. Der Regisseur führte das Team höflich, aber hartnäckig fordernd, mit langen Arbeitstagen und kurzen Pausen. Die Macher betonten den hohen Aufwand, den sie für die geschichtliche Authentizität in der Ausstattung trieben: So handle es sich bei der gezeigten Abhörtechnik um originale Stasi-Aufnahmegeräte, an denen viel echtes Leid hafte. Für die Tonaufzeichnung bestand Donnersmarck auf einer alten analogen Nagra; der Tonmeister kopierte sie allabendlich in ein digitales Format um. Gedreht wurde auf 35-mm-Filmmaterial, um eine Kinoästhetik zu erreichen; günstigere digitale Technik kam für die Macher nicht in Frage. Anschließend war der Regisseur sieben Monate mit dem Schnitt beschäftigt, den er zusammen mit der Filmeditorin Patricia Rommel in seinem Berliner Büro an einem Avid-Schnittsystem vornahm. Drehorte Gedreht wurde fast ausschließlich in Berlin. Die BStU erteilte bereitwillig Drehgenehmigungen für die frühere Zentrale des Ministeriums für Staatssicherheit an der Normannenstraße in Berlin-Lichtenberg. Dort gab ein Raum neben Erich Mielkes ehemaligem Arbeitszimmer im Film Grubitz’ Büro ab, des Weiteren wurden ein Hörsaal und die ehemalige Kantine als Drehorte benutzt. Die Außenaufnahmen vor der Wohnung Dreymanns fanden in der Wedekindstraße (vor der Hausnummer 21) in Berlin-Friedrichshain statt, wofür in der 200 m langen Straße ein 72-stündiges Parkverbot ausgesprochen wurde; die Innenaufnahmen der Wohnung, die zum Zeitpunkt der Dreharbeiten unbewohnt war, des Dachbodens und Treppenhauses fanden in der Hufelandstraße 22 in Berlin-Prenzlauer Berg statt. Weitere Szenen wurden vor und an der Volksbühne am Rosa-Luxemburg-Platz im Grünen Salon (Tanzszene), im Hebbel-Theater (im ehemaligen West-Berlin), Parochialstraße mit Blick auf das Neue und Alte Stadthaus, im Volkspark Schönholzer Heide (Spaziergang Dreymann, Wallner und Hausner), im Friedhof I der Georgen-Parochialgemeinde (Jerskas Beerdigung), am Strausberger Platz, am Frankfurter Tor, in der Frankfurter Allee sowie bei der Karl-Marx-Buchhandlung an der Karl-Marx-Allee 78 gefilmt. Eine Drehgenehmigung für die Gedenkstätte Berlin-Hohenschönhausen, wo sich zu DDR-Zeiten die zentrale Untersuchungs­haft­anstalt befand, verweigerte deren Direktor Hubertus Knabe. Laut Donnersmarck habe Knabe das Projekt nicht gebilligt, weil er fand, dass das Drehbuch die Stasi verherrliche. Das Reglement der Gedenkstätte sieht Drehgenehmigungen nur für Dokumentationen vor, nicht jedoch für fiktive Darstellungen. Form und Stil Das Leben der Anderen wurde den unterschiedlichsten Genres zugeordnet, insbesondere dem Drama, dem Thriller, dem Liebesfilm und dem Melodram. Das Werk wurde auch als politischer Spionagefilm bezeichnet, als psychologische Studie, Gewissensdrama und Gesellschaftsporträt, als ein „historisches Gesellschaftsdrama, welches inhaltlich und dramaturgisch um Versatzstücke aus Politdrama und Liebesgeschichte erweitert“ ist, und als eine „postmoderne Genre-Mischung aus Politthriller und Liebesmelodram, klug differenziertem Gewissensdrama und […] Gesellschaftsporträt“. Manche erkannten ein Moralstück. Donnersmarck erzählt linear und chronologisch und hält sich an eine konventionelle dramaturgische Dreiteilung in Exposition, Konfrontation und Konfliktauflösung. Wehdeking (2007) stellte fest, das Buch habe die „Qualität eines tektonisch gebauten Dramas“, mit ablesbaren aristotelischen Einheiten von Handlung, Zeit und Ort. Laut Falck (2006) zeichnet sich der Film „durch eine bestechend ruhige, klare Bildsprache aus, die mit der inneren Dramatik, dem Pathos und dem großen Gefühl der Geschichte in einen spannungsreichen Kontrast tritt“. Unter den stilistischen Mitteln fallen die spannungssteigernden Parallelmontagen zwischen Wiesler auf dem Dachboden und dem Geschehen in Dreymanns Wohnung auf. Der Filmemacher verwendet Symbole wie die rote Farbe der Schreibmaschine, auf der Dreymann mit Herzblut schreibt. Bei der Sterbeszene umarmt der Schriftsteller seine Geliebte auf eine Weise, die die Pietà nachstellt. Donnersmarck erzählte, sein Komponist Yared habe ihn hinsichtlich der Musik überzeugt, „mehr europäischer Filmemacher zu sein als amerikanischer Zukleisterer“. Die Sonate sah Wehdeking (2007) „genial in getragenen Triolen mit melancholisch absteigendem Motiv gestaltet“. Sie nimmt akustisch vorweg, dass Dreymann eine dissidente Haltung einnehmen wird. Kameramann Hagen Bogdanski hat sich nach eigener Einschätzung „zurückgenommen“ und „versucht, das ohne jegliche Kameramätzchen zu machen“. Nicht zuletzt aufgrund des spärlichen Budgets setzte er keine Kräne oder Schwebestative ein, lediglich wenige inhaltlich motivierte Kamerafahrten. Die vorherrschende Einstellungsgröße ist die Naheinstellung. Auf Totalen wurde fast ganz verzichtet, einerseits, damit keine historisch falschen Elemente ins Bild geraten, anderseits, um die Erzählung auf die Figuren zu konzentrieren. Die Requisiten sind knapp gehalten und die meisten Räume ziemlich leer gestaltet. Während in Wieslers funktionaler Wohnung keine Bücher stehen, ist Dreymans Altbauwohnung angefüllt mit Büchern. Auf dem Dachboden gibt es kaltes Licht, in der Wohnung darunter warmes. Auf die Farbpalette kam der Regisseur beim Blättern in DDR-Fotobänden, wo intensives Rot und Blau kaum vorkamen. In seinem strengen Farbkonzept ersetzte er Rot durch Orange und Blau durch Grün. Die Bilder sind entweder in Braun, Beige und Orange gehalten oder in Grün mit Grau. Die Farbabstimmung kam nur durch Bühnenbild und die von Gabriele Binder ausgewählten Kostüme zustande, Bogdanski setzte keine Filter ein. Aufnahme bei Kritik und Öffentlichkeit Premieren Die Produzenten reichten Das Leben der Anderen als Wettbewerbsbeitrag für die Berlinale 2006 ein, doch die Festspielleitung lehnte die Teilnahme des Werks ab. Nach der Meinung der Welt am Sonntag stellte sie sich damit ein „cineastisches Armutszeugnis“ aus. Der Film hätte die Berlinale aufgewertet und Good Bye, Lenin! historisch ergänzt, der 2003 seinen weltweiten Triumphzug von Berlin aus begann. In der internationalen Presse kam später Unverständnis über den Ausschluss zum Ausdruck. Im Januar 2006 durften die Kritiker den Film in Berlin erstmals sehen. Mitte März, mehr als eine Woche vor dem regulären Kinostart, lud Kulturstaatsminister Bernd Neumann die Bundestagsmitglieder zu einer Sondervorführung ein. Am 23. März 2006 lief der Film in den deutschen Kinos an. Im deutschen Free-TV wurde der Film erstmals am 29. September 2008 um 21.00 Uhr auf Arte gezeigt. Deutsche Kritik zur filmischen Umsetzung Für „dicht, packend und mit großem Gespür für Spannungsdramaturgie erzählt“ befand Alexandra Wach vom Filmdienst das Werk, für präzise die Darstellung der Milieus. Die DDR erscheine erschreckend authentisch und in einer stimmigen Optik, welche die Repression körperlich spürbar mache. In der ausgefeilten Charakterstudie spiele Ulrich Mühe „grandios unscheinbar“. Das Werk sei ein großer Gewinn fürs deutsche Nachwuchskino. In der Welt am Sonntag lobte Matthias Ehlert das Drehbuch für seine erstaunliche Perfektion. Donnersmarck treffe den Tonfall des DDR-Lebens, als hätte er es miterlebt, und wolle das Publikum nicht beeindrucken, sondern habe den Mut, es zu rühren. „Das Leben der Anderen ist großes Kino, wie man es hierzulande nur selten hinbekommt. Die mehr als zwei Stunden sind von atemloser Dichte, die Dialoge geschliffen, die Details überraschend, die Atmosphäre stimmig. Die Komplexität der Verstrickungen ist meisterhaft durchdrungen, und auf die üblichen Klischees wartet man vergeblich.“ Über das recht gute Niveau deutscher Nachwuchsfilmer rage es „himmelweit“ hinaus. Rainer Gansera meinte in der Süddeutschen Zeitung, bis in die Nebenrollen spiele das Ensemble intensiv, und Mühe gebe auf bewundernswerte Weise Wieslers Wandlung eine Kontur. Donnersmarck habe prägnante Szenen gebaut, erzähle „mit Witz und elektrisierender Spannung, aufmerksam für jede Nuance der Worte und Gesten“ und mache die Atmosphäre der Einschüchterung spürbar. Dabei diene die Schönheit der Bilder stets der Wahrheitsfindung. Daneben gab es gemischte Beurteilungen der künstlerischen Leistung. Im deutschen Gegenwartskino, hielt Daniel Kothenschulte von der Frankfurter Rundschau fest, sei ein politischer Film im Gewand eines spannenden Genre-Thrillers ein Ereignis. Das Leben der Anderen weise die Schauwerte amerikanischer oder französischer Thriller auf, und Kameramann Hagen Bogdanski habe „auch intimen Innenaufnahmen eine besondere Großzügigkeit“ verliehen. Die exzellenten Darsteller trügen ihre gut erfundenen Figuren über die ersten drei Viertel des Films, während deren das Drehbuch virtuos ihre Konflikte zwischen Gesinnung und Opportunismus zeichne. Bezüglich der Figur Sieland sei Donnersmarck aber in eine dramaturgische Sackgasse geraten und opfere sie auf melodramatische Weise. epd-Film-Rezensentin Martina Knoben lobte die Spannung, die eindrucksvollen Schauspieler und die glaubwürdige Darstellung des Überwachungs- und Drohapparats. Doch mit seinem verschiedenen Grau sei das Werk visuell leider „wenig einfallsreich“ und die Figuren nicht klischeefrei entworfen. Der Regisseur spiele gekonnt mit melodramatischen und Horrorfilm-Elementen, unterlaufe damit aber die politische Dimension, weil vor allem Sieland als vom Schicksal gelenkt und nicht als frei Handelnde erscheine. Wieslers Wesenswandel wirke wie ein Wunder und sei kaum nachvollziehbar. Ähnlich hielt auch Reinhard Mohr von Spiegel Online die Entwicklung von Wieslers Charakter und politischer Einstellung für „nicht in jedem Augenblick glaubwürdig und stringent“. Doch Mühe spiele so grandios, dass die übrigen Stars ein bisschen verblassten, trotz ihrer Glanzleistungen. Donnersmarck erzähle „sehr nah und eindrucksvoll“, doch stellenweise allzu langsam, und gegen Ende leiste er sich Längen. Deutsche Kritik zur Darstellung von DDR und Stasi Zahlreiche Kritiker hoben hervor, dass mit Das Leben der Anderen nun ein Spielfilm erscheine, der sich mit der DDR auf ernste Weise auseinandersetze. Sie lobten die Wahl der dramatischen Form anstelle von Komödie und Klamauk, dass er „den Unrechtsstaat DDR nicht mit den Mitteln der Groteske der Lächerlichkeit preisgibt“ und kein befreiendes Lachen erlaube. Er verzichte auf Ostalgie und DDR-Folklore, auf Trabis und Spreewaldgurken und komme ohne die „einfältigen Polizisten, depperten Parteibonzen und verschlagenen Untertanen“ vorangegangener Filme aus. Diese Negationen waren vor allem auf Good Bye, Lenin! (2003) und Sonnenallee (1999) gemünzt, die diese Kritiker am häufigsten zum Vergleich heranzogen. In beiden kamen IM vor, „ohne daß der Frohsinn der Filme darunter litte“. In der Zeitung Die Welt brachte Mariam Lau diese früheren Produktionen mit der DDR-Show und ähnlichen Fernsehsendungen in Verbindung. Diese Filme hätten das Bedürfnis ehemaliger systemkonformer DDR-Bürger nach Schamabwehr, nach Verdrängung ihrer Komplizenschaft befriedigt. Manche Westdeutsche wiederum hätten es nicht geschätzt, dass mit der DDR eine Alternative zur Gesellschaftsform in der Bundesrepublik verschwunden war. „Der Westen war in ‚Good Bye, Lenin!‘ das Reich des hirnlosen Kommerzes, Zerstörer von Familie und Solidarität.“ Angesichts der Vergleiche betonte Donnersmarck, dass er sich nicht über diese „sonnenbeschienenen Komödien“ ärgere: „Es war tatsächlich heilsam, über dieses heikle Thema DDR erst mal fünfzehn Jahre zu lachen.“ Andreas Kilb stellte in seiner F.A.Z.-Kritik fest, Das Leben der Anderen sei der erste Spielfilm, der die Stasi in den Mittelpunkt rücke. Geschmackssicher schon beim ersten Film, schildere Donnersmarck die DDR „als Land, in dem Hören und Sehen vergeht. Wo jedes Wort mitgehört, jeder Schritt überwacht wird, gibt es am Ende keine Wirklichkeit mehr, nur noch Matrizen und Protokolle.“ Der Westdeutsche habe sich dem Thema mit Geduld, Abgeklärtheit und Neugier genähert, was einem Ost-Regisseur vermutlich weniger möglich gewesen wäre. Jeder künftige Film über die Stasi werde einem wie ein Nachzügler vorkommen. Vom bislang besten Film nach 1989 über die DDR sprach Evelyn Finger von der Zeit. Der Charme des Drehbuchs liege in seinem Ernst; es sei gründlichst recherchiert, reich an Pointen und von einer unerbittlichen analytischen Nüchternheit. Anstelle einer realistischen Darstellung strebe der Regisseur nach einem „metaphorischen Hyperrealismus“, einer „Parabel über die Unmöglichkeit, sich vor den politischen Verhältnissen in einer Nische der Wohlanständigkeit zu verschanzen“. So wünschenswert eine bleibende filmische Aufarbeitung der Stasi wäre, meinte der schon erwähnte Daniel Kothenschulte, handle es sich bei Donnersmarcks Film nicht um dieses ersehnte Werk. Denn Das Leben der Anderen erinnere an Nachkriegsfilme wie Die Mörder sind unter uns, welche die nationalsozialistische Vergangenheit bewältigen wollten, indem sie wenige, hochpositionierte Schurken den einfachen, umso mehr herzensguten Menschen gegenüberstellten. Es leiste keine Aufarbeitung kollektiver Stasi-Verstrickung und sei diesbezüglich vorschnell versöhnlich. Wiesler werde von der Schuld an allen früheren Untaten freigesprochen. Claus Löser urteilte in der taz, mit seiner differenzierten Perspektive hätte der Film zur Analyse der DDR-Diktatur beitragen können. An manchen Stellen mache er die Perfidie des Systems erkennbar, doch letztlich scheitere er an billigsten Klischees. Die Fiktionalisierung sei nicht das Problem. Aber der Film erhebe den Anspruch historischer Wahrhaftigkeit und leiste sich Ungenauigkeiten. Der gezeigte Hochstalinismus treffe für die DDR um 1985 nicht zu, Westpublikationen hätten damals einen Autor nicht gefährdet, sondern geschützt. Absurd und praxiswidrig sei, dass ein Spitzel Gespräche gleichzeitig belausche und abtippe, zudem wären Schichtwechsel und Schreibmaschinenlärm bei den Nachbarn nicht unbemerkt geblieben. So hedonistisch wie der Minister seien die DDR-Kader nicht gewesen, daher falle das Thema „auf das Niveau einer schmierigen Hintertreppen-Intrige“, und mit der „volkseigene[n] Nutte […] verkommt das Ganze endgültig zum politisch verbrämten Herrenwitz“. Übrige Stellungnahmen in Deutschland Joachim Gauck, von 1990 bis 2000 Leiter der oft nach ihm benannten Stasiunterlagen-Behörde BStU, meinte: „Da sind ein paar Ungenauigkeiten drin, aber es ist sehr viel sehr gut getroffen.“ Besonders schätze er, dass keine Nostalgie aufkomme, denn sie sei ein Erinnern ohne Schmerz. Er argwöhnte, dass jene Kritiker, die dem Film historische Fehler vorwerfen, den Film als antikommunistische Hetze begriffen, sich aber nicht getrauten, das rundheraus zu sagen. Seine Nachfolgerin Marianne Birthler sah sich den Film mit Freunden, ehemaligen DDR-Oppositionellen, an: „Wir alle fanden den Film gut gemacht und wirkungsvoll und waren uns einig, dass eine Geschichte, wie sie da geschildert wird, nie passiert ist. Und nie hätte passieren können. Während die einen nun meinten, dann dürfe man auch nicht den Eindruck erwecken, als hätte es so etwas gegeben, meinten die anderen, dass das trotzdem in Ordnung sei. Zu letzteren gehörte ich. Es ist ja kein Dokumentarfilm.“ Dabei anwesend war auch der Liedermacher Wolf Biermann, den die DDR 1976 ausgebürgert hatte. Er machte sich lustig über „Westmenschen“, die sich aus Debatten über die DDR-Vergangenheit heraushalten mit der vorgeschobenen Begründung, nicht moralisch überheblich über die Ostdeutschen urteilen zu wollen, und damit feige in die Unmündigkeit flüchten. Höchst erstaunt gab er sich, dass ein junger Westdeutscher „ein dermaßen realistisches Sittenbild der DDR mit einer wahrscheinlich frei erfundenen Story“ geschaffen hat, der ohne schmerzhafte DDR-Sozialisation dennoch mitzureden und zu urteilen in der Lage ist. Die Aufarbeitung der DDR sollte man vielleicht besser jenen überlassen, die das Elend nicht selbst erlebt haben, denn „wir wissen im dunkelsten Herzensgrund alle, was Verrat und Feigheit bedeuten, was Redlichkeit und Tapferkeit“. Christoph Hein äußerte sich in einem Interview im April 2019 auch 13 Jahre später noch negativ über den Film: „Donnersmarck hat einen DDR-Dramaturgen für seinen Film erfunden und mit dem kann er erst mal machen, was er will […] das ist seine künstlerische Freiheit. Was ich nicht akzeptieren kann, ist der [sic!] Vermischung aus Melodram und historischen Fakten. Die einzelnen Teile mögen stimmen, zu verschiedenen Zeiten, aber er mischt sie zu einem effektvollen Brei zusammen. Er blendet beispielsweise völlig die spannende Entwicklung in der DDR von den 50er bis in die 80er Jahre aus, als das System längst erodierte. Er spricht der Diktatur die Geschichte ab, damit es besser passt.“ Zur Frage, warum die Kritik nach so langer Zeit kommt: „Ich habe mich damals auch aufgeregt, aber das wollte keiner hören. Jetzt auch nicht. ‚Das Leben der Anderen‘ ist heute Schulstoff, und das ist fatal: Denn Schüler von heute bekommen dieses verzerrte Bild präsentiert und glauben: Genau so war also die DDR.“ Hein hatte zuvor berichtet, Donnersmarck habe ihn 2002 gebeten, ihm „das typische Leben eines typischen Dramatikers der DDR zu beschreiben“; er, Hein, sei dem nachgekommen. In der Premiere sei sein Name im Vorspann genannt worden; er habe sich in der erzählten Geschichte jedoch nicht wiedergefunden und Donnersmarck gebeten, seinen Namen aus dem Vorspann zu löschen. Der Film „beschreibt nicht die Achtzigerjahre in der DDR“, sondern sei ein „Gruselmärchen, das in einem sagenhaften Land spielt, ähnlich Tolkiens Mittelerde“. Sein Leben sei „völlig anders verlaufen“. Dagegen wies der Filmkritiker Andreas Platthaus in der FAZ darauf hin, dass Hein keineswegs das Vorbild für den Protagonisten gewesen sein kann: Das Drehbuch sei längst fertiggestellt gewesen, als Donnersmarck und Hein sich kennengelernt hätten. Im Übrigen habe der Regisseur nie erklärt, das Leben Heins in der DDR habe ihn zu dem Film inspiriert, vielmehr seien dies eher die Erfahrungen Wolf Biermanns gewesen. Diese Behauptung Donnersmarcks wurde allerdings bereits in Heins zuvor erschienenem SZ-Artikel als irreführend zurückgewiesen, denn Biermann lebte seit 1977 in der BRD und konnte daher „in den entscheidenden Jahren des Zusammenbruchs des Staates und in dem Zeitraum, in dem der Film spielt, nicht im Land sein.“ Hein berichtete ferner, dass ein Germanistikprofessor vor wenigen Jahren im Seminar Heins Anti-Zensur-Rede von 1987, auf die der Film in einer Szene anspielt, behandelt habe. Die Studenten hätten gefragt, „wie viele Jahre Gefängnis der Autor dieses Textes wegen bekommen habe. Der Professor erwiderte, der Autor sei nicht ins Gefängnis gekommen.“ Die Studenten wollten das nicht glauben, sie wüssten es besser, „weil sie ja den Film ‘Das Leben der Anderen’ gesehen hätten.“ Kritik im Ausland Die polnischen Filmemacher hätten seit der Wende wenig Lust gezeigt, mit der Volksrepublik ehrlich abzurechnen, bedauerte Wprost. Weshalb dieser europäische Kinohit in Deutschland und nicht in Polen entstand, zeige die Szene, in der Dreymann einfach und unbürokratisch Einsicht in seine Stasi-Akten und den Klarnamen seines Überwachers erhalte. Derweil priesen in Polen sogenannte „moralische Autoritäten“ die „Politik des dicken Schlussstrichs“. Das auf deutsche Weise präzise Werk sei im Kino die erste gelungene Vivisektion eines kommunistischen totalitären Staates. Der Film vertiefe sich nicht in die Frage nach Wieslers Verantwortung für sein bisheriges Handeln und vergebe rasch, stellte die Gazeta Wyborcza fest. Er tangiere die polnische Debatte zur Lustration, der Überprüfung von Ämterkandidaten auf Zusammenarbeit mit der kommunistischen Geheimpolizei. Allerdings hätten die Deutschen Lustration, Strafe und Sühne in großem Maße hinter sich. Mutig beantworte Donnersmarck die Frage, mit der man in Polen nicht fertig werde: Was wünscht man stärker – Wahrheit oder Versöhnung? Mit Good Bye, Lenin! und Das Leben der Anderen bauten die Deutschen, Standpunkte von damaligen Oppositionellen wie von Systemtreuen berücksichtigend, an der Legende der Vergangenheit, die ins gemeinsame Gedächtnis des demokratischen Staates eingehe. Während Polen in einer verspäteten Lustration stecke, die nach Schuldigen suche, seien die Deutschen um ihre einigenden filmischen Mythen zu beneiden. In Frankreich lief der Film Ende Januar 2007 an. Der Film sei spannend, unterhaltend und solide inszeniert, fand Le Monde, begegne der Vergangenheit ohne Tabus und zeuge vom erwachsenen Zustand der deutschen Gesellschaft. Le Figaro verknüpfte die Handlung mit dem Fall Gröllmann. Der Erzählung fehle es gewiss an Wahrscheinlichkeit, doch der Film spiegle getreu die ostdeutsche Wirklichkeit und sei heilsam gegen Ostalgie. Die Libération fand, der Debütfilm sei das Werk eines voll ausgereiften Regisseurs. Das einstige Organ der Kommunistischen Partei Frankreichs, L’Humanité, bezeichnete das Werk als Gegenstück zum Ostalgie-Genre. Oberflächlich betrachtet, scheine die Handlung einem urtümlichen Antikommunismus Tür und Tor zu öffnen, doch die vertiefte psychologische Studie verleihe dem Film Komplexität. Vorbildlich gespielt und mit bewundernswerter Präzision inszeniert sei der Film, dessen Regisseur man sich merken müsse. Wenig später startete Das Leben der Anderen in den Vereinigten Staaten und erhielt fast ausnahmslos positive, oftmals sehr gute Kritiken. Von den 39 berücksichtigten Kritiken bewerten nach dem Auswertungsverfahren von Metacritic 15 den Film mit der Bestnote 100, fünf Kritiken mit 90 und mehr Punkten, 16 mit Noten zwischen 75 und 89, 2 mit 70 und eine mit 50. Letztere bedeutet so viel wie „neutral“ oder „gemischt“. Die New York Times fand nur Lob für den „höchst intelligenten, restlos ehrlichen“ Film. Sie schätzte Donnersmarcks altmodischen Ansatz, gute Jungs und Bösewichte anzubieten, seinen klaren Standpunkt, die handwerklichen Qualitäten und die Darsteller. Den Wiesler zu Filmbeginn charakterisierte sie als stalinistischen Bürokraten aus dem Bilderbuch mit einem Schuss Gestapo. Das US-Branchenblatt Variety meinte, trotz fehlendem vermarktbarem Hitler-Aufhänger wie bei Der Untergang komme der Produktion das zunehmende Interesse in Übersee an Dramen zur deutschen Geschichte zugute. Obwohl dialogintensiv, actionarm und günstig produziert, fessele sie dank des Verzichts auf Stereotype des politischen Thrillers und des kraftvollen Spiels von Beginn weg. Hempf-Darsteller Thomas Thieme erinnere an Gert Fröbe. Auch der Kritiker Tim Evans empfindet diesen „erschreckenden“ Film, der von schwarzem Humor durchsetzt sei, als Gegenstück zu Wolfgang Beckers Good Bye, Lenin!. Seine Kritik schließt er mit dem Fazit: „Die Gefühllosigkeit der DDR zu Zeiten des Kalten Krieges wird in beklemmender Weise gezeigt, dennoch nimmt der Regisseur sich mit einer Prise schwarzen Humors zurück.“ Einspielergebnis Das Leben der Anderen gilt auch unter dem kommerziellen Gesichtspunkt als Erfolg. Wehdeking (2007) vermutete, zu den angesprochenen Zielgruppen gehörten „die ‚Bürgerliche Mitte‘, die ‚Konservativen‘, die ‚Etablierten‘, die ‚Experimentellen‘ und ‚Postmateriellen‘, durch das Filmmedium natürlich auch die Hedonisten pluraler Diskurse“. In Deutschland lief Das Leben der Anderen mit 159 Kopien an, die Zahl wurde später auf 201 erhöht. Letztlich konnte der Film mehr als 2,3 Millionen Besucher verzeichnen. Im Vergleich dazu erzielten Sonnenallee (1999) mehr als 2,6 Millionen und Good Bye, Lenin! (2003) über 6,5 Millionen Eintritte. Von den weltweit in den Kinos eingenommenen 77,4 Millionen US-Dollar entfielen 19,1 auf Deutschland. Rechtsstreit zu Filmbuch und DVD Begleitend zur Filmpremiere wurden einige ergänzende Medien veröffentlicht. Die Filmmusik-CD umfasst neben neun Orchesterstücken von Yared auch acht Pop/Rock-Titel des DDR-Plattenlabels Amiga, von denen drei im Film nicht verwendet werden. Im Suhrkamp Verlag erschien das Buch zum Film. Es enthält das originale Drehbuch auf dem Stand vor Dreh und Schnitt, Hintergrundinformationen vom Regisseur und von Manfred Wilke sowie Schilderungen der beiden Darsteller Koch und Mühe. Darin erklärte Mühe, die in der DDR populäre Schauspielerin Jenny Gröllmann, seine Ehefrau von 1984 bis 1990, habe während der Diktatur ihre Theaterkollegen für die Stasi bespitzelt. Gröllmann, vertreten durch den Anwalt Hardy Langer, einen Kanzleikollegen des Linken-Politikers Gregor Gysi, ging gerichtlich gegen die Äußerungen vor. Gegen den Verkauf des Buchs erließ das Landgericht Berlin im April 2006 eine einstweilige Verfügung, da Gröllmann eine Versicherung an Eides statt abgelegt hatte, sie habe nie wissentlich mit dem MfS zusammengearbeitet. Der Verlag konnte, nachdem einige wenige Exemplare zuvor in den Handel gelangt waren, das Buch danach nur noch geschwärzt in den Verkauf bringen. In späteren Auflagen wurden die strittigen Passagen über die IM-Tätigkeit entfernt. Mühe betonte, er habe bei der BStU Akten gesehen, aus denen das von ihm Gesagte hervorgehe. Man dürfe die Vergangenheit nicht leugnen, und er wolle die verlangte Unterlassungserklärung nicht unterschreiben. Am 4. Juli 2006 unterlag er mit seiner Beschwerde vor dem Landgericht Berlin. Dieses entschied, dass es unzulässig sei, die Verdachtsmomente gegen Gröllmann als Tatsachen darzustellen. Sie verstarb im August 2006, und im Januar 2007 unterschrieb Mühe die Unterlassungserklärung. Im November 2006 erschien die DVD nebst dem Hauptfilm mit einer Hörfilmfassung für Sehbehinderte, Audiokommentaren von Donnersmarck und Mühe, zusätzlichen Szenen und einem Making-of. In seinem Audiokommentar erwähnte der Regisseur, dass zwar die Birthler-Behörde auf Anfrage eine Tätigkeit Gysis als „IM“ bestätige, es aber gerichtlich verboten sei, ihn „IM Notar“ zu nennen. Nach Gysis Unterlassungsforderung gab Buena Vista im Januar 2007 bekannt, man habe die Auslieferung dieser DVD-Version gestoppt. Gleich nach dem Rückzug erzielte die ursprüngliche DVD-Version auf Internetbörsen Gebote deutlich über dem Neupreis von 18 Euro. Die neue Version ist seit Februar 2007 erhältlich und unterscheidet sich lediglich durch den angepassten Audiokommentar. Darin erwähnt Donnersmarck keine Namen mehr und meint, die Freigabe der Stasi-Akten nach der Wende sei die undeutscheste Entscheidung seit 1945 und „großartig“ gewesen, weil sie dem Bürger diese Macht in die Hand lege. Leider dürfe man nur lesen, aber noch nicht darüber sprechen. Das sei noch keine wirkliche Redefreiheit, die werde aber noch kommen. Die neue und alte Auflage können an der Produktnummer unterschieden werden (alte Verkaufs-/Verleih-DVD: Z4/Z4R, neue Verkaufs-/Verleih-DVD: Z4A/Z4S). Geschichtliche Faktentreue Die Frage der historischen Authentizität stellte sich bei Das Leben der Anderen besonders, weil der Film gerade auch mit diesem Argument vermarktet wurde und die Öffentlichkeitsarbeit darauf abzielte, ihn als Teil der deutschen Stasi-Debatte darzustellen. Aufbau und Vorgehen der Stasi Das Ministerium für Staatssicherheit, auch MfS oder Stasi, war der Inlands- und Auslands-Geheimdienst der DDR und zugleich Ermittlungsbehörde für „politische Straftaten“ und damit ebenfalls zuständig für die Überwachung und Enttarnung von Oppositionellen und potentiellen Abweichlern. Der „Operative Vorgang“ (OV) war die höchste Stufe für die verdeckte Überwachung einer Person und hatte vor allem vorbeugenden Charakter. Maßnahmen zur sogenannten „Zersetzung“ zielten darauf ab, Gegner in ihren Überzeugungen zu erschüttern oder unter ihnen gegenseitiges Misstrauen zu säen. Donnersmarck wollte keine Parallelen zwischen der Stasi und der Gestapo aufkommen lassen, denn letztere habe aus „Knochenbrechern“ bestanden, die Stasi aber aus „Seelenbrechern“. Die DDR-Regierung erwartete von Künstlern, dass sie die offizielle kulturpolitische Linie mittragen. Der Staat bestimmte, welche Schriften gedruckt wurden, und konnte Berufsverbote gegen opponierende Künstler verhängen. Die Abteilung XX/7 war für die Überwachung des literarischen und kulturellen Lebens zuständig und umfasste zuletzt 40 vollamtliche Angestellte sowie etwa 350 bis 400 IM. Eine Beanstandung am Film lautet, dass wegen der buhlerischen Beweggründe des Ministers die politische Zielsetzung der Stasi-Aktivitäten unterschätzt und die ideologische Rigorosität und Paranoia des Regimes ausgeblendet werde. Zudem besteht die gezeigte DDR fast nur aus Stasi-Tätern und -Opfern, aber kaum aus Durchschnittsbürgern, obwohl nur wenige Prozent der Bevölkerung zu diesen Gruppen gehörten. Lang andauernde Verhöre, wie zu Beginn des Films gezeigt, waren gemäß Gieseke (2008) bis in die 1960er Jahre üblich, doch in den 1980er Jahren hatte sich die Stasi psychologischen Mitteln wie der Isolationshaft zugewandt. Für eine Erfindung hält er auch die hauseigenen Prostituierten, welche die „Jungs vom MfS“ sich angeblich bestellen konnten. Die von kleinbürgerlichen Moralvorstellungen geprägte Stasi setzte Prostituierte nur ein, um westliche Zielpersonen erpressbar zu machen. Auch war die „Firma“ arbeitsteiliger, als es Wieslers multiple Tätigkeiten als Ausbilder, Vernehmer, Abhörer und Anderes mehr nahelegen. Während im Film Wiesler seine Berichte als „HGW XX/7“ signiert, hatten tatsächlich nur inoffizielle Mitarbeiter solche Decknamen, während Stasi-Offiziere mit ihrem offenen Namen zeichneten. Sinneswandel von MfS-Mitarbeitern Zu den viel diskutierten Fragen im Umfeld des Films gehörte, ob es eine realistische Vorstellung sei, dass ein Mitarbeiter des MfS aus moralischer Entrüstung über das Vorgehen seiner Vorgesetzten eine Dienstverweigerung begeht. Der historische Berater des Filmprojekts, Manfred Wilke, machte einige Vorbilder geltend. So hätten die beiden ersten MfS-Chefs Wilhelm Zaisser (1950–1953) und Ernst Wollweber (1953–1957), zwei alte kommunistische Revolutionäre, gegen Parteisekretär Walter Ulbricht opponiert. 1979 wurden Gert Trebeljahr und 1981 Werner Teske als MfS-Aussteiger zum Tode verurteilt und hingerichtet. Ein weiteres Beispiel für einen MfS-Mitarbeiter, der sich gegen die Linie der SED stellte, war der Doppelagent Werner Stiller, der sich 1979 durch Flucht über die Grenze nach West-Berlin knapp seiner drohenden Verhaftung entziehen konnte. Nach Meinung von Historikern gibt es allerdings keinen belegten Fall eines vollamtlichen Stasi-Offiziers, der eine Wandlung durchmachte, wie sie für die Filmfigur Wiesler geschildert wird. Lediglich unter den „inoffiziellen Mitarbeitern“ gab es Fälle, in denen Mitarbeiter aus Gewissensgründen die Seite wechselten. Zaisser und Wollweber schieden von ihrem Posten nicht aufgrund einer moralischen oder ideologischen Wandlung, sondern nach verlorenen innerparteilichen Machtkämpfen. Auch der wegen Fluchtabsichten verhaftete Teske taugt nach dem Urteil Giesekes (2008) nicht als Beispiel für eine Geschichte über eine solche Wandlung. Historisch nicht akkurat ist die von Donnersmarck dargestellte Durchführung des operativen Vorgangs, die in der Stasi-Hierarchie mit ihren inneren Kontrollmechanismen und sehr bürokratischen Aufzeichnungen so nicht möglich gewesen wäre. Gieseke (2008) zufolge wäre ein nachdenklicher, idealistischer Grübler wie Wiesler im Stasi-Apparat ein Fremdkörper gewesen. Schon sein gepflegtes Hochdeutsch passe nicht in ein Umfeld, in dem fast alle Männer sächsisch oder berlinerisch sprachen. Ganz in deutscher Polizeitradition waren sie autoritäre, obrigkeitshörige und antiintellektuelle Persönlichkeiten, welche die Künstlerszene nur als Bedrohung ihrer geordneten Welt auffassen konnten. Dass einer von ihnen die Künstler bewundert, sei eine Illusion Donnersmarcks, der vom Leben der MfS-Mitarbeiter „im Grunde keine Vorstellung“ habe. Ähnlich beklagte Werner Schulz, einstiger DDR-Bürgerrechtler und früheres Mitglied des Bundestages, die Losgelöstheit des Films von historischer Wahrhaftigkeit. Es hätte nie einen Stasi-Offizier geben können, der sich vom harten Verhörspezialisten zum mutigen Dissidentenbeschützer wandelt, weil der Stasi-Apparat auf völliger Ergebenheit und Zuverlässigkeit beruhte und nur skrupellose Mitarbeiter zuließ. Darin liege implizit eine „kreative Verharmlosung“ des Systems durch den Film. Stauffenberg und Sophie Scholl waren keine Erfindungen. „Steven Spielberg wäre weltweit zerpflückt worden, hätte er sich Oskar Schindler und dessen Liste ausgedacht.“ Westveröffentlichungen von DDR-Bürgern, Selbsttötungsproblematik Die DDR ahndete kritische Publikationen in ausländischen Medien scharf. § 220 Absatz 1 des DDR-Strafgesetzbuches besagte: Wer in der Öffentlichkeit […] die staatliche Ordnung oder staatliche Organe, Einrichtungen oder gesellschaftliche Organisationen oder deren Tätigkeit oder Maßnahmen […] verächtlich macht oder verleumdet, wird mit Freiheitsstrafe bis zu zwei Jahren oder mit Verurteilung auf Bewährung, Geldstrafe oder mit öffentlichem Tadel bestraft. Eine Westveröffentlichung tangierte auch die Paragraphen § 97 (Spionage), § 99 (Landesverräterische Nachrichtenübermittlung) und § 219 (Ungesetzliche Verbindungsaufnahme). Im Film wird erwähnt, dass die DDR die zweithöchste Selbstmordquote in Europa hatte und 1977 aufhörte, die Statistik zu veröffentlichen. Tatsächlich hielt die DDR die Selbsttötungsstatistik schon seit 1963 geheim, 1977 wurde die Geheimhaltung verschärft. Fachleuten und Politikern in dem Staat war bewusst, dass sich in der DDR überdurchschnittlich viele Menschen das Leben nahmen. Anders als der Film suggeriert, lässt sich eine direkte kausale Korrelation zwischen Diktatur und Selbsttötungsrate allerdings nicht belegen. Fälle, in denen die Tätigkeit des MfS Bedingungen schuf, die Menschen mutmaßlich zum Suizid bewegten, sind aber bekannt. Der Film ist hier insofern realistisch, als er die damaligen Wahrnehmungsmuster und Kommunikationsstrategien des Kalten Krieges reproduziert. Der Spiegel, in dem Dreymann der Filmhandlung zufolge seinen Artikel über die hohe Selbsttötungsrate in der DDR veröffentlichte, druckte tatsächlich verschiedentlich Beiträge von DDR-Bürgern, die sich kritisch mit der DDR auseinandersetzten. Darunter waren die „Gedächtnisprotokolle“ des Schriftstellers Jürgen Fuchs oder Beiträge von Robert Havemann. Donnersmarck ließ sich auch vom „Spiegel-Manifest“ inspirieren, das im Januar 1978 in dem Nachrichtenmagazin erschien. Als Urheber war ein „Bund demokratischer Kommunisten Deutschlands“ genannt, hinter dem anonyme mittlere und höhere SED-Kader stünden. Diese Schrift beklagte das Großmachtsgebaren der Sowjetunion und die schmarotzende, gegen das Volk handelnde DDR-Regierung. Die Stasi vernahm und gängelte daraufhin den Hauptverfasser Hermann von Berg. Themenkreise Staatliche Überwachung Den internationalen Erfolg erklärte Lindenberger (2008) damit, dass man weltweit entweder sich mit der diktatorischen Vergangenheit seines eigenen Landes befasst oder in Demokratien das Wachsen übermächtiger, unkontrollierter Staatsmacht befürchte. Auch Horn (2008) vermutete ein archetypisches Interesse des Publikums in der Faszination für geheime Überwachung und der dunklen, medialen Seite der Macht. Die DDR und ihre Staatssicherheit ist ein Fall von Staatsparanoia, einem prinzipiellen Misstrauen gegenüber allem und jedem. Es ist eine Paranoia der Regierenden, die die Bürger eines subversiven Verhaltens verdächtigen, selbst in alltäglichen Nebensächlichkeiten. Dem Staat geht es weniger ums Beobachten, ohne beobachtet zu werden, als darum, bei den Bürgern das Bewusstsein zu schaffen, dass ihr Verhalten ständiger Beobachtung und Prüfung untersteht, um sie zu disziplinieren. Nicht zufällig beginnt die Handlung im Orwell-Jahr 1984 und endet der erste Filmteil am 11. März 1985, als Michail Gorbatschows Amtsantritt bekannt wird, der in der Sowjetunion die Ära von Glasnost und Perestroika einläutete. Wende, Versöhnung und Erinnerung Laut Wilke soll die Figur Wiesler die Glaubenskrise eines Kommunisten in der späten DDR darstellen. Denn auch unter der DDR-Führungselite nahmen Zweifel über den Zustand des Landes zu. Manche kündigten innerlich gegenüber der offiziellen Linie und ließen, als der Herbst 1989 kam, den Dingen ihren Lauf. Diese Entwicklung betrifft beide Figuren, Wiesler und Dreyman, die anfänglich die proklamierten Ideale der Republik zum Nennwert nehmen. Darauf wies Reinhard Mohr in Spiegel Online hin: „Es ist eine untergründige Ironie der Geschichte, die im Laufe des Films eine nachvollziehbare historische Dialektik in Gang setzt, dass beide Kontrahenten absolut überzeugte DDR-Bürger und gläubige Kommunisten sind. Dass schließlich beide vom Glauben abfallen, ist gerade die Frucht ihrer gegenseitigen Konfrontation. […] Wer mag, kann darin eine ferne Variation von Hegels Herr-Knecht-Dialektik sehen […]“ In der Möglichkeit einer politischen Aussöhnung und der Selbstheilungskraft der Kunst liege die utopische Attraktion des Films und ein wichtiger Grund für seinen kommerziellen Erfolg, fand Stein (2008). Gleichermaßen findet Lindenberger (2008), die Erzählung setze auf die Sehnsucht nach Versöhnung. Opfer und Täter fänden Wege, sich auf menschliche Weise zu verständigen. Auf die Verbrechen des DDR-Staats gehe sie nur so weit ein, als dies das Grundmotiv der Handlung, die Wandlung eines Menschen, nicht unterlaufe. Bei Schilderungen von totalitären Systemen nehmen viele Zuschauer an, sie hätten auf der richtigen Seite gestanden. In diesem Zusammenhang ist das Erfinden eines moralisch korrekten Endes für eine Täterfigur tröstlicher als die Einsicht, dass solche Verläufe nicht vorkamen. Das Leben der Anderen eröffne so eine Einfühlungsmöglichkeit in die DDR-Geschichte für ein Publikum, das sich damit sonst kaum identifizieren könnte – und der Film sei im Grunde, wenn auch nicht ausschließlich, eine westdeutsche Projektion auf das fremde „Andere“. Der Film habe mit der DDR so viel zu tun wie Hollywood mit Hoyerswerda, befand der aus dem Osten stammende Filmemacher Andreas Dresen. Das Märchen vom guten Menschen komme gut an, diene aber nicht der Wahrheitsfindung. Ihn hätte ein Stasi-Beamter mit Frau und Kindern und normaler Arbeitszeit mehr interessiert, denn dessen Alltag wäre eine „schmerzhafte Selbsterkundung. Für Ost wie West.“ Doch die Ostdeutschen zögen es vor, sich an die freundlichen Seiten der DDR zu erinnern, während die Westdeutschen Opportunismus als etwas ihnen nicht Eigenes, einem anderen Land Zugehöriges betrachten. Wieslers Wesenswandlung Die Erfahrungen des Dritten Reichs und der DDR zeigen Donnersmarck, dass man in Deutschland allzu bereit sei, Autorität zu akzeptieren. Partei und Stasi handelten gemäß ihrem marxistisch-leninistisch begründeten, dichotomen Weltbild, das durch die Teilung in zwei deutsche Staaten bestärkt wurde. Für ihren Kampf benötigten die Stasi-Männer den Glauben an den Sozialismus und Hass auf die „feindlich-negativen Elemente“. Anfänglich hat Wiesler beides, derweil Grubitz’ Glaube sich in Zynismus verwandelt hat. Zu diesem Zeitpunkt ist er penibel und obrigkeitshörig, ein preußischer Tschekist, ein „spießig-asketischer Mönch der DDR-Staatsreligion“ und der „bissigste aller Stasi-Wachhunde“. Er ist ein Medium der Überwachung, fungiert als Abhörgerät, als Übermittler und, bei Verhören, als Lügendetektor. Als Medium hat er folglich kein eigenes Leben. Ohne Angehörige und Freunde, haust er in einer karg eingerichteten Plattenbauwohnung und führt ein freudloses Leben. „Die antike Moralphilosophie sah im Bösen einen Mangel an Sein – auch Wieslers Bösartigkeit war kein böser Wille, sondern ein Mangel an Lebendigsein.“ Auf dem Dachboden installiert, wirkt Wiesler „wie ein kleiner Stasi-Kosmonaut in der Umlaufbahn einer Sojus-Kapsel“. Der leichtlebige, lässige, frei denkende Theater-Bohemien ist ihm zunächst verhasst, dessen Welt übt jedoch eine zunehmende Faszination auf ihn aus. Die gegen Dreymann gerichtete Aktion bringt den Kommunisten Wiesler dazu, seinen eigenen Glauben einer Prüfung zu unterziehen; angesichts der privaten Veranlassung des operativen Vorganges liefert der Hass keine Antworten. Es bleibt unklar, ob es seine neu entdeckte Wertschätzung für die Kunst ist, die ihn abtrünnig werden lässt, oder Abscheu gegen den unnötigen operativen Vorgang. Seine Aktionen bleiben vorerst zweideutig; beispielsweise könnte sein Betätigen der Türklingel eine Zersetzungsmaßnahme sein, um das Paar Dreymann und Sieland auseinanderzubringen. Unterschiedlich wird gedeutet, ob sich Wiesler durch die Berührung mit einer neuen Welt des Denkens und Fühlens „infiziert“ und sich in jemanden Neuen verwandelt oder ob die Begegnung den verschütteten guten Kern in ihm freilegt. Spekulationen, der Beobachter habe sich in die Schauspielerin verliebt, wies Donnersmarck zurück: Der Mann sei von Sieland nur fasziniert, denn fürs Verlieben müsse man seelisch sehr offen sein, und das sei er am Anfang noch nicht. Ein Zersetzer wird zersetzt und sieht in Dreymann kein „Feindobjekt“ mehr. Nun deckt er dessen Wandlung zu ausgerechnet jenem „gefährlichen“ Element, das Dreymann nicht war und zu dem Hempf den Schriftsteller zu stempeln hoffte. Das Medium HGW XX/7 erweist sich als unzuverlässig und verzerrt die zu übermittelnde Botschaft. Indem er Rapporte frei erfindet, wird Wiesler seinerseits zu einem Autor von Fiktion. Humanistisches Kunstverständnis Im Filmbuch verriet Donnersmarck, wie er auf die Grundidee des Films gekommen war. Bei Kreativitätsübungen an der Filmhochschule 1997 empfand er, dass auf die Mondscheinsonate von Beethoven zutreffe, was Lenin über dessen Appassionata gesagt haben soll: „Da plötzlich kam mir etwas in den Sinn, was ich einmal bei Gorki gelesen hatte, dass nämlich Lenin über die ‚Appassionata‘ gesagt habe, dass er sie nicht oft hören könne, weil er sonst ‚liebevolle Dummheiten sagen und den Menschen die Köpfe streicheln‘ wolle, auf die er doch ‚einschlagen, mitleidslos einschlagen‘ müsse, um seine Revolution zu Ende zu bringen.“ Manche Musikstücke zwängen einfach dazu, Menschlichkeit und Liebe über Ideologie und Strenge zu stellen. Donnersmarck fragte sich, wie man Lenin dazu bringen könnte, dass er sich die Musik anhört, und in den Sinn kam ihm das Bild eines Mannes, der ihr in einem trostlosen Raum durch Kopfhörer lauschen muss. Der Regisseur gab sich überzeugt, dass Kunst, die ehrlich und keine Propaganda ist, Menschen verändern kann. „Deshalb war mir Musik so wichtig. Weil sie die emotionalste Kunstform ist. Sie enthält keine Wertung.“ Die Vorstellung, dass Kunst bessere Menschen hervorzubringen vermag, wurzelt tief in der deutschen Geistesgeschichte. So postulierte Schiller in seiner Abhandlung Über die ästhetische Erziehung des Menschen (1795), die Schönheit echter Kunst befähige den Menschen zu moralischem Handeln. Denn die Kunst verleihe seiner Seele Freiheit und schaffe ein ausgewogenes Verhältnis zwischen Vernunft und Sinnlichkeit. Als Auslöser für Wieslers Erweckung weist Donnersmarck der „Sonate vom Guten Menschen“ eine zentrale Bedeutung zu. Jerska, der lieber ins Jenseits „rübermacht“, als in einem System zu leben, das ihm nicht erlaubt, ein guter Mensch zu sein, schenkt Dreymann die Noten. Gemäß Anweisung im Drehbuch hat Jerskas Wohnung „etwas von Fausts Studierstube“. Darin manifestiere sich das „bildungsbürgerliche Potential der Aufklärung und des freien Wortes“, fand Wehdeking (2007), und die Kunst sei ein Gegengewicht zur Unterdrückung. Nach Einschätzung von Schmidt (2009) positioniert der Filmemacher sein Werk als Wiederentdeckung und Bestätigung der alten humanistischen Tradition jenseits der Wechselfälle der Geschichte, insbesondere des gescheiterten, 40-jährigen Experiments des „real existierenden Sozialismus“ in der Deutschen Demokratischen Republik. Wieslers Idealismus im Dienste des Sozialismus führte ihn in die Stasi und leitete ihn, nachdem er den Materialismus der DDR erkannt hatte, zum Verrat an diesem Staat. Mit der Wiesler-Figur spielte der Regisseur auch auf Gorbatschow an, ein „Stalinist, der zum größten Antistalinisten geworden“ sei. Als er in Oxford studierte, kam der Ex-Staatsmann zu Konferenzen; und weil Donnersmarck Russisch sprach, bestimmte man ihn für eine Stadtführung. „Doch er interessierte sich nur für die Menschen. Es ist nicht wichtig, der Intelligenteste oder Mächtigste zu sein. Sondern seinem Herzen und seinem Gewissen folgen zu können.“ Im Sinne der humanistischen Ästhetik ist auch der Dualismus zwischen Körper und Geist. Der Film zeichne eine Grenze zwischen dem Stofflichen, Politischen, Historischen und dem Ästhetischen, Intellektuellen, zeitlos Allgemeingültigen. Daher brauche, so Schmidt (2009), sich die Erzählung um historische Faktentreue kaum zu kümmern: „Der Film behauptet die Überlegenheit der Ästhetik über die Politik und ist an Details des Alltagslebens in der DDR nur so weit interessiert, als sie zur semiotischen Rekonstruktion dieses binären Gegensatzes beizutragen vermögen.“ Die genannten Gegensätze seien grundlegend für die Semiotik des Films und unverzichtbare Stützen des humanistischen Glaubens ans Gute und Wahre, das von der politischen Sphäre klar abgegrenzt ist. Sein schmächtiges Äußeres setzt den Idealisten Wiesler von der Leibesfülle des Karrieristen Grubitz ebenso ab wie von der drallen Prostituierten. Ebenso dienen die Geruchstücher dazu, Körperlichkeit semiotisch am materialistischen DDR-Staat festzumachen: Der Besitz des Geruchs eines Menschen durch die Stasi zeigt seine körperliche Unfreiheit auf. Dasselbe betont Sielands Tablettenabhängigkeit. Und um ihren Beruf ausüben zu können, muss die Schauspielerin die Beherrschung über ihren Körper an Männer abtreten: An Dreyman, der ihr als Autor die Worte in den Mund legt, und an Hempf, der sie nach sexueller Verweigerung mit einem Auftrittsverbot belegt. Dreymann erkennt anhand der roten Farbspuren an seinen Akten Wieslers idealistisches Verhalten, was ihn zu seinem ersten Roman inspiriert. Die Wahl der Textgattung Roman anstelle eines Bühnenstücks ermöglicht ihm, die Körper und die Stimmen von Schauspielern zu umgehen und eine unmittelbarere Beziehung zum Leser aufzubauen. Konsequenterweise verzichtet Dreymann darauf, Wiesler von Angesicht zu Angesicht anzusprechen, und zieht eine geistige Verbundenheit, ausgedrückt in der Widmung des Romans, vor. Im Drehbuch lautet die Anweisung an dieser Stelle: „Aber es wird ihm klar, daß er ihn nicht ansprechen kann. Das materielle Machtgefälle (und welch eine Rolle spielt das in dem neuen Deutschland!) ist zu groß für eine Begegnung, die auf gleicher menschlicher Ebene stattfinden müßte.“ Schwachpunkt Frau In Nachwendefilmen über das Leben in der DDR, darunter Sonnenallee und Good Bye, Lenin!, stellte Schmidt (2009) weiter fest, erhalte männliche Entwicklung einen bedeutenden Platz neben schwachen und kranken Frauenfiguren und vor dem Hintergrund eines als weiblich kodierten Staates. Für Lenssen (2007) steht Das Leben der Anderen stellvertretend für das Dilemma weiblicher Figuren in diesen Filmen. „Aus den Hoffnungsträgerinnen eines sozialistischen Menschenbildes sind angeschlagene Allegorien auf die schönen Künste, die Freiheit und wilde Jugend geworden.“ Oft stünden sie nur zwischen männlichen Protagonisten, Tätern wie Opfern. Bei Donnersmarck falle sogar diese dramaturgische Aufgabe der Frau weg: Wiesler lasse sich nicht durch Gefühle für Sieland bekehren, sondern durch körperlose Kunst, durch Gedichte und Sonaten. Zuletzt ersetzt er Sieland auch noch als Muse Dreymans. Die im Film entworfene Sieland ist irrational, komplexbeladen und willfährig, schwach, verführt und schuldig und sehnt sich nach männlicher Anerkennung. Das Drehbuch weist ihr diese Rolle zu, derweil beide Männer die Gelegenheit erhalten zu reifen. Daher hielt Lindenberger (2008) den Film für frauenfeindlich. Donnersmarck habe den unzähligen Geschichten über eine Frau zwischen zwei Männern eine weitere, Hollywood-kompatible hinzugefügt. Ihren Tod verstand er als ein klassisches Sterbenlassen einer Frau, die dem Bund zweier Männer im Wege steht. Das erlösende Ende erfordert ihren Opfertod. Auch Martina Gedeck zeigte sich verärgert, dass die von ihr gespielte Sieland geopfert wird, damit der Mann eine Katharsis erfährt. Donnersmarck habe sich stur über ihre Warnungen bei den Vorbesprechungen hinweggesetzt. Sie bezeichnete ihn als einen Anfänger, den man noch nicht unter die großen Regisseure einreihen dürfe. Ein knappes Jahr später trat er von seinem Kontingent an Einladungen zur Oscar-Verleihung keine an Gedeck ab. Im DVD-Audiokommentar spricht der Regisseur von einer „Liebe zwischen diesen beiden Männern, die sich nie kennenlernen. […] de facto ist die Liebesachse zwischen Dreymann und Wiesler“. Als Wiesler den Roman in den Händen hält, spüre man, „dass diese Liebe ganz frisch und stark ist“. Schmidt (2009) analysierte, Donnersmarck konstruiere binäre Gegensätze zwischen Mann und Frau, die ein althergebrachtes Geschlechterverständnis bestärken. Während die Frau an Körperlichkeit, die Umstände, Korrumpierbarkeit, Vergänglichkeit und Tod gebunden bleibe, schreibe er den Männern Eigenschaften zu, welche die stoffliche Welt überwinden: Geist und Verstand, absolute, allgemeingültige Grundsätze, Spiritualität und Kunst. Brecht Angesichts der Stellung, die das humanistische Kulturverständnis in Das Leben der Anderen einnimmt, können die zahlreichen Bezüge des Films zum Schriftsteller Bertolt Brecht überraschen. Denn es zielt auf eine innere Wandlung des Individuums ab, während Brecht überzeugt war, ein besseres Leben lasse sich nur durch den kollektiven Wandel der Gesellschaft verwirklichen. Diese Indienstnahme Brechts wertete Schmidt (2009) als ein sehr wählerisches Pflücken seiner Aussagen über die Beziehung von Kunst und sozialem Wandel und auch eine tendenziöse Aneignung von Brecht als Ikone für eine nachrevolutionäre Kunst. Der Schriftsteller, Teil des deutschen literarischen Kanons, werde in die humanistische Tradition gestellt und so in die Zeit nach der Wende gerettet, ganz wie der linientreue Staatskünstler Dreymann sich als zeitloser, auch auf Nachwende-Bühnen gespielter Autor entpuppe. Entgegen Wieslers verstohlener Lektüre war Brecht zu lesen in der DDR mitnichten subversiv, vielmehr waren seine Werke Pflichtstoff in der Schule. Das Gedicht Erinnerung an die Marie A., von dem Wiesler eingenommen ist, gehört zu den eher unpolitischen Brechts und deutet auf Wieslers zunehmende Empfänglichkeit für Schönheit und Liebe jenseits von Ideologie. Er hört das Gedicht mit Dreymans Stimme, was die innere Nähe der beiden andeutet. Der Name der Sonate vom Guten Menschen weist eine Ähnlichkeit mit dem von Brechts Stück Der gute Mensch von Sezuan auf. In dieser Parabel vermittelt Brecht, dass es unmöglich ist, in einer schlechten Welt ein guter Mensch zu sein. Gemeinsam ist Stück und Film, dass Brechts Shen Te wie Dreymann und Wiesler versuchen, ihre Integrität gegen die Ansprüche anderer zu verteidigen, und zum Selbstschutz ihre Güte maskieren. Diese Menschen werden in eine Schizophrenie gezwungen, „bei der die Individuen die Spannung zwischen sich und dem Staat durch Schaffung eines öffentlichen und eines privaten Gesichts bewältigten“. Donnersmarck und Brecht stimmen zudem darin überein, dass Kunst politischen Wandel antreiben kann. Doch die Lehren aus ihren Werken schließen sich gegenseitig aus. Brechts Stück ist eine Kapitalismuskritik und behauptet die Unmöglichkeit von Güte in einem entmenschlichenden System, derweil Donnersmarck den Glauben an individuelle Ethik inmitten staatlichen Terrors aufrechterhält. Zudem entspricht der dramaturgische Ansatz von Das Leben der Anderen einem Theaterkonzept aus der Zeit vor Brecht: Brecht definierte den Verfremdungseffekt, wonach ein Stück das Bewusstsein des Theaterbesuchers mittels Argumenten verändern kann und nicht durch Einfühlung in und Identifikation mit Figuren. Das Filmpublikum aber identifiziert sich mit Wiesler, der seinerseits die ideologisch-psychologische Distanz zu seinen Beobachtungsobjekten unterschreitet und sich emotional auf ihr Leben einlässt. Auszeichnungen In Deutschland 2006 Deutscher Filmpreis in den Kategorien Bester Spielfilm – Lola in Gold, Beste darstellerische Leistung – männliche Hauptrolle (Ulrich Mühe), Beste darstellerische Leistung – männliche Nebenrolle (Ulrich Tukur), Beste Regie und Bestes Drehbuch (beide Donnersmarck), Beste Kamera/Bildgestaltung (Hagen Bogdanski) und Bestes Szenenbild (Silke Buhr). Bayerischer Filmpreis für den besten Hauptdarsteller (Ulrich Mühe), das beste Drehbuch, die beste Nachwuchsregie und die besten Nachwuchsproduzenten (Max Wiedemann und Quirin Berg) Friedenspreis des Deutschen Films – Die Brücke: Bester Film Goldene Henne: Ulrich Mühe in der Kategorie „Film aktuell“ Gilde-Filmpreis in Gold: Bester deutscher Film New Faces Award: Bester Debütfilm (Donnersmarck) 2007 Jupiter: Ulrich Mühe als bester deutscher Darsteller Preis der deutschen Filmkritik in den Kategorien Bester Darsteller (Mühe), Beste Kamera (Bogdanski), Bester Schnitt (Patricia Rommel), Bestes Spielfilmdebüt (Donnersmarck) Im Ausland 2006 Europäischer Filmpreis in den Kategorien Bester Film, Bester Darsteller (Ulrich Mühe) und Bestes Drehbuch Schwedischer Filmpreis Guldbagge: Bester ausländischer Film Internationales Filmfestival von Locarno: Publikumspreis Internationales Filmfestival Warschau: Publikumspreis Los Angeles Film Critics Association Awards: Bester fremdsprachiger Film London Film Festival: Satyajit Ray Award für Florian Henckel von Donnersmarck Vancouver International Film Festival: Beliebtester Film 2007 Oscar in der Kategorie Bester fremdsprachiger Film Golden Globe: nominiert als bester fremdsprachiger Film Independent Spirit Award: Bester fremdsprachiger Film 2008 César, Bester ausländischer Film BAFTA Award: Bester nicht-englischer Film; außerdem nominiert in den Kategorien Bester Film, Bestes Drehbuch, Beste Regie, Bester Hauptdarsteller Syndicat Français de la Critique de Cinéma et des Films de Télévision: Bester ausländischer Film Auflistungen Bei einer Umfrage der BBC im Jahr 2016 für ihre Liste der 100 bedeutendsten Filmen des 21. Jahrhunderts belegte Das Leben der Anderen Platz 32. Auf der Liste 101 Greatest Screenplays of the 21st Century (Die 101 bedeutendsten Drehbücher des 21. Jahrhunderts) der Writers Guild of America belegt Das Leben der Anderen Platz 52. Literatur Bücher Florian Henckel von Donnersmarck: Das Leben der Anderen. Suhrkamp, Frankfurt am Main 2006, ISBN 3-518-45786-1. Florian Henckel von Donnersmarck: Das Leben der Anderen. Geschwärzte Ausgabe Suhrkamp, Frankfurt am Main 2007, ISBN 3-518-45908-2. Wissenschaftliche Beiträge Arendt, Christine: Zur Analyse kulturreflexiver Filme und ihrer Rezeption im DaF-Unterricht. „Das Leben der Anderen“ und „Nirgendwo in Afrika“. Interpretation, Narratologie, Erinnerungsrhetorik und Rezeption durch italienische Studierende. Königshausen & Neumann, Würzburg 2019 (Reihe: Film, Medium, Diskurs). ISBN 978-3-8260-6636-8. Paul Cooke: „The Lives of Others“ and Contemporary German Film. A Companion. De Gruyter, Berlin/Boston 2013, ISBN 978-3-11-026810-2. John T. Hamilton: Conspiracy, Security, and Human Care in Donnersmarck’s Leben der Anderen. In: Historical Social Research. Jg. 38 (2013), Nr. 1, S. 129–141. Jens Gieseke: Stasi goes Hollywood: Donnersmarcks The Lives of Others und die Grenzen der Authentizität. In: German Studies Review. Jg. 31 (2008), Nr. 3, S. 580–588 (deutsch). Volker Wehdeking: Generationenwechsel: Intermedialität in der deutschen Gegenwartsliteratur. Erich Schmidt Verlag, Berlin 2007, ISBN 978-3-503-09827-9, S. 127–137. Gary Schmidt: Between authors and agents: Gender and affirmative culture in Das Leben der Anderen. In: The German Quarterly, Jg. 82, Nr. 2, Frühling 2009, S. 231–249, (englisch). Thomas Lindenberger: Stasiploitation–Why Not? The Scriptwriter’s Historical Creativity in The Lives of Others. In: German Studies Review. Jg. 31 (2008), Nr. 3, S. 557–566 (englisch). Lu Seegers: Das Leben der Anderen oder die ‚richtige‘ Erinnerung an die DDR. In: Astrid Erll, Stephanie Wodianka (Hrsg.): Film und kulturelle Erinnerung. Plurimediale Konstellationen. Walter de Gruyter, Berlin/New York 2008, ISBN 978-3-11-020443-8, S. 21–52. Mary Beth Stein: Stasi with a human face? Ambiguity in Das Leben der Anderen. In: German Studies Review. Jg. 31 (2008), Nr. 3, S. 567–579 (englisch). Gespräche Mit Florian Henckel von Donnersmarck in der Süddeutschen Zeitung, 23. März 2006, S. 12, Welt der Leere. Kritiken film-dienst Nr. 6/2006, S. 42–43, von Alexandra Wach: Das Leben der Anderen Focus, 20. März 2006, S. 72–74, von Harald Pauli: Der indiskrete Charme der Staatssicherheit Frankfurter Allgemeine Zeitung, 22. März 2006, S. 35, von Andreas Kilb: Verschwörung der Hörer Süddeutsche Zeitung, 23. März 2006, S. 12, von Rainer Gansera: In der Lauge der Angst Welt am Sonntag, 12. Februar 2006, S. 59, von Matthias Ehlert: Der Freund auf meinem Dach Die Zeit, 23. März 2006, von Evelyn Finger: Die Bekehrung epd Film Nr. 3/2006, S. 32, von Martina Knoben: Das Leben der Anderen Spiegel Online, 15. März 2006, von Reinhard Mohr: Stasi ohne Spreewaldgurke Frankfurter Rundschau, 23. März 2006, S. 38, von Daniel Kothenschulte: Die Spitzel sind unter uns Berliner Zeitung, 22. März 2006, von Anke Westphal: Unsere liebe Stasi taz, 22. März 2006, S. 16, von Claus Löser: Wenn Spitzel zu sehr lieben Sonstige Stellungnahmen Joachim Gauck: „Ja, so war es!“ In: Stern, 16. März 2006, S. 228. Wolf Biermann: Die Gespenster treten aus dem Schatten. Warum der Stasi-Film eines jungen Westdeutschen mich staunen läßt. In: Die Welt, 22. März 2006. Christoph Hein: „Warum ich meinen Namen aus „Das Leben der Anderen“ löschen ließ“ In: Süddeutsche Zeitung, 24. Januar 2019 Berichte Rüdiger Suchsland: Das rechte Maß. In: Der Tagesspiegel, 6. März 2007 (über Donnersmarcks umstrittenes Verhalten und seinen Streit mit Gedeck). Lehrmaterial Marianne Falck: Filmheft (PDF; 1,5 MB) Bundeszentrale für politische Bildung. Fragen zum Film (englisch). Weblinks Ausführlicher Bericht zur Entstehung und historischer Einordnung im Deutschland Archiv Einzelnachweise Filmtitel 2006 Filmdrama Deutscher Film Politthriller Suizid im Film Deutsche Teilung im Film Ministerium für Staatssicherheit
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https://de.wikipedia.org/wiki/Piet%20Mondrian
Piet Mondrian
Piet Mondrian (eigentlich Pieter Cornelis Mondriaan; * 7. März 1872 in Amersfoort, Niederlande; † 1. Februar 1944 in New York City, New York) war ein niederländischer Maler der klassischen Moderne. Der Künstler, der die Stilrichtung des Neoplastizismus schuf, gilt als wichtigster Vertreter des niederländischen Konstruktivismus sowie der von Theo van Doesburg so bezeichneten Konkreten Kunst. Er gehörte mit seinem späteren Werk zu den Begründern der abstrakten Malerei. Mondrian begann um 1900 im impressionistischen Stil der Haager Schule zu malen. Ab etwa 1908 arbeitete er unter dem Einfluss von Vincent van Gogh und des Fauvismus. Nach seiner Übersiedlung 1911 nach Paris wandte er sich unter dem Einfluss von Georges Braque und Pablo Picasso dem Kubismus zu. Ab den 1920er Jahren schuf Mondrian die bekannten streng geometrischen Gemälde, die dem Neoplastizismus zugerechnet werden. Ihre charakteristische Struktur aus einem schwarzen Raster, verbunden mit rechteckigen Flächen in den Grundfarben, führt bis in die Gegenwart zur Aufnahme in Kunst, Architektur, Mode, Werbung und Populärkultur. Als Kunsttheoretiker und Mitbegründer der Künstlervereinigung De Stijl schrieb Mondrian unter anderem die Schrift Le Néo-Plasticisme, die 1925 in deutscher Übersetzung als Bauhausbuch Nr. 5 unter dem Titel Neue Gestaltung. Neo-Plastizismus, Nieuwe Beelding veröffentlicht wurde. Die im Exil in New York ab 1940 neu entstandenen Werke lockerte er mosaikartig in die Primärfarben auf und überwand auf diese Weise die früheren strengen Kompositionen zugunsten der neuen musikalischen Rhythmisierung des Motivs. Leben Ausbildung und Arbeit in den Niederlanden (1872–1911) Piet Mondrian wurde am 7. März 1872 als zweites von fünf Kindern in Amersfoort an der Kortegracht 11 als Sohn von Pieter Cornelis Mondriaan (1839–1915) und dessen Frau Johanna Christina Mondriaan (geb. Kok, 1839–1909) geboren. 1880 siedelte die Familie nach Winterswijk, nahe der deutschen Grenze, über. Seine Geschwister waren Johanna Christina, Willem-Frederik, Louis Cornelis und Carel. Die Mutter war häufig krank, und die einzige Tochter, Christina, (* 1870) musste bereits als kaum Achtjährige den Haushalt „führen“, während der Vater, der die Lehrerlaufbahn einschlug, lieber freiwillig Überstunden machte und als strenger Calvinist im Auftrag seiner Kirche häufig auf Reisen ging. Mondrian, der auf die Nähe des Vaters hatte verzichten müssen, verlor nach dem Ende seiner Kindheit das Grundvertrauen in seine Mitmenschen, sodass er nie eine dauerhafte Partnerschaft einging. Bei seinem Onkel Frits Mondriaan, der ein geschätzter Landschafts- und Interieurmaler war, und seinem Vater nahm er ab 1886 Zeichenunterricht. Mondrian sollte nach dem Willen des Vaters Lehrer werden, und Piet Mondrian strebte die Laufbahn eines Zeichenlehrers an. Hierfür erwarb er 1889 und 1892 die Lehrbefähigung für Volksschulen und die Lehrbefähigung als Zeichenlehrer für höhere Schulen. Da Mondrian sich jedoch nicht zum Lehrer berufen fühlte, entschied er sich, noch im November 1892 an der Rijksakademie van beeldende kunsten in Amsterdam sein Studium der Kunst zu beginnen, das er bis 1894, mit anschließenden Abendkursen bis 1897, fortführte. Im selben Jahr trat er der Gereformeerde Kerk (strenggläubige Calvinisten) bei. Während des Winters 1899/1900 erlangte für Mondrian die Frage der Theosophie an Bedeutung, und er las Bücher, die in unmittelbarem Zusammenhang mit dieser standen. Insbesondere begeisterte er sich für das Werk Les Grands Initiés (Die großen Eingeweihten) von Édouard Schuré, dessen erste Auflage 1889 erschienen war. In den Jahren 1898 und 1901 bewarb er sich um den niederländischen „Prix de Rome“, den angesehensten Kunstpreis der Niederlande. Die Jury lehnte ihn beide Male ab. Nachdem Piet Mondrian zwei Stillleben verkauft und einen Porträtauftrag ausgeführt hatte, reiste er 1901 mit seinem Freund, dem Maler Simon Maris, nach Spanien. Da er sich dort nicht behaglich fühlte, kehrte er schnell in seine Heimat zurück. Er konnte in Spanien nichts malen – zu verschieden war das Licht im Vergleich zu seiner Heimat. 1904 lebte er zurückgezogen in Uden, wo er sich vermehrt mit der Theosophie auseinandersetzte, ein Prozess, der bis an sein Lebensende dauern sollte. Im Jahr 1905 bezog Mondrian sein erstes Atelier in Amsterdam, wo er bis 1908 hauptsächlich naturalistische Arbeiten sowie wissenschaftliche Zeichnungen für die Universität Leiden anfertigte. 1908 bezog er eine Wohnung in Domburg auf Walcheren in Zeeland, wo er bis 1910 die Sommermonate verbrachte. Er wurde, neben Jan Toorop und Jan Sluijters, in den Vorstand des von dem niederländischen Maler und Kunstkritiker Conrad Kickert 1910 gegründeten Moderne Kunstkring berufen, der bis 1916 bestand. 1909 trat Mondrian der Theosophischen Gesellschaft in Amsterdam bei. Der Tod seiner Mutter im selben Jahr verstörte ihn, und seine Farbpalette wechselte von hellen, fröhlichen zu düster leuchtenden Farben. Im Juni 1911 fuhr er für zehn Tage nach Paris, vermutlich, um die folgende Ausstellung des Modernen Kunstkrings vorzubereiten. Eine im Herbst erfolgte Verlobung mit Greet Heybroek löste er wieder auf. Vom 6. Oktober bis zum 5. November 1911 fand die erste Ausstellung des Modernen Kunstkrings im Stedelijk Museum in Amsterdam mit insgesamt 166 Exponaten statt, darunter befanden sich 93 Werke ausländischer Künstler. Sie stellte eine Ehrung Paul Cézannes dar und zeigte von ihm 28 Werke, ferner Arbeiten von Georges Braque, Pablo Picasso, André Derain, Raoul Dufy und anderen modernen Künstlern. Mondrian zeigte sechs Werke, darunter Evolution und Die rote Mühle. Erster Aufenthalt in Paris (1911–1914) Durch die Ausstellung kam Mondrian mit dem Kubismus in Berührung und schloss sich diesem neuen Kunststil an. Er verließ seine Heimat und zog, im Alter von fast 40 Jahren, Ende Dezember 1911 nach Paris. Dort stellte ihm Conrad Kickert, der als Korrespondent bei der niederländischen Wochenzeitschrift De Groene Amsterdammer tätig war, sein unmittelbar am Bahnhof Montparnasse in der ersten Etage gelegenes Atelier auf der Rue du Départ 26 zur Verfügung. Hier, auf der Rue du Départ, lebte und arbeitete Piet Mondrian – mit Unterbrechungen durch den Ersten Weltkrieg – bis zum Januar 1936. Einer seiner Ateliernachbarn war der mexikanische Maler Diego Rivera. Mondrian, der von nun an außerhalb der Niederlande seinen Namen nur noch mit einem A schrieb, verkehrte in Künstlerkreisen, die sich in den Cafés La Coupole und Café du Dôme trafen, und war Teilnehmer an Soiréen, die beispielsweise von Kickert 1912 und 1913 ausgerichtet wurden. Dort traf er Künstler wie Fernand Léger, mit dem ihn eine lang andauernde Freundschaft verband. Georges Braque und Pablo Picasso, seine malerischen Vorbilder, suchte er jedoch nicht auf. Wie deren kubistische Bilder waren Mondrians erste Pariser Gemälde in Grau, Braun und Schwarz gehalten. Ein Beispiel ist Der graue Baum. 1912 war er mit Werken an der Sonderbund-Ausstellung in Köln und 1913 am Ersten Deutschen Herbstsalon in Berlin und am Salon des Indépendants, Paris, beteiligt. Rückkehr in die Niederlande (1914–1919) Im Juli 1914 hielt Mondrian sich in den Niederlanden auf, vermutlich, um seinen erkrankten Vater zu besuchen. Eine Rückkehr nach Paris war aufgrund des hereinbrechenden Ersten Weltkriegs nicht mehr möglich, obgleich die Niederlande dem Krieg neutral gegenüberstanden, und so suchte und fand er Anschluss an die wohlhabenden Kreise Amsterdams. Der Kunsthistoriker H. P. Bremmer, der die Industriellenfamilie Kröller-Müller bei ihrer Künstlerförderung beriet, setzte ihm ein Jahresgehalt aus, das er nur bis 1919 erhielt. Seine radikal gewordene Abstraktion gefiel den Sammlern nicht mehr. 1916 zog Mondrian nach Laren, wo er sich der Künstlergruppe Larener Schule anschloss. In diesem Jahr machte Mondrian Bekanntschaft mit dem Mathematiker und Theosophen M. H. J. Schoenmaekers (1875–1944), der den Begriff des Stils als „Das Allgemeine trotz des Besonderen“ definierte, und dessen „vulgärphilosophische“ Werke Het Geloof van den nieuwen mensch (Der Glaube an den neuen Menschen) und Het nieuwe wereldbeeld (Das neue Weltbild) Mondrian während seiner Theosophiestudien las. Mondrian entlehnte einen großen Teil von Schoenmaekers’ äußerst klarer Terminologie für seine in „De Stijl“ veröffentlichten Aufsätze und verdankte ihm den Hauptterminus „nieuwe beelding“, der in Deutschland nur sehr schlecht mit „neue Plastik“ oder „Neo-Plastizismus“, anstatt mit „neue Gestaltung“, übersetzt wird. Mondrian war im Jahr 1917 Gründungsmitglied der Gruppe De Stijl mit Sitz in Leiden; zu ihnen gehörten beispielsweise die Maler Bart van der Leck und Theo van Doesburg sowie der Architekt J. J. P. Oud. In der gleichnamigen Zeitschrift begann er einen größeren Aufsatz über „Die neue Plastik in der Malerei“ zu verfassen. In den kommenden drei Jahrgängen der Zeitschrift trat er sowohl durch den Umfang seiner Texte, als auch durch seinen Einsatz als wichtigster Mitarbeiter in Erscheinung. Mondrian war es durch seinen Aufsatz ab 1917 als erstem gelungen, an einer Entwicklung einer neuen plastischen Ausdrucksweise zu arbeiten und dies „durch eine Weiterführung des Kubismus zur Verwirklichung“ einer „neuen Plastik in der Malerei.“ Zweiter Aufenthalt in Paris (1919–1938) Nach Ende des Ersten Weltkriegs kehrte Mondrian im Februar 1919 nach Paris zurück. Sein Atelier fand er unverändert vor, die zurückgelassenen Bilder befanden sich noch an ihrem Platz. Doch die Kunstszene hatte sich verändert. Unter anderem war Picasso zu einer gegenständlicheren Malerei zurückgekehrt. Mondrian war mit seiner abstrakten Malerei zum modernsten Maler in seinem Umfeld geworden. Auf den Triumph folgte Niedergeschlagenheit aufgrund der mangelnden Anerkennung seiner Kunst und der fehlenden finanziellen Unterstützung H. P. Bremmers. Mondrian fasste den Plan, Paris zu verlassen und als Arbeiter im Weinanbau in Südfrankreich zu arbeiten. Doch er fand neue Unterstützung bei niederländischen Künstlerfreunden wie Salomon B. Slijper und malte Blumenbilder in großer Zahl, die seinen Lebensunterhalt sicherten. In seinem Atelier stellte er ein kleines Objekt auf, eine künstliche Blume, deren Blätter er weiß angestrichen hatte. Sie stellte nach eigener Aussage die fehlende Frau in seinem Leben dar, das er ganz der Kunst widmen wollte. Niederländer protestantischen Glaubens pflegten an ihren Hauseingängen Blumenbilder mit biblischen Sinnsprüchen anzubringen, was ihn möglicherweise inspirierte; die Symbolik der Blume stimmte jedoch nicht mit seiner abstrakten Kunst überein. Im Verlag L’Effort Moderne von Léonce Rosenberg erschien 1920 Mondrians Schrift Le Néo-Plasticisme. Ein Exemplar übersandte er 1921 mit einem Brief an Rudolf Steiner, den Begründer der Anthroposophie, doch er bekam zu seiner Enttäuschung keine Rückmeldung. 1925 erschien sie als Übersetzung in den von Walter Gropius herausgegebenen Bauhausbüchern als Nummer 5 unter dem Titel Neue Gestaltung, Neoplastizismus, Nieuwe Beelding. Mondrian trat 1925 aus der De-Stijl-Bewegung aus. Der Grund war nicht der Streit mit van Doesburg über den Einsatz von Diagonalen in Kunstwerken, wie es gelegentlich beschrieben wird, vielmehr war der Anlass ihre unterschiedlichen Auffassungen über den Raum und deren Formen in der Architektur. 1926 empfing Mondrian Katherine Sophie Dreier, die dem Künstler ein größeres rhombisches Bild abkaufte, das noch im selben Jahr auf der internationalen Ausstellung der Société Anonyme in Brooklyn gezeigt wurde. In den folgenden Jahren kam sie des Öfteren nach Paris, um weitere Bilder Mondrians vom Künstler zu erwerben. Ebenfalls im Jahr 1926 entwarf Mondrian Pläne für das abstrakte Design der Bibliothek von Ida Bienert, einer Kunstsammlerin, in Dresden-Plauen und die neoplastische Bühnendekoration für das Theaterstück L’Ephémère est éternel von Michel Seuphor. Mondrian hatte Seuphor – seinen späteren Biografen – Mitte Mai 1923 kennengelernt. 1927 veröffentlichte Mondrian einen Artikel über neue Architektur, die in der von dem Anarchisten Arthur Lehning herausgegebenen Avantgarde-Zeitschrift i10 erschien. Im April 1930 stellte er in der ersten und einzigen Ausstellung der von Seuphor 1929 gegründeten Künstlervereinigung Cercle et Carré aus, die insgesamt aus 80 Mitgliedern bestand. 1931 wurde Mondrian Mitglied der anschließend gegründeten Gruppe Abstraction-Création, die bis zum Jahr 1937 bestand. In seinem Pariser Atelier empfing Piet Mondrian Ende des Jahres 1934 zwei Künstler, die an seinem Werk interessiert waren. Zunächst suchte ihn der britische Maler Ben Nicholson auf, anschließend der 22-jährige US-Amerikaner Harry Holtzman aus New York. Sie wurden enge Freunde, und Mondrian setzte Holtzman später als seinen Alleinerben ein. Im März 1936 bezog der Künstler ein neues Atelier auf dem Boulevard Raspail Nr. 278, da das Gebäude in der Rue du Départ abgerissen wurde – dort steht heute der Tour Montparnasse. Nachdem sein Werk bereits in Gruppenausstellungen in London und Oxford gezeigt worden war, konnte das US-Publikum erstmals eine größere Auswahl von Mondrians Arbeiten in der Ausstellung Cubism and Abstract Art des Jahres 1936 betrachten, das vom Museum of Modern Art ausgerichtet worden war. In der Münchner Ausstellung Entartete Kunst 1937 gehörte er zu den wenigen Ausländern, deren Werk als „entartet“ diffamiert wurde; gezeigt wurde eine Komposition aus dem Landesmuseum Hannover. Letzte Jahre in London und New York (1938–1944) Im Jahr 1938, mit den ersten Anzeichen eines kommenden Krieges, reiste Mondrian auf Einladung von Ben Nicholson am 21. September nach London und bezog eine Wohnung in der Park Hill Road Nr. 60 in Hampstead. Sein Atelier war ein großes Zimmer im Zwischengeschoss des Backsteinhauses, unter dem sich Nicholsons Atelier befand. Ein wenig entfernter – jenseits eines durch den Garten führenden Fußwegs – lag das Atelier von Barbara Hepworth, die wenig später Nicholsons Ehefrau wurde. Kurz vor dem Ausbruch des Zweiten Weltkriegs zog das Ehepaar nach St Ives in Cornwall und bot Mondrian an, sich ihnen anzuschließen, was er ausschlug. Im Oktober 1940 emigrierte er nach dem deutschen Angriff auf London im September des Jahres mit der Unterstützung von Harry Holtzman in die USA. Er schloss sich in New York den Künstlern der abstrakten Kunst an, die sich in der 1936 gegründeten American Abstract Artists vereint hatten, und publizierte Aufsätze über den Neoplastizismus. Die Kunstkritikerin und Malerin Charmion von Wiegand redigierte seine Schriften. Sie hatte ihn am 12. April 1941 interviewt und schrieb noch am selben Tag in ihr Tagebuch: Seine erste Einzelausstellung in den Vereinigten Staaten fand im Januar und Februar 1942 in der Valentine Dudensing Gallery in New York statt. Es folgte im März des Jahres die Gemeinschaftsausstellung Artists in Exile in der Gallery Pierre Matisse. Ein Foto zeigt Mondrian neben 13 weiteren Künstlern wie Marc Chagall, Max Ernst, Fernand Léger, Roberto Matta, Kurt Seligmann und Yves Tanguy sowie dem Schriftsteller André Breton. Pierre Matisse bezeichnete Mondrian in einem Brief an seinen Vater Henri Matisse als den „Heiligen der Abstraktion“. In einer Ausstellung von Peggy Guggenheims Galerie Art of This Century im Jahr 1943 beeinflusste Mondrian Jackson Pollocks künstlerischen Erfolg. Mondrian war zu dieser Zeit Mitglied der Jury in Guggenheims Frühjahrssalon und es kam zu freundschaftlichen Beziehungen mit den französischen Surrealisten, insbesondere zu André Breton und Max Ernst. Jimmy Ernst, Sohn von Max Ernst und Sekretär in Guggenheims Galerie, beschrieb, dass sich Guggenheim erst negativ über Pollocks eingereichtes Werk Szenographic Figure mit abstrakten und halbabstrakten Formen geäußert habe. Als Mondrian das Bild als das aufregendste Gemälde, das er je gesehen habe, bezeichnete, habe sie ihre Meinung geändert und wurde zur Förderin von Pollocks Werk. Im Januar 1944 erkrankte Piet Mondrian an einer akuten Lungenentzündung. Am 26. Januar brachte ihn Harry Holtzman in das New Yorker Murray Hill Hospital in der 40th Street East; dort verschlechterte sich sein Zustand bis zum 31. Januar zusehends. Am folgenden Tag starb Mondrian im Alter von 71 Jahren. Sein Grab liegt auf dem Cypress Hills Cemetery in Brooklyn. Die Freunde Fritz Glarner und Harry Holtzman machten Serien von Fotografien und drehten einen Film über sein Studio in New York. Ein Jahr später richtete das Museum of Modern Art in New York die erste postume Retrospektive des Künstlers aus. Werk Frühwerk Zu Beginn von Mondrians Schaffen malte er noch impressionistisch beeinflusste Landschaften seiner niederländischen Heimat wie Bäuerliche Szenerie mit St.-Jacobskirche (1899) und folgte so der heimischen Haager Schule. Das Porträt eines Kindes um 1900 erinnert an die religiösen Albumbilder der Zeit, die als Devotionalien gehandelt wurden. Es folgten Bilder mit neoimpressionistischem und symbolistischem Einfluss wie Passionsblume (1901/08), bevor er nach der Übersiedlung nach Paris ab Ende 1911 den Kubismus reflektierte und zunehmend die gegenständliche Malerei hinter sich ließ. Das Gemälde Mühle im Sonnenlicht: Die Winkeler Mühle aus dem Jahr 1908 zeigt beispielsweise Mondrians Auseinandersetzung mit einem traditionellen holländischen Motiv. Das Bild ist vom Fauvismus beeinflusst und orientiert sich an Vincent van Gogh. Die Mühle, im Gegenlicht vor gelbblauem Hintergrund präsentiert, ist mit roten und blauen Strichen gemalt, wobei die roten die blauen Striche zum Teil überdecken. Die Anwendung pointillistischer Maltechnik wird als Mittel eingesetzt, um die Form zu entmaterialisieren, und die Bezugnahme auf den Fauvismus in der Farbgebung dient dazu, die Wirklichkeit noch mehr zu abstrahieren. Mit der Darstellung dreier unbekleideter abstrahierter Frauen im Triptychon Evolution, sein Hauptwerk des Jahres 1911, die die „drei Stufen der Erkenntnis“ zeigen, werden die religiösen und moralischen Ansichten Mondrians nach seinem Studium der Theosophie (Göttliche Weisheit) zum Ausdruck gebracht. Die Frauengestalten sind männlichen Streitern für Gott im Heiligen Krieg nachgebildet. Das Thema ist die Entstehung des Neuen durch den Verzicht auf sinnliche Erfahrung. Die biologische Evolution soll durch eine rein geistige Entwicklung ersetzt werden. Das Publikum kritisierte es als „kalt und leer.“ Kubismus Während der zwei Jahre und sieben Monate, die Piet Mondrian von Ende Dezember 1911 bis Juli 1914 in Paris verbrachte, schloss er sich dem Kubismus von Georges Braque und Pablo Picasso an und vermied den koloristischen Kubismus Fernand Légers und Robert Delaunays. Es entstanden beispielsweise 1911 und 1912 Der graue Baum, Komposition in Grau-Blau, Akt sowie die zweite Fassung von Stillleben mit Ingwertopf. 1913 beteiligte er sich in Paris am 29. Salon des Indépendants, wo er ein Jahr später wiederum ausstellte. Mondrian kritisierte am Kubismus jener Zeit, dass die Maler nicht die logische Konsequenz aus ihren eigenen Entdeckungen ziehen wollten und den dreidimensionalen Raum beibehielten. Diese zutiefst naturalistische Auffassung des Kubismus als Abstraktion löste Mondrian auf, indem er den Raum zerstörte, indem er Flächen benutzte und in eine streng rechteckige Form umwandelte. Das Häusergewirr von Paris inspirierte ihn ab 1913, in die kubistischen Bilder Alltagserfahrungen einzubringen. Die Schönheit einer Brandmauer stellte er 1914 in Komposition Nr. VI dar, in dem schwarze kubistische Linien das in hellblau und ockerfarben gemalte Motiv spielerisch auflösen. Ein Jahr später, als er Paris verlassen hatte, fertigte er mehrere Zeichnungen an, in denen er den Rhythmus des Meeres, ein Thema, das ihn seit 1909 begleitete, zu interpretieren versuchte und malte die Komposition 10 in Schwarzweiß, auch Sternen- oder Weihnachtsnacht genannt, das als Motiv ein schwarzes, abstraktes Linienmuster bildet. Im Gegensatz zu Delaunays Fensterbildern, die eine Formen- und Farbenvielfalt aufweisen, wählte Mondrian aus den im kubistischen Stil vorliegenden Möglichkeiten die Gleichförmigkeit und die Leere. Neo-Plastizismus Während sich die Künstler der 1917 gegründeten De-Stijl-Gruppe alsbald schon anderen Kunstrichtungen zuwandten, blieb Mondrian den Grundgedanken dieser Bewegung verbunden, indem er diese nach und nach zu vertiefen begann. Er fasste sie – nach Aufsätzen in der Zeitschrift De Stijl – erstmals 1920 in der Schrift Le Néo-Plasticisme: principe général de l’équivalence plastique zusammen. In Deutschland erschien die Schrift 1925 unter dem Titel Neue Gestaltung. Neoplastizismus. Nieuwe Beelding. Die in den Jahren 1916 und 1917 entstandenen Gemälde aus kleinen horizontalen wie vertikalen Strichen vollendeten das Meeresthema und das des Motivs der Gerüste, wie in Komposition aus dem Jahr 1916 oder Komposition mit Linien von 1917. 1918 und 1919 entstanden die ersten Kompositionen in rhombischem Format, wie bei Gitterkomposition 3: Rautenkomposition und Gitterkomposition 5: farbige Rautenkomposition, die Aufteilung der Linien wurde asymmetrisch, wobei Bilder wie Helle Farbflächen mit grauen Konturen, Komposition in Grau, Rot, Gelb und Blau sowie Komposition mit Rot, Blau und Grün eine gewisse Zaghaftigkeit in der Verwendung kräftiger Farben aufweisen. Hatte Mondrian von 1908 bis 1911 bereits in den Primärfarben Rot, Gelb und Blau gemalt, diese ausschließliche Farbgebung wieder aufgegeben zugunsten gebrochener Töne wie Gelbgrün und Orange, kehrte er ab 1921 zu ihnen zurück. Sie werden bis in die Gegenwart als typisch für Mondrian angesehen. Grundfarben An seine Bilder koppelte Mondrian ein Weltbild, das aus Geistesströmungen des späten 19. und frühen 20. Jahrhunderts, insbesondere der Theosophie, abgeleitet ist. Hinter den wechselhaften Erscheinungen der uns umgebenden Welt gäbe es eine wahrere Wirklichkeitssphäre, die durch Übung erkennbar sei. Sie sei eine Art Vorbild für ein gutes Leben, eine ordentlich gestaltete Welt. Die Analogie zwischen Bild und reiner, idealer Wirklichkeit ist, dass es keine „tragischen, eitlen“ Formen gibt (etwa Flächen vor einem Hintergrund, unreine Farben, Mischfarben also), sondern alles in der gleichgewichtigen Gestalt gelöst ist. Der rechte Winkel sei die „einzige konstante Verwandtschaft zur reinen Realität“ und wechselnde Proportionen repräsentieren durch ihre Bewegung das Leben. Die Primärfarben sind die Abstraktion von der ersten, uns umgebenden Welt und wurden von Rudolf Steiner als die Glanzfarben des Geistigen, Seelischen und Lebendigen bezeichnet, das Weiß als das seelische Bild des Geistes und Schwarz als das geistige Bild des Toten. Die Primärfarben Rot, Gelb und Blau sowie die Nicht-Farben Schwarz, Weiß und Grau tauchen in Mondrians Bilder ab etwa 1921 auf. Diese werden durch senkrechte schwarze Linien und den ihnen anliegenden rechtwinkligen Farbflächen in den betreffenden Primärfarben, die an den Streifen anliegen, betont. Die verbleibenden Zwischenräume sind Weiß. Farblinien und Rechtecke sind nie symmetrisch angeordnet, sondern ungleichförmig rhythmisch und dynamisch komponiert. So erscheint durch die formalen Gegensätze der horizontalen und vertikalen schwarzen Linien sowie der durchgehend orthogonalen Bildstruktur eine Farbfläche stets als Kontrast zu den anderen farbigen und nichtfarbigen Flächen. Obwohl untrennbar an den schwarzen Linien anliegend, werden sie jedoch niemals weder in den Hintergrund noch in den Vordergrund gebracht, da durch das gemeinsame Zusammenspiel von Flächen und Linien einerseits und der Kontrastbeziehung andererseits, jegliche Raum- und Tiefenwirkung aufgelöst wird. Rechter Winkel Piet Mondrians „Landschaften“ beruhen, da er sich selbst immer noch als Landschaftsmaler ansah, nur eben ausgedrückt in einer reinen Realität, die hinter der vordergründig erscheinenden Realität verborgen bleibt, auf der natürlichen Beziehung der Gleichgewichte von Horizontale und Vertikale. Im rechten Winkel erkannte Mondrian ein universelles Symbol, nämlich die Vertikale des aufrecht auf der horizontalen Erde stehenden Menschen. Überall, wo diese darin enthaltene Polarität in unserer Welt auftritt, erzeugt sie Spannungen, die zu einem Ausgleich drängt. Mann und Frau, Geist und Materie, Apollinisches und Dionysisches sind Polaritäten, die im okkulten Sinn wieder zur Kreuzesform werden, und, nach Diether Rudloff, „allem Christlichen, allem Menschlichen zugrunde liegt.“ So schrieb Mondrian: „Da sich das männliche Prinzip in der vertikalen Linie ausdrückt, wird ein Mann dieses Element in den zur Höhe strebenden Bäumen eines Waldes erkennen. Seine Ergänzung wird er in der horizontalen Linie des Meeres sehen. – Die Frau wird sich eher in der hingestreckten Linie des Meeres wiedererkennen und ihre Ergänzung in den vertikalen Linien des Waldes sehen, die das männliche Prinzip verkörpern.“ Seine Bilder bestehen also aus simplen farbigen Flächen in Quadraten und Rechtecken, wobei eine äußerste Vereinfachung und Reduktion der sinnlich erfahrbaren Welt stattfindet und ein Gleichgewicht zwischen Individuellem und Universellen geschaffen werden soll, wie Piet Mondrian 1918 im ersten Manifest der de-Stijl-Bewegung schrieb. Spätwerk in New York Die schwarzen Linien der 17 aus Europa mitgebrachten Bilder aus den Jahren 1935 bis 1940 wie Place de la Concorde (1938–1943) – sie werden als transatlantische Bilder bezeichnet  – kombinierte Mondrian nach seiner Ankunft in New York im Jahr 1940 mit farbigen Linien. Die schwarzen Streifen wie im neu begonnenen Gemälde Broadway Boogie Woogie (1942/43) und dem rautenförmigen Victory Boogie Woogie (1942–1944) lockerte er mosaikartig in die Primärfarben auf, wodurch sich der Eindruck von Rhythmus und Bewegung wesentlich steigert. Dies war ihm möglich geworden durch die amerikanische Erfindung des farbigen Klebebands in Form von gummierten Papierstreifen, die es ihm in den vorbereitenden Skizzen ermöglichten, sie so lange hin- und herzuschieben, bis die gewünschte Position erreicht war. Eine der erhaltenen Skizzen mit den Streifen ist New York City I aus dem Jahr 1942. Broadway Boogie Woogie bezieht sich im Titel auf den Broadway, eine Avenue in seiner neuen Heimat, dem New Yorker Stadtteil Manhattan. Das Raster des Bildes zeigt das gradlinige, wie mit dem Lineal gezogene Straßenbild auf. Der ebenfalls im Titel genannte Boogie-Woogie ist eine Klaviermusik, die aus dem Jazz entstanden ist und den Jazzfreund und begeisterten Tänzer inspiriert hatte. Victory Boogie Woogie hinterließ er unvollendet in seinem Atelier. Der Titel weist vermutlich ebenso auf den erwarteten Sieg der Alliierten im Zweiten Weltkrieg hin wie auf Mondrians Überwindung der früheren strengen Kompositionen zugunsten der neuen musikalischen Rhythmisierung des Motivs. Mondrians Ateliers Mondrian führte seine Theorie konkret aus, indem er seinen täglichen Lebensraum, das Atelier, seinen Raumprinzipien entsprechend anordnete. Als Mondrian 1919 nach Paris zurückkehrte, bezog er wieder Kickerts Atelier in der Rue du Départ Nr. 26 im ersten Stock. Nach einigen Monaten musste er es verlassen, da Kickert wieder nach Paris gezogen war und bezog zunächst ein Atelier in einem Hinterhaus der Rue Coulmier, bevor er 1921 in die Rue du Départ zurückkehren konnte, da ein Atelier im selben Haus frei geworden war. Sein neues Wohnatelier lag auf der dritten Etage, erreichbar über eine dunkle Wendeltreppe. Durch ein System von Vorhängen, hinter denen sich ein kleiner Schlafraum, der zudem als Küche diente, befand, gelangte der Besucher in das Atelier. Dieses bestand aus einem großen, hellen und hohen Raum, dessen Mauern weiß bemalt und stellenweise von großen, roten, weißen und grauen Pappflächen bedeckt waren, und die eine Anordnung wie die seiner Bilder aufwiesen. Mit Hilfe eines großen schwarz gestrichenen Schranks, vor dem eine ungenutzte Staffelei stand, hatte Mondrian den Raum unregelmäßig aufgeteilt. Eine zweite Staffelei war gegen die Rückwand des Raumes gestellt. Sie war weiß gestrichen und diente Mondrian dazu, die fertigen Bilder auf ihre Wirkung hin zu prüfen. Vor einem auf die Rue du Départ weisenden Fenster stand ein Tisch, an dessen Unterseite sich ein weißes, festgenageltes Wachstuch befand. Des Weiteren standen in Mondrians Atelier zwei weiß gestrichene weidengeflochtene Sessel, und auf dem Fußboden lagen ein roter und ein grauer Teppich. Für die Besucher des Künstlers war der Mikrokosmos des Ateliers ein Erlebnis. Im Jahr 1930 besuchte Alexander Calder Piet Mondrian in seinem Atelier, das ihn durch seine Gestaltung mit farbigen geometrischen Formen so beeindruckte, dass er seinen figurativen Stil änderte und die Mobiles zu schaffen begann. Bekannte zeitgenössische Fotografen wie André Kertész, Rogi André und Florence Henri fotografierten es, und ihre Bilder wurden in Kunstzeitschriften in der ganzen Welt veröffentlicht. Das Centre Pompidou zeigte in der Ausstellung Mondrian/De Stijl zum Jahreswechsel 2010/11 eine Rekonstruktion des Ateliers in der Rue du Départ. Ab Oktober 2012 bis Februar 2013 war es neben anderen Ateliers, die beispielsweise auf Gemälden von Giacometti, Matisse und Picasso das Bildthema bilden, in der Ausstellung „Mythos Atelier“ in der Staatsgalerie Stuttgart präsent und 2014 zum 70. Todesjahr in der Tate Liverpool. Während der drei Jahre und vier Monate, die Mondrian in New York lebte, fand er Unterkunft in zwei Wohnungen. Die erste lag an der 56th Street, Nr. 535 East, Ecke First Avenue, die zweite in der 59th Street, Nr. 15 East. Diese zweite Wohnung lag auf der vierten Etage und bestand aus einer Küche und zwei Zimmern, von denen Mondrian eines als Atelier nutzte, das zweite diente als Schlafzimmer. In dem fast leeren Atelier standen eine Staffelei und zwei hölzerne Lattengestelle, von denen eines als Ablage für die Paletten diente und das andere für die Lagerung der Farben. Auf den weiß gestrichenen Wänden waren Quadrate in reinen Farben verteilt (als Wallwork bezeichnet), deren Komposition an Arbeiten aus den Jahren 1917/18 erinnerten. Auch sein letztes Atelier wurde mehrfach auf Ausstellungen gezeigt, als Installation war es 2007 im Rahmen der Ausstellung Raum. Orte der Kunst in der Akademie der Künste in Berlin zu sehen. Schriften Mondrians schriftliches kunsttheoretisches Hauptwerk über den Stil des Neoplastizismus ist die 1920 veröffentlichte Schrift Le Néo-Plasticisme, veröffentlicht im Verlag L’Effort Moderne von Léonce Rosenberg. 1925 erschien sie als Übersetzung in den von Walter Gropius herausgegebenen Bauhausbüchern als Nummer 5 unter dem Titel Neue Gestaltung, Neoplastizismus, Nieuwe Beelding. Außer Mondrian und Theo van Doesburg aus der De-Stijl-Gruppe waren an diesen Publikationen unter anderem Albert Gleizes, Wassily Kandinsky, Paul Klee und Kasimir Malewitsch beteiligt. In seinem Aufsatz Die Kunst und das Leben aus dem Jahr 1931 spricht Mondrian davon, dass die Harmonie, die der Künstler in der Horizontale und Vertikale seiner Bilder verbildlicht sah, ihr Endziel aller Entwicklung noch nicht erreicht habe. Dies, da „ihr inneres und äußeres Gleichgewicht eine immerwährende Störung durch den charakterlosen und egozentrischen Individualismus erfährt.“ Dieses Ungleichgewicht des Lebens bringt nach Mondrian eine tiefe Tragik in das Leben, und nur die Kunst sei in der Lage, diese Harmonie und dieses Gleichgewicht darzustellen. Nach Mondrian ist Kunst „nur so lange ein Ersatzmittel, wie die Schönheit des Lebens mangelhaft ist. Sie wird im gleichen Verhältnis verschwinden, wie das Leben Gleichgewicht erhält.“ Mondrian nimmt in seinen Bildern die Zukunft vorweg, in der Realität muss die Zukunft dies erst noch leisten – das Kunstschaffen wird in Zukunft ersetzt durch die Verwirklichung des rein plastischen Ausdrucks in handgreifliche Realität. Bilder und Skulpturen werden dann nicht mehr benötigt, denn erst dann, so Mondrian, werden wir in verwirklichter Kunst leben. 1937 veröffentlichte Ben Nicholson Mondrians ersten Essay auf Englisch unter dem Titel Plastic Art and Pure Plastic Art in der Publikation Circle, deren Mitherausgeber Nicholson war. 1941 schrieb Piet Mondrian das als Autobiografie ausgegebene und in Prosa gehaltene Stück Toward the True Vision of Reality (Auf dem Weg zum wahren Blick auf die Wirklichkeit). Mondrian, der seit 1914 davon ausging, dass in der abstrakten Malerei das Wesen der Welt besser zu erfassen sei als in einer naturalistischen Darstellungsweise, beschreibt hierin, vermittels seines „wahren Blicks“, den der Künstler zeitlebens aus seinem Atelierfenster warf, „im Rückblick sein Leben so, als hätte er seit seiner Geburt im Atelier gelebt“, ein von ihm so nie gelebtes Leben, „das er zum Kunstwerk und zur imaginären Quelle seiner Kunst“ machte. Kunst als Religion Für Mondrian war, obwohl er bis zu seinem Tod Mitglied der Theosophischen Gesellschaft war, der Neoplastizismus eine neue Religion, die letztlich die traditionellen Religionen ersetzen würde. Es sah ihn „als ein millenaristisches religiöses Projekt, um die ganze Gesellschaft zu verwandeln. Er glaubte […], dass der Neo-Plastizismus letztendlich die alten Formen von Staat, Religion und Familie zerstören und neue, einfachere und bessere erschaffen würde.“ („Mondrian saw Neo-Plasticism as millenarian religious project for transforming the whole of society. He believed that Neo-Plasticism would end up destroying the old forms of state, religion and family and creating new, simpler and better ones.“) Rezeption Mondrians Einfluss auf die Künste Zu den von Mondrian inspirierten zeitgenössischen Künstlern gehörten die Maler oder Bildhauer Josef Albers, Alexander Calder, Burgoyne Diller, Theo van Doesburg, Fritz Glarner, Harry Holtzman, Ben Nicholson, Charmion von Wiegand, die seine in den Vereinigten Staaten geschriebenen Texte redigierte, sowie der Architekt Alfred Roth. Der Bauhausmeister Oskar Schlemmer, Maler, Bildhauer und Bühnenbildner, bezeichnete ihn als den „eigentlichen Gott des Bauhauses“. Die Minimal Art der 1960er Jahre mit Vertretern wie Ellsworth Kelly und Frank Stella weist ebenfalls auf Einflüsse Mondrians wie auch Malewitsch’ hin. Die Lichtinstallation greens crossing greens (to Piet Mondrian who lacked green) von Dan Flavin aus dem Jahr 1966 ist Mondrian gewidmet, der nicht nur Grün, sondern auch die anderen Komplementärfarben Violett und Orange mied. Flavins Werk ist im Solomon R. Guggenheim Museum in New York ausgestellt. Barnett Newman schuf zwischen 1966 und 1970 vier Gemälde mit dem Titel Who’s Afraid of Red, Yellow and Blue. Ein Beispiel für einen Künstler der 1990er Jahre ist Imi Knoebel, dessen vierteilige Installation von 1997, ROT GELB WEISS BLAU 1–4, sich im Veranstaltungsfoyer des Marie-Elisabeth-Lüders-Hauses des Deutschen Bundestags befindet. Im selben Jahr entstand Thomas Hirschhorns Installation Mondrian Altar, die 2011 anlässlich einer Ausstellung im Gedenken an den 11. September 2001 vom Museum of Modern Art in einer Straße auf Long Island, New York, neu aufgebaut wurde. In den Jahren 2001 bis 2003 schuf der britische Künstler Keith Milow eine Reihe von Gemälden, die auf Mondrians späten Stil zurückzuführen sind. Ein Gegner der abstrakten Kunst und insbesondere Mondrians war jedoch der österreichische Maler und Bildhauer Alfred Hrdlicka. Er schuf ab 1966 einen Radierzyklus mit dem Titel Roll over Mondrian. Er übernahm darin das ideal gedachte Ordnungsmuster und füllte die ihn mit ihrer „Leere“ provozierenden rechteckigen Felder in Schwarz auf Weiß mit seinen Themen über Sexus, Sadismus und Gewalt. Ein Beispiel ist das Blatt Karfreitag. In seiner literarischen Abhandlung Der letzte Zeichner: Aufsätze zu Kunst und Karikatur von 1999 meint der Dichter, Zeichner und Satiriker Robert Gernhardt, dass kein Künstler dieses Jahrhunderts bei solch durchschlagendem Erfolg so exemplarisch gescheitert sei wie „dieser Holländer“, da seine Bildsprache allgegenwärtig von der aktuellen Populärkultur adaptiert werde. Mit dem niederländischen Komponisten Jakob van Domselaer (1890–1960) führte Mondrian seit 1912 zahlreiche Gespräche über die Zukunft der Musik in Paris. 1916 wohnte Mondrian bei van Domselaer in Laren; im selben Jahr veröffentlichte dieser eine Folge von sieben Klavierstücken unter dem Titel Proeven van Stijlkunst, die von Bildern seines Malerfreundes inspiriert waren. Bei der Ausführung sollte das statische Element, die Harmonie, als Hauptsache behandelt werden, und die Bewegung, die Melodie, ruhig und trotz des Überwiegens des statischen Elements ungezwungen bleiben. Der Schweizer Komponist Hermann Meier arbeitete ab Mitte der 1950er Jahre mit großen, farbigen Plänen, die er „Mondriane“ nannte. Mondrian in der Architektur Die niederländische Künstlervereinigung De Stijl inspirierte das 1919 gegründete Bauhaus. Das von dem Bauhausgründer Walter Gropius geplante und 1925/26 errichtete Werkstattgebäude des Bauhauses Dessau mit seinem Design aus Stahl und Glas reflektiert Mondrians strenge einfache Linienkompositionen seiner Gemälde. Gropius wurde ein einflussreicher Architekt und Mitbegründer des Internationalen Stils der Architektur. Ferner regte Mondrians abstrakter geometrischer Stil die Form- und Namengebung von Gebäuden der Gegenwart an. In Vancouver, Kanada, wurde 2002 das Gebäude „The Mondrian“ errichtet. Es besteht aus zwei hohen Türmen, die 21 und 30 Stockwerke enthalten. Unter anderem hat hier die Vancouver Contemporary Art Gallery ihren Sitz. 2005 wurde das 20-stöckige Hochhaus „The Mondrian“ in Cityplace bei Oak Lawn in Texas fertiggestellt. 2011 folgte in Victoria in British Columbia, Kanada, ein 10-stöckiges Hochhaus, das Motive Mondrians aufweist und auch „The Mondrian“ genannt wird ebenso wie der in diesem Jahr entstandene Gebäudekomplex in Nürnberg. Mondrians Einfluss auf Mode und Konsum Im Jahr 1933 entwarf die Designerin Lola Prusac für Hermès Handtaschen, die Mondrians Motive aufgriffen. Der französische Couturier Yves Saint Laurent schuf ab 1965 Mondrian-Kleider mit den geometrischen Motiven Mondrians. Sie wurden häufig nachgeahmt. Je ein Exemplar gehört zum Bestand des Metropolitan Museum of Art in New York, des Rijksmuseum Amsterdam und des Victoria and Albert Museum in London. Das Museum für Angewandte Kunst in Köln zeigte 2010 die Ausstellung all-over Mondrian. Kunst + Konsum, in der dokumentiert wurde, wie sehr Mondrians Werk den Konsumalltag beeinflusst hat. Ein Beispiel ist eine Haarpflegeserie der Kosmetikfirma L’Oréal aus dem Jahr 1986. Im Zentrum der Schau stand das Mondrian-Gemälde Komposition mit Schwarz, Rot und Grau aus dem Jahr 1927. Dem Werk wurden Artikel wie Feuerzeuge, Sportkleidung, Damenschuhe und Duschtassen gegenübergestellt, die in grafischen Strukturen und Farben das Gemälde im Mondrian-Stil aufgreifen. „Die Konfrontation des Kunstwerks mit mehr oder weniger gelungenen Adaptionen in der Warenwelt schärfe den Blick für das bei Mondrian nur scheinbar simple Bildvokabular“, war eine Aussage des Museums. Mondrian, Malewitsch und Kandinsky Eine von der Fondation Beyeler 2003 von den Kuratoren Christoph Vitali und Markus Brüderlin initiierte Ausstellung mit dem Titel Mondrian + Malewitsch befasste sich mit einer Sammlungspräsentation beider abstrakter Maler. Sowohl Piet Mondrian als auch der russische Maler Kasimir Malewitsch, der 1915 erstmals sein Gemälde Das Schwarze Quadrat ausstellte, waren frühe Meister der geometrischen Abstraktion. Ein Vergleich der Werke beider Künstler, die sich nie begegnet sind und deren Werkläufe unterschiedlich waren, zeigt, dass ihre Kompositionen gänzlich verschiedene Systeme darstellen. Mondrians Lösung im Stil des Neoplastizismus basierte auf der Linie und Struktur. Malewitsch hingegen wählte die Fläche, sodass in seinen suprematistisch genannten Bildern die Einzelformen über dem weißen Untergrund zu schweben scheinen. Mondrian dagegen spannt alle Bildteile in ein dynamisches Gitternetz aus vertikalen und horizontalen Linien. Die Gitterstruktur und das Gleichgewicht innerhalb der Komposition erzeugen die Wirkung, dass kein Bildelement als Einzelform dargestellt wird und alle Teile in einer Ebene zu liegen scheinen. Einen anderen Weg ging der russische Maler Wassily Kandinsky, dessen Stil der expressiven Abstraktion zugerechnet wird, die sich nicht in geometrischen Formen ausdrückt. Er bezog jedoch seine malerischen Impulse wie Mondrian aus der Theosophie. Die drei Künstler werden als Pioniere des in den späten 1940er Jahren entstandenen amerikanischen Abstrakten Expressionismus gesehen. Mondrian-Software Mondrians reifer abstrakter Stil inspirierte die Computerspezialisten. So basiert die esoterische Programmiersprache Piet auf Mondrians Gemälden und wurde nach ihm benannt. Ferner gibt es eine Software zum Visualisieren statistischer Daten mit dem Namen „Mondrian“. Der „Mondrimat“ bietet das spielerische Gestalten von Bildern an, die auf dem Computer nach seinem Stil erzeugt werden können. Gedenken Kunstmuseum Den Haag 1971 erhielt das von dem Architekten Berlage entworfene Kunstmuseum Den Haag dank der guten Beziehungen seines damaligen Direktors Louis Wijsenbeek (1912–1985) testamentarisch vom Kunstsammler Salomon B. Slijper 124 Ölmalereien und 75 Zeichnungen Mondrians aus allen Schaffensperioden, allerdings schwerpunktmäßig aus seiner gegenständlichen Periode. Zusammen mit Werken, die bereits im Besitz des Museums waren, sowie später hinzugekommene, wie beispielsweise im Jahr 1998 Mondrians letztes, unvollendetes Gemälde Victory Boogie Woogie, eine Leihgabe des Netherlands Institute for Cultural Heritage, Amsterdam, besitzt das Museum gegenwärtig um die 300 Werke. Das Kunstmuseum ist damit zum Stammhaus von Mondrians Werk geworden und zeigt die Werke Mondrians in wechselnder Auswahl. Alle größeren Mondrian-Ausstellungen der letzten Jahrzehnte waren stark bestückt mit Leihgaben aus dem Kunstmuseum. Mondriaanhuis in Amersfoort Mondrians Geburtshaus an der Kortegracht 11 in Amersfoort wurde restauriert und ist seit 1994 das Museum Mondriaanhuis mit Bibliothek und Dokumentationszentrum. Es enthält eine Ausstellung, in der den Besuchern anhand einiger Werke die Entwicklungsphasen des Künstlers deutlich gemacht wird. Ferner ist das Pariser Atelier Mondrians aus der Zeit von 1921 bis 1936 als Nachbildung zu sehen. Zusätzlich werden Sonderausstellungen aus dem Bereich Moderne Kunst sowie Gegenwartskunst gezeigt. Villa Mondriaan in Winterswijk Mondrian lebte als Kind von 1880 bis 1892 in einem Haus in Winterswijk im Osten der Niederlande. Sein Vater war Lehrer an einer Schule im Nebenhaus. Hier lernte der junge Piet unter der Anleitung seines Vaters und seines Onkels das Zeichnen und Malen. Seit Mai 2013 beherbergt das Haus ein Museum für Mondrians „Winterswijker Zeit“. Die Zeichnungen und Gemälde Mondrians zeigen die Einflüsse zum Beispiel der zeitgenössischen Haager Schule. Zu sehen sind auch Werke von Verwandten Mondrians und von modernen Künstlern, die sich mit Mondrian auseinandergesetzt haben. Das Kunstmuseum in Den Haag unterstützt die Villa Mondriaan durch zahlreiche Leihgaben. Mondriaanmonument Das Mondriaanmonument, auch genannt Always Boogie Woogie, ist ein Piet Mondrian gewidmetes Denkmal in Winterswijk. Das 2006 errichtete Denkmal aus Kunststoff ist 3,5 m hoch und 4 m breit. Es zeigt auf einer Seite den Künstler horizontal vor einer im Mondrianstil ausgeführten Fläche nach dem Gemälde Komposition in Rot und Schwarz aus dem Jahr 1936 auf einem Stuhl sitzend. Die Rückseite nach einer Skizze Mondrians, Blick auf die St. Jakobskirche in Winterswijk, weist nur den Baum als Motiv daraus auf. Die Plastik ist monochrom weiß ausgeführt, aber nachts in den für Mondrian typischen Farben gelb, blau und rot beleuchtet. Das Werk wurde von den niederländischen Künstlern Dedden & Keizer (Albert Dedden und Paul Keizer) aus Deventer entworfen. Mondrian auf dem Kunstmarkt Im Mai 2015 wurde im New Yorker Auktionshaus Christie’s für das Gemälde Komposition Nr. III, mit Rot, Blau, Gelb und Schwarz für 50,6 Mio. Dollar (etwa 45 Mio. Euro) gezahlt. Zuvor führte das Gemälde Victory Boogie Woogie mit 37,2 Mio. Euro die Liste der teuersten Mondrian-Werke an. Der bisher höchste Preis für ein Mondrian-Werk wurde am 14. November 2022 bei Sotheby’s in New York erzielt. Der Hammer fiel bei 51 Millionen Dollar. Composition No. II aus dem Jahr 1930 ging an einen Bieter aus Asien. Nach dem Tod des Modeschöpfers Yves Saint Laurent, der zudem Kunstsammler war, fand durch das Auktionshaus Christie’s im Grand Palais, Paris, im Februar 2009 eine Versteigerung der Sammlung Yves Saint Laurents und seines Freundes Pierre Bergé statt, darunter waren drei abstrakte Werke Mondrians. Das Gemälde Composition avec bleu, rouge, jaune et noir (Komposition mit Blau, Rot, Gelb und Schwarz) aus dem Jahr 1922 wurde für 21,5 Mio. Euro versteigert. Das war zu diesem Zeitpunkt der höchste Preis, der für einen Mondrian auf einer Auktion gezahlt wurde. Composition avec grille 2 von 1918 erbrachte 14,4 Mio. Euro und Composition I von 1920 7 Mio. Euro. Zum 50. Jahrestag der Geschäftseröffnung von Yves Saint Laurent im Jahr 2011 wurde ein Kleid im Mondrian-Look für 30.000 Pfund (knapp 36.000 Euro) bei Christie’s in London versteigert. Auszeichnungen 1906: Willink-van-Collen-Preis, Amsterdam Am 16. Januar 2014 wurde der Asteroid (15468) Mondriaan nach ihm benannt. Ausstellungen (Auswahl) 1909: Stedelijk Museum, Amsterdam; zusammen mit Cornelis Spoor und Jan Sluijters 1911: Amsterdamer Künstlervereinigung „Moderne Kunstkring“ 1912: Sonderbund-Ausstellung, Köln 1913: Erster Deutscher Herbstsalon, Berlin 1913: Salon des Indépendants, Paris 1914: Kunsthandel W. Walrecht, Den Haag (Erste Einzelausstellung) 1922: Retrospektive anlässlich des 50. Geburtstags im Stedelijk Museum, Amsterdam 1923: de Stijl-Ausstellung, Paul Rosenberg, Paris 1930: Künstlervereinigung Cercle et Carré, Paris 1932: Retrospektive anlässlich des 60. Geburtstags im Stedelijk Museum, Amsterdam 1942: Valentine Dudensing Gallery, New York (Erste Einzelausstellung in den Vereinigten Staaten) 1942: Artists in Exile, Gallery Pierre Matisse. New York 1945: Museum of Modern Art, New York (Retrospektive) 1946: Gedächtnisausstellung, Stedelijk Museum, Amsterdam 1949: Les Premiers Maîtres de l’Art Abstrait, Galerie Maeght, Paris, unter der Schirmherrschaft des Musée de Grenoble, Grenoble 1955: documenta 1, Kassel 1959: documenta II, Kassel 1964: documenta III, Kassel 1971: Piet Mondrian 1872–1944, Centennial Exhibition, Solomon R. Guggenheim Museum, New York 1980: Mondrian. Zeichnungen, Aquarelle, New Yorker Bilder, Staatsgalerie Stuttgart, Stuttgart 1987: Mondrian. From figuration to abstraction, Kunstmuseum Den Haag, Den Haag 1995/6: Piet Mondrian: 1872–1944, Museum of Modern Art, New York 2003: Mondrian + Malewitsch, Fondation Beyeler, Riehen bei Basel 2005: Piet Mondrian – Retrospektive, Albertina, Wien 2007/08: Mondrian – vom Abbild zum Bild. Museum Ludwig, Köln 2010/11: Mondrian/De Stijl. Centre Pompidou, Paris 2011: Mondrian und De Stijl. Städtische Galerie im Lenbachhaus, München 2011–2014: Mondrian & De Stijl, Kunstmuseum, Den Haag, Dauerausstellung 24. September 2011 bis 1. Januar 2014 2012: Mondrian || Nicholson: In Parallel, Courtauld Gallery, London 2012/13: Inventing Abstraction, Museum of Modern Art, New York 2014: Mondrian. Farbe, Bucerius Kunst Forum, Hamburg, 1. Februar bis 11. Mai 2014; anschließend Turner Contemporary, Margate/Kent 2014: Mondrian and his Studios, Tate Liverpool 2015: Piet Mondrian. Die Linie, Martin-Gropius-Bau, Berlin 2017: The Discovery of Mondrian. Amsterdam/Paris/London/New York, Kunstmuseum Den Haag, 3. Juni bis 24. September 2017. Katalog auch in deutscher Sprache. 2018/19: Piet Mondrian – Natur und Konstruktion, Museum Wiesbaden, 26. Oktober 2018 bis 17. Februar 2019 2020/21: Mondrian and De Stijl. Museo Reina Sofía, Madrid, 11. November 2020 bis 1. März 2021 2022: Mondrian Evolution Fondation Beyeler, Riehen, 5. Juni 2022 bis 9. Oktober 2022 und 29. Oktober 2022 bis 12. Februar 2023, K 20 Kunstsammlung Nordrhein-Westfalen 2023: Hilma af Klint & Piet Mondrian Forms of Life. Tate Modern, London, 20. April bis 3. September 2023 Ausgewählte Werke Aquarelle, Kohle- und Kreidebilder um 1896/97: Schreibendes Mädchen mit Haube, schwarze Kreide auf Papier, 57 × 44,5 cm, Kunstmuseum, Den Haag 1901–1908: Passionsblume, Aquarell auf Papier, 72,5 × 47,5 cm, Kunstmuseum, Den Haag 1914: Gerüst: Studie zu Tableau III, Kohle auf Papier, 152,5 × 100 cm, Peggy Guggenheim Collection, Solomon R. Guggenheim Foundation, New York 1942: Selbstporträt nach einem Foto, Kohle auf Papier, 28 × 23,2 cm, Sidney Janis Collection, New York Gouachen und Ölbilder 1899: Auf dem Lappenbrink, Gouache, 128 × 99 cm, Kunstmuseum Den Haag um 1900: Selbstporträt. Öl auf Leinwand, auf Holzfaserplatte montiert, 55 × 39 cm, The Philipps Collection, Washington, D.C. um 1906: Landschaft mit Mühle. Nationalgalerie, Athen 1908: Devotion, Öl auf Leinwand, 94 × 62 cm, Kunstmuseum Den Haag 1908: Mühle im Sonnenlicht: Die Winkeler Mühle, Öl auf Leinwand, 114 × 87 cm, Kunstmuseum, Den Haag 1908: Der Rote Baum, Kunstmuseum, Den Haag 1908: Wald bei Oele, Öl auf Leinwand, 128 × 158 cm, Kunstmuseum, Den Haag 1909: Blick von den Dünen bei Domburg, Öl auf Leinwand, 28,5 × 38,5 cm, Museum of Modern Art, New York 1911: Der Graue Baum, Öl auf Leinwand, 79,7 × 109,1 cm, Kunstmuseum Den Haag 1912: Porträt einer Dame, Öl auf Leinwand, 115 × 88 cm, Kunstmuseum Den Haag 1913: Komposition in Oval, Stedelijk Museum, Amsterdam 1913/14: Komposition IX/Blaue Fassade, Öl auf Leinwand, 95,2 × 67,6 cm, Fondation Beyeler, Basel 1914: Tableau III: Ovale Komposition, Öl auf Leinwand, 140 × 101 cm, Stedelijk Museum, Amsterdam 1917: Komposition in Farbe A, Öl auf Leinwand, 50,3 × 45,3 cm, Kröller-Müller Museum, Otterloo 1918: Gitterkomposition 3: Raumkomposition, Öl auf Leinwand, diagonal 121 cm, Kunstmuseum, Den Haag 1919: Gitterkomposition 5: farbige Rautenkomposition, Öl auf Leinwand, diagonal 84,5 cm, Kunstmuseum, Den Haag 1919: Gitterkomposition 7, Öl auf Leinwand, 48,5 × 48,5 cm, Kunstmuseum Basel, Basel 1920: Komposition B, Öl auf Leinwand, 67 × 57,5 cm, Wilhelm-Hack-Museum, Ludwigshafen 1921: Tableau I, mit Schwarz, Rot, Gelb, Blau und Hellblau, Öl auf Leinwand, 103 × 100 cm, Kunstmuseum Den Haag 1922: Tableau 2 mit Gelb, Schwarz, Blau, Rot und Grau, Öl auf Leinwand, 55,6 × 53,4 cm, Solomon R. Guggenheim Museum, New York 1928: Komposition mit Rot, Schwarz, Blau und Gelb, Wilhelm-Hack-Museum, Ludwigshafen, Öl auf Leinwand, 45 × 45 cm 1930: Komposition II mit schwarzen Linien, Öl auf Leinwand, 50,5 × 50,5 cm, Stedelijk Van Abbe Museum, Eindhoven 1933: Raumkomposition mit vier gelben Linien, Öl auf Leinwand, diagonal 112 cm, Kunstmuseum, Den Haag 1936: Komposition in Weiß, Rot und Blau, Öl auf Leinwand, 98,5 × 80,3 cm, Staatsgalerie Stuttgart, Stuttgart 1937: Komposition mit Linien und Farbe: III, Öl auf Leinwand, 80 × 77 cm, Kunstmuseum, Den Haag 1937–1942: Komposition Nr. 9 mit Gelb und Rot, Öl auf Leinwand, 79,7 × 74 cm, The Philipps Collection, Washington, D.C. 1941/42: New York, 1941/Boogie Woogie, Öl auf Leinwand, 95,2 × 92 cm, Hester Diamond Collection, New York 1941: New York City 1 (unvollendet), Öl und bemalte Papierstreifen auf Leinwand, 119 × 115 cm, Kunstsammlung Nordrhein-Westfalen, Düsseldorf 1942/43: Broadway Boogie Woogie, Öl auf Leinwand, 127 × 127 cm, Museum of Modern Art, New York 1942/44: Victory Boogie Woogie (unvollendet), Öl auf Leinwand, 127 × 127 cm, Kunstmuseum, Den Haag Schriften Natürliche und abstrakte Realität. Ein Aufsatz in Dialogform. 1919/1920, in: Michel Seuphor: Piet Mondrian. Leben und Werk. DuMont Schauberg, Köln 1957, S. 303–351. Neue Gestaltung. Neoplastizismus. Nieuwe Beelding, 1925. Neuauflage Gebr. Mann, Berlin 1998, ISBN 3-7861-1472-2. Plastic art and pure plastic art, 1937, and other essays, 1941–1943. Wittenborn and Co., New York 1945, darin der zum Teil autobiografische Text Toward the true vision of reality. Neuausgabe Plastic Art and Pure Plastic Art, Wittenborn Art Books, San Francisco 2008, ISBN 0-8150-0101-0. The New Art – the New Life: The Collected Writings of Piet Mondrian, herausgegeben und übersetzt von Harry Holtzman und Martin S. James. G. K. Hall, Boston 1986. Neuausgabe, Da Capo Press, New York 1993, ISBN 0-306-80508-1. Literatur Kataloge Delia Ciuha: Mondrian + Malewitsch. In der Mitte der Ausstellung. Ausstellungskatalog der Fondation Beyeler mit einem Essay von Markus Brüderlin, Edition Minerva, Wolfratshausen 2003, ISBN 3-932353-84-6. Joop M. Joosten, Robert P. Welsh: Piet Mondrian. Catalogue Raisonné. Zwei Bände (englisch). Prestel, München 1998, ISBN 3-7913-1698-2. Katrin Sello (Vorw.): Malewitsch-Mondrian. Konstruktion als Konzept. Alexander Dorner gewidmet, Kunstverein Hannover, Hannover 1977 Ortrud Westheider, Victoria Pomery (Vorw.): Mondrian. Farbe. Bucerius Kunst Forum, Hamburg, Turner Contemporary, Margate (Hrsg.), Hirmer, München 2014, ISBN 978-3-7774-2204-6. Darstellungen Carel Blootkamp: Mondrian. The Art of Destruction. Reaktion Books, London 2004, ISBN 978-1-86189-100-6. Harry Cooper, Ron Spronk: Mondrian. The Transatlantic Painting. Harvard Art Museum, Cambridge (Mass.) 2001, ISBN 0-300-08928-7. Susanne Deicher: Mondrian. 1872–1944. Konstruktion über dem Leeren. Taschen, Köln 2011, ISBN 3-8228-0928-4. Britta Grigull: Piet Mondrian. Das kubistische Werk in neuem Licht. Ludwig, Kiel 2005, ISBN 3-937719-11-3 (teilweise online) Hans Janssen: Piet Mondrian. Prestel, München 2005, ISBN 3-7913-3361-5. Hans Locher: Piet Mondrian. Farbe, Struktur und Symbolik. Gachnang & Springer, Bern-Berlin 1994, ISBN 3-906127-40-0. Frans Postma, Cees Boekraad (Hrsg.): 26, Rue du Départ. Mondrian’s Studio in Paris, 1921–1936. Aus dem Holländischen ins Englische übertragen von Michael Gibbs und Dawn Mastin. Ernst und Sohn, Berlin 1995 Diether Rudloff: Unvollendete Schöpfung. Künstler im zwanzigsten Jahrhundert. Urachhaus, Stuttgart 1982, ISBN 3-87838-368-1. Michel Seuphor: Piet Mondrian. Leben und Werk. DuMont Schauberg, Köln 1957 Clara Weyergraf: Piet Mondrian und Theo van Doesburg. Fink, München 1979, ISBN 3-7705-1729-6. Charmion von Wiegand: The Meaning of Mondrian. In: The Journal of Aesthetics and Art Criticism. Blackwell Publishing on behalf of The American Society for Aesthetics, Band 2, Ausgabe 8, Herbst 1943, S. 62–70 (teilweise online) (englisch) Vertonung Daniel Hess: Broadway Boogie-Woogie, Konzert für Klavier und Orchester. Musik zu Piet Mondrians Bild Broadway Boogie Woogie (1944). 2002. Filmographie Die einzig bekannte Filmsequenz (30 s), die Piet Mondrian zeigt, wurde anlässlich der Forschungen zu Victory Boogie Woogie aufgefunden und im August 2008 veröffentlicht. Die Sequenz zeigt Mondrian, wie er sein Gemälde Broadway Boogie Woogie im Museum of Modern Art (MoMA) betrachtet. Das Werk war noch zu seinen Lebzeiten 1943 über die Valentine Dudensing Gallery zum MoMA gelangt. Der Stifter ist unbekannt. Piet Mondrian – Im Atelier von Mondrian. Ein Film von François Lévy-Kuentz auf DVD, Laufzeit 52 Minuten. Absolut Medien GmbH, Berlin 2011, ISBN 978-3-89848-473-2. Weblinks Piet Mondrian auf Holtzman/Mondrian Trust Piet Mondrian: Allgemeine Prinzipien des Neo-Plastizismus in einem Aufsatz aus dem Jahr 1926 Piet Mondrian Artcyclopedia mit Liste von Museen (englisch) Piet Mondrian: Bildauswahl Mondrian at Tate Liverpool and Turner Contemporary, Video (englisch) Trivia 2022 berichtete die BBC, dass das Kunstwerk 'New York City I' von Mondrian bereits 75 Jahre kopfüber ausgestellt wurde. Allerdings wird davon abgesehen, es korrekt herum aufzuhängen, da das Material nach all der Zeit möglicherweise die Korrektur nicht überstehen würde. Einzelnachweise Abbildungen Maler (Niederlande) Maler der Moderne Künstler der Konkreten Kunst Künstler in Ausstellungen „Entartete Kunst“ Künstler im Beschlagnahmeinventar „Entartete Kunst“ Künstler (documenta) Theosoph (Theosophische Gesellschaft) Person als Namensgeber für einen Asteroiden Niederländer Geboren 1872 Gestorben 1944 Mann
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https://de.wikipedia.org/wiki/Nez-Perc%C3%A9-Krieg
Nez-Percé-Krieg
Der Krieg gegen die Nez Percé (Nez Perce War, gelegentlich auch Nimipu War) im Jahr 1877 war ein Feldzug der Armee der Vereinigten Staaten gegen eine Gruppe von Indianern des Stammes der Nez Percé. Die Indianer, angeführt von Chief Joseph (Hin-mah-too-yah-lat-keht) und anderen Häuptlingen, weigerten sich, in das ihnen zugewiesene Reservat zu ziehen und flohen stattdessen aus der Gegend der Lapwai-Reservation in Idaho nach Montana und in Richtung Kanada. Vom 17. Juni bis 5. Oktober legten sie rund 2000 Kilometer zurück und konnten den sie verfolgenden Einheiten der amerikanischen Armee unter General Oliver Otis Howard mehrere Niederlagen zufügen, wurden aber schließlich wenige Kilometer vor der kanadischen Grenze gestoppt und zur Aufgabe gezwungen. Hintergrund Das Stammesgebiet der Nez Percé lag in der Umgebung der Flüsse Clearwater und Snake in den heutigen Bundesstaaten Oregon, Idaho und Washington. Sie waren im Zuge der Expedition von Lewis und Clark 1805 erstmals mit Weißen in Berührung gekommen. Mitte der 1830er Jahre begannen christliche Missionare ihre Tätigkeit im Stammesgebiet der Nez Percé. Besonders der Presbyterianer Henry H. Spalding engagierte sich sehr und übersetzte auch Gesänge und Gebete in die Sprache der Indianer. Allerdings wurden nicht alle Nez Percé zu Christen; die zunehmende Einwanderung weißer Siedler über den Oregon Trail führte auch zu Widerstand, insbesondere bei benachbarten Stämmen. 1847 verübten die Cayuse und Umatilla das Whitman-Massaker und in der Folge wurden Missionsstationen geschlossen. Erst mehr als 20 Jahre später wurde wieder verstärkt missioniert. Zwar blieben die Nez Percé den Weißen gegenüber weiter friedlich, unter den nicht zum Christentum konvertierten Stammesmitgliedern entstand aber der ihnen gegenüber skeptische Dreamer-Kult. Mehrere einflussreiche Häuptlinge der Nez Percé wie Lawyer und der als Old Joseph bekannte Tu-eka-kas, Vater von Chief Joseph, blieben dem Christentum allerdings treu und den Weißen gegenüber offen. 1855 wurde zwischen den Nez Percé und anderen Stämmen der Gegend auf der einen Seite und den Vereinigten Staaten auf der anderen Seite ein Vertrag abgeschlossen, der den Nez Percé das Recht auf eine fast 13.000 Quadratkilometer große Reservation in ihrem traditionellen Stammesgebiet in Oregon und Idaho einräumte. Zu den Unterzeichnenden gehörten unter anderem Old Joseph und der als Looking Glass bekannte Allalimya Takanin. Gegen Geld- und Warenlieferung gaben die Nez Percé ihren Anspruch auf weiter östlich, Richtung Bitterroot-Gebirge, und weiter südlich gelegene Gebiete auf. Nach Abschluss des Vertrages kam es zu Kriegen zwischen den Vereinigten Staaten und anderen Stämmen wie den Yakima, doch die Nez Percé mischten sich nicht ein und unterstützten teilweise sogar die Vereinigten Staaten mit Freiwilligen. Zu größeren Auseinandersetzungen kam es erst im Jahr 1863, als die Vereinigten Staaten den Indianern einen Vertrag vorlegten, der das ihnen einige Jahre zuvor garantierte Reservat auf rund 10 Prozent der ursprünglichen Fläche reduziert hätte. Diese Reduzierung dürfte deshalb erfolgt sein, weil sich in ihrem Gebiet Gold fand. Im Mai und Juni 1863 kam es in Lapwai zu langwierigen Verhandlungen zwischen den Nez Percé, von denen zeitweise 3000 anwesend waren, und Calvin Hale, dem leitenden Beamten für Indianerfragen im Washington-Territorium. Unterstützt wurde Hale bei den Verhandlungen von den beiden Indianeragenten Samuel D. Howe und Charles Hutchins, von mehreren Einheiten des Heeres unter Oberst Justus Steinberger sowie von Henry Spalding und Perrin Whitman als Übersetzer. Der Vertrag führte zur Spaltung der Nez Percé: eine Mehrheit der Häuptlinge war von dem Gebietsverlust nicht direkt betroffen und stimmte dem Verkauf für 265.000 Dollar zu, ein anderer Teil verweigerte die Unterschrift. Zu den Häuptlingen, die den Vertrag nicht unterzeichneten, gehörte auch Old Joseph. Anführer der Gruppe der Unterzeichnenden, und im Vertrag eher willkürlich als Head Chief Nez Perces Nation ausgewiesen, war Häuptling Lawyer. Die Vereinigten Staaten sahen den Vertrag auf Grund der Unterschriften der Häuptlingsgruppe um Lawyer als für den ganzen Stamm bindend an. Die Gruppe derer, die den Vertrag nicht unterzeichneten, bewohnte den südlichen (unteren) Teil des Stammesgebietes und wurde deswegen Lower Nez Percé genannt. Die Lower Nez Percé weigerten sich auch in den darauf folgenden Jahren ihre Heimat, das Wallowa-Tal in Oregon, zu verlassen. Die Vereinigten Staaten beauftragten daraufhin 1877 General Oliver Otis Howard, die Indianer wenn nötig mit Gewalt in das ihnen zugewiesene Lapwai-Reservat zu bringen. Howard, ein Veteran des Sezessionskrieges, der 1872 mit den Apachen unter Cochise zu einem Friedensschluss gekommen war, war zu diesem Zeitpunkt Befehlshaber des Wehrbereichs (Department) „Columbia“, der die Bundesstaaten Washington, Oregon, Alaska und Teile von Idaho umfasste. Er war stark von christlichen Motiven getrieben, die jedoch seine Vorgesetzten keineswegs teilten. Sie hielten ihn sogar dazu an, das Soldatische von dem „Philanthropischen“ getrennt zu halten. Die Indianer ihrerseits lehnten vielfach die christlichen Vorstellungen ab, selbst dann, wenn sie formal getauft waren. Sie waren noch stark in ihrer eigenen Religion verankert. Dennoch entwickelten einige der Häuptlinge ein gewisses Vertrauensverhältnis in die Verlässlichkeit seines Wortes. Die Indianer, noch unentschieden wie sie darauf reagieren sollten, schlugen am Rande des Reservats ihr Lager auf. Ihre Anführer, unter anderem die Häuptlinge Joseph, White Bird und Toohoolhoolzote, diskutierten, ob sie sich fügen und in das Reservat gehen, oder ob sie um ihre Freiheit kämpfen sollten. Unterdessen führte eine Gruppe junger Indianer, deren Anführer bei Streitereien mit Siedlern seinen Vater verloren hatte, einen persönlichen Rachefeldzug, in dessen Verlauf mehrere weiße Siedler ums Leben kamen. Damit war das erste Blut geflossen und die meisten Häuptlinge der Nez Percé waren nun überzeugt, dass nach dieser Tat ein Krieg mit den Weißen nicht mehr zu vermeiden sei. Aus diesem Grund gaben sie ihr Lager auf und zogen sich nach Süden an den White Bird Creek zurück. Das Gebiet der Nez Percé lag aus Sicht des amerikanischen Heeres in der Zuständigkeit des Wehrbereichs Columbia (Department of the Columbia) unter dem Befehl von General Howard. Howards direkter Vorgesetzter war General Irvin McDowell als Befehlshaber der Military Division of the Pacific. Weitere beteiligte Befehlsstellen auf Seiten der Amerikaner waren der Wehrbereich Dakota (General Terry), der der Military Division of the Missouri (General Sheridan) unterstand. Oberbefehlshaber des Heeres war seit 1869 General William T. Sherman, unter dem Howard bereits im Sezessionskrieg gedient hatte. Die Stärke der Truppen variierte. Zu Beginn des Feldzuges konnte Howard rund 350 Mann in die Schlacht am Clearwater führen. Durch Verstärkungen wuchs sein direktes Kommando in der Folgezeit auf rund 730 Mann an, weitere Truppen wurden zur Sicherung der Siedler eingesetzt. Ein weiteres Truppenkontingent unter Oberst Miles zählte rund 520 Mann. Die Nez Percé hatten nie einen eindeutigen Anführer gehabt, denn sie bestanden aus mehreren kleinen Gruppen, die jeweils ihre eigenen Häuptlinge hatten und die auch auf der Flucht eine gewisse Unabhängigkeit behielten. Wichtige Entscheidungen auf der besagten Flucht wurden deshalb oft im Rat getroffen. Die flüchtigen Nez Percé bestanden aus Josephs Wallowagruppe, der White Bird-Gruppe, Toohoolhoolzotes Gruppe aus der Gegend des Salmon und einer kleinen Gruppe Palouse, angeführt von Hahtalekin. Später stieß auch noch die in der Gegend der Clearwater-Zuflüsse beheimatete Gruppe von Looking Glass hinzu. Joseph als der wohl bekannteste Anführer der Nez Percé war einer der Gruppenhäuptlinge, sein Einfluss war aber in Friedenszeiten größer als im Krieg. Insbesondere Looking Glass nahm im Lauf des Feldzuges eine militärische Führungsposition ein. Von den Häuptlingen abgesehen waren außerdem Josephs Bruder Ollokot und die Krieger Rainbow (eigentlich Wahchumyus) und Five Wounds (Pahkatos Owyeen) wichtige militärische Anführer. Die Stärke der Krieger wurde auf 250 geschätzt, was etwa einem Viertel der Gesamtzahl der fliehenden Gruppe entsprach. Im Gegensatz zu den amerikanischen Verbänden, die auf eine tief gestaffelte Logistik zurückgreifen konnten, mussten die Nez Percé andere Wege finden, um sich zu versorgen. Da sie aufgrund ihres Handels aus Vorkriegszeiten noch über Gold und Geld verfügten, konnten sie in Montana von den Siedlern und Händlern Lebensmittel erwerben. Gegen Ende des Feldzuges überfielen sie zudem ein Lager der früher mit ihnen befreundeten, inzwischen aber auf Seite der Amerikaner stehenden Crow–Indianer, wo sie getrocknetes Büffelfleisch erbeuteten, gingen selbst auf Büffeljagd und erbeuteten Nachschubgüter für die US-Armee bei Cow Island Landing am Missouri. Bevor sie ihr Lager am Rand der Reservation aufgeschlagen hatten, hatten die Nez Percé einen Großteil ihrer Tiere gesammelt, so dass sie auf ihrem Marsch zahlreiche Pferde mit sich führten. Der Bestand war dabei so groß, dass die Nez Percé laut Joseph am Ende des Feldzuges immer noch 1100 Pferde und 100 Sättel besaßen. Die Bewaffnung war eine Mischung aus modernen und älteren Waffen: In der Schlacht im White Bird Canyon war bereits rund die Hälfte der Nez Percé mit Repetiergewehren ausgerüstet, der Rest mit einer Mischung aus Bögen, Vorderladerpistolen und Musketen. In dieser Schlacht erbeuteten die Indianer 63 Karabiner der US-Kavallerie sowie eine unbekannte Anzahl Revolver. Verlauf Vom White Bird Canyon an den Clearwater In der Zwischenzeit hatte General Howard Truppen zusammengezogen. Er schickte zwei Kompanien Kavallerie unter dem jungen Hauptmann Perry voraus, um die Siedler in der Nähe des Indianerlagers am White Bird Creek zu schützen und die Indianer zu beobachten. Perry entschied jedoch, sofort gegen die Nez Percé vorzugehen. Am 17. Juni erreichten Perrys Kavalleristen, rund 100 Mann und einige Freiwillige, das Indianerlager. Die Häuptlinge um Joseph schickten den Kavalleristen eine Gruppe Krieger mit einer weißen Flagge entgegen, die jedoch beschossen wurde. Die rund 70 Krieger der Nez Percé erwiderten daraufhin das Feuer. Als einer der Ersten fiel dabei der amerikanische Hornist, was Perry die Koordinierung seiner Truppen sehr erschwerte. Unter dem gezielten Feuer der Indianer gaben Perrys Flanken schließlich einzeln nach und die Amerikaner mussten sich zurückziehen. Die Indianer ließen nicht nach und verfolgten Perry und die Überreste seines Kommandos noch rund 30 Kilometer weit. Das erste Gefecht des Feldzuges war ein eindeutiger Sieg der Nez Percé; sie selbst hatten nur zwei Verwundete zu beklagen, während Perry 34 Mann, rund ein Drittel seines Kommandos, verloren hatte. Nach dieser schweren Niederlage musste Howard einerseits vorsichtiger vorgehen, andererseits auf Drängen der lokalen Bevölkerung aber auch rasch aktiv werden. Am 22. Juni begann er schließlich die Verfolgung, die allerdings zweieinhalb Wochen lang fruchtlos blieb. Eine Gruppe Nez Percé unter der Führung von Looking Glass stellte Howard vor weitere Probleme. Zwar war Looking Glass nicht in die Kämpfe am White Bird Canyon verwickelt gewesen, doch gehörte auch er zu den nichtunterzeichnenden Häuptlingen und stellte damit eine potentielle Gefahr dar. Als Howard hörte, Looking Glass' Leute hätten zwei Farmen überfallen, und ihm seine indianischen Späher berichteten, mehrere Krieger der Gruppe hätten sich bereits den Flüchtigen angeschlossen., entschloss sich Howard zu handeln. Er sandte Hauptmann Whipple mit 2 Kompanien Kavallerie aus, um Looking Glass und seine Gruppe festzunehmen. Whipples Männer, von 20 Freiwilligen verstärkt, erreichten Looking Glass' Lager am Clearwater in der Nähe der heutigen Stadt Kooskia am Morgen des 1. Juli. Es kam zu zögerlichen Verhandlungen, die jedoch durch einen von einem Freiwilligen abgefeuerten Schuss ein abruptes Ende fanden. Eine Schießerei entbrannte, und die Indianer ließen einen großen Teil ihres Besitzes zurück und flohen. Die Festsetzung der Gruppe war dadurch fehlgeschlagen und Looking Glass' Gruppe schloss sich in der Folgezeit den anderen Flüchtigen an. Die Operation hatte aus Howards Sicht also genau das Gegenteil dessen erreicht, was geplant war. Die Verluste der Nez Percé sind nicht genau bekannt, lagen aber wohl bei drei Toten und ebenso vielen Verwundeten; eine Mutter war mit ihrem Kind ertrunken, als sie durch den Clearwater fliehen wollte. Mit den Flüchtigen unter der Führung von Joseph und White Bird kam es zwischen dem 3. und 5. Juli bei Cottonwood zu weiteren Gefechten, in deren Zuge eine elf Mann starke Vorausabteilung der Kavallerie umzingelt und getötet wurde. Die Häuptlinge der Nez Percé um Joseph hatten in der Zwischenzeit den Entschluss gefasst, nach Norden zu fliehen. Am Clearwater River hatten sich die Flüchtigen mit Looking Glass' Gruppe vereinigt, so dass insgesamt nun rund 700 Indianer auf der Flucht waren. Am 11. Juli kam es zum nächsten Kampf, als Howard das Indianerlager am Clearwater angriff. Der Angriff scheiterte jedoch, und die Nez Percé gingen ihrerseits zum Gegenangriff über, griffen die Amerikaner in der Flanke an und trieben sie zurück. Erst der Einsatz von Haubitzen brachte die Indianer zum Stehen und zwang sie zum Rückzug. Trotzdem leisteten die Indianer weiter hinhaltenden Widerstand und ermöglichten dadurch ihren Frauen und Kindern, das Lager größtenteils zu räumen und weiterzuziehen. Dieses zweite Aufeinandertreffen, das die Indianer 10, die Amerikaner 40 Mann gekostet hatte, wurde von den Amerikanern als ein Sieg ihres Heeres angesehen. Gerüchte, dass Howard bald abgelöst und ersetzt werden sollte, verschwanden vorerst und der Adjutant von Howards Vorgesetztem McDowell telegrafierte an diesen, dass Howards Elan nicht zu übertreffen sei. Tatsächlich war die Schlacht am Clearwater wohl eher ein Unentschieden mit Vor- und Nachteilen für beide Seiten: die Indianer hatten zwar einen Teil ihrer Habe verloren, waren aber noch immer in Freiheit. Ihre Häuptlinge beschlossen nun, ostwärts in Richtung der Great Plains zu fliehen. Dort hofften sie auf Unterstützung durch den mit ihnen befreundeten Stamm der Absarokee (im Englischen auch oft als Crow bezeichnet). Big Hole Ihr Weg führte die Nez Percé dabei über die beschwerlichen Bitterroot Mountains, über den so genannten Lolo Trail. Einige Meilen vor Stevensville in Montana war ihre Route durch Baumstämme und amerikanische Truppen versperrt. Howard hatte Hauptmann Rawn in Fort Missoula telegrafiert, und Rawn war mit 35 Soldaten und 200 Freiwilligen an den Lolo Trail geeilt, wo er die Indianer bis zu Howards Ankunft aufhalten wollte. Bei Gesprächen mit den Häuptlingen schlug Rawn vor, sie sollten ihre Waffen niederlegen und aufgeben. Die Indianer lehnten dieses Ansinnen ab und versprachen im Gegenzug, die Siedler im Bitterroot Valley in Frieden zu lassen, wenn man sie durchlassen würde. Dies wiederum lehnte Rawn ab. Seine Freiwilligen waren jedoch besorgt um ihre Siedlungen im Tal und ließen den Offizier zum größten Teil im Stich. Unterdessen hatten die Nez Percé einen unbewachten Bergpfad gefunden, den die Amerikaner für unpassierbar gehalten hatten. Auf ihm umgingen sie die Straßensperre am nächsten Tag und ließen Rawn und seine „Fort Fizzle“ (etwa „Fort Fehlschlag“) genannte Stellung zurück. Im Bitterroot-Tal verhielten sich die Nez Percé, von einigen wenigen Zwischenfällen abgesehen, den Siedlern gegenüber friedlich, benötigte Versorgungsgüter kauften sie. Nachdem sie das Tal hinter sich gelassen hatten, schlugen die Nez Percé am Big Hole River in Montana ihr Lager auf. Überzeugt davon, Howard weit hinter sich gelassen zu haben, wollten die Häuptlinge ihren Stammesangehörigen ein paar Tage Ruhe gönnen. Nach dem Krieg schrieb Joseph, dass die Indianer glaubten, mit der Überquerung der Bitterroot Mountains dem Krieg entflohen zu sein, dass nun wieder Frieden einkehren würde und die Frage nach der Rückkehr in die Heimat später geregelt würde. Die Ruhe war jedoch trügerisch. Die Nez Percé hatten zwar Howard vorerst hinter sich gelassen und mit der Überquerung der Bitterroot Mountains auch Howards Befehlsbereich verlassen, denn Montana gehörte schon zum Wehrbereich Dakota, der General Alfred Howe Terry unterstand. Howards Vorgesetzte McDowell und Sherman hatten ihn jedoch angewiesen, ohne Rücksicht auf solche organisatorischen Grenzen die Verfolgung fortzuführen. Howard hatte außerdem Oberst John Gibbon im weiter nördlich gelegenen Fort Shaw telegrafisch verständigt, der daraufhin mit rund 200 Soldaten auf das Lager der Nez Percé zueilte. Im Morgengrauen des 9. August befahl Gibbon den Angriff, und es gelang ihm, die Flüchtlinge zu überraschen. Innerhalb weniger Minuten eroberten die Soldaten einen großen Teil des Lagers, wobei nicht nur mehrere Krieger der Nez Percé, sondern auch zahlreiche Frauen, Kinder und Greise ihr Leben ließen. Joseph und die anderen Häuptlinge konnten aber schließlich einige Krieger sammeln und mit ihnen den amerikanischen Vormarsch zum Stehen zu bringen. Gibbons Truppen erlitten hohe Verluste und zogen sich in ein Waldstück in der Nähe des Lagers zurück, von wo aus Gibbon Howard um Verstärkungen bat. Erst als diese im Verlauf des nächsten Tages eintrafen, zogen sich die Indianer langsam zurück. Der Überfall hatte die Amerikaner 29 Mann gekostet; zusätzlich waren 40 Mann verwundet, unter ihnen auch Gibbon. Zwei der Verwundeten erlagen später ihren Verletzungen. Die Nez Percé hatten 60 Tote und 90 Verwundete zu beklagen, darunter zahlreiche Frauen und Kinder. In den folgenden Tagen setzte Howard die Verfolgung fort und blieb dicht hinter den Nez Percé, die durch das Grenzgebiet von Idaho, Montana und Wyoming zogen und dabei am 15. August am Birch Creek einen Lastenzug angriffen und fünf Männer töteten. Am 18. August überraschte eine Gruppe Krieger unter Josephs Bruder Ollokot die Soldaten mit einem Angriff auf ihr Lager am Camas Creek in Idaho und trieb ihnen ihre Maultiere davon. Howard setzte die Verfolgung dennoch energisch fort und wollte die Indianer unbedingt fassen, bevor sie das Yellowstone-Gebiet erreichten. Trotz großer Anstrengungen entkamen die Indianer aber wieder und Howard musste die Verfolgung unterbrechen, um seinen Truppen und ihren Pferden vier Tage Rast zu geben. Doch auch die Indianer mussten einen schweren Rückschlag erleiden, denn die Absarokee weigerten sich, mit ihnen gemeinsam gegen die Amerikaner zu kämpfen. Ohne diese Unterstützung sahen die Nez Percé nun nur noch einen Ausweg, die Flucht nach Kanada. Der Zug nach Kanada Unterdessen hatte Howard erneut einen anderen Offizier, Oberst Samuel Davis Sturgis vom 7. Kavallerieregiment, in den Weg des Stammes beordert. Sturgis erhielt Unterstützung von 150 Crow-Indianern, die wohl hofften, Pferde der Nez Percé zu erbeuten. Dass die Crow sich auf die Seite der Amerikaner stellten, war für die Nez Percé eine weitere Enttäuschung. Sturgis sollte die Flüchtlinge, die inzwischen das Gebiet des heutigen Yellowstone-Nationalparks erreicht hatten, in der Absaroka-Bergkette aufhalten. Wie seine Vorgänger wurde auch er von den Nez Percé in die Irre geführt und umgangen. Sturgis nahm die Verfolgung auf und erreichte die Indianer an einem ausgetrockneten Flussbett, dem Canyon Creek in Ostmontana. Die Krieger der Nez Percé nahmen seine Truppen jedoch unter gezieltes Feuer, hielten sie auf und ermöglichten ihren Angehörigen den Abzug. Die inzwischen erschöpften Indianer zogen weiter nach Norden, weiterhin verfolgt von Howards und Sturgis' Truppen. Einzelne Gruppen verließen die Hauptgruppe. Eine von ihnen gelangte in die Reservation der Assiniboine und Gros Ventres bei Fort Belknap in Montana. Bei beiden Stämmen handelte es sich um traditionelle Feinde der Nez Percé und einige der Flüchtigen wurden in der Reservation ermordet; ob die Täter zu den Assiniboine oder den Gros Ventres gehörten ist unklar. Eine weitere Kleingruppe fiel am 3. Oktober einem Angriff von Assiniboine- und Gros-Ventre-Kriegern zum Opfer: fünf Männer wurden getötet, zwei Frauen gefangen genommen. Zu weiteren Gefangennahmen kam es durch die Crow und Gros Ventres. Die Hauptgruppe der Flüchtigen traf unterdessen zum letzten Mal auf einen neuen Gegner, denn Howard hatte an Oberst Nelson A. Miles telegrafiert, der vom weiter östlich gelegenen Fort Keogh heranmarschierte. Howard hatte außerdem bemerkt, dass die Nez Percé sich seinem Marschtempo anpassten und rasteten, wenn er auch rastete. Um Miles die Gelegenheit zu geben, die Nez Percé abzufangen, verlangsamte er deswegen seine Verfolgung. Ende September lagerten die Nez Percé rund 40 Meilen (etwa 64 Kilometer) vor der kanadischen Grenze in den Bearpaw Mountains. Hier trafen sie auf die von Osten heranmarschierenden Truppen. Miles griff die Indianer am 30. September an, wurde jedoch von den Kriegern, die sich hinter Brustwehren verschanzten, zurückgeschlagen. Die Verluste auf beiden Seiten waren äußerst hoch (die Nez Percé verloren unter anderem auch Toohoolhoolzote und Josephs Bruder Ollokot), und Joseph und Miles begannen Verhandlungen. In der Zwischenzeit setzte eine schwere Kälte ein und Anfang Oktober erschien Howard mit seiner Streitmacht. Bei weiteren Gefechten kam auch Looking Glass ums Leben, wodurch den Nez Percé mit Joseph und White Bird nur noch zwei Häuptlinge verblieben. White Bird weigerte sich aufzugeben und entkam in der Nacht des 5. Oktober mit einer Gruppe von rund 50 Indianern nach Kanada. Auch andere, kleinere Gruppen schlugen sich durch die amerikanischen Linien nach Norden durch. Joseph hingegen war des Kämpfens müde. Am 5. Oktober gab er den Kampf auf. Durch einen Übersetzer ließ er den Amerikanern mitteilen: Diese Worte Josephs gehören seither zu den bekanntesten indianischen Ansprachen und gelten als „Klassiker indianischer Prosa“. Anschließend bot er Howard sein Gewehr an, der ihm allerdings bedeutete, es an den danebenstehenden Oberst Miles zu übergeben. Die Flucht der Nez Percé, die sie über rund 2.000 Kilometer und durch Teile von vier amerikanischen Bundesstaaten geführt hatte, war damit zu Ende. Auf ihrem Marsch hatten die Indianer insgesamt gegen mehr als 2000 amerikanische Soldaten gekämpft. 65 Krieger und 55 Frauen und Kinder hatten dabei ihr Leben verloren, die Verluste der Amerikaner betrugen 180 Tote und 150 Verwundete. Folgen Streit zwischen Howard und Miles Auf Seiten der Amerikaner kam es nach der Schlacht zu einem Streit zwischen General Howard und Oberst Miles. Howard war enttäuscht von Miles’ erster Meldung an die Zeitungen, in der Howards Anwesenheit bei der Kapitulation und seine Truppen kaum erwähnt wurden. Miles war seinerseits der Meinung, dass Howards offizielle Berichte an seine Vorgesetzten die Rolle von Miles und seinen Truppen nicht genügend würdigten. Der Streit dauerte einige Monate an und zerstörte eine lange Freundschaft zwischen den beiden Männern. Schicksal von Josephs Nez Percé Die Nez Percé wurden nach ihrer Kapitulation in wechselnde Reservate in Kansas gebracht. 1879 schaffte man sie ins Indianer-Territorium, wo viele von ihnen starben. Im selben Jahr erschien in der Aprilausgabe der Zeitschrift North American Review ein von Joseph erzählter und von Bischof William H. Hare ins Englische übertragener Bericht über den Feldzug. Joseph machte darin klar, dass er nach wie vor der Ansicht war, dass die Unteren Nez Percé ihr Land nie verkauft hatten: Auch seiner Liebe zu seiner Heimat, in der das Grab seines Vaters Old Joseph lag, gab Joseph Ausdruck: „Ich liebe jenes Land mehr als den ganzen Rest der Welt. Ein Mann, der das Grab seines Vaters nicht liebt, ist schlimmer als ein wildes Tier“. Darüber hinaus schrieb er, dass Oberst Miles ihm bei den Beratungen vor der Kapitulation zugesichert habe, dass die Nez Percé nach der Aufgabe in die Lapwai-Reservation gehen dürften. Ohne dieses Versprechen, so Joseph, hätte er nie kapituliert. Auch Miles vertrat die Ansicht, eine der Bedingungen für die Kapitulation der Indianer sei gewesen, dass sie zurück in die Lapwai-Reservation dürften, und er setzte sich dafür ein, doch Howard und General Sherman lehnten eine Rückkehr der Indianer in den Wehrbereich Columbia ab. Als dies nicht fruchtete, entschuldigte er sich bei Joseph. Laut Josephs Erinnerung bat Miles um Verständnis dafür, dass er seine Befehle befolgen müsse; würde er dies nicht tun, so würde er lediglich abgesetzt und die Befehle würden durch einen anderen Offizier durchgeführt. Howard verfasste eine Gegendarstellung zu Josephs Bericht, die in der Juliausgabe 1879 des North American Review erschien. Howard zeigte sich darin dem ursprünglichen Anliegen der Indianer gegenüber aufgeschlossen: Er wehrte sich aber gegen einige Darstellungen von Joseph und der Presse, die ihm die Schuld am Kriegsausbruch gaben. Howard schilderte darin auch, wie er als Militärbefehlshaber in die Probleme mit den Nez Percé verwickelt wurde: Zum einen gingen bei ihm Beschwerden von weißen Siedlern ein, teilweise in offizieller Form. Zum anderen forderte auch die Indianerbehörde militärische Unterstützung an, woraufhin Howard von übergeordneten Befehlsstellen entsprechende Befehle erhielt. Seine Aufgabe, so Howard, bestand darin, Kämpfe zwischen bewaffneten Siedlern und Indianern zu verhindern, die frei herumstreifenden Indianer in die für sie bereitgestellte Reservation zu bringen und den Frieden wiederherzustellen. In Bezug auf die Kapitulationsbedingungen argumentierte Howard, dass die Flucht der Indianergruppe unter Führung von White Bird die erste von den Indianern begangene Verletzung der Bestimmungen darstelle. Darüber hinaus plädierte Howard auch hier dafür, die Nez Percé vorerst im Indianerterritorium zu belassen. Erst 1883 erlaubte man einem Teil von ihnen, zum Rest des Stammes in das Lapwai-Reservat in Idaho zurückzukehren. Joseph und anderen wurde dies jedoch nicht gewährt – sie wurden in den Bundesstaat Washington in das Colville-Reservat gebracht. Den Rest seines Lebens verbrachte Joseph damit, für die Rückkehr in seine geliebte Heimat zu kämpfen – vergeblich, denn er starb 1904 in Colville. Das Schicksal der nach Kanada entkommenen Nez Percé Mehrere Gruppen der Nez Percé hatten sich vor und nach Josephs Kapitulation durch die amerikanischen Linien und nach Kanada durchgeschlagen, wo sie unter Führung von Häuptling White Bird ihr Lager bei den Sioux Sitting Bulls aufschlugen. Flucht, Vertreibung und Exil in Kanada banden die zuvor verfeindeten Sioux und Nez Percé zusammen, und die Sioux versorgten die Neuankömmlinge in der ersten Zeit mit Nahrungsmitteln. Im Frühjahr 1878 versuchten einige der nach Kanada Geflohenen, wieder in die Vereinigten Staaten zurückzukehren und sich ihren Verwandten in der Lapwai-Reservation anzuschließen. Dies wurde ihnen jedoch nicht gestattet; die Männer wurden zunächst in Fort Lapwai verhaftet, später wurden die Neuankömmlinge zu Joseph ins Indianerterritorium gesandt. Ein offizieller Versuch der amerikanischen Regierung, White Bird und den Rest seiner zu diesem Zeitpunkt 120 Menschen umfassenden Flüchtlingsgruppe zur Rückkehr zu bewegen, scheiterte. Im Laufe der folgenden Jahre gab es jedoch eine stete Abwanderung von Nez Percé, die sich zurück nach ihrer Heimat sehnten. Einige wenige Familien, darunter White Bird, blieben in Kanada, selbst dann, als Sitting Bull wieder in die Vereinigten Staaten zurückgekehrt war. White Bird wurde 1892 nach einem Streit von einem anderen Stammesmitglied ermordet. Die letzte in Kanada verbliebene Nez-Percé-Frau starb 1899 an Tuberkulose. Rezeption Bereits während des Feldzuges hatte die amerikanische Öffentlichkeit die Flucht der Nez Percé aufmerksam verfolgt. Nach der Kapitulation der Nez Percé rückte insbesondere Joseph in den Vordergrund, der mit viel Einsatz um die Rückkehr seiner Stammesmitglieder in die Lapwai-Reservation kämpfte. 1879, im selben Jahr, in dem auch sein Artikel in der North American Review erschien, reiste er nach Washington und hielt eine Rede vor Ministern und Kongressabgeordneten, und 1897 ritt er neben Miles und Howard in New York bei der Parade zur Einweihung von Präsident Grants Grabmal. Das öffentliche Interesse manifestierte sich darüber hinaus in den zahlreichen Büchern über den Feldzug, die teilweise schon kurz nach dessen Ende veröffentlicht wurden. In der Dezemberausgabe der Monatszeitschrift The Galaxy erschien bereits 1877 ein von F. L. M. verfasster Bericht über den Feldzug. 1881 erschien Howards Buch Nez Perce Joseph: An Account of His Ancestors, His Lands, His Confederates, His Enemies, His Murders, His Wars, His Pursuits and Capture, 1884 folgte sein Adjutant C. E. S. Wood mit einem Beitrag im Century Magazine, und 1889 folgte G. O. Shields’ Buch The Battle of the Big Hole. Auch in den folgenden Jahren erfolgten Publikationen, so zum Beispiel das 1940 erschienene Yellow Wolf—His own Story, in dem Lucullus Virgil McWhorter die Lebensgeschichte des 1935 verstorbenen Nez-Percé-Kriegers Yellow Wulf niedergeschrieben hatte. Helen Hunt Jackson widmete den Nez Percé ein Kapitel ihres 1881 erschienenen Buches A Century of Dishonor und kritisierte insbesondere, dass die Nez Percé entgegen der ursprünglichen Kapitulationsbedingungen nicht in die Lapwai-Reservation zurückkehren durften: „Die Bedingungen dieser Kapitulation wurden schändlich verletzt“. Neben Helen Hunt Jackson setzte sich auch die Presbyterianische Kirche und die Indian Rights Association für die Nez Percé ein. Der Druck der Öffentlichkeit wird auch als ein Faktor gesehen, der die amerikanische Regierung schließlich dazu brachte, Joseph in die Colville-Reservation und einen Teil seiner Gruppe nach Lapwai zu bringen. Neben den Kapitulationsbedingungen wurde auch der Vertrag von 1863 kritisch gesehen (für Josephs Ansicht siehe das Zitat im obigen Abschnitt). Die Vereinigten Staaten hatten den Nez Percé 1855 unter anderem das Wallowa-Tal garantiert und erwarben es 1863 von einer Gruppe von Häuptlingen, die es gar nicht bewohnte oder es gar „besaß“. Howards Adjutant Charles Erskine Scott Wood schrieb hierzu bereits 1884: Eine ähnliche Kritik findet sich bereits in einem Bericht aus dem Magazin The Galaxy vom Dezember 1877. Das Magazin zitiert eine Kommission aus dem Jahr 1873, die zum Schluss gekommen war, dass, „falls die Gesetze und Gebräuche der Indianer auf irgendeine Weise respektiert werden sollen, so bindet der Vertrag von 1863 Joseph und seine Gruppe nicht“. Gleichzeitig warnte die Kommission allerdings auch, dass aus Sicherheitsgründen entweder die Indianer oder die weißen Siedler aus der umstrittenen Gegend entfernt werden müssten. Alvin M. Josephy junior kommt in seinem 1965 erschienenen The Nez Perce Indians and the Opening of the Northwest zu einem ähnlichen Ergebnis: Er sieht in dem Vertrag von 1863 einen „betrügerischen Akt“ und schreibt weiter, (Old) Joseph und den anderen nichtunterzeichnenden Gruppen außerhalb der neuen Reservation sei „im wahrsten Sinne des Wortes das Land unter ihnen wegverkauft“ worden. Bemerkenswert ist, dass der Kampf und vor allem das Verhalten der Nez Percé im Nachhinein von vielen Amerikanern, darunter auch ihren direkten Gegnern, positiv betrachtet und beschrieben wurde. So schrieb William Tecumseh Sherman, der Feldzug gegen die Nez Percé sei „einer der außergewöhnlichsten Indianerkriege“ gewesen. Die Indianer, so Sherman weiter, „zeigten einen Mut und ein Geschick, das allgemeines Lob hervorrief. Sie verzichteten darauf, Skalpe zu nehmen; ließen gefangene Frauen frei; begingen keine wahllosen Morde an friedlichen Familien, wie sonst üblich, und kämpften mit fast wissenschaftlichem Geschick, wobei sie Gebrauch von Vor- und Nachhuten, Plänklerlinien und Feldbefestigungen machten.“. Howards Adjutant, Charles Wood, schrieb 1884 im Century Magazine: „Joseph […] kämpfte für das, was der weiße Mann, falls es mit Erfolg gekrönt ist, „Patriotismus“ nennt.“ Diese positive Betrachtungsweise zeigte sich auch in der militärischen Analyse des Feldzuges und hier insbesondere in der Art und Weise, wie Joseph von der amerikanischen Öffentlichkeit rezipiert wurde. Joseph hatte als letzter verbliebener Häuptling der Nez Percé die Flucht aufgegeben und sein Gewehr an Howard und Miles übergeben und blieb auch danach eine Art Wortführer der Flüchtigen. Aus diesem Grund konzentrierte sich die Aufmerksamkeit der Amerikaner vor allem auf ihn und man sah in ihm den alleinigen politischen und vor allem militärischen Anführer der Nez Percé. Besonders offenbar wird dies in Howards Buchtitel: „Nez Perce Joseph: an account of his ancestors, his lands, his confederates, his enemies, his murders, his war, his pursuit and capture“. Howard bescheinigte Joseph eine „bemerkenswerte Führung“ und lobte seine militärischen Fähigkeiten. Dieses Bild von Joseph verstärkte sich in der Folgezeit noch mehr, er wurde zum „Roten Napoleon“ verklärt, und Mitte des 20. Jahrhunderts gab es sogar Bewunderer, die forderten, man solle ihn posthum zum Fünf-Sterne-General des amerikanischen Heeres ernennen. Zur selben Zeit begann allerdings auch ein Hinterfragen der Rolle Josephs. Die Analyse indianischer Aussagen und Berichte, insbesondere durch Lucullus McWhorter, zeigte, dass Joseph primär ein Anführer in Friedenszeiten gewesen war. Eine hierauf aufbauende Untersuchung von Bruce Haines aus dem Jahr 1954 bestätigte dieses Bild. Haines sah die Erfolge der Nez Percé nicht in der Genialität eines einzigen Anführers begründet. Zum einen waren mit Looking Glass, White Bird, Toohoolhoolzote, Ollokot, Rainbow und Five Wounds eine ganze Reihe von Kriegern an der Führung der Kämpfe beteiligt gewesen, zum anderen hätten auch die individuellen Krieger bei den Erfolgen eine entscheidende Rolle gespielt. Haines kam daher zum Schluss, dass Joseph nicht der wichtigste militärische Führer der Nez Percé war, eine Erkenntnis, die auch von späteren Autoren geteilt wurde. Einen weiteren Grund für die Verklärung Josephs zum militärischen Genie sieht Haines in der Erfolglosigkeit der beteiligten Amerikaner: „Um ihre eigenen Fehler und Schwächen herunterzuspielen, neigten die Offiziere dazu, das Geschick der indianischen Anführer zu übertreiben.“ Andere Autoren bescheinigen Howard und seinen Untergebenen ein besseres Bild: So litt auch er unter Versorgungsproblemen, insbesondere, was frische Pferde anging, und er hatte an mehreren Stellen (z. B. bei Fort Fizzle) schlichtweg Pech. Es sei deswegen zweifelhaft, ob die lange Dauer des Feldzuges Howards Fehlern oder vielmehr diesen äußeren Umständen geschuldet war. Gedenkstätten Die Schlachtfelder des Feldzuges sind heute, gemeinsam mit anderen historischen Stätten der Nez Percé (wie zum Beispiel Josephs Grab) Teil des Nez Perce National Historical Park, der insgesamt 38 Stätten in den Bundesstaaten Idaho, Montana, Oregon und Washington umfasst. Die Route der Nez Percé ist seit 1986 unter dem Namen Nez Perce National Historic Trail Teil des National Trails System. Literarische und filmische Bearbeitungen Der Kampf der Nez Percé diente neben zahlreichen Sachbüchern auch belletristischen Autoren als Stoff und Grundlage, so zum Beispiel Werner J. Egli für seinen Roman Als die Feuer erloschen. Darüber hinaus ist der Nez-Percé-Krieg auch Gegenstand von Film-Adaptionen, wie zum Beispiel der Produktion für das amerikanische Fernsehen unter dem deutschen Titel Ich kämpfe niemals wieder. Joseph wird darin von Ned Romero verkörpert, General Howard von James Whitmore, und Sam Elliott spielt Howards Adjutanten Charles Wood. Siehe auch Indianerpolitik der Vereinigten Staaten Zeittafel der Indianerkriege Literatur John A. Carpenter: Sword and Olive Branch – Oliver Otis Howard, Fordham University Press, New York, 1999 (Erstauflage 1964), ISBN 978-0-8232-1988-9. Carpenter († 1978), der in New York lehrte, verfasste eine Biografie des 1909 verstorbenen Howard, die seine Stärken belegt, und die sich gegen Biografien wandte, die Howard scharf kritisierten. Jerome A Greene: Nez Perce Summer, 1877: The U. S. Army and the Nee-Mee-Poo Crisis. Helena, Montana 2000, ISBN 0-917298-82-9. Grundlegende Arbeit des National-Park-Historikers (online). Francis Haines: Chief Joseph and the Nez Perce Warriors, Pacific Northwest Quarterly, 45.1, Januar 1954, S. 1–7. Chief Joseph und William H. Hare: An Indian’s Views of Indian Affairs, North American Review, April 1879, S. 412–434, online verfügbar auf cornell.edu. Oliver Otis Howard: The True Story of the Wallowa Campaign, North American Review, Juli 1879, S. 53–65, online verfügbar auf cornell.edu. Alvin M. Josephy Jr.: The Nez Perce Indians and the Opening of the Northwest, Yale University 1965, erneut: New York: Mariner, 1997, ISBN 978-0-395-85011-4. Eine der Publikationen, die die Abkehr von der Terminationspolitik, die 1961 eingesetzt hatte, unterstützten (vgl. Indianerpolitik der Vereinigten Staaten). Duncan MacDonald, Wilfried Homann: Es wird viele Tränen geben. Der Nez Percé-Feldzug 1877, Übersetzung von 2002. ISBN 3-89510-084-6. MacDonald war als Dolmetscher bei den Verhandlungen mit White Bird in Kanada. Er selbst stammte von Schotten und Nez Perce ab. Auf dieser Grundlage erstellte er für eine Zeitung einen Bericht über den Kriegsverlauf. Stuart Christie: When Warriors and Poachers Trade: Duncan MacDonald’s Through Nez Perce Eyes and the Birth of Separate Sovereignties During the Nimiipu War of 1877, in: Journal of Colonialism and Colonial History 12,1 (2011). Diskutiert u. a. die Frage, ob der Nez-Perce-Krieg am Anfang der bis heute andauernden Souveränitätsdebatte der indigenen Völker Nordamerikas steht. Charles Erskine Scott Wood: Chief Joseph, the Nez Percé, The Century Illustrated Monthly Magazine. Vol. 28 (Mai-October 1884), S. 136–142, online verfügbar auf cornell.edu. Lynn N. und Dennis W. Baird: In Nez Perce Country. Accounts of the Bitterroots and the Clearwater after Lewis and Clark, University of Idaho Library, 2003, ISBN 0-89301-503-2. Beste Darstellung für die Zeit zwischen etwa 1800 und 1877, zudem mit z. T. bis dahin unveröffentlichten Quellen bereichert. Dietmar Kuegler: „Ich bin des Kämpfens müde“. Der Nez-Perce-Feldzug. In: Pallasch. Zeitschrift für Militärgeschichte. Bd. 10 (2006), Heft 22, S. 3–38. Weblinks Nez Perce Campaign 1877 – Beschreibung des Feldzugs The Flight of the Nez Perce – A Timeline – Zeitleiste Anmerkungen Feldzug gegen die Nez Perce Krieg der Vereinigten Staaten Krieg (Nordamerika) Krieg (19. Jahrhundert) Geschichte der Vereinigten Staaten (1865–1918) Geschichte von Oregon Geschichte von Idaho Geschichte von Wyoming Geschichte von Montana Konflikt 1877
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https://de.wikipedia.org/wiki/Tibetfuchs
Tibetfuchs
Der Tibetfuchs (Vulpes ferrilata), gelegentlich auch tibetischer Sandfuchs, ist eine Art der Echten Füchse (Vulpini), die in den Steppen- und Halbwüstengebieten im Hochland von Tibet in Höhen von 2500 bis 5200 Metern verbreitet ist. Die Art hat ein dichtes Fell, das oberseits blass gräulich, agouti- oder sandfarben ist, die Körperseiten sind eisengrau. Er ernährt sich vor allem von Pfeifhasen und anderen Kleinsäugern. Tibetfüchse sind monogam, die Weibchen bringen meist zwei bis fünf Jungtiere in einem Erdbau zur Welt. Gesicherte Angaben zur Bestandsgröße oder zur Bestandsentwicklung gibt es nicht. Der Tibetfuchs wird in seinem gesamten Verbreitungsgebiet in geringem Umfang wegen seines Pelzes bejagt. Aufgrund des großen Verbreitungsgebietes und der derzeit fehlenden ernsthaften Gefährdungen stuft die International Union for Conservation of Nature and Natural Resources (IUCN) ihn als „nicht gefährdet“ (Least concern) ein. Merkmale Allgemeine Merkmale Die Angaben zu Körpermaßen und -gewichten des Tibetfuchses in der Literatur sind nicht einheitlich. Nach Schaller & Ginsberg (2004) hatten 7 Männchen eine Kopf-Rumpf-Länge von 56 bis 65 cm, im Mittel 58,7 cm, eine Schwanzlänge von 26 bis 29 cm, im Mittel 27,9 cm und ein Gewicht von 3,8 bis 4,6 kg, im Mittel 4,1 kg. Die entsprechenden Werte von 8 Weibchen waren: Kopf-Rumpf-Länge 49–61 cm, im Mittel 55,4 cm, Schwanzlänge 22–26 cm, im Mittel 23,9 cm und Gewicht 3,0–4,1 kg, im Mittel 3,5 kg. In den chinesischen Provinzen Qinghai und Sichuan in den Jahren 2003 bis 2007 gefangene Tiere waren jedoch 12–25 % größer und schwerer; 13 Männchen erreichten im Mittel 67,3 cm Kopf-Rumpf-Länge und 6 dieser Männchen ein Gewicht von im Mittel 4,9 kg, 6 Weibchen hatten eine mittlere Kopf-Rumpf-Länge von 62,8 cm und wogen im Mittel 3,9 kg. Die Schwanzlänge entspricht etwa 50 % der Körperlänge. Ein auf ein Alter von einem Jahr geschätztes Weibchen maß 57,5 cm und hatte ein Gewicht von 3,5 kg. Beide Untersuchungen zeigen jedoch, dass Männchen im Mittel deutlich größer und schwerer sind als Weibchen. Die Art ist größer als der Steppenfuchs, dessen Verbreitungsgebiet sich in Teilen mit dem des Tibetfuchses überschneidet, der Steppenfuchs hat zudem im Vergleich längere Beine und größere Ohren. Besonders charakteristisch ist das Gesicht, das vor allem durch eine lange, schmale Schnauze gekennzeichnet ist. Das dichte, buschige Fell ist oberseits von der Schnauze über den Kopf, Nacken und Rücken blass gräulich, agouti- oder sandfarben, mit einem gelbbraunen Längsstreifen auf dem Rücken. Die Wangen und die Körperseiten einschließlich der Beckenregion sind gräulich. Die Unterseite ist heller bis weiß. Die Vorderbeine sind rotbraun bis gelblich gefärbt, zwischen den Vorderbeinen und der Kehle befinden sich senkrechte graue bis schwarze Streifen. Der buschige Schwanz ist grau mit rötlich-gelbem Unterfell und einem dunklen Streifen auf der Oberseite, die Schwanzspitze ist weiß. Die Violdrüse ist wie bei den meisten anderen Hundearten durch einen dunklen Längsstreifen auf dem Schwanzfell gekennzeichnet. Die Ohren haben eine Länge von 46 bis 70 Millimetern, sie sind innen weiß und an der Außenseite entsprechend der Farbe des Kopfes gefärbt. Wie andere an kalte Regionen angepasste Füchse, etwa der Steppenfuchs und der Polarfuchs (Alopex lagopus), ist der Tibetfuchs durch die spezifischen Eigenschaften der Haut und des Felles an die Kälte angepasst. Die Hautporen haben einen maximalen Durchmesser von zwei Mikrometern und die Pelzhaare sind durch Lufteinlagerungen besonders gut wärmedämmend. Schädel- und Skelettmerkmale Der Schädel des Tibetfuchses ist langgezogen, Ober- (Maxillare) und Unterkiefer sind sehr schmal. Der Schädel hat eine Gesamtlänge von 149,0 bis 157,8 Millimetern mit einer Schnauzenlänge von 70,5 bis 80,7 Millimetern und einer oberen Zahnreihe von 63,5 bis 50,3 Millimeter Länge. Der Abstand vom Zwischenkieferbein (Praemaxillare) an der Schnauzenspitze bis zu den hintersten Punkten der Hinterhauptshöcker (Condylobasallänge) beträgt 132,5 bis 149,0 Millimeter. Im Bereich der Jochbögen hat der Schädel eine Breite von 65 bis 85,9, im Bereich der hinteren Backenzähne von 37,9 bis 39,9 Millimetern. Die Art besitzt drei Schneidezähne (Incisivi), einen Eckzahn (Caninus), vier Vorbackenzähne (Praemolares) und zwei Backenzähne (Molares) in einer Oberkieferhälfte und drei Schneidezähne, einen Eckzahn, vier Vorbackenzähne und drei Backenzähne in einer Unterkieferhälfte. Insgesamt besitzen die Tiere 42 Zähne. Die Backenzähne sind gut ausgebildet und haben aufgrund der langen Schnauze relativ große Abstände voneinander. Die Eckzähne sind im Vergleich zu denen anderer Füchse sehr lang und zugespitzt. Wie alle Hunde besitzt auch der Tibetfuchs einen Penisknochen (Baculum); dieser ist 42,2 bis 48,7 Millimeter lang und mit Ausnahme des zur Penisspitze gerichteten Kopfendes längs eingekerbt. Genetik Der Tibetfuchs hat einen einfachen Chromosomensatz (n) von 18 und einen diploiden Chromosomensatz von 2n = 36, er besitzt also insgesamt 36 Chromosomen in jeder Zelle. Dabei sind die Chromosomen 1 bis 15 metazentrisch und die Chromosomen 16 bis 18 submetazentrisch. Verbreitung und Lebensraum Der Tibetfuchs lebt in den Steppen- und Halbwüstengebieten im Hochland von Tibet. Sein Verbreitungsgebiet reicht von der Nordgrenze der indischen Provinz Ladakh und dem nördlichen Nepal über das gesamte Autonome Gebiet Tibet sowie Teile der angrenzenden chinesischen Provinzen Xinjiang, Qinghai, Gansu, Sichuan und Yunnan. Wahrscheinlich ist die Art auch im nördlichen Bhutan anzutreffen. Der Lebensraum der Tibetfüchse liegt in Höhen von 2500 bis 5200 Metern, in China in der Regel oberhalb 3500 Meter. Sie leben in halbtrockenen bis trockenen Steppen- und Halbwüstengebieten, die sich vor allem durch felsige und steinige Berghang- und Graslandflächen auszeichnen. Die Temperaturen in den Lebensräumen reichen von etwa 30 °C im Sommer bis −40 °C im Winter, wobei die Hauptniederschlagsmenge im Sommer fällt, bei einer jährlichen Niederschlagsmenge von 100 bis 500 Millimetern. Lebensweise Tibetfüchse leben und jagen allein oder in Paaren. Sie sind tagaktiv, da ihre Beutetiere ebenfalls am Tag aus ihren Bauen kommen. Die Häufigkeit ihres Vorkommens hängt vor allem von der Verfügbarkeit von Beutetieren ab. Bei Zählungen wurden in der beutetierarmen Region Nordwest-Tibet bei einer Fahrtstrecke von 1848 Kilometern nur fünf Tibetfüchse gesichtet, während in Qinghai auf 367 Kilometern 15 und in Sêrxü auf einer Strecke von 11 Kilometern sogar 8 Füchse beobachtet werden konnten. Die Füchse bilden oder verteidigen keine Reviere, häufig leben mehrere Paare direkt beieinander und nutzen die gleichen Jagdgebiete. Die Kommunikation erfolgt vor allem durch kurzes Bellen über kurze Distanzen, eine Kommunikation über längere Distanzen ist unbekannt. Die Fuchsbaue liegen meistens unterhalb von Felsen oder Baumreihen im Grasland mit moderater Steigung, allerdings nicht in stark sonnenexponierter Südhanglage. Zudem spielt die Vorkommensdichte der Beutetiere und die Nähe von Wasserstellen eine Rolle bei der Wahl des Ortes. Die Baue haben meist einen Eingang, können jedoch auch mehrere Eingänge haben. Bei Vermessungen von etwa 90 Fuchsbauen wurde festgestellt, dass der Eingangsbereich eine Weite von durchschnittlich 17 Zentimeter und eine Höhe von durchschnittlich 24,9 Zentimeter hat, der erste Tunnel ist durchschnittlich etwa 170 Zentimeter lang. Ernährung Hauptbeutetier des Tibetfuchses ist der Schwarzlippige Pfeifhase (Ochotona curzoniae), der regional bis 95 % der Beute ausmachen kann. Der Pfeifhase stellt eine Schlüsselart im Ökosystem dar und ist die Hauptbeute fast aller kleineren Raubtiere des Plateaus wie des Tibetfuchses, des Rotfuchses (Vulpes vulpes), des Altaiwiesels (Mustela altaica) und des Manul (Otocolobus manul). Studien zur Verbreitung und Bestandszahl von Tibetfüchsen in Abhängigkeit zu den Beständen der Pfeifhasen deuten darauf hin, dass der Tibetfuchs abhängig von der Präsenz der Pfeifhasen als Nahrungsquelle ist und in Gegenden, in denen dieser fehlt auch der Tibetfuchs nicht anzutreffen ist. In dieser Untersuchung enthielt etwa 99 % des untersuchten Fuchskots DNA der Pfeifhasen, davon 97 % hauptsächlich und 73 % ausschließlich Pfeifhasen-DNA. Regional als Beute bedeutend können zudem der Chinesische Blindmull (Myospalax fontanierii), das Himalaya-Murmeltier (Marmota himalayana) und der Tibetanische Wollhase (Lepus oiostolus) sowie weitere kleine Nagetiere der Gattungen Alticola, Cricetulus und Pitymys sein. In Qinghai konnten Tibetfüchse beobachtet werden, die Braunbären (Ursus arctos) bei ihrer Jagd nach Pfeifhasen begleiteten und Individuen fingen, die den Bären beim Ausgraben entwischten. Dabei hielten sie einen Abstand von mindestens 30 Metern, solang der Bär nicht zu graben begonnen hatte, näherten sich jedoch bis auf zwei Meter, wenn er nach den Pfeifhasen grub. Zudem erbeutet der Tibetfuchs eine Reihe kleinerer Vögel wie die Ohrenlerche (Eremophila alpestris), den Adams-Schneesperling (Montifringilla adamsi), das Tibetrebhuhn (Perdix hodgsoniae) und die Höhlenmeise (Pseudopodoces humilis) sowie Echsen, beispielsweise Phrynocephalus theobaldi, und Insekten. Der Tibetfuchs ernährt sich außerdem zu geringen Anteilen als Aasfresser von den Beuteresten von Wölfen und Bären sowie von pflanzlicher Nahrung wie Gräsern und Beeren. Als Aas sind vor allem der Tschiru (Pantholops hodgsonii), das Blauschaf (Pseudois nayaur) und das Himalaya-Moschustier (Moschus leucogaster) bedeutend. Fortpflanzung Gemeinhin wird die Paarungszeit der monogamen Tibetfüchse im späten Februar bis März angenommen. Die zwei bis fünf Welpen kommen demnach nach einer Tragzeit von 50 bis 60 Tagen im Mai in Erdbauen zur Welt. Bei einer Untersuchung in der Provinz Qinghai wurden jedoch Würfe im späten Januar bis frühen Februar beobachtet, die Paarung würde in diesem Fall im Dezember stattfinden. Die Jungtiere wiegen bei der Geburt 60 bis 120 Gramm und sind Nestlinge. Sie verlassen die Baue erst nach einigen Wochen, der Zeitpunkt der Entwöhnung ist unbekannt. Bei der benannten Untersuchung in Qinghai konnte beobachtet werden, dass die Jungtiere von einem männlichen Fuchs begleitet bereits Anfang Februar den Bau verließen und dieser für die Jungtiere Pfeifhasen tötete. Die Jungtiere hatten bis zum Mai bereits 3/4 der Körpergröße der Eltern erreicht und nach Anfang Juni den Bau der Eltern verlassen. Fressfeinde und Parasiten Vor allem streunende und verwilderte Haushunde sowie Wölfe und verschiedene Greifvögel gehören zu den Fressfeinden des Tibetfuchses. Als Parasiten treten vor allem der Fuchsbandwurm (Echinococcus multilocularis) sowie der nahe verwandte Echinococcus shiquicus auf, wobei der Anteil der mit Echinococcus parasitierten Füchse beispielsweise in Sichuan etwa 59 % ausmacht. Die Larvenstadien der Echinococcus-Arten stammen dabei aus den Beutetieren, vor allem den Pfeifhasen, wobei Echinococcus shiquicus erst 2005/2006 als neue Art aus dem Schwarzlippigen Pfeifhasen und dem Tibetfuchs erstbeschrieben wurde. Als Ektoparasiten trägt der Tibetfuchs vor allem die beiden Zeckenarten Callopsylla dolabris und Oropsylla silantiewi. Systematik Die wissenschaftliche Erstbeschreibung des Tibetfuchses anhand eines Exemplars aus Lhasa in Tibet stammt von Brian Houghton Hodgson aus dem Jahr 1842. Er beschrieb die Art als Vulpes ferrilatus, ordnete sie also bereits mit der Erstbeschreibung in die heutige Gattung Vulpes ein. Der Artname ferrilatus leitet sich von den lateinischen Worten ferrum für Eisen und latum für weit oder breit ab und bezieht sich auf die eisengrauen Körperseiten. 1937 wurde die Geschlechtsform von Reginald Innes Pocock auf V. ferrilata korrigiert. 1884 beschrieb Nikolai Michailowitsch Prschewalski einen Fuchs aus dem nördlichen Tibet als Canis eckloni, diese Benennung wurde jedoch als Synonym zu Vulpes ferrilata erkannt. Der Tibetfuchs wird heute gemeinsam mit neun weiteren Arten in die Gattung Vulpes eingeordnet. Auf der Basis von morphologischen und molekularbiologischen Daten wurde er von Binninda-Emonds et al. 1999 als Schwesterart des Steppenfuchses (Vulpes corsac) erkannt, beide gemeinsam bilden die Schwestergruppe eines Taxons aus dem Rotfuchs (V. vulpes) und dem Rüppellfuchs (V. rueppelli). Durch die Untersuchungen von Zrzavý & Řičánková 2004 wurde diese Position nicht bestätigt, demnach wurde der Tibetfuchs basal in der Gattung eingeordnet. Der Tibetfuchs ist monotypisch, es werden also keine Unterarten unterschieden. Fossilfunde der Art sind unbekannt. Bedrohung und Schutz Der Tibetfuchs wird in seinem gesamten Verbreitungsgebiet wie andere Füchse wegen seines Pelzes bejagt, jedoch in geringem Umfang. Die Jagd erfolgt hauptsächlich mit Fallen, die in der Nähe der Baue gestellt werden. Auf diese Weise wurden etwa in Sêrxü im Jahr mehr als 900 Füchse getötet. Die Felle werden hauptsächlich zur Herstellung von Pelzmützen verwendet, wobei jedoch das hochwertigere Fell des Rotfuchses den Fellen von Tibet- und Steppenfuchs vorgezogen wird. Zu den Hauptbedrohungen gehören Regierungsprogramme zur Reduzierung der Pfeifhasenpopulation durch Gift in einem großen Teil des Verbreitungsgebietes. Die Vergiftung der Füchse scheint nicht oft vorzukommen. Die Reduzierung oder Ausrottung der Hauptnahrungsquelle würde hingegen eine tatsächliche Bedrohung für den Bestand des Tibetfuchses darstellen. In den Anhängen der Convention on International Trade in Endangered Species of Wild Fauna and Flora (Washingtoner Artenschutzübereinkommen) ist der Tibetfuchs nicht verzeichnet. In China gibt es mehrere Schutzgebiete, in denen der Fuchs lebt und geschützt ist, wobei der Schutz dort aber nur unzureichend durchgesetzt wird. Zu diesen Schutzgebieten gehören Arjin Shan (45.000 km²), Xianza (40.000 km²), Changthang (ca. 334.000 km²), Hoh Xil (ca. 45.000 km²) und das Sanjiangyuan-Naturschutzgebiet (ca. 152.000 km²). Außerhalb der Schutzgebiete ist die Art ungeschützt. Gesicherte Angaben zur Bestandsgröße oder zur Bestandsentwicklung gibt es nicht, eine als sehr grob und unsicher eingestufte Schätzung im Jahr 1989 ergab einen Weltbestand von etwa 37.000 Tieren. Aufgrund des großen Verbreitungsgebietes und derzeit fehlenden ernsthaften Gefährdungen stuft die International Union for Conservation of Nature and Natural Resources (IUCN) die Art als „nicht gefährdet“ (Least concern) ein. Belege Literatur Don E. Wilson, Russell A. Mittermeier (Hrsg.): Handbook of the Mammals of the World. Volume 1: Carnivores. Lynx Edicions, Barcelona 2009. ISBN 978-84-96553-49-1. Claudio Sillero-Zubiri, Michael Hoffmann, David W. Macdonald (IUCN/SSC Canid Specialist Group): Canids: Foxes, Wolves, Jackals and Dogs Status Survey and Conservation Action Plan. IUCN – The World Conservation Union, 2004; S. 148–151 (). Weblinks Hunde
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https://de.wikipedia.org/wiki/Rennrodelbahn%20Oberhof
Rennrodelbahn Oberhof
Die Rennrodelbahn Oberhof (Sponsorenbezeichnung seit 2020: LOTTO Thüringen Eisarena Oberhof) ist eine Kunsteisbahn für den Rennrodel-, Skeleton- und Bob-Sport bei Oberhof in Thüringen. Sie wurde als weltweit zweite künstlich vereisbare Rodelbahn von 1969 bis 1970 erbaut und 1971 eingeweiht. Ihre Gesamtlänge beträgt nach mehreren Umbauten 1354,5 Meter bei fünfzehn Kurven (Wettkampflänge 1069,70 Meter und vierzehn Kurven). Aufgrund der hohen Geschwindigkeit und der kurzen Abfolge von engen Kurven gilt die Bahn als technisch schwierig. In den Jahren 1973, 1985 und 2008 wurden auf dieser Bahn die Rennrodel-Weltmeisterschaften ausgerichtet. Für die Weltmeisterschaften 2023 wurde die Kunsteisbahn zum vierten Mal für diese Titelkämpfe ausgewählt. Auf ihr finden Rennrodel-Weltcups statt, jedoch keine Bob- und Skeleton-Weltcups, weil die für den Bobsport nötige Anschubstrecke fehlt. Sie ist auch für den Tourismus ein Anziehungspunkt, da sie mit Gästebobs befahrbar ist. Hierbei kam es im Februar 2023 zu einem Unfall. Die Bahn wird regelmäßig von verschiedenen Nationalmannschaften einschließlich der deutschen Rennrodler und Bobfahrer als Trainingsbahn benutzt. Lage Die Rodelbahn befindet sich etwa 1,5 Kilometer nordwestlich von Oberhof am nördlichen Hang des 903,8 Meter hohen Schützenbergs an den Fallbächen und an der Landesstraße 128 von Oberhof nach Steinbach-Hallenberg und etwa einen Kilometer zum Grenzadler mit der Lotto Thüringen Arena am Rennsteig. Der Startbereich der Bahn liegt direkt an der Straße nach Steinbach-Hallenberg, der Zielbereich in der Nähe des Oberen Schweizer Hofes, des ehemaligen Gästehauses des Politbüros der SED. In der Nähe des Zieles befindet sich die Talstation der Zweier-Seilbahn Fallbachlift, die über die Rodelbahn zur Bergstation verläuft. Die Rodelbahn liegt etwa 800 Meter über Normalhöhennull und ist durch ihre zentrale Lage im Thüringer Wald im Winter relativ nebelanfällig. Beschreibung Die Rodelbahn ist eine Sportanlage des Leistungszentrums Oberhof des Olympiastützpunktes Thüringen, des Zentrums der Wintersport-Nachwuchsförderung in Thüringen und steht Spitzen- und Nachwuchssportlern der dort stationierten Sportfördergruppe der Bundeswehr und dem Sportgymnasium zur Verfügung. Die Bahn dient Rennrodlern und Bobfahrern aus allen Ländern zum Fahrtraining und für die Durchführung von Wettbewerben. Sie wurde als reine Rennrodelbahn konzipiert und verfügt deswegen nicht über die übliche Anschubstrecke für den Bobsport. Aufgrund der kurz hintereinander liegenden engen Kurven gilt die Bahn als technisch anspruchsvoll und als eine der schwierigsten weltweit. Im Gegensatz zu den meisten anderen Rodelbahnen hat sie keine langen Gleitpassagen, sondern die Kurven gehen ineinander über. Seit der Eröffnung musste die Bahn mehrfach durch Umbau an die zunehmenden Geschwindigkeiten angepasst werden, indem teilweise Kurven verlagert und aufgeweitet wurden. Wettkampfmäßig wird sie nur für Rennrodeln und Skeleton genutzt. Internationale Bobrennen finden nur bei Einladungsveranstaltungen wie dem Hoppe-Challenge-Cup statt. Die Bahnbetreiber bieten Sommerbobfahren und im Winter Gästebobfahrten an, bei denen die Bobs von erfahrenen Bobfahrern gelenkt werden. Die Bahn wird im Oktober künstlich vereist und dann durch Kühlung bis zum Ende der Wintersportsaison erhalten. Dazu wird durch die in der Bahn verlaufenden Kühlrohre Ammoniak gepumpt, das dem Beton die Wärme entzieht. Aufgesprühtes Wasser gefriert auf dem unterkühlten Beton sofort zu Eis, das nach der Präparierung bis zum Frühjahr hält. Trainingsbetrieb findet auf der Bahn bis zu Außentemperaturen von 18 Grad Celsius statt. Seit dem Jahre 2001 hat die Rodelbahn im Zielbereich eine spezielle Startanlage, auf der die Sportler den Rodel- und Bobstart trainieren können. Die Bahn wird bei starker Sonneneinstrahlung mit Sonnensegeln abgedeckt, um das Schmelzen des Eises zu verhindern. Die Segel schützen auch vor Niederschlägen. Bahndaten Die Rodelbahn überwindet einen Höhenunterschied von beinahe 100 Metern. Der Herrenstart befindet sich auf 831,50 Meter über Normalnull und das Ziel auf 735,13 Meter. Das durchschnittliche Gefälle beträgt 9,2 Prozent. Bei der größten Wettkampflänge sind vierzehn Kurven zu befahren. Beim letzten Umbau im Jahre 2006 wurde eine weitere Kurve 15 hinter dem Zielbereich als Auslauf angefügt. Die gefahrene Zeit wird jedoch bereits nach der Kurve 14 gemessen. Die Kurven sind mit einem Radius zwischen zwölf und etwa zwanzig Metern mit Ausnahme der Kurve 9 (Radius 30 Meter) sehr eng. Auf der Bahn werden Höchstgeschwindigkeiten bis zu 120 Kilometer pro Stunde erreicht. Je nach Sportart und Geschlecht gibt es mehrere Startpositionen. Das oberste Starthäuschen, der Herrenstart, wird für Rodeln, Skeleton und Bob benutzt. Bahnabwärts folgt vor Kurve 4 der Damenstart. Dieser dient dem Rodeln und Skeleton der Frauen und dem Männerdoppel. Der Juniorenstart mündet bei Kurve 8 in die Bahn, der Pionierstart für die jüngsten Fahrer vor Kurve 12. Die Rodelbahn hat seit ihrem letzten Umbau im Jahre 2006 eine Gesamtlänge von 1354,50 Metern, wobei die maximale Wettkampflänge (Herrenstart) 1069,70 Meter beträgt. Beim Damenstart beträgt die Wettkampflänge 945,60 Meter. Zwischen den beiden Umbauphasen 1996 und 2006 betrug die Gesamtlänge der Bahn 1235,00 Meter bei einer Wettkampflänge beim Herrenstart von 1063,50, beim Damenstart von 930,40 und beim Jugendstart von 665,40 Metern. Von der Eröffnung 1971 bis zum ersten Umbau 1996 war die Gesamtlänge der Bahn 1113,11 Meter (Wettkampflänge vom Herrenstart 1032,89 Meter und vom Damenstart 930,40 Meter). Die Startanlage für den Bob-Start ist insgesamt 117 Meter lang, die Anfahrtsstrecke hat eine Länge von 32 Metern mit einem Gefälle von zwei Prozent. Das Mittelstück ist 40 Meter lang und hat ein Gefälle von sieben Prozent, der Auslauf ist 45 Meter lang bei einer Steigung von 20 Prozent. Für das Rennrodeln beträgt die Gesamtlänge 77 Meter, die Anfahrtsstrecke ist 16,25 Meter lang bei einem Gefälle von 26,8 Prozent. Das 15 Meter lange Mittelstück hat kein Gefälle, der Auslauf ist 42 Meter lang bei einer Steigung von sieben Prozent. Liste der Rekorde Die Bahn wurde 1996, 2006 und 2020 bis 2022 umgebaut, wobei sich jeweils die Bahnlänge änderte. Nach jedem Umbau gab es neue Bahnrekorde. Aufgeführt ist auch der erste Bahnrekord. Eine weitere Liste nennt die Startrekorde. Bahnrekorde Startrekorde Geschichte In Oberhof gab es bereits 1905 die erste Bobbahn. Die Wadebergbobbahn wurde im Jahre 1908 mit einer Länge von 1908 Metern, einem maximalen Gefälle von zwölf Prozent und einem durchschnittlichen Gefälle von neun Prozent in Betrieb genommen. Die Bahn hatte als erste in Deutschland einen elektrischen Schlitten- und Personenaufzug und eine elektrische Zeitnahme. Im Laufe der Zeit wurden in Oberhof mehrere Rodel- und Bobbahnen gebaut, so dass die Bahnen gleichzeitig von verschiedenen Vereinen genutzt werden konnten. Oberhof war das Zentrum im Renn- und Bobsport in Deutschland. Auf der Wadebergbobbahn fanden im Jahre 1931 die Bobweltmeisterschaften im Zweierbob statt. Die Rennen auf dieser Bahn, wie zum Beispiel zahlreiche Deutsche Meisterschaften, zogen teilweise bis zu 40.000 Besucher an. Planung Ende der 1960er Jahre war die Bobbahn am Wadeberg nicht mehr zeitgemäß, die anderen Bahnen waren bereits früher stillgelegt worden. Die Vorbereitung der Bahn war in jedem Winter mit einem hohen Aufwand verbunden. Wärmeeinbrüche über einen längeren Zeitraum verhinderten häufig die Durchführung geplanter Wettbewerbe. Damit haben alle Bahnen der Welt Probleme, wenn sie nicht, wie beispielsweise St. Moritz, auf großer Höhe liegen. Im Berchtesgadener Land am Königssee wurde 1969 mit der Kunsteisbahn Königssee die erste künstlich zu vereisende Rodelbahn der Welt errichtet. In Oberhof reiften Pläne, auch dort eine Bahn künstlich zu vereisen, um sie wetterunabhängig zu machen. Am 8. April 1969 beschloss das Politbüro des Zentralkomitees der Sozialistischen Einheitspartei Deutschlands (SED) die Entwicklung des Leistungssports bis zu den Olympischen Winterspielen 1972 in Sapporo in allen Sportarten. Um den Sportlern bestmögliche Trainingsbedingungen für das bevorstehende Großereignis zu bieten, wurde der Bau einer Kunsteisbahn beschlossen. Vorgesehen waren eine natürlich zu vereisende Rennschlittenbahn in Oberwiesenthal und eine künstlich zu vereisende Bahn in Oberhof, dem Zentrum des Wintersports in der DDR. Hierbei spielten die Kosten nur eine untergeordnete Rolle. Mit der Planung des Bahnverlaufs und der Berechnung der Kurvengeometrie war ab 1968 die Staatliche Projektierung Sportbauten mit Sitz in Leipzig betraut. Das Stuttgarter Planungsbüro Deyle, das bereits die Bahn am Königssee projektiert hatte, begann mit den Planungsarbeiten für das Kältesystem in der Bahnschale im Jahre 1969. Als Bauleiter fungierte der Bauingenieur Dieter Schmidt aus Schmiedefeld am Rennsteig, der bereits zehn Jahre vorher beim Bau der Hans-Renner-Schanze im Kanzlersgrund tätig gewesen war. Ihm oblag es auch, den Standort für die neue Bahn zu suchen. Es gab erste Überlegungen, sie parallel zur alten Wadebergbobbahn zu bauen. Dieser Standort wurde allerdings wegen der ungünstigen Südhanglage verworfen. Weitere mögliche Standorte waren das Pfanntal, der Kanzlersgrund, dort als zusätzliches Bauwerk zur Sprungschanze, und an den Fallbächen. Letzterer setzte sich schließlich durch. Dort kam unterstützend hinzu, dass ein vorhandener Wanderweg den Verlauf der Bahn schon vorgab. Probleme gab es, weil der vorgesehene Standort im Einzugsgebiet der Ohra-Talsperre lag. Schließlich kam es zur Einigung zwischen der Sportführung der DDR, den Naturschützern und den Wasserwirtschaftlern. Bau Das Straßen- und Tiefbaukombinat aus Suhl begann im Mai 1970 mit den Erdarbeiten. Die Planungen hatte das Wissenschaftlich-Technische Zentrum für Sportbauten (WTZ) Leipzig vom Planungsbüro Deyle übernommen. Jugoslawische Firmen, die vorher die Hotels Panorama und Rennsteig gebaut hatten, übernahmen die Betonarbeiten. Die Einschalung der Kurven bereitete den Bauarbeitern Probleme, da sie es bisher nur mit geraden Flächen zu tun hatten. Informationen über den Bau der Königsseebahn wurden eingeholt, wo Parkettleger aus Italien die Schalungen der Kurven vor Ort ausgeführt hatten. Aus Zeitgründen war dies in Oberhof nicht möglich, da die Bahn 1971 rechtzeitig für das Training zu den Olympischen Spielen stehen sollte. Einheimische Konstrukteure und Bauingenieure lösten das Problem, indem sie durch Großrechner Querprofile der Bahn berechnen ließen, die als Stahlkonstruktion ausgeführt werden konnten. Die Baufirma des Bauingenieurs Ulrich Müther entwickelte zusammen mit dem WTZ für Sportbauten Leipzig das Betonspritzverfahren für den Bau von Bob- und Schlittenbahnen. Dieses Verfahren kam erstmals auf der Schlittenbahn von Oberhof zur Anwendung. Auf separaten Kurvenabschnitten aus Drahtnetz wurde Beton aufgespritzt, ohne dabei eine Schalung zu verwenden. An der Stelle der späteren Bahn wurden Betonfundamente erstellt, auf die später die Stahlträger aufgesetzt wurden. Auf die Stahlträger wurden dann parallel zueinander verlaufende Kälterohre verlegt. Anschließend erhielt die Konstruktion von der Baufirma Müther ein stabilisierendes Stahlnetz. Abschnitte von jeweils 60 Meter Länge waren am Grenzadler vormontiert und zur Baustelle transportiert worden. An der Baustelle wurden dann die einzelnen Bahnabschnitte zusammengefügt. Diese Methode war so überzeugend, dass später alle Bahnen nach diesem Baukastenprinzip errichtet wurden. Ein Großteil des Stahlskeletts der Bahn war im September 1970 fertig, so dass der Beton aufgespritzt werden konnte. Es wurde ein sehr feiner Zement verwendet, damit die Betonmasse nicht auf den geneigten Flächen herunterlief. Die Einbetonierung des gesamten Stahlgerüstes geschah innerhalb von zwei Monaten vom 6. September bis 6. November. Im Winter 1970/71 folgte der Bau des Kältemaschinenhauses. Im Frühjahr 1971 wurde die Bahn erstmals probeweise vereist und Rodelversuche durchgeführt. Im März, als um die Bahn noch eine Großbaustelle war, fanden die ersten Testläufe statt. Man begann an der untersten Kurve und verlegte den Start jeweils eine Kurve nach oben, wobei sich die Geschwindigkeiten entsprechend erhöhten. Der Rennrodler Lutz Anschütz war der Erste, der von ganz oben startete. Noch bevor die Bahn fertiggestellt und getestet war, vergab der Internationale Rodelverband (FIL) die Rodelweltmeisterschaften 1973 nach Oberhof. Die Verkabelungen wurden im Sommer 1971 vorgenommen. Im Herbst 1971 fanden weitere, meistens geheime Testfahrten statt, bei denen es zu einem Unglück kam. Der damalige Trainer Gottfried Legler wollte mit einem mit Rädern versehenen Schlitten einen Testlauf durchführen. Beim ersten Lauf gab es Kommunikationsprobleme, da noch keine Sprechfunkanlage installiert war. Gleichzeitig befanden sich Bauarbeiter in der Bahn, die einen Eisenstab zur Justierung der Lichtschranke anbrachten. Der Rodler Erich Enders raste in diese Eisenstange, hob jedoch seine Füße instinktiv an, so dass er quer über die Bahn flog. Der Schlitten wurde an der Stange zerstört. Enders blieb wie durch ein Wunder unverletzt. Das erste offizielle Training in der neuen Bahn fand im September 1971 statt. Ende des Jahres 1971 war sie fertiggestellt. Die Baukosten beliefen sich auf 35 Millionen Mark. Mit der Fertigstellung wurde die Wadebergbobbahn als letzte natürlich vereiste Bahn in Oberhof stillgelegt. Eröffnung Die ersten Bahnrekorde wurden am 25. November 1971 aufgestellt. Der Oberhofer Wolfgang Scheidel kam im Einsitzer auf eine Zeit von 49,751 Sekunden. Der erste offizielle Rennlauf auf der weltweit zweiten Kunsteisbahn fand anlässlich der DDR-Meisterschaften im Rennrodeln am 18. Dezember 1971 statt. Der erste internationale Wettkampf wurde im März 1972 als Testrennen für die bevorstehende Weltmeisterschaften 1973 in Oberhof durchgeführt. Die Gastgeber gewannen mit Margit Schumann, Wolfram Fiedler und den Olympiasiegern Horst Hörnlein mit Reinhard Bredow alle Wettbewerbe. Wolfram Fiedler stellte einen neuen Bahnrekord auf, der mit 48,57 Sekunden über eine Sekunde unter der alten Bestmarke von Scheidel lag. Die Rodelbahn diente nicht nur den Profisportlern. Im Jahre 1972 fanden die Kinder- und Jugendspartakiade auf der Bahn statt. Fast jedes Winter-Wochenende gab es einen Wettbewerb auf der Bahn. Im Jahre 1973 fanden in Oberhof vor insgesamt 80.000 Zuschauern die Rennrodel-Weltmeisterschaften statt. Der Präsident der FIL, Bert Isatitsch, bezeichnete diese Wettkämpfe anschließend als „einen riesigen Erfolg, der in die Geschichte des Rennschlittensports eingehen wird.“ Bei den Titelkämpfen war auch eine Delegation des schwedischen Reichsportbundes anwesend. Informationschef Wolf Lyberg, stellvertretender Generalsekretär des schwedischen NOK, äußerte sich über die Weltmeisterschaften: „Diese Zuschauerzahlen an der Rennschlittenbahn! Das kann man sich einfach nicht vorstellen: an einem Veranstaltungstag über 20.000. Ich bin wirklich begeistert.“ Bis auf die Bronzemedaille im Herrendoppel, bei dem kein dritter DDR-Rodler am Start war, gewannen die Oberhofer Sportler acht der neun Medaillen. Im Herreneinzel siegte Hans Rinn, im Dameneinzel Margit Schumann; das Herrendoppel gewannen Horst Hörnlein und Reinhard Bredow. Bobbahn Da die Bahn von Anfang an als reine Rodelbahn konzipiert war, sind auch die einzelnen Kurvenradien sehr eng ausgelegt. Als rumänische Bobfahrer im Jahre 1973 hier einzelne Fahrten unternahmen, reifte die Idee, die Bahn auch für Bobs zu nutzen. Zunächst musste geprüft werden, ob die Bahn den stärkeren Belastungen durch die schwereren Bobs gewachsen war. Der ehemalige rumänische Europameister Ion Panțuru fuhr als einer der ersten offiziell mit einem Zweierbob die Bahn hinunter. Sein Urteil lautete, dass die Bahn als Trainingsbahn hervorragend geeignet sei. Für internationale Wettkämpfe fehlt allerdings die übliche Anschubstrecke. Für Viererbobs ist sie wegen der engen Kurven nicht benutzbar. Die ersten Bobfahrer zogen am 30. Juli 1973 in Oberhof ein. Damit wurde in Oberhof auch der Bobsport als Hochleistungssport etabliert. Im Januar 1974 gab es den ersten Wettkampf im Zweierbob mit der DDR-Meisterschaft auf der Bahn. Die Sieger waren Peter Kirchner und Roland Ebersbach. Im Jahre 1975 wurde im Zielbereich eine separate Startanlage installiert, die eine Kopie der Bobbahn von Igls in Innsbruck darstellt. Diese war zur gleichen Zeit für die Olympischen Spiele 1976 gebaut worden. Wettbewerbe Im Jahre 1975 fanden auf der Bahn die Europameisterschaften der Junioren im Rodeln statt. Sieger der drei Wettbewerbe waren Bernhard Glass, Monika Jedamsky und Bernd Dreyer mit Peter Sauer. 1979 fanden die ersten Rennrodel-Europameisterschaften der Senioren auf der neuen Bahn statt. Die Oberhofer Sportler gewannen bei den 27. Rennrodeleuropameisterschaften am 3. und 4. Februar 1979 bis auf eine bronzene acht der neun möglichen Medaillen. Sieger wurden Hans Rinn, Melitta Sollmann und im Doppel Bernd Oberhoffner und Jörg-Dieter Ludwig vor 40.000 Zuschauern an beiden Wettbewerbstagen. Bei den Frauen gab es eine der knappsten Entscheidungen in der Rodelgeschichte. Ilona Brand führte drei Runden lang, fiel jedoch nach dem vierten und entscheidenden Durchgang um eine Hundertstelsekunde hinter Sollmann zurück. Im Jahre 1978 kam eine künstlich vereiste Anschubstrecke hinzu. Vorher gab es bereits eine Schubstrecke für Bobs auf Rädern. Dieter Schmidt, der Bauchef der Rodelbahn, hatte dazu Schienen aus einem Bergwerk bei Ilmenau geholt. Auf der Bahn fanden mit den Jugendwettkämpfen der Freundschaft, der Meisterschaften der Militärsportorganisation der Armeen des Warschauer Pakts (SKDA) 1981 und der SKDA-Spartakiade im Jahre 1983 drei Wettbewerbe für den Rennnachwuchs statt. Im Jahre 1985 wurde auf der Oberhofer Bahn die zweiten Rennrodel-Weltmeisterschaften durchgeführt. Die Oberhofer gewannen wiederum acht von neun Medaillen. Sieger waren Michael Walter, Steffi Martin und im Herrendoppel Jörg Hoffmann mit Jochen Pietzsch. Die vorerst letzten Wettbewerbe auf der Rodelbahn fanden 1996 mit dem Finale des Rodelweltcup am 17. und 18. Februar statt. Danach wurde die Bahn gesperrt und umgebaut. Den letzten Bahnrekord auf der alten Bahn hielt Jens Müller aus Oberhof mit 44,283 Sekunden, aufgestellt am 6. Dezember 1987. Bei den Frauen lag der Rekord bei 41,289 Sekunden durch Gabriele Kohlisch aus Oberwiesenthal am 6. Dezember 1989. Skeleton Bereits Mitte der 1980er Jahre strebte die Fédération Internationale de Bobsleigh et de Tobogganing (FIBT) danach, Skeleton wieder in das olympische Programm aufzunehmen, was erst bei den Olympischen Winterspielen 2002 gelang. Um bei diesen Wettkämpfen dabei sein zu können, etablierte sich in Oberhof in den 1990er Jahren auch Skeleton, für das sich die Bahn gut eignete. Im Jahre 1993 fand der erste Skeleton-Weltcup auf dieser Bahn statt. Betrieb und Umbauten seit den 1990er Jahren 25 Jahre nach der ersten Fertigstellung musste die Oberhofer Rodelbahn 1996 modernisiert werden. Im Rodelsport hatte sich in diesem Zeitraum viel getan: neue Materialien, aerodynamische Anzüge und verbesserte Trainingsmethoden; der Rekord im Herreneinzel hatte sich in diesem Zeitraum um mehr als sechs Sekunden verbessert. Die in der Eisrinne erreichten Geschwindigkeiten wurden immer höher. Die engen Kurvenradien bedeuteten eine große Gefährdung der Sportler, die vor allem mit der Kombination der Kurven 11 und 12 Probleme hatten. Diese Kurvenpassagen mussten nun umgebaut werden, Kurve 12 wurde weiter nach außen verlegt; die Anschlusskurven 11 und 13 wurden entsprechend angepasst. Wegen der hohen Geschwindigkeiten im Zielbereich musste die Auslaufsteigung verändert werden. Das Stuttgarter Planungsbüro Deyle hatte die Projektierung der Umbauarbeiten wieder übernommen. Die Baufirmen kamen überwiegend aus dem Thüringer Raum. Die Kosten der Umbauarbeiten von April bis Oktober 1996 beliefen sich auf 4,66 Millionen Mark, wobei etwa drei Millionen vom Bund und knapp 1,7 Millionen vom Freistaat Thüringen getragen wurden. Der Landkreis Schmalkalden/Meiningen beteiligte sich mit 260.000, die Stadt Oberhof mit 80.000 Mark. Erst ab 1997 konnte auf der Bahn wieder trainiert werden. Seit der Saison 1996/97 gab es aufgrund der Bahnverlängerung in allen Disziplinen neue Rekorde. Die Bahnlänge, vom Herrenrodelstart aus gesehen, verlängerte sich von 1032,89 auf 1063,50 Meter. 1997 wurde wieder ein Weltcupwettbewerb im Rennrodeln auf der Oberhofer Bahn ausgetragen. In diesem Jahr fanden hier auch die Junioren-Weltmeisterschaften statt. Ein Jahr später, 1998, fand die Rennrodel-Europameisterschaft hier statt, bei der bei den Männern Markus Prock aus Österreich, bei den Frauen Silke Kraushaar und Stefan Krauße mit Jan Behrendt im Rennduo siegten. Seit 1999 vergibt der FIL jährlich einen Rennrodel-Weltcup nach Oberhof. Zwischen 2001 und 2003 wurden kleinere Rekonstruktionen an der Bahn durchgeführt: im Zielbereich wurde eine neue Startanlage für das Training des Bobstarts gebaut,, 2002 und 2003 wurden die Ammoniak-Leitungen erneuert und schließlich wurde die Kurve 14 (Köstritzer Kreisel) für Besucher begehbar gemacht. Im Jahre 2004 fanden auf der Oberhofer Bahn die 39. Rennrodel-Europameisterschaft statt. Die Siege gingen an Armin Zöggeler aus Italien, Silke Kraushaar aus Oberhof und Steffen Skel mit Steffen Wöller im Zweierrodel. Die Teamwertung gewannen Jan Eichhorn, Silke Kraushaar, Steffen Skel und Steffen Wöller. Ab März 2006 fanden Profilarbeiten statt und je ein Herren-, Damen- und Wiegehaus wurden errichtet. Die Kurvenabdeckungen und der Wetterschutz der Bahn wurden saniert, die Skilift-Überdachung erweitert und eine Zwischenstartrampe gebaut. Die Wettkampflänge der Bahn verlängerte sich auf 1069,70 Meter, die Gesamtlänge mit Auslauf beträgt nun 1354,50 Meter. Die Umbauarbeiten zogen sich bis zum Winter 2006/07 hin und kosteten etwa fünf Millionen Euro. Davon übernahm der Bund 2,8 Millionen, das Land zwei Millionen und der Landkreis 256.000. Für die Rennrodel-Weltmeisterschaften 2008 installierten die Bahnbetreiber im Zielbereich eine mobile Tribüne für 1000 Zuschauer sowie drei Videowände und eine neue Anzeigetafel. Insgesamt verfolgten zwischen 10.000 und 20.000 Zuschauer an der Bahn die zweitägigen Meisterschaftsläufe. Die deutschen Rodler gewannen bei diesen Wettkämpfen neun von zehn möglichen Medaillen. Im Männereinzel siegte Felix Loch vor drei weiteren Deutschen, was einen Vierfachsieg und den ersten Dreifacherfolg eines Landes bei Weltmeisterschaften seit 1985 bedeutete. Die beste deutsche Rodlerin war Tatjana Hüfner vor weiteren deutschen Frauen. Bei den Doppelsitzern siegten André Florschütz und Torsten Wustlich. Am letzten Tag gewannen die Deutschen den Mannschaftswettbewerb. Eine Bronzemedaille im Doppelsitzer ging als einzige Medaille an ausländische Rodler. Von April 2020 bis November 2022 wurde die Bahn modernisiert, es war mit Investitionen in Höhe von 31,5 Mio. Euro geplant worden, die sich der Freistaat Thüringen und das Bundesinnenministerium teilen. Im Anschluss an die Modernisierung fanden die Rennrodel-Weltmeisterschaften 2023 auf der Anlage statt. Literatur Thüringer Schlitten- und Bobsportverband (TSBV), Stadt Oberhof (Hrsg.): 25 Jahre Kunsteisbahn Oberhof. Ilmenau Weblinks Rennrodelbahn beim Thüringer Wintersportzentrum Oberhof Einzelnachweise Oberhof Sportstätte in Oberhof Erbaut in den 1970er Jahren Ulrich Müther Bauwerk in Oberhof Wintersport (Oberhof) Rennrodeln (Deutschland) Skeleton (Deutschland) Briefmarken-Jahrgang 1973 der Deutschen Post der DDR
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https://de.wikipedia.org/wiki/Flora%20und%20Vegetation%20Australiens
Flora und Vegetation Australiens
Die Flora Australiens ist vor allem durch einen hohen Anteil an endemischen Pflanzenarten und -gattungen gekennzeichnet, sodass Australien als eigenes Florenreich Australis geführt wird. Es umfasst das australische Festland und die Insel Tasmanien. Es sind rund 20.000 Arten von Samenpflanzen beschrieben worden. Die artenreichsten Gattungen sind dabei Eukalyptus und Akazien mit rund 600 und 1000 Arten. Diese beiden Gattungen prägen in weiten Teilen die Vegetation Australiens. In den ariden Gebieten im Zentrum und im Westen des Kontinentes herrschen (zumeist edaphisch bedingte) azonale Vollwüsten und zonale grasdominierte Halbwüsten vor, die von den Gattungen Triodia (Spinifex) und Astrebla (Mitchell-Gras) beherrscht werden. Alle Wüsten zusammen bedecken etwa die Hälfte des Landes. In den semiariden Übergangsräumen in einem Bogen vom Nordwesten zum Osten liegen Trocken-, Dornstrauch- oder Feuchtsavannen, die etwa ein Fünftel der Landfläche ausmachen. Zur Nordküste und zum Gebirgssaum im Osten gehen sie vor allem in tropische Trockenwälder über. Sie sind noch weitgehend in einem intakten Zustand, während die im semiariden Südosten und Südwesten anschließenden Hartlaubwälder- und Buschländer des Westseitenklimas durch intensive Landnutzung bereits zu rund 70 % anthropogen verändert wurden. Die verschiedenen Regen- und Feuchtwälder von den Tropen über die Subtropen bis zur kühlgemäßigten Zone am gesamten Ostrand der australischen Landmasse sowie auf einem Großteil Tasmaniens nehmen eine sehr geringe Fläche ein (maximal 5 %), sind aber sehr artenreich und beherbergen viele ursprüngliche Arten. Alle Waldgebiete zusammen bedeckten ursprünglich etwa ein Drittel des Kontinentes. Aufgrund der im Folgenden beschriebenen Besonderheiten bei der Artenvielfalt – insbesondere bezüglich endemischer Arten – und einer großen Biodiversität auf relativ kleinem Raum, wird Australien zu den Megadiversitätsländern dieser Erde gerechnet. Geographische Voraussetzungen Australien ist ein alter Kontinent und rund 7,7 Millionen km² groß. Zum Florenreich der Australis gehören nur das Festland und Tasmanien; Neuguinea ist zwar Teil des australischen Kontinents, nicht aber des australischen Florenreichs (je nach Autor wird Neuguinea der Paläotropis oder der Ozeanis zugeordnet). Die durchschnittliche Höhenlage beträgt nur 330 m, und lediglich 13 Prozent der Landesfläche liegen über 500 m. Das Klima in Australien ist durch eine hohe Sonneneinstrahlung und geringe Niederschläge gekennzeichnet, die durch den subtropischen Hochdruckgürtel bedingt sind. Die hohe Sonneneinstrahlung bedingt eine hohe Verdunstung (Evaporation). Australien ist nach der Antarktis der trockenste Kontinent. Im Norden herrschen Sommerregen vor, die durch den Monsun von November bis März bedingt und sehr verlässlich sind. Für den Rest des Jahres herrscht im Norden Trockenheit. Ein schmaler Streifen im Nordosten erhält jedoch ganzjährig hohe Niederschläge. Viele Tropentiefs werden jedoch von den Gebirgen Neuguineas abgeblockt. Im Süden herrscht Winterregen vor. In der ariden Zone dazwischen – dem größten Teil der als Outback bekannten Wildnis, die noch fast drei Viertel des Landes einnimmt – kommen nur asaisonale Regen vor, die nicht jährlich eintreten. Zwei Drittel des Landes erhalten weniger als 250 mm Regen pro Jahr. In der Südost-Ecke überlappen sich beide Zonen. Die tropischen Zyklone treten an der Ostküste zwischen dem 10. und 25. Breitengrad auf. Australien ist von der El Niño-Southern Oscillation (ENSO) betroffen, wobei in El-Niño-Jahren Trockenheit herrscht. Die Landformen Australiens sind von Plateaus, Hügelländern und Steinwüsten geprägt. Das Land wird in drei physiogeographische Regionen unterteilt: Eastern Uplands: Die Gebirgs- und Hügelländer im Osten sind geologisch jünger als der Rest. Sie fallen nach Westen hin sanft ab, während im Osten der Abfall zu den schmalen Küstenebenen relativ steil ist. Die Great Dividing Range ist mit einer maximalen Erhebung von 2228 m (Mount Kosciuszko) nicht besonders hoch und trägt nur kleine Gebiete alpiner Vegetation. Interior Lowlands: Die Tiefebenen im Inneren bestehen aus flachen Gebieten mit tief verwitterten, mesozoischen und känozoischen Sedimenten. Das Gebiet ist arid bis semi-arid und umfasst hauptsächlich das Große Artesische Becken mit dem Murray-Darling-System und den großen Salzseen. Western Plateau: Das Plateau im Westen ist der geologisch älteste Bereich und umfasst zwei Drittel Australiens. Es sind niedrige Tafelländer und Sandebenen. Außer im Südwesten und im Norden sind sie sehr arid. Die hier gelegenen großen Wüsten sind im Gegensatz zu den Wüsten anderer Kontinente von einer ausdauernden Vegetation (Hummock-Halbwüste) bedeckt. Die Böden sind sehr alt und dadurch arm an Nährstoffen, besonders an Phosphor und Stickstoff, aber auch an Schwefel und Kalium, sowie den Mikronährstoffen Molybdän, Kupfer, Zink, Bor und Mangan. Die Hauptunterschiede zu den Böden der Nordhemisphäre sind ein sehr geringer Gehalt an organischem Material, die ärmere Oberflächenstruktur und das Überwiegen der Mykorrhiza. In der ariden Zone überwiegen tief verwitterte rote Silikatsande, erdige Sande und Lehme (Rudosole, Tenosole), in West- und Zentralaustralien auch Laterite. Im Süden gibt es auch flach verwitterte Kalkböden und Lehmböden (Vertosole), im Westen auch flachgründige, steinige Böden. Auch Salz- und Gips-Böden sind sehr weit verbreitet. Artenvielfalt Endemismus 80 bis 90 Prozent der Samenpflanzen-Arten in Australien sind endemisch. Dieser hohe Endemismusgrad ist auf die lange Isolation des Kontinents zurückzuführen. Australien wird daher als eigenes Florenreich Australis geführt. Innerhalb Australiens existieren zwei Endemismus-Zentren: die nördlichen Regenwälder und der südwestliche Teil mit mediterranem Klima und Hartlaubvegetation. Der Endemismusgrad bei den Familien ist wesentlich geringer. Crisp et al. nennen folgende endemische Familien: Akaniaceae s. str., Anarthriaceae, Atherospermataceae, Austrobaileyaceae, Blandfordiaceae, Boryaceae, Cephalotaceae, Dasypogonaceae, Doryanthaceae, Ecdeiocoleaceae, Emblingiaceae, Gyrostemonaceae, Tetracarpaeaceae, Xanthorrhoeaceae. Diese Familien sind jedoch alle artenarm oder monotypisch. Etliche weitere Familien reichen in ihrem Areal nur wenig über Australien hinaus, sind also subendemisch: Casuarinaceae, Centrolepidaceae, Eupomatiaceae, Goodeniaceae, Hydatellaceae, Stylidiaceae und die frühere Familie der Epacridaceae, die heute als Unterfamilie, den Styphelioideae, innerhalb der Ericaceae geführt wird. Weitere für Australien charakteristische Familien sind die Chenopodiaceae, Proteaceae, Cunoniaceae, Myrtaceae und die Pittosporaceae. Von den rund 2500 Gattungen Australiens sind rund 566 endemisch. Die beiden größten Gattungen, Akazien s. l. und Eukalyptus, kommen auch außerhalb Australiens vor. So gut wie alle Arten dieser Gattungen sind an ihren jeweiligen Wuchsorten jedoch endemisch. Blütenpflanzen Es sind rund 17.600 Arten von Bedecktsamern bekannt, die Gesamtzahl wird auf 19.000 bis 21.000 geschätzt. Im Vergleich dazu beträgt die Gesamtzahl der Farn- und Blütenpflanzen Deutschlands rund 2800, die Österreichs rund 2950. Die Nacktsamer dürften mit 113 Arten vollständig bekannt sein. Sie sind zu 96 Prozent endemisch. Von den zehn artenreichsten Familien Australiens gehören lediglich drei nicht gleichzeitig zu den artenreichsten der Welt: Dies sind die Proteaceae, Epacridaceae und die Goodeniaceae. In der artenreichsten Familie Fabaceae sticht die Gattung der Akazien (Acacia s. l.) mit rund 1000 Arten heraus. Die Gattung Acacia s. l. ist zwar auch in Afrika weit verbreitet, findet sich in Australien jedoch mit weitaus mehr unterschiedlichen Arten. Die Arten besitzen im Gegensatz zu ihren afrikanischen Verwandten keine Dornen, und ihre Blätter sind durch Phyllodien, umgewandelte Blattstiele, ersetzt. Die Akazien, die hier „wattles“ genannt werden, dominieren weite Teile des Landesinneren. Weitere artenreiche Gattungen sind Daviesia und Pultenaea. Bei den Myrtaceae ist Eucalyptus die artenreichste Gattung. Auch nach der Trennung in zwei Gattungen besitzt die Gattung Eucalyptus noch rund 600 Arten, die größte ausgegliederte Gattung Corymbia rund 110. Weitere artenreiche Gattungen sind Melaleuca (250), Verticordia (100) und Leptospermum (80). Die Süßgräser sind besonders in den Savannen und im trockenen Landesinneren reichlich vertreten, auch wenn es keine sehr artenreichen Gattungen gibt. Die für die Vegetation bedeutendsten Gattungen sind Triodia, Plechtrachne und Spinifex. Mit 310 Arten stellen die Gräser die größte Gruppe der eingeschleppten Neophyten. Die Proteaceae sind mit 46 Gattungen vertreten, wovon 37 endemisch sind. Die wichtigsten Gattungen sind Grevillea (352), Hakea (150), Banksia (80), Persoonia (98), sowie Dryandra mit rund 95 Arten ausschließlich in Südwestaustralien. Zu den Proteaceae gehört die Macadamia, die einzige kommerzielle Nahrungspflanze aus Australien. Die Arten wachsen meist als Sträucher im Unterwuchs von Eukalyptus- und Akazien-Wäldern sowie in Heiden. Von den Orchideen wächst rund ein Viertel als Epiphyt in den tropischen Regenwäldern, die anderen terrestrisch in den übrigen Landesteilen. Die artenreichsten Gattungen sind Caladenia und Pterostylis mit jeweils rund 100 Arten. Weitere Gattungen mit über 100 Arten sind Eremophila (214, endemisch, Scrophulariaceae), Cyperus (150, Cyperaceae), Stylidium (150, Stylidiaceae), Goodenia (140, Goodeniaceae), Boronia (131, Rutaceae), und Olearia (130, Asteraceae). Die Zahlenangaben der Flora of Australia sind teilweise bereits überholt, so gibt es in der Gattung Stylidium in Australien bereits über 220 beschriebenen Arten. Kryptogamen Die Gefäßsporenpflanzen (Farne und Bärlappe) sind mit rund 450 Arten in 150 Gattungen aufgrund des großteils trockenen Kontinents nicht besonders zahlreich. Der Endemismusgrad ist mit 40 Prozent ebenfalls nicht besonders hoch. Die Anzahl der bekannten Moosarten beträgt rund 1850, wobei die Gesamtartenzahl auf rund 2200 geschätzt wird. Nur rund 25 Prozent davon sind endemisch. Die Pilze Australiens sind bis jetzt kaum erforscht. Schätzungen gehen davon aus, dass erst fünf bis zehn Prozent der Arten beschrieben wurden, darunter der in Europa eingeschleppte Tintenfischpilz. Die Artenzahl wird auf rund 250.000 geschätzt. Die Flechten sind mit 3154 bekannten Taxa vertreten, von denen rund 35 Prozent endemisch sind. Die Anzahl der Algenarten wird auf 22.000 geschätzt, wobei erst rund die Hälfte beschrieben ist. Forschungsgeschichte Die botanische Geschichte Australiens begann 1770, als Joseph Banks und Daniel Solander im Zuge der ersten Reise von James Cook vor allem in der Botany Bay australische Pflanzen sammelten. Ihre Ergebnisse haben sie allerdings nicht publiziert. Banks schickte in den folgenden Jahrzehnten mehrere Botaniker auf Forschungsreisen nach Australien, der bedeutendste unter ihnen war Robert Brown, der 1801 bis 1803 mehrere tausend Exemplare sammelte. Von seiner geplanten Flora (Prodromus Florae Novae Hollandiae et Insulae Van Diemen) erschien allerdings nur der erste Band. Sie umfasste bereits 2040 Taxa. 1814 veröffentlichte Brown eine Liste mit 4200 Taxa, und nach einer Expedition ins Landesinnere 1849 eine Liste mit rund 7000 Taxa. Grundlegend für das Verständnis der Flora waren auch die Arbeiten von Joseph Dalton Hooker, der 1860 die Florenbeziehungen zu den anderen Kontinenten erkannte. Lange war die Erforschung der Flora von Europa ausgegangen, das Zentrum der Forschung waren ab den 1850er Jahren die Royal Botanic Gardens in Kew. Auch die erste Flora Australiensis von George Bentham erschien (1863–1878) in England. Der erste bedeutende Taxonom, der in Australien selbst arbeitete, war Ferdinand Mueller, der von 1853 bis 1896 Government Botanist von Victoria war. Seit Muellers Zeit findet der Großteil der Forschung im Lande selbst statt. Im 20. Jahrhundert wurden für alle Teilstaaten eigenen Floren erarbeitet. Seit 1981 gibt es das Projekt der Flora of Australia, die auf 59 Bände ausgelegt ist und die Gefäßpflanzen sowie Flechten beinhalten wird. Parallel dazu werden die Fungi of Australia und die Algae of Australia herausgegeben. Florenbeziehungen Die Flora Australiens ist durch die Zugehörigkeit Australiens zum Südkontinent Gondwana, die bis vor 40 Millionen Jahre andauerte, geprägt. Danach, mit der Nordwanderung des Kontinents, wurde das Klima trockener. Im Pliozän kam es zum Kontakt der australischen mit der melanesischen Flora Südostasiens. Die engsten floristischen Beziehungen bestehen zu den Gondwana-Nachbarn Neuseeland, Südamerika, Neukaledonien und Neuguinea, wobei dies Schwesterbeziehungen sind und keine Vorfahr-/Nachfahr-Beziehungen. Verbindungen zu anderen Kontinenten Ungeachtet des hohen Endemismus-Grades gibt es ausgeprägte Beziehungen der australischen Flora zu anderen Gebieten. Es werden vier Floren-Verbindungen (tracks) unterschieden. Sie enthalten jene Taxa, die Australien mit anderen Erdteilen gemeinsam hat: Süd-Pazifik-Verbindung: Südteil: Diese Florenelemente teilt sich Australien mit Neuseeland und dem Süden Südamerikas. Hierzu gehören Nothofagus, Araucariaceae, Winteraceae, Podocarpaceae (Austrobaxus, Pilgerodendron, Libocedrus, Paduacedrus), die alle in kühltemperierten Gebieten wachsen. Diese Verbindung ist ein gemeinsames Gondwana-Erbe. Der Nordteil verbindet Nordwest-Australien mit Neuguinea, West-Malesien, Neukaledonien und Fidschi und umfasst etliche Arten der Monsunwälder. Früher interpretierte man dieses Florenelement dahingehend, dass die Arten nach Australien eingewandert seien. Heute sieht man sie als Teil der Gondwana-Flora an. Die Äquatorial-Verbindung stellt das tropische Element der Flora dar. Sie wurde lange als invasives Element interpretiert und verbindet Australien mit Afrika, Indien und Malesien. Zu den 177 Gattungen gehören Celtis, Beilschmiedia und Ilex. Neben dem tropischen gehört ein Teil der Monsun-Flora hierher, möglicherweise spiegelt sie eine pantropische Flora rund um die spät-kreidezeitliche Tethys wider. Auch diese Verbindung ist ein Gondwana-Erbe. Die Trans-Indischer-Ozean-Verbindung beinhaltet Taxa, die Australien mit Afrika, aber nicht mit Indien oder Melanesien teilt. Hierzu zählen die Proteoideae (Unterfamilie der Proteaceae), Haemodoraceae und Adansonia. Die Entstehung dieser Verbindung ist unklar, sowohl sekundärer Verlust in Indien wie auch Ausbreitung in jüngerer Zeit werden diskutiert. Das letzte Element stellt die pan-temperate Verbindung dar mit Festuca, Poa und Euphrasia: sie verbindet Australien mit den temperaten Gebieten der Nordhalbkugel. Die Herkunft dieser Verbindung ist ungeklärt. Florenelemente und -regionen Innerhalb Australiens werden drei große Florenelemente unterschieden, die gleichzeitig Florenregionen innerhalb Australiens entsprechen. Das bedeutet, dass diese Florenelemente gleichzeitig ihren Verbreitungsschwerpunkt in der gleichnamigen Region haben. Diese drei entsprechen den älteren Florenzonen von Burbidge, hinzu kommen noch zwei kleinere Elemente: Das Torres-Element (Tropische Zone bei Burbidge) umfasst die tropischen Eukalyptus-Savannen sowie die laubwerfende Monsun-Savannen. Das Bassische Element (Temperate Zone) umfasst die temperaten Eukalyptus-Wälder mit sklerophyllen Sträuchern (Akazien, Proteaceae, Epacridaceae, Myrtaceae) in den kühl-temperierten Gebieten mit Winterregen. Hier gibt es eine starke floristische Trennung zwischen dem Südosten und dem Südwesten, mit einem hohen Endemismusgrad besonders im Südwesten (125 endemische Gattungen). Dies ist auf die lange Trennung zurückzuführen, da die Nullarbour-Ebene seit dem frühen Tertiär eine Barriere darstellt. Das Eyre-Element (Eremäische Zone) umfasst die Arten beziehungsweise das Gebiet des trockenen Zentral-Australien: die Wüstensteppen, Hummock, Mulga und Mallee. Das Gebiet ist in etwa mit dem Gebiet mit weniger als 250 mm Niederschlag gleichzusetzen. Die Flora ist jung und durch viele kosmopolitische Familien geprägt: Poaceae, Chenopodiaceae, Brassicaceae, Aizoaceae. Dennoch verfügt diese Zone über 85 endemische Gattungen. Die Trockenheit ist besonders seit dem Miozän (15 Mio. Jahre) ausgeprägt. Die heute trockenadaptierten Arten entwickelten sich parallel aus Arten in angrenzenden temperaten Gebieten, es gab somit keine eigene Radiation. Dies trifft besonders für die Akazien, auch für Eremophila und Dodonaea zu. Die Chenopodiaceae jedoch (Sclerolaena, Maireana) erfuhren eine deutliche Radiation. Diese drei Florenelemente entsprechen dem autochthonen Element der älteren Literatur. Zusätzlich werden zwei weitere Elemente unterschieden: Das Tumbuna-Element sind die temperaten bis subtropischen Regenwald-Elemente wie etwa Nothofagus. Sie sind Relikte des Eozän-Regenwaldes und gondwanischen Ursprungs. Sie kommen von Tasmanien bis in die Hochländer Neuguineas vor. Weiters zählen zu diesem Florenelement Araucaria, Podocarpus, Dacrydium, Anacolosa, Myrtaceae, Proteaceae, aber auch die altertümlichen Pflanzenfamilien der Regenwälder (siehe unten). Das Irian-Element umfasst viele Arten des tropischen Regenwalds und hat eine starke Beziehung zu Malesien und besonders zu Süd-Neuguinea. In Australien ist es nur in den nördlichen tropischen Regenwald-Gebieten vorhanden. Dieses Florenelement wurde früher als intrusives Element bezeichnet, da angenommen wurde, diese Arten seien von Norden nach Australien eingewandert. Dies wird heute bezweifelt. Ökologische Anpassungen Ein für die meisten Standorte mit Ausnahme der Regenwälder gemeinsames Merkmal ist die Nährstoff-Armut, besonders an Phosphor. Daher ist der Anteil der Pflanzen, die in einer Symbiose mit sogenannten Mykorrhizapilzen leben, höher als in anderen Kontinenten. Eine Alternative dazu ist die Bildung von Proteoidwurzeln zur Verbesserung der Phosphataufnahme, die vor allem bei den Proteaceae vorkommt. Diese Pflanzen besitzen meist keine Mykorrhiza. Australien ist sehr arm an laubwerfenden Gehölzen. Die meisten Gehölze besitzen ausdauernde, harte Blätter. Sie sind skleromorph: Die Blätter sind relativ klein, häufig sind die Stomata eingesenkt. Sklerophyllie ist nicht allein eine Anpassung an die Trockenheit, sondern auch an den Nährstoffmangel, also eine Peinomorphose. Sklerophyllie ist nicht auf die ariden Gebiete beschränkt, sondern ist auch in den niederschlagsreichen, aber nährstoffarmen Gebieten im Südosten die Regel. In den Trockengebieten fehlen große Sukkulente, wie sie in anderen Kontinenten häufig sind. Lediglich auf Salzstandorten finden sich krautige Blattsukkulente. Ein weiterer Umweltfaktor, der ganz Australien (wieder mit Ausnahme der Regenwälder) prägt, ist das Feuer, ein integraler Bestandteil der australischen Umwelt. Am häufigsten treten Feuer nicht im ariden Inneren auf, sondern im relativ regenreichen Südosten, wo die Niederschläge allerdings recht unregelmäßig und Dürreperioden häufig sind. Hier kommen Brände etwa alle drei bis 10 Jahre vor, im Südwesten hingegen etwa alle 10 bis 20 Jahre, sowie im übrigen Land etwa alle 20 oder mehr Jahre. Pro Jahr brennen zwischen vier und zehn Prozent der Landesfläche. Es gibt zwei Grundstrategien der Pflanzen, Feuer zu überleben: Die Bildung großer Samenmengen, die entweder im Boden akkumulieren oder in verholzten Früchten gespeichert werden. Die Samen keimen nach einem Feuer beziehungsweise werden erst nach dem Feuer ausgestreut. Die andere Strategie ist, dass die Pflanzen feuerresistent sind (etwa durch dicke Borken) oder zumindest über Organe verfügen, die Feuer überstehen, zum Beispiel unterirdische Speicherorgane mit schlafenden Knospen. Weit verbreitet sind die Wurzelknollen (Lignotuber) vieler Eukalypten, die den Mallee prägen. Die in den Wurzelknollen gespeicherten Nährstoffe erlauben ein rasches Wiederaustreiben nach einem Brand. Einige Arten blühen erst direkt nach einem Feuer, etwa die Grasbäume, sodass die Samen relativ konkurrenzarm und durch die Asche mit Nährstoffen gut versorgt keimen können. Fossil-Geschichte Präkambrium bis Jura Fossile Stromatolithen aus dem Nordwesten gehören mit 3,46 bis 3,52 Milliarden Jahren zu den ältesten Fossilien weltweit. Die ersten Landpflanzen sind aus dem Obersilur/Unterdevon aus Victoria bekannt: die krautige Baragwanathia-Flora war von Urfarnen (Rhynia und Trimerophyten) geprägt und wuchs auf äquatornahen, feuchten Standorten. Im Mitteldevon traten die ersten strauch- und baumförmigen Lycophyten auf, im Spätdevon Schachtelhalme, Farne und Progymnospermen. Im frühen Karbon dominierten baumförmige Lycophyten, wie Bumludendron queenslandii, im Gegensatz zur Nordhemisphäre gab es in Australien nur geringe Kohle-Bildung. Im kühleren späten Karbon dominierten Samenfarne (Notoracopteris, Fedekurtzia, Botrychiopsis). Nach der Gondwana-Vereisung im späten Karbon/frühen Perm entstand die Glossopteris-Flora, die erste Gondwana-Flora, die im Perm vorherrschte. In der Trias dominierten Koniferen, Lycophyten und Palmfarne. Diese Gruppen starben im Jura vielfach aus, und wurden durch neue Taxa ersetzt: Bennettitales, Caytoniales; weiterhin häufig waren Farne, Schachtelhalme und Koniferen. Australien befand sich damals in mittleren bis hohen Breiten (35–65° S). Die Flora war relativ kosmopolitisch und besaß nur einige Gondwana-Elemente. Kreide In der Kreidezeit hat die heutige australische Flora ihren Ursprung. Zu dieser Zeit war die Gondwana-Verbindung mit der Antarktis nach wie vor aufrecht, Australien befand sich in sehr hohen Breiten (50–80° S). Es herrschte ein mildes Klima und es dominierten offene Wälder. An der Grenze Barremium-Aptium wanderten die ersten Bedecktsamer nach Gondwana ein, Vertreter der Magnoliiden. Am Beginn der Kreide überwog Koniferenwald mit einem Unterwuchs aus Farnen, Palmfarnen und Bennettiteen. Der Florenwandel hin zu den Bedecktsamern trat nur allmählich ein. Im Valangium wurden die Podocarpaceae und Araucariaceae, beides Koniferen, häufiger und dominierten über weite Gebiete die Vegetation. Ebenso wurden die Bedecktsamer häufiger, wie an der Fossillagerstätte der Winton-Formation (Queensland) abzulesen ist. Im Turonium war die Verbindung zur Antarktis über Tasmanien noch vorhanden. Es traten die ersten rezenten Podocarpaceae und die ersten Proteaceae auf. Im Campanium trat erstmals Nothofagus auf. Besonders vielfältig wurden die Proteen im Maastrichtium mit Macadamia, Grevillea und anderen Gattungen. Am Ende der Kreide waren bereits alle Pflanzenfamilien präsent, die im Tertiär prominent vertreten waren. In der späten Kreidezeit dominierten Wälder aus Podocarpaceae und Proteaceae in der Baumschicht und einem Unterwuchs aus Proteaceae, Winteraceae, Trimeniaceae und Ilex. Tertiär Im Paläozän spielten die Koniferen eine große Rolle, daneben einige der alten Gondwana-Familien wie Proteaceae, weniger die Casuarinaceae, Myrtaceae und Fagaceae. Im Eozän ging die Rolle der Koniferen stark zurück, während die Pollen der von Nothofagus stark anstiegen. Die Flora einer Fundstelle bei Anglesea gleicht in Diversität und Zusammensetzung den heutigen Regenwäldern in Nord-Queensland, wobei die Lorbeergewächse dominieren. Hier wurde auch das älteste Blattfossil einer Myrtaceae (Myrtaciphyllum) gefunden, während Pollen aus dem gesamten Tertiär bekannt ist. Auch an anderen Fundorten sind die Lorbeergewächse dominant, daneben auch Elaeocarpaceae, Myrtaceae, Proteaceae und Podocarpaceae. In Südaustralien herrschte ein warm-temperiertes bis tropisches Klima vor und ermöglichte vielfältige, geschlossene Wälder, deren verwandte Taxa sich heute in Queensland finden. Den vielfach in der Literatur genannten pan-australischen Nothofagus-Wald dürfte es nicht gegeben haben, da es auf dem Festland kein einziges Makrofossil gibt, lediglich weit verbreitete Pollenfunde. Die tasmanische Flora ähnelte bereits der heutigen. Oligozän und Miozän lassen sich nur schwer trennen. Die Flora war wesentlich weniger divers und die Blätter wurden skleromorph und kleiner. Das wird als Folge der Trennung Australiens von der Antarktis gedeutet: Durch die Eiskappenbildung der Antarktis und veränderte Meeresströmungen wurde das Klima trockener. Die Myrtaceae wurden häufiger, die sklerophylle Gattung Leptospermum erschien. Die Proteaceae wurden ebenfalls häufiger, die Süßgräser, Chenopodiaceae und Mimosaceae (Acacia) traten erstmals auf. Obwohl Acacia aus dem gesamten Tertiär nur durch ein Blattfossil bekannt ist, muss die Gattung als Gondwana-Element wesentlich älter sein. Am Ende des Miozän traf die australische Platte auf die Sunda-Platte, jedoch ist aufgrund von fehlenden Fossilien kein Florenaustausch bekannt. Im Pliozän, das arm an Megafossilien ist, setzte sich der Trend in Richtung rezenter Taxa fort. Quartär Während der Eiszeiten im Quartär waren Tasmanien und Neuguinea mit Australien verbunden, die Vergletscherung erfasste größere Teile Tasmaniens und kleine Gebiete der südöstlichen Gebirge. Während der Vereisungen kam es zum Rückzug der Regenwälder, in den Zwischeneiszeiten kehrten sie – in immer abgewandelter Zusammensetzung – wieder zurück. Aus den ariden Teilen ist wenig bekannt. Seit mindestens 40.000 Jahren beeinflusst der Mensch die Flora und Vegetation. Ungefähr zur gleichen Zeit starben auch etliche Säugetiere aus, deren Fehlen möglicherweise ebenfalls zu Vegetationsveränderungen geführt hat. Vor rund 12.000 Jahren wurden in Südaustralien die Chenopodiaceen- und Gras-Steppe von Casuarina- und Eukalyptus-Wäldern abgelöst, wobei sich mit der Zeit immer mehr die Eucalyptus-Arten durchsetzten. Als Ursache werden häufigere Feuer-Ereignisse angenommen, die von Eucalyptus besser ertragen werden. Wie stark der Mensch das Feuer-Regime verändert hat, ist nicht bekannt, sind Feuer in Australien doch seit dem Tertiär bekannt. Nach der Besiedelung durch Europäer kam es zu großflächigen Rodungen und zur Einschleppung fremder Arten (siehe unten). Vegetation Die Gliederung der australischen Vegetation folgt heute meist den strukturellen Formationen, die R. L. Specht 1970 aufgestellt hat. Specht gliederte die Vegetation in einer zweidimensionalen Tabelle nach den Gesichtspunkten Lebensform und Wuchshöhe der höchsten Vegetationsschicht und Bodendeckung dieser Schicht („foliar projective cover“). Die wichtigsten Formationen sind demnach geschlossene Wälder, offene Wälder, „woodlands“ (entsprechen in etwa der Savanne), Strauchvegetation und Grasländer. Dieser Gliederung folgte auch R. H. Groves im Einleitungsband der Flora of Australia und in der Australian Vegetation. Eine neuere Gliederung, die auch floristische Aspekte berücksichtigt, ist die von der National Land and Water Resources Audit im Australian Native Vegetation Assessment 2001 veröffentlichte Unterteilung in Haupt-Vegetationsgruppen („Major Vegetation Groups“, MVG). Die folgende Darstellung folgt der Australian Vegetation, wobei die MVG in die größeren Gruppen eingegliedert werden. Regen- und Feuchtwälder Regenwälder finden sich entlang der gesamten Nord- und Ostküste von den Kimberley Ranges bis nach Tasmanien. Sie umfassen damit die tropischen Zonen bis zur kühl-gemäßigten Zone. Es sind geschlossene Wälder („closed forests“) mit über 1200 mm Jahresniederschlag. Sie umfassen rund 30.000 km², weitere rund 13.000 km² sind seit der europäischen Besiedlung verloren gegangen. Der Einteilung in MVG entsprechen die Regenwälder der MVG 1, „Rainforest and vine thickets“ (Regenwald und Lianen-Dickichte). Es gibt verschiedene Ansätze, die Regenwälder zu klassifizieren, eine häufig verwendete ist die von Webb, der die Einteilung nach physiognomisch-strukturellen Kriterien vornimmt, nicht nach floristischen: Lianen-, Farn- und Moos-Wälder unterteilt er weiter nach Blattgröße, Belaubungsdauer und Komplexität. Nördliche Regen- und Feuchtwälder Die tropischen Regen- und Monsunwälder (in Australien Dry Rainforests, „Trockene Regenwälder“ genannt) sind sehr artenreich. Hier finden sich etliche urtümliche Vertreter der Bedecktsamer: Bubbia und Tasmannia (Winteraceae), Galbulimima (Himantandraceae), Eupomatia (Eupomatiaceae), Austrobaileya (Austrobaileyaceae) und Idiospermum (Calycanthaceae). Diese Vorkommen gelten als Reliktvorkommen. Die Regenwälder sind sehr diskontinuierlich verbreitet. Die Regenwald-Reste in den Kimberley Ranges bestehen aus 400 bis 500 Mikro-Standorten („pockets“) an schwer zugänglichen Stellen, die erst seit den 1960er Jahren bekannt sind und jeweils meist nur wenige Hektar groß sind. Es sind halbimmergrüne Lianenwälder („semi-evergreen mesophyll forests“, SDMVF) mit bis zu 15 Metern Baumhöhe. Das Vorkommen dürfte durch das Fehlen von Feuerereignissen an den Standorten bedingt sein. Die Regenwälder im Northern Territory umfassen den Kakadu-Nationalpark und das Arnhemland. Es sind laubwerfende Lianen-Wälder, die arm an Epiphyten sind, was durch die monsunbedingte Saisonalität der Niederschläge bedingt ist. Auf der Cape-York-Halbinsel gibt es ausgedehnte Monsunwälder (260.000 Hektar), die bis 14° südlicher Breite reichen. Es gibt drei Waldtypen: Der halb-wechselgrüne mesophylle Lianen-Wald („semi-deciduous mesophyll vine forest“) erreicht 25 bis 50 Metern Höhe und ist durch viele Lianen und epiphytische Gefäßpflanzen gekennzeichnet. Die Bäume bilden Brettwurzeln aus. Der immergrüne Lianen-Wald („evergreen notophyll vine forest“) ist durch Palmen gekennzeichnet (Livistonia, Archontophoenix, Calamus) und wird bis 20 Meter hoch. Der Sanddünen-Regenwald besiedelt die Küsten-Sanddünen der Ost- wie Westküste. Die Atherton Tablelands bilden mit rund 800.000 Hektar die größte zusammenhängende Regenwald-Fläche. Sie erstreckt sich von den Tiefland-Wäldern an der Küste bis zu montanen Regenwäldern auf der Hochfläche (). Es werden elf größere Waldtypen unterschieden. Der häufigste ist der einfache notophylle Lianenwald („simple notophyll vine forest“ = SNVF) mit reichlich Lianen, Baumfarnen und Epiphyten. Besonders im Hinterland der Atherton Tablelands gibt es eine sehr breite Übergangszone zur offenen Parksavanne, besonders mit dem Grasbaum Xanthorrhoea. Nach Süden geht der Monsunregenwald in den gemäßigten Regenwald über. Südliche Regen- und Feuchtwälder Die südlichen subtropischen Regenwälder (Gondwana-Regenwälder), Lorbeerwälder und gemäßigten Regenwälder sind nach Süden immer kühler-temperiertes Klima gekennzeichnet und treten in New South Wales, Victoria und Tasmanien auf. Sie sind durch einen abnehmenden Anteil holziger Lianen und von Brettwurzeln gekennzeichnet. Die Baumschichten werden meist von nur einer Art dominiert, die je nach Standort wechseln: es sind das Vertreter der Gattungen Atherosperma, Athrotaxis, Ceratopetalum, Diselma, Doryphora, Eucryphia, Lagarostrobos und Phyllocladus, ganz besonders aber Nothofagus, das mit Nothofagus cunninghamii und Nothofagus moorei die wichtigsten Arten stellt. Die Bäume werden selten höher als 30 Meter, manchmal unter 5 Meter. Mit Ausnahme von Nothofagus gunnii sind alle Bäume und Sträucher immergrün. Farne, Moose und Flechten sind sehr artenreich; die letztgenannten beiden Gruppen stellen den Großteil der Epiphyten. In den Lorbeerwäldern New South Wales’ ist unter anderem die Wollemie (Wollemia nobilis) beheimatet, eine erst 1994 entdeckte Koniferenart. Besonders in Tasmanien und Victoria gibt es eine breite Übergangszone zu den Eukalyptus-geprägten Tall Open Forests, die zur Hartlaubvegetationszone gehören. Dabei bilden die Regenwald-Arten die Unterschicht, während die um die 50 Meter hohen Eukalypten die nicht kronenschließende Oberschicht bilden. Diese Zone bildet sich in Gebieten mit seltenen Feuern (Intervalle 80 bis 400 Jahre), wo sich der Regenwald halten kann, sich aber nach Feuern die Eukalypten regenerieren können. Hartlaubwälder Die Hartlaubwälder des stark genutzten Südwestaustraliens gelten als Biodiversitäts-Hotspot. Hohe offene Wälder Die hohen, offenen Wälder („Tall Open Forest“, MVG 2), auch als „wet scleropyhll forest“ bezeichnet, werden von Eukalyptus-Arten dominiert. Die Baumschicht ist über 30 Meter hoch, und ihr Laub deckt 30 bis 70 Prozent der Bodenfläche. Hier finden sich die höchsten Eukalypten wie Eucalyptus regnans, der über 100 Meter hoch werden kann. Die Eukalypten besitzen hohe, schaftartige Stämme und offene Kronen mit hängenden Blättern. Sie sind raschwüchsig. Der Unterwuchs besteht je nach Standort aus Regenwald, aus Gräsern und sklerophyllen Farnen, oder aus sklerophyllen Sträuchern. In Ost-Australien sind häufig Baumfarne im Unterwuchs (Cyathea und Dicksonia). Die Wälder kommen an Standorten mit hohen, verlässlichen Niederschlägen (1000 bis 2000 mm) vor, wobei der trockenste Monat über 50 mm Niederschlag hat. Feuer kommen in großen Abständen vor, bei über 80 Jahren Intervallen kann sich Regenwald als Unterwuchs ausbilden. Nur große Feuer vernichten auch die Baumschicht, kleinere Feuer vernichten nur den Unterwuchs. Die großen Eukalypten sind feuerempfindlich und besitzen keinen Lignotuber. Nach einem Brand regenerieren sie sich über Samen und bilden gleich alte und gleich hohe Bestände. Die Wälder sind von Queensland bis Tasmanien verbreitet. In New South Wales und Queensland sind Eucalyptus microcorys, Eucalyptus cloeziana und Eucalyptus grandis charakteristisch, in Victoria und Tasmanien Eucalyptus regnans („Mountain Ash“) und Eucalyptus obliqua, in Südwest-Australien Eucalyptus diversicolor (Karri) und Eucalyptus marginata (Jarrah). Die 30.000 km² stellen rund zwei Drittel des ursprünglichen Bestandes dar. Sie stellen wichtige Holzarten dar, die Wälder wurden auch für den Ackerbau gerodet. Offene Eukalyptus-Wälder Im offenen Eukalyptus-Wald („Eucalyptus open forests“, MVG 3) dominieren 10 bis 30 Meter hohe Eukalypten, die den Boden zu 30 bis 70 Prozent bedecken. Sie kommen in Regionen mit über 600 mm Niederschlag vor: im Südosten zwischen Adelaide und Brisbane; in Tasmanien; im Arnhemland und in der Südwest-Ecke von Westaustralien, hier mit 20 endemischen Gattungen. Im Unterwuchs herrschen Sträucher vor (Acacia, Daviesia, Hakea, Hibbertia, Leptospermum und Leucopogon), aber auch Krautige (Dianella, Lepidosperma, Lomandra) und Farne (Adiantum, Pteridium). Auf nährstoffreicherem Boden bilden Gräser den Unterwuchs. Feuer spielen in diesen Wäldern eine sehr große Rolle und treten alle drei bis fünf Jahre auf. Nach 10 Jahren gibt es 15 Tonnen Brennmaterial pro Hektar. Alle Arten haben mindestens ein feuerresistentes Stadium. Manche Arten etwa öffnen ihre Samenkapseln erst nach einem Feuer (Banksia) und sind damit ausgesprochene Pyrophyten. Die Eukalyptus-Arten bilden Lignotuber, aus denen sie sich nach einem Feuer regenerieren. Nach Feuern gibt es keine Sukzession im klassischen Sinn, sondern nach einem Feuer kommen die gleichen Arten vor wie unmittelbar davor. Viele Arten bilden Samen mit Elaiosomen aus und werden von Ameisen verbreitet. Heute stocken offene Eukalyptus-Wälder noch auf rund 240.000 km², rund 100.000 km² gingen seit der europäischen Besiedlung verloren. Die Wälder liegen meist in der Nähe von Bevölkerungszentren und sind wichtig für die Holznutzung, als Wasserschutzgebiete und für die Naherholung. Tropische Eukalyptus Woodlands Diese Vegetation („Tropical eucalypt woodlands/grasslands“, MVG 12, auch „bunch-grass savannas“) kommt im monsunbeeinflussten Nordaustralien auf den Sandstein-Plateaus von Kimberley und im Northern Territory vor. Das Gebiet umfasst 250.000 km², wobei kaum Flächen gerodet wurden. Die Baumschicht besteht aus verschiedenen Eukalypten, der Unterwuchs aus großen annuellen Gräsern, besonders verschiedenen Sorghum-Arten. Woodlands Die Woodlands entsprechen am ehesten dem deutschen Begriff Feuchtsavanne: sie werden von Gehölzen über zwei Meter Höhe dominiert, die keine geschlossene Krone ausbilden, sowie von Grasartigen (häufig C4-Gräser) im Unterwuchs. Sie bedecken rund 1,94 Millionen km². Hier kommen rund 80 Prozent aller Eukalyptus-Arten vor, die sowohl strukturell wie floristisch dominieren. Die Akazien-Woodlands werden im nächsten Abschnitt behandelt. Am häufigsten sind die mittelhohen Woodlands mit sechs bis zwölf Metern Wuchshöhe, die besonders in der Great Dividing Range Ostaustraliens vorkommen. Eukalyptus-Woodlands Die von Eukalypten dominierten Woodlands (MVG 5) stellen den größten Anteil mit rund 700.000 km², in Queensland und Victoria sind sie häufigste Vegetationsgruppe. Rund 300.000 km² gingen seit der Besiedlung verloren. Die Formen reichen von den hohen Arten Eucalyptus moluccana und Eucalyptus microcarpa („grey box woodlands“) mit bis zu 17 Metern Höhe bis zu den Zwergbäumen Eucalyptus brevifolia („snappy gum“) mit drei Metern Höhe. Die Eukalyptus-Woodlands – die oft ebenfalls zur Hartlaubvegetation gezählt werden – vermitteln zwischen den feuchten Wäldern und den sehr trockenen Gebieten Zentralaustraliens. Im Norden bedecken sie einen großen Teil des vom Monsun beeinflussten tropischen Gebietes. Melaleuca-Woodlands Die meist niedrig-wüchsigen Myrtenheiden (Melaleuca) sind zwar über ganz Australien verbreitet, geschlossene große Bestände bilden sie nur im vom Monsun beeinflussten semi-ariden Norden, besonders am Golf von Carpentaria. Diese Woodlands (MVG 9) umfassen rund 90.000 km². Aufgrund ihrer papierartigen Rinde werden sie auch „paperbarks“ genannt. Diese Rinde macht sie feuerunempfindlich. Die wichtigsten Arten dieser Woodlands sind Melaleuca nervosa und Melaleuca viridiflora. Übrige Woodlands Im tropischen Norden mit saisonalem Regen kommen laubwerfende Wälder (Teil von MVG 10) vor, eine Seltenheit in Australien. Sie werden von den Gattungen Lysiphyllum (Caesalpiniaceae) und Terminalia (Combretaceae) dominiert. Die Wiederbelaubung und Blüte beginnt rund zwei Monate vor der Regenzeit, die sehr zuverlässig eintritt. Nicht von Eukalypten oder Akazien dominierte Woodlands treten nur kleinflächig auf, neben den bereits beschriebenen gibt es noch Callitris-Woodlands (MVG 7) mit rund 28.000 km² und Casuarina-Woodlands (MVG 8) mit rund 60.000 km². Akazien-Formationen Akazien dominieren in trockeneren Gebieten, bei Winterregen unter 250 mm, bei Sommerregen unter 350 mm Niederschlag. Die australischen Akazien zeichnen sich durch das Fehlen von Dornen und die Bildung von Phyllodien als Assimilationsorgane anstatt Blättern aus. Die Akazien-Formationen werden in drei Vegetationsgruppen (MVG) gegliedert: Wälder und Savannen (MVG 6) mit 560.000 km², offene Savanne (MVG 13) mit 115.000 km² und die „shrublands“ (MVG 16) mit 650.000 km². Nordost-Australien Die offenen Wälder und Woodlands im semi-ariden Osten werden oft von einer Art dominiert. Große Flächen wurden jedoch für Ackerbau und Gründland gefällt, besonders an feuchten Standorten über Lehmböden. Die Gründlandflächen werden heute meist von Neophyten dominiert (Cenchrus ciliaris, Chloris gayana, Panicum maximum). Eine typische Formation ist „Brigalow“ (Acacia harpophylla), das in Queensland und New South Wales rund 60.000 km² bedeckt. Brigalow bildet das feuchte (mesische) Ende der Akazienformationen und wächst in Gebieten mit 500 bis 750 mm Winterregen und wird bis zu 20 Meter hoch. Hier wie auch im Folgenden werden die dominante Art und die Vegetation mit dem gleichen Namen bezeichnet. „Lancewood“ (Acacia shirleyi) und „Bendee“ (Acacia catenulata) haben Gräser als Unterwuchs. Gidgee (Acacia cambagei) löst Brigalow im trockeneren Bereich ab und umgibt von Osten her das aride Kerngebiet des Kontinents. Im trockeneren Bereich zu folgen „Boree“ (Acacia tephrina), „Georgina Gidgee“ (Acacia georginae), die bis zu acht Meter hoch werden und eine offene Savanne bilden. In diesen Gebieten kommt auch die „prickly acacia“ (Acacia nilotica) vor, die um 1890 als Schatten- und Futterpflanze eingeführt worden ist und nun rund sechs Millionen Hektar bedeckt. Süd-Australien Nördlich der Großen Australischen Bucht und des Spencer-Golfs dominieren Woodlands und offene Woodlands der Western Myall (Acacia papyrocarpa) zusammen mit Casuarina cristata und Myoporum platycarpum. Sie werden bis zehn Meter hoch und wachsen in Gebieten mit 200 bis 250 mm Niederschlag. Von Zentral-Queensland bis Süd-New South Wales kommt Myall (Acacia pendula) vor in Gebieten mit 375 bis 550 mm Niederschlag. Im Unterwuchs dominieren temperate Gräser wie Danthonia und Stipa. Auch in Süd-Australien werden große Gebiete für die Schafzucht verwendet. Zentral- und West-Australien In diesen Gebieten bilden die Akazien niedrige Woodlands und Strauchformationen. Sie bilden die dominanten Gehölzformationen des ariden Zentralaustraliens. Die charakteristischste Art ist Mulga (Acacia aneura), die alleine oder in diversen Gesellschaften rund 1,5 Millionen km² bedeckt. Mulga wächst in halbwüstenartigen Gebieten mit 200 bis 500 mm Niederschlag vor allem über Roterde, seltener auf kalkreichem Boden. Typisch sind Wuchsdichten von 100 bis 300 Stämmen pro Hektar bei einer Wuchshöhe von 2 bis 3 Metern. Am feuchteren Ostrand der Verbreitung sind es 8000 Stämme pro Hektar und 10 bis 15 Meter Höhe. Der Unterwuchs besteht aus Sträucher, wobei Eremophila mit rund 100 Arten dominiert. Daneben kommen auch Senna, Dodonaea und Maireana vor. Die Kraut-/Grasschicht ist meist ebenfalls vorhanden, wenn auch lückig. Die Gräser sind meist ausdauernde Tussock-Gräser wie Eragrostis eriopoda und Monochather paradoxa. In Zentralaustralien bilden die Akazien Gesellschaften mit den Hummock-Gräsern (Triodia und Plectrachne). Beispiele sind Kanji (Acacia pyrifolia) im tropischen Norden in der Pilbara-Region, oder die mit Mallee gemischten Akazien-Hummock-Gebiete südlich der Großen Sandwüste. Mulga-Bestände sind wichtige Gebiete für die Schafzucht. Mulga ist der wichtigste Futterstrauch, besonders in Trockenzeiten. Mallee Die „scrubs and shrublands“ (Gebüsche und Buschformationen, MVG 14) der Hartlaubzone im Süden Australiens bestehen aus zwei bis zehn Metern hohen Eukalyptus-Sträuchern. Die als Mallee bezeichneten Arten besitzen Lignotuber und sind mehrstämmig. Es gibt rund 200 Mallee-Eukalyptus-Arten. Sie bilden die trockensten Eukalyptus-Gesellschaften und treten am häufigsten in Gebieten mit 200 bis 350 mm (130 bis 800) Niederschlag auf, besonders in Mittelmeerklima mit Winterregen (Zonobiom IV). Bei mehr Regen dominieren einstämmige Eukalypten, bei weniger Akazien. Das Gebiet, in dem sie vorkommen, reicht von 117° (Westaustralien) bis 147° östlicher Länge, und besonders von 25° bis 36° südlicher Breite, und umfasst rund 250.000 km². Die Kernzone mit 250 bis 400 mm Niederschlag auf Kalkboden wird als typischer Mallee angesprochen. Im Osten gibt es zwei Mallee-Typen: der Eucalyptus incrassata-Typ mit einem artenreichen Unterwuchs von sklerophyllen Sträuchern im südlich-temperierten Gebiet und den von halbsukkulenten Chenopodiaceen im Unterwuchs dominierten semi-ariden, eremäischen Mallees mit Eucalyptus socialis, Eucalyptus dumosa und anderen. Im Westen gibt es einen fließenden Übergang von den vielstämmigen Mallees zu den einstämmigen Woodlands, besonders im Goldfieldsgebiet. In trockeneren Gebieten werden die Mallee höher. Generell sind im Westen die Mallee auf gleichen Standorten höher und erreichen bis 27 Meter, während sie im Osten neun Meter nicht übersteigen. Feuer ist im Mallee ein wichtiger Faktor. Die Eukalypten streuen ihre Samen besonders nach Feuer aus, während im Boden kein Samenvorrat vorhanden ist. Das Feuerintervall im Kerngebiet beträgt rund 20 Jahre. Das Mallee-Gebiet ist ein Feuerökosystem und mehr oder weniger anthropogen geprägt; vergleichbar mit der Macchia der Mittelmeerregion. Heiden Die Heidegebiete Australiens (Heathlands, MVG 18) ähneln dem Fynbos in Südafrika. Sie umfassen rund 25.000 km² und kommen zerstreut in weiten Bereichen des humiden bis subariden Australien vor, zum Teil auch als Unterwuchs von Gebüschen, Woodlands und offenen Wäldern. Die Böden sind selbst für australische Verhältnisse arm an Nährstoffen, besonders Phosphor und Stickstoff. Die Vegetation besteht aus drei Schichten. Die oberste Schicht besteht aus breitblättrigen, sklerophyllen Sträuchern, die rund zwei Meter hoch werden (Banksia, Allocasuarina, Leptospermum, Xanthorrhoea). Viele sind durch bradyspore Früchte gekennzeichnet, die sich erst nach einem Feuer öffnen. Rund 1500 Arten aus 87 Gattungen besitzen Samen mit Elaiosomen, werden also durch Ameisen verbreitet (Myrmekochorie). Damit sind die Heiden das weltweite Zentrum der Myrmekochorie. Die zweite Schicht wird durch die Epacridaceae gebildet, die mit ihren 25 Gattungen in Australien die eigentlichen Ericaceae ersetzen. Sie bilden eine 0,5 bis 11,5 Meter hohe Schicht. In der Unterschicht wachsen verschiedene Vertreter der Cyperaceae, Liliales, Orchidaceae und Restionaceae. Chenopodiaceen-Gebüsche Die Chenopodiaceen-Gebüsche (MVG 22) bedecken rund 550.000 km², vor allem südlich des Wendekreises in Gebieten zwischen 125 und 266 mm Regen. Das Verbreitungszentrum liegt in Südaustralien mit rund 250.000 km². Aus der Familie Chenopodiaceae kommen hier 33 Gattungen vor, von denen 28 endemisch sind. Die verbreitetsten Gattungen sind Sclerolaena (66 endemische Arten), Atriplex (59), Maireana (57), Chenopodium (15), Rhagodia (14), und Dysphania (10). Es sind xeromorphe Salzpflanzen (Halophyten), die sowohl trocken- als auch salztolerant sind. Die Sträucher bleiben meist kleiner als 1,5 Meter, die Bodendeckung beträgt 10 bis 30 Prozent. Die Bodenschicht besteht hauptsächlich aus Gräsern (Danthonia, Stipa, Eragrostis, Aristida), wobei es auch etliche eingeschleppte einjährige Gräser (Lolium, Vulpia, Hordeum, Bromus) und krautiger Pflanzen (Trifolium, Medicago) gibt. Feuer sind hier selten, die Regeneration erfolgt bei den meisten Arten durch Samen. Weite Gebiete sind durch Beweidung und durch Kaninchen beeinträchtigt, 25 Prozent der Fläche stark, weitere 40 Prozent mäßig. Rund 2,75 Millionen Schafe weiden in den Chenopodiaceen-Gebüschen. „Grasland“ und Halbwüste Die grasdominierten Halbwüsten – die in Australien etwas irreführend als Grassland bezeichnet werden – nehmen mit rund 2,4 Millionen km² einen großen Teil der Fläche Australiens ein. Neben den beiden näher besprochenen Typen treten noch verschiedene („echte“) Grasländer, Seggensümpfe und Ähnliches auf, die in der MVG 21 „Other grasslands, herblands, sedgelands and rushlands“ zusammengefasst werden und knapp 100.000 km² vor allem in New South Wales und Tasmanien einnehmen. Tussock-Grasland Das edaphisch bedingte Tussock- oder Mitchell-Grasland (MVG 19) nimmt rund 530.000 km² ein. Es erstreckt sich von den tropischen bis zu den semi-ariden Gebieten besonders in West-Queensland (280.000 km²), im zentralen Northern Territory, teilweise in Südaustralien. Dieses reine Grasland kommt im Sommerregengebiet zwischen 250 und 750 Millimeter Jahresniederschlag vor. Dieses Grasland wird von Horstgräsern dominiert, besonders von Arten der Gattung Astrebla, daneben Danthonia (Austrodanthonia), Dicanthium, Eragrostis, Poa, Themeda, Sorghum, Stipa, Heteropogon, Ophiuros, Oryza, Spinifex und Bursaria. Diese Gräser sind an kretazische Mergel und alluviale Böden gebunden. In den stark quellenden Böden können Baumwurzeln nicht überdauern, weshalb das Gebiet trotz ausreichendem Niederschlag gehölzfrei ist. Das Tussock-Grasland wird vielfach extensiv beweidet. Gefährdung besteht vor allem durch zu großen Beweidungsdruck und zu häufige Feuer. Seit der europäischen Besiedlung sind rund 60.000 km² verloren gegangen. Spinifex- oder Hummock-Halbwüste Das Hummock-Grasland (MVG 20) wird von Igelgräsern (Triodia, genannt Spinifex) dominiert und umfasst rund 1.756.000 km² vor allem im Zentrum Australiens. Es ist die Vegetation mit der größten Flächenausbreitung. Die Gräser bilden große Horste bis Polster mit bis zu vier Metern Durchmesser und meist einem Meter Höhe. Auf Sanddünen der Simpsonwüste, Strzelecki-Wüste und der Tirariwüste dominiert Zygochloa. Von den zehn Arten der Gattung Triodia sind Triodia basedowii, Triodia pungens und Triodia irritans vorherrschend, im Nordwesten ist auch Plectrachne schinzii bestandsbildend. Es sind sklerophylle Gräser mit extrem xeromorphem Bau der Blätter. Der Bodendeckungsgrad beträgt häufig nur 40 Prozent. In weiten Gebieten herrscht ein Makromosaik aus Grasbiotopen und Mulga (Acacia aneura) vor. Spinifex-Halbwüste tritt in Gebieten mit 200 bis 300 Millimeter, stark variierendem Jahresniederschlag auf sandigen und skelettreichen Böden auf reliefarmem Terrain auf. Sonderstandorte Salzmarschen und Mangroven Die Mangroven nehmen rund 11.500 km² ein und kommen vor allem nördlich des Wendekreises vor und bestehen aus rund 40 Arten aus 17 Familien. Die Fläche der Salzmarschen ist unbekannt, in New South Wales beträgt sie rund 6000 km². Im häufig hypersalinen tropischen Bereich herrschen sukkulente Arten der Gattungen Sesuvium und Batis sowie Gräser vor. Die Bestände sind sehr lückig. Im mediterranen Bereich herrschen strauchige Chenopodien (Halosarcia, Sclerostegia) und Frankenia vor, die Vegetation ist nicht geschlossen. Im temperaten Bereich ist die Vegetation geschlossen, neben Scarcocornia quinquefolium kommen einige endemische Gattungen aus der Tribus Salicornieae vor. In den Salzmarschen kommen viele Neophyten vor, von denen etliche als bedrohlich für die heimische Flora eingestuft werden: Spartina anglica, Cortaderia scloaria, Juncus acutus, Baccharis halimifolia. Küstendünen Küstendünen erstrecken sich über rund die Hälfte der australischen Küstenlänge. Die Flora umfasst rund 250 einheimische Arten, die wichtigsten sind Scaevola (Goodeniaceae), sowie Spinifex und Sporobolus (Poaceae). Besonders im Südosten treten viele Neophyten auf, rund 100 sind bekannt: Chrysanthemoides monilifera und Ammophila arenaria wurden ursprünglich zur Dünenbefestigung eingeführt und verdrängen die heimische Flora. Aquatische Vegetation und Feuchtgebiete Charakteristisch für Australien sind die brackigen bis hypersalinen Salzseen im Landesinneren. Submers wachsen in ihnen Ruppia (Ruppiaceae), Lepilaena (Potamogetonaceae) und Lamprothamnium papulosum (Characeae), während die Marschen denen der Küste gleichen. Über der dreifachen Meerwasser-Salzkonzentration wächst nahezu nur mehr die Grünalge Dunaliella salina, die bis zur fünffachen Meerwasserkonzentration aushält. Das größte Flusssystem ist das Murray-Darling-System mit einem Einzugsgebiet von rund einer Million Quadratkilometer. Das Überflutungsgebiet („floodplain“) ist rund 9000 km² groß. Diese Flächen werden von Wäldern des River Redgum (Eucalyptus camaldulensis), etwas weiter vom Fluss auch vom Black Box (Eucalyptus largiflorens) bewachsen. Der Unterwuchs ist krautig und wird von Poaceae, Cyperaceae, und Asteraceae dominiert. Alpine und subalpine Vegetation Die alpinen und subalpinen Gebiete kommen nur auf Tasmanien (6480 km²) und im Südosten des Festlandes (Victoria, New South Wales, 5180 km²) vor. Feuer spielt hier kaum eine Rolle. Wie auf den anderen Kontinenten ist die alpine Waldgrenze durch die 10 °C-Sommer-Isotherme bedingt. Die subalpine Stufe wird von Woodlands geprägt. In Tasmanien kommt sie zwischen 915 und 1200 m Seehöhe vor und wird von Eucalyptus coccifera und Eucalyptus gunnii mit Strauchunterwuchs geprägt. Am Festland bildet der snow gum (Eucalyptus pauciflora) mit einem Unterwuchs von Sträuchern und Gräsern die subalpine Stufe zwischen 1400 und 1900 m. Über der Baumgrenze wachsen Heiden (Podocarpus, Grevillea, Hovea), Moore, sowie Gras- und Krautvegetation mit Poa, Celmisia und einer reichen Kräuterflora vor allem aus Asteraceen. Der menschliche Einfluss begann erst ab der Mitte des 19. Jahrhunderts mit Beweidung vor allem durch Kühe. Dazu wurden die Flächen regelmäßig abgebrannt. Neben Abfressen und Abbrennen ist das Trampeln schädlich für viele Gesellschaften, besonders die Moore. Moore Moore wie sie als Hoch- oder Regenmoore von der Nordhalbkugel bekannt sind, die überwiegend aus Torfmoosen (Sphagnum) gebildet werden und diese die Haupttorfbildner darstellen sind in Australien sehr selten und meist von geringer Ausdehnung. Sie sind von montanen Lagen bis in alpine Höhenstufen zu finden. Sie kommen in New South Wales, im Australian Capital Territory sowie in Victoria in Höhenlagen zwischen 300 und 1500 m vor mit einer Gesamtfläche von etwa 0,03 km² vor. Tasmaniens größte Sphagnum-Vorkommen liegen in Höhenlagen zwischen 600 m und 1360 m. Torfmoosmoore umfassen hier etwa 13 km². Das am weitesten verbreitete Torfmoos in Australien ist Sphagnum cristatum. Daneben kommen fünf weitere Torfmoosarten vor: Sphagnum australe, Sphagnum fuscovinosum, Sphagnum perichaetiale, Sphagnum novozelandicum und Sphagnum falcatulum. Sie sind mit Sauergräsern (Cyperaceae) vergesellschaftet. Als Zwergsträucher treten hier Vertreter der Australheidegewächse (Epacridaceae) in Erscheinung. In Südost- und Südwestaustralien kann es außerdem in den Eukalyptuswäldern lokal zu Versumpfungen kommen. Der Torf bildet sich hier aus der Wurzelmasse von Restionaceen. Eines der größten Moorgebiete Australiens ist der Wingecarribee Swamp im Südosten von New South Wales mit ausgedehnten Torfmoosgesellschaften und Seggenrieden. Die Torfbildung begann vor 14.700 Jahren mit einem Höhenzuwachs von 24 Zentimetern in 100 Jahren. Die Torfmächtigkeiten dieses Moores liegen zwischen 3 und 6 Metern. An der Westseite Tasmaniens liegen ausgedehnte Riedgras-Versumpfungsmoore. Charakteristisch sind die sogenannten „Buttongrass moorlands“ mit Gymnoschoenus sphaerocephalus als bestandsbildendem Sauergras. Sie bedecken die sanft geschwungene Hügellandschaft wie ein Tuch oft in mosaikartiger Verzahnung mit Eukalyptuswäldern. Die Seggenriede stocken auf nassen, sehr sauren, nährstoffarmen, aus präkambrischen Sedimenten hervorgegangene Böden. Sie kommen in flachen Tallagen und an Hängen bis in montane Lagen mit Torfschichten bis zu 10 Zentimetern Mächtigkeit vor und bilden sich bei Niederschlagsmengen über 2000 mm. Diese Moore bedecken über 5000 km² des australischen Staates. Haupttorfbildner ist die Wurzelmasse von Restionaceen und Cyperaceen. Aufgrund der sommerlichen Trockenperioden ist der Zersetzungsgrad der Torfe sehr hoch. Die nährstoffarmen Moore beherbergen über 200 Pflanzenarten von denen etliche Arten ausschließlich hier vorkommen wie Epacris corymbiflora, Euchiton poliochlorus, Gaimardia amblyphylla, Haemodorum distichophyllum, Hydatella filamentosa, Milligania johnstonii, Oreobolus tholicarpus, Oschatzia saxifraga, Schoenus biglumis, Winifredia sola oder das mit den Torfmoosen verwandte Moos Ambuchanania leucobryoides. „Buttongrass moorlands“ sind das erste Stadium in der Sukzession zum Regenwald. Diese Moore finden sich in geringerer Ausdehnung außerdem im Osten Tasmaniens und ferner in den Staaten New South Wales und Viktoria meist in schlecht entwässerten Tallagen. Einfluss des Menschen Der Mensch beeinflusste die australische Umwelt seit der Besiedlung des Kontinents vor rund 50.000 Jahren. Die Aborigines verwendeten Feuer in der Landschaft für die Jagd, um Grünfutter für das Jagdwild anzuregen und um Korridore freizuhalten. Sie ernteten selektiv essbare Pflanzen und legten Buschgärten an. Ob und inwieweit das gleichzeitig mit der Besiedlung einsetzende Aussterben der Megafauna (Herbivore und Raubtiere) einen Einfluss auf die Vegetation hatte, ist nicht bekannt. Gefährdung Nach der Besiedlung durch Europäer ab 1788 wurde der Einfluss des Menschen ungleich stärker: große Flächen besonders im Süden und Südosten, aber auch im Südwesten wurden gerodet und in Ackerland und Weiden umgewandelt. Heute werden rund 61 Prozent der Landesfläche landwirtschaftlich genutzt, davon 6 Prozent als Ackerland. Rund 42 Millionen Hektar werden forstwirtschaftlich genutzt. Die jährliche Rodung natürlicher Vegetation beträgt rund 600.000 Hektar. Von den ursprünglich vorhandenen Gebieten wurden rund 43 Prozent aller Wälder gerodet. Über 60 Prozent der küstennahen Feuchtgebiete im Süden und Osten gingen verloren. Fast 90 Prozent der temperaten Savannen und des Mallee wurden gerodet. Im Südosten des Landes gingen 99 Prozent der gemäßigten Tiefland-Grasländer verloren. Von den Regenwäldern wurden 75 Prozent gerodet. 76 Pflanzenarten sind seit der Ankunft der Europäer ausgestorben. Die Hauptursachen sind Ackerbau und Beweidung, mit Abstand gefolgt von der Stadtentwicklung. Rund 5,4 Millionen km² oder 70 Prozent der Landesfläche werden beweidet. In den niederschlagsreicheren Gebieten im Süden und Südwesten wurde die natürliche Vegetation durch angesäte Weiden ersetzt. In den ariden Gebieten kommt es durch zu hohe Weideintensität zur Degradation der Landschaft. Die vom Menschen errichteten, frei zugänglichen Wasserstellen erhöhen bei Dürreperioden die Überlebensrate von Wild- und Nutztieren und führen zu umso stärkerem Druck auf die Vegetation. Neophyten Rund 2500 Arten wurden seit der Besiedlung durch Europäer in Australien eingeschleppt, sind also Neophyten („alien species“). Zu den zahlreichsten Familien zählen die Fabaceae mit 180, die Asteraceae mit 230 und die Poaceae mit 310 Arten. Die Herkunft der Neophyten ist vielfältig: Europa, Mittelmeerraum, Nord-, tropisches und Südamerika, Tropisches und Südafrika sowie Ostasien. Es werden drei Ansiedlungsweisen unterschieden: Manche Arten wurden bewusst angepflanzt, etwa um Weiden zu verbessern, wie Trifolium subterraneum oder Lolium perenne, oder als Dünenbefestigung, wie Ammophila arenaria. Andere Arten verwilderten aus Gärten, wie Oxalis pes-caprae, Rhodomyrtus tomentosa oder Amaranthus powellii. Viele wurden unbewusst eingeschleppt, etwa in verunreinigtem Saatgut, wie Cirsium vulgare. Manche Arten werden als positiv eingeschätzt: sie bringen Nutzen, schaden aber der heimischen Flora kaum: Beispiele sind Trifolium subterraneum oder Stylosanthes humilis. Andere werden als unerwünscht angesehen (undesirable weeds), da sie keinen Nutzen bringen (Cirsium vulgare, Hordeum spp., Xanthium occidentale). Die wichtigste Kategorie sind jedoch die „obnoxious weeds“, die invasiven Pflanzen, die aggressiv die natürliche Vegetation verdrängen. Dazu werden rund 220 Arten gezählt. Dazu zählen etwa die Braunalge Undaria pinnatifida, die in Tasmanien einheimische Tange verdrängt, oder der Wurzelpathogen Phytophthora cinnomomi, der bereits großflächig Proteaceae und Epacridaceae zum Absterben bringt. Echium plantagineum verdrängt Weidegras und schädigt die Leber der Pferde, die es fressen. Als „transformer plants“ werden Arten bezeichnet, die einen Standort oder gar die Landschaft nachhaltig verändern. Beispiele sind Stickstoff-fixierende Pflanzen, die den Boden mit Nährstoffen anreichern, oder Gräser, die das Feuerregime verändern. Hierher gehört auch die bereits erwähnt Acacia nilotica. Weitere als gefährlich eingestufte Arten sind die Sträucher Prosopis, Parkinsonia aculeata und Tamarix aphylla, die Liane Cryptostegia grandiflora, die aquatischen Wasserhyazinthen (Eichhornia crassipes) oder der Wasserfarn Salvinia molesta. Schutz Anfang Juni 2022 gab es in Australien über 11.000 geschützte Landgebiete mit zusammen über 1,8 Millionen km² Fläche, darunter 12 Weltnaturerbe-Gebiete, 755 Nationalparks (insgesamt rund 353.000 km²) und 91 Indigenous Protected Areas (insgesamt rund 747.600 Millionen km² auf dem Land der Aborigines und von ihnen gemanagt). 1997 im Vergleich 5645 Gebiete mit 0,6 Millionen&nbkm²km². Es gibt mit fast 50 Typen sehr viele verschiedene Arten von Nationalparks und Schutzgebieten: Der stärkste Schutz vor Eingriffen besteht in den beiden internationalen IUCN Schutzgebietskategorien 1a und 1b (Strict Nature Reserve/Wilderness Area), von denen es in Australien über 2.500 Stück gibt (die größten liegen fast ausnahmslos im Outback). Nationalparks genießen den zweitstärksten Schutz. Der Royal National Park südöstlich Sydney als weltweit zweiter 1879 eingerichtet wurde. In den Einzelstaaten unterstehenden Wildlife Reserves, Fauna Sanctuaries, Nature Reserves, und Conservation Parks ist der Schutz etwas weniger streng. Die Flora Reserves und Forest Reserves stellen repräsentative Waldgebiete dar. Ein wichtiges Ziel ist die Einschränkung großflächiger Rodungen, dennoch ist die Wald-Bilanz negativ: die Rodungen überwiegen den Wiederbewuchs. Rund die Hälfte der Regenwälder steht unter Schutz; auch sind 64 Prozent der Mangroven und Sumpfwälder geschützt, aber nur 5 Prozent der wenigen noch vorhandenen südöstlichen Trockenwälder und Woodlands. Das State of the Environment Council 1996 vertrat die Ansicht, dass Reservate nur in ökonomisch unwichtigen Gebieten eingerichtet würden. Quellen Literatur Außer auf der bei Einzelnachweise genannten Literatur beruht der Artikel vor allem auf den beiden Büchern: R. H. Groves (Hrsg.): Australian Vegetation. 2. Auflage, Cambridge University Press, Cambridge 1994, ISBN 0-521-42476-3. A. E. Orchard (Hrsg.): Flora of Australia. Volume 1: Introduction. 2. Auflage, ABRS/CSIRO Australia, Melbourne 1999, ISBN 0-643-05965-2. Besonders für den Abschnitt Vegetation wurden darüber hinaus folgende Quellen verwendet, die nicht einzeln referenziert wurden: Department of the Environment and Water Resources: Australia’s Native Vegetation: A summary of Australia’s Major Vegetation Groups, 2007. Australian Government, Canberra, ACT, 2007, ISBN 0-642-55294-0. (online). National Land and Water Resources Audit: Australian Native Vegetation Assessment 2001. Commonwealth of Australia, 2001ISBN 0-642-37128-8. (online) Heinrich Walter, Siegmar-W. Breckle: Ökologie der Erde. Band 2: Spezielle Ökologie der Tropischen und Subtropischen Zonen. 3. Auflage, Elsevier, München 2004, ISBN 3-8274-0789-3 Heinrich Walter, Siegmar-W. Breckle: Ökologie der Erde. Band 4: Gemäßigte und Arktische Zonen außerhalb Euro-Nordasiens. G. Fischer, Stuttgart 1991, ISBN 3-437-20371-1. Einzelnachweise Weblinks K. R. Thiele, L. G. Adams (Hrsg.): Families of Flowering Plants of Australia. (Schlüssel zu den Familien) Australian Biological Resources Study, Canberra: Flora of Australia online. Flora of Australia online. Australian National Botanic Gardens & Australian National Herbarium: Australian Flora Resources. Andrew Rozefelds, Diethard H. Storch: The endemic Flora of Tasmania. A Census of the Vascular Plants of Tasmania, including Macquarie Island. 2019 Edition: Volltext-PDF. des Tasmanian Herbarium, Tasmanian Museum and Art Gallery, Hobart Flora von Australasien (TDWG) Umwelt und Natur (Australien)
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https://de.wikipedia.org/wiki/Forrestal-Klasse
Forrestal-Klasse
Die Forrestal-Klasse war eine Klasse von Flugzeugträgern der United States Navy. Die vier Schiffe der Klasse waren die ersten Flugzeugträger mit einer Verdrängung von über 75.000 tn.l. und werden als die ersten Supercarrier gesehen. Sie waren ebenso die ersten Träger, die von Beginn an ein angewinkeltes Landedeck besaßen. Das Typschiff der Klasse war die USS Forrestal, benannt nach James V. Forrestal, einem Marineminister unter Roosevelt und Truman. Die Schiffe wurden in den 1950er Jahren in Dienst gestellt und nahmen am Vietnamkrieg sowie, nachdem sie zu Beginn der 1980er Jahre modernisiert worden waren, am Zweiten Golfkrieg teil. In den 1990er Jahren wurden alle vier Schiffe außer Dienst gestellt und der Reserveflotte zugeteilt, 2006 wurden sie aus dem Schiffsregister der US-Marine gestrichen. Geschichte Planung und Bau Die Planungen für die Forrestal-Klasse begannen Anfang der 1950er Jahre, als die Truman-Regierung, auch wegen des Koreakriegs, die Wichtigkeit von Flugzeugträgern erkannte. Nach dem (allerdings nicht beendeten, da unmittelbar nach der Kiellegung eingestellten) Bau der USS United States waren diese Schiffe die ersten neuen Flugzeugträger, die nach dem Zweiten Weltkrieg in Auftrag gegeben wurden. Die Verträge zum Bau der ersten beiden Einheiten der ursprünglich auf acht Schiffe ausgelegten Klasse wurden im Juli 1951 unterschrieben, die Kiellegung der ersten Einheit, USS Forrestal, erfolgte ein Jahr später. Zunächst war geplant, die ersten beiden Schiffe ohne das abgewinkelte Landedeck zu bauen. Sie sollten, wie schon die Träger der Midway-Klasse, ein durchgehendes, gerades Flugdeck erhalten, wie bei Flugzeugträgern des Zweiten Weltkriegs üblich. Erst während der Planungsphase flossen neue Erkenntnisse über die Vorteile eines abgewinkelten Flugdecks ein. Der Entwurf wurde dahingehend abgeändert und die Konstruktion mit den geänderten Plänen fortgesetzt. Die beiden letzten Schiffe, Ranger und Independence, wurden von Beginn an mit einem abgewinkelten Landedeck geplant. Die Verträge für den Bau dieser letzten beiden Schiffe wurden erst drei Jahre später, Anfang 1954, unterschrieben. Die Baukosten betrugen 188 Mio. US-Dollar für die Forrestal, 213 Mio. für die Saratoga, 173 Mio. für die Ranger und 225 Mio. für die Independence. Einheiten Die Benennung von Flugzeugträgern folgt bei der US Navy, im Gegensatz zu Schlachtschiffen oder Zerstörern, keinem festen Muster. Die neue Trägerklasse wurde zu Ehren von James V. Forrestal benannt, der von 1944 bis 1947 unter Franklin D. Roosevelt und Truman Marineminister war und sich um die Erweiterung der Flugzeugträgerflotte bemüht hatte. Ursprünglich waren für die Forrestal-Klasse acht Flugzeugträger geplant, nach umfangreichen Änderungen der Konstruktionspläne wurden die letzten vier Flugzeugträger dann als Kitty-Hawk-Klasse gebaut. USS Forrestal Die USS Forrestal (CV-59) wurde am 14. Juli 1952 bei Newport News Shipbuilding in Newport News, Virginia auf Kiel gelegt. Der Stapellauf erfolgte am 11. Dezember 1954, die Indienststellung am 1. Oktober 1955. Ihre aktive Zeit verbrachte die Forrestal zumeist mit der 6. Flotte im Mittelmeer. Während des Einsatzes vor der Küste Vietnams kam es am 29. Juli 1967 zu einem schweren Brand, der als Forrestal-Katastrophe bekannt wurde. Ab 1968 operierte der Träger dann wieder im Mittelmeerraum. Nach umfangreichen Modernisierungen von 1983 bis 1985 nahm der Träger Ende der 1980er Jahre an der Operation Earnest Will und zu Beginn der 1990er Jahre am Zweiten Golfkrieg teil. Nach einer kurzen Phase als Trainingsträger der Navy wurde die Forrestal 1993 ausgemustert. USS Saratoga Die USS Saratoga (CVA-60) wurde am 16. Dezember 1952 beim New York Naval Shipyard auf Kiel gelegt, am 8. Oktober 1955 vom Stapel gelassen und am 14. April 1956 in Dienst gestellt. Die Saratoga operierte die meiste Zeit mit der 2. und 6. Flotte im Atlantik und Mittelmeer. Dort zeigte sie unter anderem vor Libyen, Syrien und dem Libanon Präsenz. Der Träger nahm 1962 an der Seeblockade Kubas und 1972 für drei Monate an den Luftangriffen von der Yankee Station im südchinesischen Meer auf Nordvietnam teil. 1981 bis 1983 durchlief sie als erstes Schiff der Klasse das „Service Life Extension Program“ (SLEP). Nach der Teilnahme am Golfkrieg 1991 wurde der Träger 1994 ausgemustert. USS Ranger Die USS Ranger (CV-61) wurde als erster Träger des zweiten Bauloses am 2. August 1954 bei Newport News Shipbuilding auf Kiel gelegt. Der Stapellauf erfolgte am 29. September 1956, die Indienststellung am 10. August 1957. Nach einem kurzen Aufenthalt im Atlantik wurde die Ranger in den Pazifik verlegt, wo sie von 1958 an operierte. Ab 1964 wurde sie mehrmals vor Vietnam eingesetzt, ebenso 1991 im Golfkrieg, wo ihre Flugzeuge zusammen mit denen der Midway vom persischen Golf aus Angriffe gegen den Irak flogen, nachdem das Schiff 1983/84 in Bremerton modernisiert worden war. Seit ihrer Außerdienststellung 1993 lag die Ranger in Bremerton und wurde Anfang 2015 zur Verschrottung nach Brownsville (Texas) gebracht. Die Verschrottung war am 1. November 2017 abgeschlossen. USS Independence Die USS Independence (CV-62) wurde am 7. Juli 1955 als letztes Schiff der Klasse in New York auf Kiel gelegt, der Stapellauf erfolgte am 6. Juni 1958. Am 10. Januar 1959 wurde die Independence in Dienst gestellt. Sie operierte von 1959 bis 1991 zumeist im Atlantik, im Mittelmeer sowie der Karibik, durchlief von 1985 bis 1987 das „SLEP“ und wurde dann, nach dem Einsatz in der Golfregion, im September 1991 als Ersatz für die Midway nach Yokosuka verlegt, wo sie bis zur Außerdienststellung 1998 der einzige permanent außerhalb der Vereinigten Staaten stationierte Flugzeugträger war. Die Independence wurde 2017 zum Abwracken nach Brownsville (Texas) geschleppt. Modifikationen Alle Schiffe außer der Ranger wurden während der 1980er Jahre umfangreichen Erneuerungen und Instandhaltungsarbeiten unterzogen, die Werftliegezeiten während des sogenannten „Service Life Extension Program“ (Dienstzeitverlängerungsprogramm) betrugen bis zu zwei Jahre, die Kosten der Modernisierung beliefen sich pro Schiff auf etwa 460 Millionen US-Dollar. Die Schiffe erhielten neue Elektronik- und Radaranlagen, das 20-mm-Mk-15-Phalanx-Close-in-Weapon-System, stärkere Katapulte und die Antriebsanlage aller Schiffe wurde erneuert. Alle vier Träger erhielten während der Modernisierung selbstaufblasbare Rettungsinseln, die an der Deckskante montiert wurden. Durch die Maßnahmen während des SLEP konnte die Einsatzdauer der bis dahin schon etwa 30 Jahre alten Schiffe um 15 bis 20 Jahre erhöht werden. Verbleib Bis Frühjahr 2006 befanden sich drei der vier Träger eingemottet in der Reserveflotte, mittlerweile wurden sie aus dem Schiffsregister gestrichen. Die Forrestal sollte als künstliches Riff versenkt werden, wurde aber doch verschrottet. Die Ranger soll als Museumsschiff nach Portland, Oregon geholt werden. Die Verhandlungen der US Navy mit Neuseeland über einen Verkauf der Saratoga sind gescheitert, sie soll nun ebenfalls als Museumsschiff erhalten werden. Die Independence ist ebenfalls verschrottet worden. Fotodetails Oben zu sehen: Forrestal im Jahre 1955 während der Werfterprobungsfahrten, unten dasselbe Schiff 1982 noch vor dem Service Life Extension Program, hier mit Teilen des Trägergeschwaders an Deck. Oben zu erkennen vier der acht Geschütztürme sowie die ursprünglichen Radaranlagen vom Typ SPS-8 (über der Brücke) sowie SPS-12 am Mast. Der Schornstein besitzt einen schrägen Abschluss. Unterhalb des Schornsteins die Kennnummer des Schiffs. 1982 wurden die Geschütze entfernt, anstelle des vorderen Paares befindet sich ein Sea-Sparrow-Starter, der Schornstein hat nun eine waagrechte Oberkante. Vor dem Mast befindet sich nun die große Antenne des SPS-48-Luftaufklärungsradars, über dem Schornstein befindet sich die Antenne des SPS-43, am Mast sind die Feuerleitradare für die Lenkwaffen zu erkennen. Technik Rumpf Der Rumpf der Schiffe war an der Wasserlinie mit 302 m Länge etwa 25 Meter länger als der Rumpf eines Schiffs der Midway-Klasse. Der Tiefgang betrug 11,2 Meter, die Verdrängung im voll beladenen Zustand (Einsatzverdrängung) betrug 80.678 tn.l. Das Flugdeck befand sich 20,1 m über der Wasserlinie, die Brücke lag 33,8 m hoch, die oberste Mastspitze bei 56,4 m. Nach den Beschädigungen, die die Essex-Klasse-Flugzeugträger Hornet und die Bennington während schwerer Taifune an der überhängenden vorderen Partie des Flugdecks erlitten hatten, gehörte der geschlossene Atlantik- oder Hurrikanbug bei den Forrestals, im Gegensatz zu den nachgerüsteten Trägern der Midway-, Essex-Klasse, von Anfang an zum Schiffsentwurf. Flugdeck Das Flugdeck der ersten beiden Träger der Klasse war 311 m lang, die Decks der Ranger und Independence etwa zwei Meter länger. Bei einer maximalen Breite von 77 Metern ergab sich eine Decksfläche von etwa 14.500 m². Damit war das Flugdeck etwa 25 % größer als das der vorhergehenden Midway-Klasse (ca. 11.500 m²). Die Landebahn war in einem Winkel von 10° aus der Längsachse nach Backbord abgewinkelt und verfügte ursprünglich über sechs, später nur noch vier Fangseilanlagen zum Abbremsen der landenden Flugzeuge. Das abgewinkelte Landedeck ermöglichte gleichzeitigen Start- und Landebetrieb, dazu kam eine erhöhte Sicherheit bei einem fehlgeschlagenen Landeversuch – das den Anflug abbrechende Flugzeug brauchte nicht mehr über die zumeist am vorderen Ende der Bahn geparkten Flugzeuge hinwegzustarten. Ab Ende der 1960er bzw. Anfang der 1970er Jahre erhielten die Träger außerdem ein optisches Landesystem auf Basis von Fresnellinsen, das das veraltete System auf Spiegelbasis ersetzte und die Einweisung der anfliegenden Flugzeuge auf den korrekten Gleitpfad übernahm. Für den Start der Flugzeuge standen erstmals vier Dampfkatapulte (ursprünglich Typ C-7, später durch C-13 ersetzt) statt der ursprünglichen hydraulischen zur Verfügung, zwei am Bug und zwei in der Verlängerung der abgewinkelten Landebahn auf der Backbordseite. Zum Schutz der an Deck aufgestellten Flugzeuge und der an Deck arbeitenden Mannschaften wurden die Katapulte mit hydraulisch aufrichtbaren Strahlabweisern ausgerüstet. Die Startkontrollen für die Katapulte befanden sich seitlich auf dem umlaufenden „Catwalk“, erst die Träger der Nimitz-Klasse erhielten einen geschützten Kommandostand für die Katapultbedienungen. Vier Aufzüge verbanden das Deck mit dem darunter liegenden, etwa drei Stockwerke hohen Hangardeck, drei davon befanden sich steuerbord (zwei achtern der Insel, einer davor), ein Aufzug befand sich backbord mittschiffs, vor dem vorderen Ende der abgewinkelten Landebahn. Diese Position, die noch nahezu unverändert von den Geraddeckträgern des Zweiten Weltkriegs übernommen wurde, erwies sich als äußerst unpraktisch, da aufgrund des abgewinkelten Landedecks der Aufzug an Backbord sowohl während Start- als auch Landevorgängen nicht benutzbar war. Das Hangardeck erstreckte sich über die mittlere Hälfte des Schiffes und war so groß konzipiert, dass es einen Großteil des Trägergeschwaders sturm- und seefest unterbringen konnte. Zur Sicherung an Deck verbleibender Flugzeuge und sonstiger Geräte (Mobilkran, Flugzeugschlepper, Hubschrauber für Transport, Search and Rescue und U-Jagd) war das Deck mit Verankerungsösen ausgestattet. Insel Der einzige Aufbau auf dem Flugdeck war die Insel auf der Steuerbordseite mit etwa 36 m Länge und 16 m Breite. Bei der Forrestal wurde die Insel nach den ersten Erprobungen etwas weiter nach außen versetzt und diese Änderung bei den anderen Trägern übernommen, da die ursprüngliche Anordnung den Flugbetrieb beeinträchtigte. An der Vorderkante der Insel befand sich die Kommandobrücke zur Schiffsführung, darüber die Admiralsbrücke. Die Deckkontrollbrücke befand sich achtern an der Insel, um den Schornstein, der die hintere Hälfte der Insel einnahm, herum. Die Insel beherbergte ebenfalls das „Combat Direction Center“, von dem aus der Luftraum um die Träger überwacht, die Position aller eigenen Flugzeuge koordiniert und Flugoperationen geleitet wurden. Die ersten zwei Träger verfügten bis zur Modernisierung in den 1980er Jahren über zwei Masten, die Ranger und die Independence wurden von Anfang an nur mit einem Mast für Funk- und Radaranlagen ausgerüstet. Antrieb Den Antrieb der Schiffe leisteten vier Dampfturbinen von Westinghouse, die ihren Dampf mit 82 bar aus acht mit Schweröl befeuerten Dampfkesseln von Foster-Wheeler erhielten. Die Leistung der vier Turbinen von etwa 280.000 Wellen-PS wurde an vier Wellen mit je einer Schraube abgegeben. Die Höchstgeschwindigkeit lag zwischen 33 und 35 Knoten. Mit einem Treibstoffvorrat von 7.828 Tonnen hatten die Schiffe bei 20 Knoten eine Reichweite von 8.000 Seemeilen, bei 30 Knoten schrumpfte die Reichweite auf die Hälfte. Bewaffnung 127 mm L/54 Mk 42 Mehrzweckgeschütze Ursprünglich besaßen alle vier Träger der Forrestal-Klasse acht Mk.-42-127-mm- (5-Zoll)-Geschütze mit Kaliberlänge 54, je paarweise auf schweren Konsolen steuerbord und backbord vorn sowie achtern, die sowohl gegen Luft- wie auch Schiffsziele eingesetzt werden konnten. Der Beschuss von Landzielen wäre ebenfalls möglich gewesen. Die Geschütze besaßen eine Reichweite von bis zu 15 km. Die vorderen Geschütze wurden jedoch außer bei der Ranger ab 1961 mitsamt den Geschützkonsolen entfernt, da sie bei hohem Seegang beschädigt wurden und die Schiffe teilweise nicht volle Geschwindigkeit fahren konnten. Als beim Brand 1967 auf der Forrestal die hinteren Geschütze zerstört wurden, ersetzte man sie nicht, da immer deutlicher wurde, dass die Flugabwehr im Trägerverband durch mit Flugabwehrraketen bewaffnete Begleitschiffe übernommen wurde. Die Geschütze der Saratoga und Independence wurden Anfang der 1970er Jahre entfernt, die Ranger behielt ihre achteren Geschütze bis 1977, außerdem wurden die vorderen Konsolen auch nie entfernt. Die Forrestals waren die letzten Flugzeugträger, die mit umfangreicher Schiffsartillerie ausgestattet waren, alle nachfolgenden Träger erhielten beim Bau nur noch Lenkwaffen (Kitty Hawk, Constellation) oder waren sogar unbewaffnet (John F. Kennedy, Enterprise). Mk 25-BPDMS-Starter 1972 erhielt zuerst die Forrestal zwei Achtfach-Starter für Sea-Sparrow-Luftabwehrraketen, je einen steuerbord vorn und einen backbord achtern, Saratoga und Independence wurden 1973/74 ebenfalls umgerüstet, die Ranger 1977/78. Die Starter waren nicht mit Bordmitteln nachladbar, es gab auch kein Magazin an Bord der Träger. 20 mm Mk 15 Phalanx (Close-in-Weapon-System) Im Rahmen des „Service Lifetime Extension Program“ Anfang der 1980er Jahre erhielten alle vier Träger jeweils drei Mk-15-Phalanx-Nahbereichsverteidigungssysteme. Eine Phalanxkanone wurde auf der Steuerbordseite der Insel, unterhalb der Brücke, die anderen beiden backbord unterhalb des Flugdecks angebracht, etwa an den Positionen der ehemaligen 5-Zoll-Geschütze. Die von den Besatzungen wegen ihrer Form R2-D2 genannten Schnellfeuerwaffen sollten angreifende Seezielflugkörper im Endanflug auf das Schiff zerstören. Elektronik Die elektronischen Anlagen der Träger befanden sich, ausgenommen der Feuerleitradare vom Typ Mk 56 (Reichweite: 14,8 NM), von denen sich jeweils eins an jedem Geschützpaar befand, allesamt an und auf der Insel. Die Schiffe der Klasse erhielten bei ihrer Indienststellung jeweils die aktuellen Ortungs- und Navigationsanlagen, alle Schiffe verfügten zu Beginn über ein SPS-8-Höhenradar und ein SPS-12-Luftaufklärungsradar, das zum Teil durch SPS-37-Luftsuchradar ergänzt wurde. Zu Beginn der 1960er Jahre wurde das SPS-37 dann durch das SPS-43-Suchradar ersetzt, dessen 13 m lange Antenne auf einer Konsole an der Steuerbordseite der Insel montiert wurde, außerdem wurden die SPS-8- und SPS-12-Anlagen bei allen Schiffen ab 1962 durch das neuere SPS-30-high-finder-Radar mit 240 Seemeilen Reichweite ersetzt. Ab Ende der 1970er Jahre ersetzte das 3D-Radar SPS-48 (Reichweite: 230 NM) von ITT-Gilfillan über der Brücke das dann veraltete SPS-30, das SPS-43 wurde durch neue SPS-49-Luftsuchradare mit 250 NM Aufklärungsreichweite ersetzt. Die Antenne des SPS-43 befand sich ebenfalls auf der Konsole an der Insel. Als Navigationsradar verwendeten die Träger ein SPS-67 von Norden Systems. Zudem waren die Träger in der Operationszentrale ab 1965 mit dem taktischen Führungs- und Waffeneinsatzdatensystem Naval Tactical Data System (NTDS), sowie dem Analyse- und Klassifikationssystem für U-Boote ASAC (Anti-Submarine Classification and Analysis Center) ausgerüstet. Ab 1974 erhielten alle Schiffe außerdem ein SPS-58-Nahbereichsradar zur Ortung und Verfolgung schnell- und tieffliegender Ziele, die dann mit den Sea-Sparrow-Luftabwehrraketen bekämpft werden sollten. Zur Leitung der Raketen erhielten alle Träger ab etwa Mitte der 1970er Jahre ein Mk.-91-Feuerleitradar, die ursprünglichen Mk.-56-Geschützleitradare wurden zusammen mit den 127-mm-Geschützen entfernt. Achtern an der Insel befand sich außerdem das Anflugradar, ab Mitte der 1970er Jahre ein SPN-35-homing beacon, von dem allerdings meist nur die große kugel- oder kuppelförmige Abdeckung zu erkennen ist. Oben auf der Mastspitze befand sich die Antenne für das TACAN-System, unterhalb davon mehrere Antennenanlagen zur elektronischen Kriegführung und für elektronische Gegenmaßnahmen. Diese wurden durch zwei SRBOC-Düppel-Werfer, einen an der Steuerbordseite der Insel, einen backbords am Bug, unterstützt. Zur Torpedoabwehr verfügten die Forrestals über einen geschleppten SLQ-25-Nixie-Täuschkörper. Besatzung Die Besatzung eines Forrestal-Klasse-Trägers bestand aus bis zu 6.000 Mann, im normalen Einsatzbetrieb befanden sich etwa 5.100 Besatzungsmitglieder, darunter etwa 550 Offiziere, an Bord. Für den Betrieb der Schiffe waren etwa 2.700 Mann notwendig, als besonders personalintensiv erwiesen sich der konventionelle Antrieb und die Rohrbewaffnung (jedes Geschütz benötigte etwa 30 Mann Bedienungspersonal). 2.500 Mann der Besatzung waren dem Carrier Air Wing zugeteilt und für die Wartung und Instandhaltung der Flugzeuge sowie den Start- und Landebetrieb an Bord zuständig. Ebenfalls an Bord befand sich eine Kompanie US-Marines (72 Soldaten) für Wach- und Repräsentationsaufgaben. Trägergeschwader Die Hauptbewaffnung der Flugzeugträger war ihr Trägergeschwader (engl. Carrier Air Wing (CVW)). Dies umfasste bei den Forrestals bis zu 76 Flugzeuge, aufgrund ihrer Größe konnten die Träger alle Flugzeugtypen der US Navy einsetzen, so gehörte unter anderem von Beginn an die A-3 Skywarrior als schwerer Atombomber zum Trägergeschwader. In den ersten Einsatzjahren waren als Jagdflugzeuge F9F Panther an Bord stationiert, diese wurden ab Beginn der 1960er Jahre durch F-8 Crusader ersetzt. Die A-1-Jagdbomber wurden ebenfalls ab 1960 durch A-4 Skyhawk ersetzt. Als Jäger waren ab 1960 auch F-4 Phantom II an Bord der Flugzeugträger. Als Ersatz für die Skywarriors kamen Anfang der Sechziger A-5 Vigilante an Bord, die aber nur kurze Zeit in ihrer Rolle als Bomber flogen, da die US Navy ihre nuklearen Kapazitäten auf unterseeisch gestützte Atomraketen verlagerte. Als RA-5-Aufklärer blieb die Vigilante jedoch bis zum Ende der 1970er Jahre an Bord. Als Radarflugzeuge wurden ab Mitte der 1960er Jahre zuerst E-1 Tracer, sowie später deren Nachfolger E-2 Hawkeye, eingesetzt. Ab Ende des Jahrzehnts starteten zum ersten Mal A-6 Intruder-Angriffsflugzeuge sowie A-7 Corsair II-Jagdbomber von Bord der Forrestals. Mit der Reklassifizierung der Träger (CVA → CV) 1972 erhielten die Träger der Forrestal-Klasse ihre ersten U-Jagdflugzeuge und -hubschrauber, S-3 Viking und SH-3 Sea King, gleichzeitig wurden die älteren A-4-Jagdbomber und F-8-Jäger ausgemustert. Nach dem Service Life Extension Program Anfang der Achtziger wurden auch die F-4 Phantom II ausgemustert, sie wurden durch die F-14 Tomcat ersetzt. Außerdem erhielten die Träger mit der EA-6 Prowler Ersatz für die bisher verwendeten EA-3-EloKa-Flugzeuge, die seit Beginn der 1960er Jahre Dienst taten. Ab 1987 wurde dann auch noch die F/A-18 Hornet an Bord eingeführt. In dieser Form blieb der Carrier Air Wing bis zur Ausmusterung der Träger bestehen. Forrestal-Klasse im Einsatz Einsatzprofil Die Träger der Forrestal-Klasse waren bei der US Navy zu Beginn ihrer Dienstzeit als offensive Angriffsträger (CVA) klassifiziert und gehörten mit ihrer Luftgruppe, die auch atombombenbestückte Bomber umfasste, zum Offensivkonzept der Navy. Drei der Schiffe operierten als Teil ihrer Trägerkampfgruppe zumeist im Atlantik, die Ranger war der Pazifikflotte zugeteilt. Als deutlich wurde, dass trägergestützte Atombomber als Erst- und Zweitschlagwaffe auf Grund der verbesserten sowjetischen Luftabwehr unzureichend waren, verlegte die US Navy ihre Atomwaffen auf unterseebootgestützte Interkontinentalraketen. Die U-Boote waren zudem schwerer zu orten und anzugreifen als die Flugzeugträger mit ihren großen Kampfgruppen. Mit der Änderung des Einsatzprofils erfolgte auch 1972 die Umklassifizierung vom Angriffsträger (CVA) zum „Allroundträger“ (CV), der auch über U-Jagdfähigkeiten verfügte. In den 1960er und zu Beginn der 1970er Jahre wurden alle vier Träger ins südchinesische Meer verlegt, wo sie vor der Küste Vietnams stationiert wurden und ihre Flugzeuge Luftunterstützungseinsätze für die amerikanischen und südvietnamesischen Truppen flogen. Diese Aufgabe wurde den Trägern auch in den folgenden Jahren und Jahrzehnten während verschiedener Krisen im Nahen Osten zuteil, wo sie unter anderem vor Libyen und während des Zweiten Golfkriegs gegen den Irak operierten. Die Betriebs- und Unterhaltungskosten für ein Schiff betrugen in den 1990er Jahren 142 Millionen US-Dollar pro Jahr. Unfälle und Beschädigungen Kein Träger der Klasse wurde während der Einsätze durch Feindeinwirkung beschädigt, allerdings kam es zu mehreren, teilweise schweren Unfällen. Der bekannteste und schwerste, die sogenannte Forrestal-Katastrophe, ereignete sich im Juli 1967 vor der vietnamesischen Küste, als es durch den Fehlstart einer Luft-Boden-Rakete an Deck der Forrestal zu einem schweren Feuer kam. Der Träger musste im Anschluss mehrere Monate überholt werden. Außerdem waren die Träger in mehrere Schiffskollisionen (sowohl mit Zivil- wie auch Militärschiffen) verwickelt, bei denen zum Teil Schäden entstanden, die längere Werftaufenthalte nötig machten. In den Maschinenräumen und Hangars der Schiffe kam es mehrmals zu zum Teil schweren Bränden, die etliche Seeleute töteten und ebenfalls Reparaturen nach sich zogen. Weiterführende Informationen Literatur Stefan Terzibaschitsch: Flugzeugträger der U.S. Navy. Bernard & Graefe Verlag, Bonn 2001, ISBN 3-7637-6200-0. David Jordan: Flugzeugträger – Von den Anfängen bis heute. Tosa Verlag, Wien 2002, ISBN 3-85492-640-5. Weblinks Forrestal-Klasse bei globalsecurity.org (englisch) Forrestal-Klasse bei der Federation of American Scientists (englisch) Andrew Topan: Death and Rebirth of the Supercarriar. 1996 Fußnoten Militärschiffsklasse (Vereinigte Staaten) Flugzeugträgerklasse
1914812
https://de.wikipedia.org/wiki/Schmalspurbahn%20Go%C3%9Fdorf-Kohlm%C3%BChle%E2%80%93Hohnstein
Schmalspurbahn Goßdorf-Kohlmühle–Hohnstein
|} Die Schmalspurbahn Goßdorf-Kohlmühle–Hohnstein (auch Schwarzbachbahn) war eine sächsische Schmalspurbahn in der Sächsischen Schweiz. Sie begann im Bahnhof Goßdorf-Kohlmühle der Sebnitztalbahn und führte im Tal des Schwarzbaches nach Hohnstein. Die 1897 eröffnete Strecke mit der Spurweite 750 mm wurde 1951 stillgelegt und abgebaut, vorgeblich um Material für den Bau des Berliner Außenrings zu gewinnen. Seit 1995 bemüht sich der Verein Schwarzbachbahn e. V., einen Teil der Strecke wieder aufzubauen und als Museumsbahn zu betreiben. Vorerst wurde der ehemalige Bahnhof in Lohsdorf wieder hergerichtet und dort neue Gleise in Richtung Unterehrenberg verlegt. Geschichte Vorgeschichte Hohnstein, am Rande der Felsenwelt der Sächsischen Schweiz gelegen, befand sich schon immer abseits der überregionalen Verkehrsströme. Im Zuge des gewerblichen Aufschwungs bemühte sich Hohnstein seit etwa 1870 um eine verbesserte Verkehrsanbindung. Damals mussten sämtliche Güter über steile Wege zu der etwa 100 Meter über dem Polenztal auf einem Hochplateau gelegenen Stadt transportiert werden. Mit dem voranschreitenden Eisenbahnbau in Sachsen ersuchte die Stadt Hohnstein erstmals im November 1883 um einen Bahnanschluss. Dieses Ansuchen fiel in eine Phase (ab 1878), in der die Königlich Sächsischen Staatseisenbahnen das bereits ausgebaute Netz nach ausländischem Vorbild mit einem Netz vereinfachter Bahnen („Secundärbahnen“) ergänzen wollte, um insbesondere abgelegenen Gebieten den wirtschaftlich notwendigen Streckenanschluss zu ermöglichen. Die seinerzeit favorisierte Variante einer Polenztalbahn von Dürrröhrsdorf über Hohnstein nach Bad Schandau scheiterte an der geringen Besiedlung im Bereich der Streckenführung und an den hohen Kosten. Zudem hätte der Bau dieser Bahn nach wie vor den umständlichen Gütertransport von der Talstation in die Stadt erfordert. Am 9. Januar 1888 stellte das Amt Hohnstein eine weitere Petition an den Sächsischen Landtag. Gefordert wurde nunmehr eine Bahn vom Bahnhof Krumhermsdorf der Sebnitztalbahn ausgehend in Richtung Lohmen. Aus topografischen Gründen schied jedoch auch diese Variante aus, da eine Weiterführung von Hohnstein in Richtung Lohmen die Überquerung des tief eingeschnittenen Polenztales erfordert hätte. Eine weitere Petition vom 1. August 1889 sah wie schon 1883 eine Bahn von Dürrröhrsdorf über Hohnstein nach Porschdorf vor. Dieses Projekt wurde der sächsischen Regierung am 18. August 1890 schließlich „zur Erwägung“ übergeben. Ein Einspruch von Prinz Georg ließ das Projekt schließlich scheitern. Er wollte die „Romantik des Polenztales nicht durch eine Eisenbahn stören lassen“. Der Ulbersdorfer Rittergutsbesitzer von Carlowitz schlug deshalb im Juni 1891 die Führung einer Schmalspurbahn durch das Schwarzbachtal vor. Dieser Idee stimmte schließlich das für Eisenbahnbauvorhaben zuständige Finanzministerium zu. Bau und Eröffnung Im April 1892 begannen die ersten Vorarbeiten zum Bau der Strecke. Im Bahnhof Wendischfähre (heute: Rathmannsdorf) an der Sebnitztalbahn richtete man ein Baubüro ein, welches die Vorarbeiten koordinierte. Dessen Aufgaben waren die Vermessung der Trasse, die Festlegung der günstigsten Linienführung und schließlich die Ausschreibung der Bauleistungen. Die ersten Planungen sahen von Kohlmühle bis zur Einmündung des Schwarzbaches in die Sebnitz den Bau eines Dreischienengleises vor. Wegen des starken Verkehrs auf der Hauptbahn sah man jedoch von dieser kostengünstigen Lösung ab und projektierte eine zum Normalspurgleis parallele Trasse. Der Sächsische Landtag bewilligte den Bau der Bahn nach Hohnstein am 15. Februar 1894. Streit gab es noch um den Standort des Bahnhofes in Hohnstein, der zunächst an der Kretzschelei vorgesehen war. Die Stadt Hohnstein wünschte jedoch im eigenen Interesse eine Verlängerung der Strecke bis zur Brandstraße, um den Bahnhof näher an der Stadt zu haben. Der größte Widerstand gegen dieses Vorhaben kam von einem Rittergutsbesitzer. Mit eigenen Eingaben versuchte er, den Bahnhof möglichst nahe an seinen landwirtschaftlichen Betrieb zu bekommen. Zudem gab es auch Überlegungen, den Bahnhof wegen des etwaigen Weiterbaues nach Lohmen nördlich der Stadt anzulegen. Das Finanzministerium genehmigte die Streckenverlängerung bis zur Brandstraße schließlich am 17. April 1895. Die Stadt musste die dafür benötigten Grundstücke kostenlos bereitstellen sowie für die Anbindung an das Straßennetz aufkommen. Die Bauarbeiten begannen im April 1896. Auf der Baustelle waren gleichzeitig zwischen 300 und 500 Arbeiter beschäftigt, um die zahlreichen Brücken, Einschnitte und die beiden Tunnel im Schwarzbachtal herzustellen. Bereits im Frühjahr 1897 war die Strecke fertiggestellt, die Streckenabnahme mit einem Prüfungszug erfolgte am 28. April 1897. Der Bau hatte zu diesem Zeitpunkt insgesamt 1.375.783,58 Mark gekostet. Am 29. April 1897 kündigte das sächsische Finanzministerium die Inbetriebnahme der Strecke für den 1. Mai 1897 an. Die Königlich Sächsischen Staatseisenbahnen eröffneten die neue Linie am 30. April 1897 mit einer Festveranstaltung. Der erste Fahrplan der Schmalspurbahn wies insgesamt vier Zugpaare aus, die für die Gesamtstrecke etwa eine Stunde benötigten. Die Postkutsche zwischen Hohnstein und Bad Schandau verkehrte am 31. Mai 1897 zum letzten Mal. Betrieb Entgegen den Erwartungen war das Güteraufkommen mäßig. Wie auch andere Schmalspurbahnen in Sachsen erlangte die Bahn nie ein größeres Verkehrsaufkommen, so dass die Strecke stets auf Zuschüsse angewiesen war. Auch die Ansiedlung von Industrie entlang der Bahn gelang nicht, was letztlich ein gewichtiges Argument zur Errichtung der Bahn gewesen war. Der auf anderen Strecken durchaus übliche Rollbockverkehr war somit verzichtbar, es wurden aus wirtschaftlichen Gründen keine Rollböcke angeschafft. Die Strecke diente hauptsächlich zur An- und Abfuhr von Produkten der Landwirtschaft und Kleinindustrie. Am 31. Juli 1897 kam es im gesamten sächsischen Bergland zu einer Hochwasserkatastrophe, bei der auch die Schwarzbachbahn betroffen war. Größere Schäden am Bahngleis entstanden jedoch nur auf dem Abschnitt im Sebnitztal, die rasch behoben werden konnten. Ab 3. August 1897 verkehrte die Schmalspurbahn wieder. Nach dem Ersten Weltkrieg – am 1. April 1920 – gingen die Königlich Sächsischen Staatseisenbahnen in der neugegründeten Deutschen Reichsbahn auf. Die Schwarzbachbahn gehörte nun zum Netz der Reichsbahndirektion Dresden. Mitte der 1920er Jahre wurde die bislang als „Correctionsanstalt für arbeitsscheue Männer“ und Jugendgefängnis dienende Burg Hohnstein zu einer Jugendherberge ausgebaut. Als sie am 24. April 1926 eröffnet wurde, konnte die Schmalspurbahn den starken Reisendenandrang kaum bewältigen. Im Jahr 1930 zählte die damals größte Jugendherberge Deutschlands bereits 57.000 Gäste. Ein Großteil nutzte die Schmalspurbahn für die Anreise. In den 1930er Jahren wurde der dichteste Zugverkehr (bis zu fünf Zugpaare täglich) abgewickelt. Er beruhte vor allem auf der Nutzung der Bahn durch Wanderer und Sommerfrischler. Insgesamt gesehen war der Betrieb aber unrentabel, so dass die Bahn bereits in den 1930er Jahren bei Wirtschaftlichkeitsuntersuchungen in die Kritik geriet. Einer der Gründe für die Unwirtschaftlichkeit war die seit Ende der 1920er Jahre bestehende Linienbusverbindung zwischen Pirna und Hohnstein, die dank schnellerer und häufiger Fahrtmöglichkeiten Reisende abzog. Der umfassende Neu- und Ausbau der Staatsstraße zwischen Pirna und Sebnitz ab 1934 schuf schließlich die endgültigen Voraussetzungen für eine vollständige Verlagerung auf den Kraftverkehr. Den Zweiten Weltkrieg überstand die Strecke ohne nennenswerte Zerstörungen. Nach Kriegsende erfuhr die Strecke einen kurzen Aufschwung. Die Sebnitztalbahn war durch Brückensprengungen unterbrochen und ihr Verkehr musste teilweise auf die Schwarzbachbahn verlagert werden. Darüber hinaus brachten Hamsterfahrten der Bahnlinie einigen Verkehr. Da das im Krieg stark beschädigte Reichsbahnausbesserungswerk Chemnitz zunächst keine Schmalspurlokomotiven instand setzen konnte und noch betriebsfähige Fahrzeuge als Reparationsleistung von der Besatzungsmacht Sowjetunion beschlagnahmt wurden, stand nur noch eine betriebsfähige Lokomotive zur Verfügung. Um am Sonntag die nötigen Wartungsarbeiten (z. B. Kessel auswaschen) ausführen zu können, verkehrten nun nur noch werktags Züge. Bei größeren Schäden an der Lokomotive ruhte der Verkehr auch ganz. Im Mai 1949 stationierte die Deutsche Reichsbahn wieder eine Reservelokomotive in Hohnstein. Anlässlich der Wahlen zum Deutschen Volkskongress am 15. Mai 1949 wurde der Sonntagsverkehr wieder eingeführt. Die Beförderungsleistungen blieben aber weiter auf niedrigem Niveau, da trotz zunehmender Normalisierung des Lebens an ein Anknüpfen an den Vorkriegstourismus nicht zu denken war. Stilllegung Wegen des geringen Verkehrsaufkommens entschied die Reichsbahndirektion Dresden am 25. Mai 1951, die Strecke zur Gewinnung von Oberbaustoffen abzubauen. Der davon völlig überraschten Bevölkerung gab man bekannt, dass die Schienen „dringend für den Aufbau des Südringes in Berlin zur Durchführung der Weltjugendfestspiele benötigt werden.“ Als offizielle Begründung musste die „Aufrüstung der westdeutschen Monopolisten“ herhalten, die Oberbaustoffe „reichlich liefern“ könnten. Zwei Tage später – am 27. Mai 1951 – fand letztmals planmäßiger Zugverkehr statt. Für die Abbauarbeiten beauftragte die Deutsche Reichsbahn den VEB Bergungsbetrieb Berlin, der am 1. Juni 1951 am Endpunkt Hohnstein mit der Demontage begann. Mittels Abbauzug wurden die gewonnenen Schienen zur Weiterverladung nach Goßdorf-Kohlmühle gefahren. Im September waren die Gleise komplett abgebaut. Erhalten blieben nur die Hochbauten und alle Brücken. Inwieweit das abgebaute Material an anderer Stelle zum Wiedereinbau kam, ist unbekannt. Für den Bau des Berliner Außenringes wurden die Schienen im Gegensatz zur offiziellen Bekanntmachung mit ziemlicher Sicherheit nicht verwendet, da die für Schmalspurbahnen ausgelegten Schienenprofile dort wegen der viel höheren Achslast nicht einsetzbar waren. Am wahrscheinlichsten ist deshalb eine Wiederverwendung auf anderen Schmalspurbahnen. Nach dem Abbau der Gleise blieben die ehemaligen Bahnanlagen zunächst ohne Nachnutzung, da die Reichsbahndirektion Dresden noch bis Ende der 1950er Jahre mit einem möglichen Wiederaufbau der Strecke rechnete. Am 1. Januar 1962 übergab die Deutsche Reichsbahn das gesamte ehemalige Bahngelände einschließlich aller Tunnel und Brücken an die Gemeinden Goßdorf, Lohsdorf, Ulbersdorf, Ehrenberg und Hohnstein. Streckenbeschreibung Verlauf Die Strecke begann an der Sebnitztalbahn im Bahnhof Goßdorf-Kohlmühle und verlief zunächst parallel zur Normalspurbahn Richtung Sebnitz. Nach einem Kilometer überquerte die Bahn die Sebnitz auf einer Betonbogenbrücke, führte durch den Tunnel unter dem Goßdorfer Raubschloss und erreichte das namensgebende Schwarzbachtal. Fortan führte die Bahn stetig ansteigend am rechten Ufer des Schwarzbaches entlang, passierte einen weiteren kurzen Tunnel und erreichte Lohsdorf. Nach Lohsdorf führte die Bahn über Wiesen entlang des Ehrenberger Wassers nach Unter- und Oberehrenberg. Nach Oberehrenberg wendete sich die Trasse nach links aus dem Tal heraus und erreichte durch einen Einschnitt die Hochfläche bei Hohnstein. In stetem Gefälle führte die Bahn schließlich zum Bahnhof der Kleinstadt. Betriebsstellen und Anschlussgleise Goßdorf-Kohlmühle Der Bahnhof Goßdorf-Kohlmühle (bis 1936: Kohlmühle) war Spurwechselbahnhof zur Bahnstrecke Bautzen–Bad Schandau. Die Betriebsstelle bestand schon vor dem Bau der Schmalspurbahn als unbedeutende Haltestelle an der dort gelegenen Papierfabrik (heute: Linoleumwerk Kohlmühle). Die Anlagen der Schmalspurbahn bestanden nur aus dem Umsetzgleis, einem Abstellgleis, einem Ladegleis, der Umladehalle und dem einständigen Lokschuppen. Zudem gab es eine Betriebsmittelüberladerampe zur Regelspur, um Lokomotiven und Wagen mit anderen Strecken austauschen zu können. Das bahnseitig schon länger ungenutzte, aber noch bewohnte ehemalige Empfangsgebäude des Bahnhofes sowie über 9.000 Quadratmeter des anliegenden Bahnhofsgeländes befinden sich seit Februar 2010 im Eigentum des Schwarzbachbahn e. V. Lohsdorf Die Haltestelle Lohsdorf war die Station mit dem geringsten Güter- und Personenverkehr der ganzen Strecke. Neben dem durchgehenden Hauptgleis bestand nur noch ein Ladegleis, welches beidseitig mit Weichen eingebunden war. Dem Reiseverkehr diente eine hölzerne Wartehalle. Um 1924 ließ die Bäuerliche Handelsgenossenschaft am Ladegleis ein Lagergebäude errichten, welches auch heute noch vorhanden ist. Die örtliche landwirtschaftliche Genossenschaft riss 1991 die hölzerne Wartehalle ab, um zusätzlichen Abstellplatz für ihre Maschinen zu erhalten. Im Zuge des teilweise geplanten Wiederaufbaus der Schmalspurbahn wurde die Haltestelle bis 2006 wieder weitgehend originalgetreu mit allen Gleisen und Anlagen hergerichtet. Die Haltestelle Lohsdorf ist eine Station der touristischen Themenstraße Dampfbahn-Route Sachsen. Unterehrenberg Die Haltestelle Unterehrenberg befand sich am unteren Ortsanfang des langgestreckten Waldhufendorfes Ehrenberg. Die Bedeutung der Station lag vor allem im Güterverkehr. Versendet wurden vor allem landwirtschaftliche Erzeugnisse, wie Milch und Getreide. Empfangen wurden hauptsächlich Baustoffe, Kohlen und Dünger für den örtlichen Bedarf. Die Hochbauten des Bahnhofes entsprachen denen in Lohsdorf. Oberehrenberg Die Haltestelle Oberehrenberg war die am stärksten frequentierte Unterwegsstation, die auch von den Einwohnern des nahen Ortes Cunnersdorf genutzt wurde. Neben den schon für Unterehrenberg aufgeführten Waren wurden hier auch fertige Polstermöbel und deren Halbfabrikate umgeschlagen. Die Hochbauten der Haltestelle entsprachen denen der anderen beiden Unterwegsstationen. Die historische Wartehalle war noch Ende der 1990er Jahre in desolatem Zustand vorhanden. Sie wurde durch den Schwarzbachbahn e. V. geborgen und für die Komplettierung des Museumsbahnhofes Lohsdorf genutzt. Gleisanschluss Rittergut Wittig Der Gleisanschluss des Rittergutes bei Hohnstein bestand von 1909 bis 1922. Das Gleis wurde für die Verladung landwirtschaftlicher Produkte genutzt. Hohnstein (Sächs Schweiz) Der Bahnhof Hohnstein war als Endbahnhof der betriebliche Mittelpunkt der Schmalspurbahn. Hier befanden sich die Lokomotivbehandlungsanlagen mit einem zweiständigen Lokschuppen und mehrere Abstellgleise. Das massive, verklinkerte Empfangsgebäude war ein Typenbau, wie er auch bei anderen sächsischen Schmalspurbahnen zur Ausführung gekommen war. Bis Anfang der 1990er Jahre waren die Hochbauten des Bahnhofes noch komplett vorhanden. Ein Großteil des Geländes einschließlich des Lokschuppens nutzte der VEB Kraftverkehr zum Abstellen von Omnibussen, im Empfangsgebäude war eine Kindertagesstätte untergebracht. Erst als Mitte der 1990er Jahre die private Firma Reiseverkehr Puttrich das Gelände erwarb, kam es zum Abriss der Nebengebäude. Der Lokschuppen beherbergte seitdem eine Werkstatt für Busse, um ihn herum wurde eine neue Halle gebaut. Inzwischen wurde er jedoch abgetragen. Das Empfangsgebäude ist noch original erhalten, es steht heute unter Denkmalschutz. Ingenieurbauten Brücken Wie bei allen Flusstalbahnen waren auch bei der Schmalspurbahn Goßdorf-Kohlmühle–Hohnstein eine ganze Reihe von Flussüberquerungen nötig. Aus Kostengründen wurde ein Teil der Brücken mit dem damals neuartigen Baustoff Beton erstellt. Die große Sebnitzbrücke bei Kilometer 1,372 errichtete die Zweigstelle Dresden der „Actiengesellschaft für Beton- und Monierbauten Berlin“. Die Kosten betrugen 12379 Mark. Die konstruktiv ähnliche, aber kleinere Brücke am Kilometer 11,698 baute hingegen die „Cementwaarenfabrik Cossebaude“, die dafür mit 8528 Mark das günstigste Angebot abgegeben hatte. Tunnel Das enge Schwarzbachtal erforderte beim Bau der Strecke auch die Anlage zweier Tunnel, die 63 bzw. 37 Meter lang sind. Beide Tunnel erhielten ein Lichtraumprofil, das einen Rollbockverkehr mit Normalspurgüterwagen ermöglicht hätte. Baulich bemerkenswert ist, dass nur die Portale eine komplette Ausmauerung erhielten. Im Inneren der Tunnel wurde auf eine Befestigung der Tunnelwände verzichtet, nur die Tunneldecke ist mit einem Gewölbe versehen. Beide Tunnel wurden ebenfalls von der AG für Beton- und Monierbauten errichtet. Sie sind heute die einzigen noch existierenden Schmalspurbahntunnel Sachsens, nachdem 1905 der im Rabenauer Grund gelegene Tunnel der Weißeritztalbahn abgetragen worden war. Fahrzeugeinsatz → Siehe auch: Hauptartikel Sächsische Schmalspurbahnen Die eingesetzten Lokomotiven und Wagen entsprachen den allgemeinen sächsischen Bau- und Beschaffungsvorschriften für die Schmalspurbahnen und konnten daher freizügig mit Fahrzeugen anderer sächsischer Schmalspurstrecken getauscht werden. Als Erstausstattung bestellte das sächsische Finanzministerium im Jahr 1895 zwei Lokomotiven der Gattung IV K, fünf Personenwagen der 2. und 3. Klasse, zwei Zugführerwagen mit Gepäck- und Postabteil sowie zwölf Güterwagen. Dieser geringe Bestand an Fahrzeugen blieb über die ganze Betriebszeit weitgehend konstant, auch wenn ein Teil der zweiachsigen Wagen später durch vierachsige Bauarten ersetzt wurde. Die meist gemischt als Güterzug mit Personenbeförderung gefahrenen Züge bestanden in aller Regel aus ein oder zwei Reisezugwagen, dem Dienstwagen und einigen offenen und gedeckten Güterwagen. Wegen des geringen Verkehrsaufkommens ersetzte man die IV-K-Lokomotiven schon bald nach der Eröffnung durch die ältere und leistungsschwächere Gattung I K. Hohnsteiner Stammlokomotive war über lange Zeit die Bahn-Nr. 11. Die Deutsche Reichsbahn musterte die nun als 99 7504 bezeichnete Lokomotive als letzte ihrer Baureihe im Jahr 1928 aus. Bis zur Stilllegung waren dann wieder IV-K-Lokomotiven in Hohnstein beheimatet. Die seinerzeitige Stammlokomotive 99 555 kam nach der Stilllegung nach Mügeln, wo sie 1973 ausgemustert wurde. Von 1977 bis 2002 war sie Denkmallokomotive in Söllmnitz bei Gera, heute ist sie betriebsfähige Museumslokomotive des Interessenverbandes der Zittauer Schmalspurbahnen e. V. Beim Streckenabbau im Jahre 1951 kam auch eine Schlepptenderlokomotive zum Einsatz, die ursprünglich von einer sowjetischen Lokomotivfabrik für eine Waldbahn in Rumänien gebaut worden war. Diese war 1943 als Kriegsbeute zum Bahnbetriebswerk Zittau gelangt und hatte dort die Nummer 99 4052 erhalten. Vor den Abbauzügen verwendete man das als „Gummidampfer“ verspottete Fahrzeug als Bremslokomotive. Die Strecke heute Die Trasse der Schmalspurbahn Goßdorf-Kohlmühle–Hohnstein ist bis heute weitgehend unverbaut erhalten geblieben. Nur ein kurzer Abschnitt zwischen Oberehrenberg und Hohnstein wurde eingeebnet und dient landwirtschaftlichen Zwecken. Auf der Trasse zwischen Goßdorf-Kohlmühle und Lohsdorf verläuft heute ein Wanderweg, der auch durch die beiden Tunnel im Schwarzbachtal führt. Von den Hochbauten der Bahnhöfe existieren heute nur noch die Empfangsgebäude in Goßdorf-Kohlmühle, Lohsdorf und Hohnstein. Bemerkenswert ist der gute Erhaltungszustand der in Stampfbeton ausgeführten Bogenbrücken, die über hundert Jahre nach ihrem Bau bislang kaum Korrosionsschäden aufweisen. Schwarzbachbahn e. V. Der Verein Schwarzbachbahn e. V. wurde im Jahr 1995 mit dem Ziel gegründet, die Schmalspurbahn Goßdorf-Kohlmühle–Hohnstein wieder aufzubauen. Erste Planungen des Vereines sahen sowohl einen touristischen Verkehr mit historischen Fahrzeugen als auch einen Schülerverkehr mit Triebwagen auf der Gesamtstrecke vor. Für den Einsatz vor den Museumszügen sollte die in Söllmnitz bei Gera als Denkmal aufgestellte Dampflokomotive 99 555 erworben werden. Letztendlich ließen sich diese ehrgeizigen Ziele bis heute nur in Ansätzen verwirklichen. Ein sichtbares Ergebnis der Vereinsarbeit ist der originalgetreue Wiederaufbau des Bahnhofes Lohsdorf inklusive der Gleisanlagen. Zur festlichen Einweihung im August 2006 kam erstmals seit 55 Jahren wieder eine Dampflokomotive ins Schwarzbachtal. Mit der von der Preßnitztalbahn geliehenen Maschine wurden Führerstandsmitfahrten auf den Bahnhofsgleisen angeboten. Weitergehende Planungen für einen Aufbau des Gleises Richtung Goßdorf-Kohlmühle konnten bislang nicht realisiert werden. Die anvisierte Übernahme der Dampflokomotive 99 555 scheiterte an den fehlenden Möglichkeiten zum Erhalt der Lokomotive im Schwarzbachtal. Die Lok wurde im Jahr 2002 von der Gemeinde Söllmnitz an den Interessenverband der Zittauer Schmalspurbahnen e. V. verkauft. Zum Bahnhofsfest am 27. und 28. August 2011 konnte das erste Stück wieder aufgebaute Streckengleis in Richtung Hohnstein präsentiert werden. Insgesamt 4000 Gäste besuchten die Veranstaltung. Ein weiteres etwa 180 m langes Streckenstück in Richtung Hohnstein, inklusive der ersten Stahlträgerbrücke über den Schwarzbach, konnte am 26. August 2017 in Betrieb genommen werden. Der daran anschließende ca. 400 m lange Streckenabschnitt wurde am 31. August 2019 eröffnet. Bis 2026 will der Verein den 2,5 km langen Abschnitt bis Unterehrenberg wieder aufbauen. Der als wesentliches Vereinsziel definierte Wiederaufbau des landschaftlich reizvollen und touristisch bedeutsamen Abschnittes zwischen Goßdorf-Kohlmühle und Lohsdorf wurde im November 2019 von der zuständigen Landesdirektion Sachsen aus naturschutzrechtlichen Gründen abgelehnt. Der vorgesehene Bauabschnitt liegt im Landschaftsschutzgebiet Sächsische Schweiz und zugleich in dem nach europäischem Recht geschützten Fauna-Flora-Habitat „Sebnitz- und Lachsbachtal“. Nach Ansicht der Behörde ginge dort der „ausgeprägte Ruhecharakter, die Störungsarmut sowie die Unzerschnittenheit des Schwarzbachtals...absehbar verloren.“ Der Vereinssitz befindet sich heute im Empfangsgebäude von Goßdorf-Kohlmühle. Fahrzeugbestand (2022): 99 585 (sächsische IV K), Dauerleihgabe der Museumsbahn Schönheide mindestens bis 2040. Aktuell HU vsl. bis 2024 (in Aufarbeitung) 199 312 (V10C) (betriebsfähig) 1 Traglastwagen K1134 (betriebsfähig) 1 Großfensterwagen K373 (in Aufarbeitung) 1 zweiachsiger Personenwagen K1616 (betriebsfähig) 1 zweiachsiger Gepäckwagen K2009 (betriebsfähig) 1 Vierachsiger Gepäckwagen K1762 (künftige Aufarbeitung) 1 GGw K3028 (seit 2021 in betriebsfähiger Aufarbeitung, zur Inbetriebnahme vorgesehen) 1 Güterwagen OO (betriebsfähig) 1 zweiachsiger GGw K2680 (langfristig Aufarbeitung geplant) 2 Rottenwagen (Baufahrzeug, zur Streckeninstandhaltung) Literatur Rolf Böhm: Wanderkarte der Sächsischen Schweiz – Brand-Hohnstein 1:10.000. Verlag Rolf Böhm, Bad Schandau, 1993 (2. Auflage 2000, ISBN 3-910181-06-6) Matthias Hengst: Frühere sächsische Schmalspurbahnen nördlich der Elbe. Bufe-Fachbuch-Verlag, Egglham 1995, ISBN 3-922138-56-X. Klaus Kieper, Reiner Preuß: Schmalspurbahnarchiv. transpress VEB Verlag für Verkehrswesen, Berlin 1980, ohne ISBN. Erich Preuß, Reiner Preuß: Schmalspurbahnen der Oberlausitz. transpress VEB Verlag für Verkehrswesen, Berlin 1980, ohne ISBN. Erich Preuß, Reiner Preuß: Schmalspurbahnen in Sachsen. transpress Verlag, Stuttgart 1998, ISBN 3-613-71079-X. Reiner Preuß: Alles über Schmalspurbahnen der Oberlausitz. transpress Verlag, Stuttgart 2012, ISBN 978-3-613-71431-1, S. 110–117. Karlheinz Uhlemann: Die ehemalige Schmalspurbahn Goßdorf-Kohlmühle–Hohnstein. In: Mitteilungen des Landesvereins Sächsischer Heimatschutz Heft 3/2007, , S. 39–44. Wolfram Wagner, Wolfgang König: Die Geschichte der Schmalspurbahn Goßdorf-Kohlmühle–Hohnstein 1897–1951. 2. überarbeitete Auflage. Deutscher Modelleisenbahnverband der DDR, Dresden 1984. Wolfram Wagner, Reinhard Hupfer, Karlheinz Uhlemann: Geschichte und Geschichten der sächsischen Schmalspurbahn Goßdorf-Kohlmühle – Hohnstein und des Schwarzbachbahnvereins. Schwarzbachbahn e. V. (Eigenverlag), Hohnstein 2011 Weblinks Homepage des Vereins „Schwarzbachbahn e. V.“ Streckenbeschreibung auf www.sachsenschiene.de Bilder vom heutigen Zustand auf www.stillgelegt.de Einzelnachweise Bahnstrecke in Sachsen Schmalspurbahn GossdorfKohlmuhleHohnstein
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https://de.wikipedia.org/wiki/Kasberger%20Linde
Kasberger Linde
Das Naturdenkmal Kasberger Linde (auch als Kunigundenlinde oder Franzosenlinde bekannt) ist eine Sommer-Linde (Tilia platyphyllos) am Rand des Gräfenberger Ortsteils Kasberg im Landkreis Forchheim. In der Nähe des Baumes wurden im Mittelalter vermutlich Gerichtstage abgehalten. Nach unterschiedlichen Schätzungen ist die Linde 600 bis 1000 Jahre alt und seit mindestens 1976 als Naturdenkmal bei der Unteren Naturschutzbehörde des Landkreises Forchheim gelistet. Direkt neben der alten Kasberger Linde steht eine weitere, etwa 150-jährige Linde. Beschreibung Stamm Der Stamm der Linde ist weitgehend ausgehöhlt, bis auf einen stark geneigten Rest zerstört und wird mit Eisenklammern und Gewindestäben zusammengehalten. Der Reststamm und ein annähernd waagerecht ausladender Hauptast werden von mehreren Eisen- und Holzstangen gestützt. Im Stamm siedelte sich ein Holunderstrauch an, der durch eine Öffnung nach außen wächst. Die Borke ist an vielen Stellen mit Moosen und Flechten bedeckt, die noch vorhandenen Teile der Krone sind von Misteln bewachsen. Vollständig erhalten hätte der Stamm einen Umfang von etwa 16 Metern. 1987 betrug der Umfang des Stammes noch 11,2 Meter, davon sind gegenwärtig (2009) noch knapp acht Meter übrig. Messungen an der Stelle des geringsten Durchmessers ergaben 4,6 Meter Umfang. Die Gesamthöhe des Baumes betrug im Jahre 1990 11 Meter, bei einem Kronendurchmesser von 16 Metern. Alter Da das älteste Holz aus dem Zentrum des Stammes fehlt, ist weder eine Jahresringzählung noch eine Radiokohlenstoffdatierung möglich. Das tatsächliche Alter der Linde kann deshalb nur grob geschätzt werden. Ein Vertreter des Deutschen Baumarchivs schätzte im Jahr 2008 ihr Alter auf 600 bis 800 Jahre; mehrfach wurde auch ein Alter von über 1000 Jahren vermutet. Damit wäre die Linde eine der zehn ältesten Linden in Deutschland. Standort Kasberg liegt drei Kilometer nordwestlich von Gräfenberg und etwa 25 Kilometer nordöstlich von Nürnberg. Die Linde steht am westlichen Ortsrand in etwa 510 Meter Höhe über Normalnull neben der Kreuzung zweier alter Verkehrswege, nämlich der Straße zwischen Leutenbach und Gräfenberg (heute FO 14) und der Straße zwischen Walkersbrunn und Kasberg (FO 42/FO 14). Landschaftlich handelt es sich um eine Plateaulage am Südwestrand der Fränkischen Schweiz innerhalb der Fränkischen Alb. Der Boden um die Linde besteht aus kalkhaltigem, lehmigem Verwitterungsmaterial des Weißen Jura. Geschichte Einer Sage zufolge soll die heilige Kaiserin Kunigunde, die Gemahlin von Kaiser Heinrich II., vor etwa 1000 Jahren die Linde eigenhändig gepflanzt oder sie besucht haben. Nach Kunigunde, die in Franken seit ihrer Heiligsprechung durch Papst Innozenz III. im Jahr 1200 eine hohe Popularität besaß, wurden im fränkischen Raum weitere Linden, wie in Gräfenberg und in dem südlich von Würzburg gelegenen Burgerroth, benannt. Über die Sage der Pflanzung der Kunigundenlinde steht in der Chronik von Gräfenberg von 1850: In Kasberg wurden bis zum Ausgang des Mittelalters Rechtstage für den Bezirk des ehemaligen Landbezirks Auerbach in der Oberpfalz abgehalten. So soll der Auerbacher Landrichter im 13. Jahrhundert „zu Kasberg bei der noch stehenden Linde unter dem freien Himmel Schrannengericht mit ganzem Gerichtsstab“ abgehalten haben. Nach der Kasberger Ortschronik von 1920 hat auch der Sulzbacher Landrichter Volkelt von Taun um 1360 die Umgebung der Linde für Gerichtstage genutzt. Es ist allerdings fraglich, ob es sich bei einem der damals genannten Bäume tatsächlich um die heutige Kasberger Linde handelte. Um die Linde ranken sich aus den Revolutionskriegen und den Napoleonischen Kriegen verschiedene Geschichten und Sagen: So hätten 1795 im Ersten Koalitionskrieg ungarische Soldaten unter der Linde gelagert, wobei sich ein Husar mit seinem Pferd in der Linde versteckt habe, so dass er nicht zu erkennen war und so den Feinden entkommen konnte. Als französische Truppen 1796 durch Kasberg zogen, sollen Soldaten des Generals Jean-Baptiste Jourdan mit einer Kanone auf die Linde geschossen haben, weshalb diese im Volksmund auch Franzosenlinde genannt wird. In unmittelbarer Nähe Kasbergs fanden 1798 Kämpfe kaiserlicher Regimenter mit Truppen des französischen Generals Augereau statt. Bei einem Marsch französischer Soldaten durch Kasberg im Jahr 1806 wurde die Linde in Brand gesteckt, wobei der Stamm durch das unter dem Baum entfachte Feuer schwer beschädigt, aber nicht völlig zerstört wurde. Auf dem Uraufnahmeblatt NW 73-11 aus dem Jahr 1822 der ersten flächendeckenden Vermessung Bayerns von 1808 bis 1853 ist am Ortsrand an einer Straßenkreuzung die Kasberger Linde als einzelner Laubbaum auf einem mit „Gem.[einde]“ bezeichneten Grundstück zu erkennen. In dem im Jahre 1876 umgravierten Steuerblatt N. W. LXXIII ist der Baum als trigonometrischer Punkt hervorgehoben. Im Unterschied zu heute waren die Straßen seinerzeit unbefestigt. H. Räbel zeigte 1905 im Baumbuch des Baumfotografen Friedrich Stützer eine Abbildung der Linde mit einem hohlen, geteilten Stamm, deren unterer Kronenbereich noch vollständig vorhanden war. In diesem Zusammenhang erwähnte Räbel, dass „vor etwa 50 Jahren neben unserer Linde noch zwei große Linden gestanden“ haben (also um 1850). Im Widerspruch dazu steht ein älteres Dokument aus dem Jahr 1764: Im Allgemeinen Oekonomischen Forst-Magazin wurden nur zwei mächtige Linden erwähnt, die „obere“ und die „untere Linde“. Die obere Linde wurde als völlig hohl beschrieben und sei schon zweimal ausgebrannt gewesen. Der Umfang dieser Linde wurde mit 45 Schuh (13,7 Meter) und die Höhe mit 60 Schuh (18 Meter) angegeben. Diese Angaben würden sich hochgerechnet mit den Maßen der heutigen Linde decken. Dem Deutschen Baumarchiv zufolge ist jedoch die untere Linde, die einige Schritte entfernt stand, die heutige Kasberger Linde. Sie soll 1764 äußerlich noch völlig gesund ausgesehen haben, einen Umfang von 28 Schuh (rund 8,4 Metern) und die Höhe mit 70 Schuh (21 Metern) gehabt haben. Aus der Zusammenschau dieser Angaben aus verschiedenen Zeiten ergibt sich, dass im Laufe der Jahrhunderte verschiedene Linden als Alte Linde bezeichnet wurden. In der Chronik von Gräfenberg von 1850 heißt es, „Sie mag tausend Jahr alt sein, und durch ihre innere, auf drei Seiten geöffnete Höhlung kann man bequem auf einem Pferde durchreiten.“ Der Stamm war in vier Teile zerrissen und hatte einen Umfang von 16 Metern. Der Hohlraum war drei Meter hoch und der mittlere Durchmesser der Linde betrug 4,5 Meter. Die Krone hatte einen Durchmesser von 20 bei einer Höhe des Baumes von 12 Metern. Der Überlieferung nach tanzten früher die Kasberger an Festtagen in der Linde, wobei sich sechs Tanzpaare im Hohlraum der Linde drehen konnten. Früher soll sich auch eine hölzerne Tanzplattform in der Krone befunden haben. Die Linde wurde vom Beginn des 20. Jahrhunderts an aufgrund mehrerer Berichte überregional bekannt. Im Jahre 1902 erschien in der Augsburger Abendzeitung ein Bericht über die Linde. Im selben Jahr berichtete das Bamberger Tagblatt über den Baum. Wenig später erschien ein Bericht über die Linde im Reiseführer Die Fränkische Schweiz. Sanierungsversuche Im Sommer 1913 wurde versucht, den Zerfall der Linde hinauszuzögern, wobei der Bezirk Oberfranken und die Gemeinde Kasberg die Kosten trugen. Dabei wurden die Äste gestützt, der Hohlraum des Stammes wurde behandelt und der Baum eingezäunt. Der Zustand der Linde verschlechterte sich jedoch weiter. Nach einem Spendenaufruf 1970 erhielt der Baumpfleger Michael Maurer aus Röthenbach an der Pegnitz 1976 den Auftrag, den Baum zu sanieren. Die Kosten beliefen sich auf 28.000 Deutsche Mark. Weitere Linden In unmittelbarer Nähe steht eine weitere Linde mit einem geschätzten Alter von etwa 100 bis 150 Jahren. Nach dem Absterben der alten Kasberger Linde soll sie diese als prägnanten Baum ersetzen. Auch an anderen Stellen in und um Kasberg gibt es mehr oder weniger alte Linden, so befindet sich beispielsweise im Ortskern von Kasberg ein vermutlich mehrere Jahrhunderte alter Lindenbaum. Wenn in der Literatur von einer oberen und einer unteren Linde gesprochen wird, sind Verwechslungen deshalb nicht völlig auszuschließen. Die meisten anderen Bäume stehen allerdings deutlich tiefer als der traditionell als Kasberger Linde bezeichnete Baum. Siehe auch Liste markanter und alter Baumexemplare in Deutschland Gerichtslinde Literatur Weblinks Kasberger Linde – Artikel bei frankenjura.com, vom 4. Juli 2008 Kasberger Linde am Staffelstein – Artikel von Hans Joachim Fröhlich, Textauszug aus Alte liebenswerte Bäume in Deutschland, Seite 288–289, vom 4. Juli 2008. – Artikel von Peter Frühauf, vom 4. Juli 2008. Deutsches Baumarchiv Einzelnachweise Naturdenkmal im Landkreis Forchheim Einzelbaum in Bayern Geographie (Gräfenberg) Einzelbaum in Europa Individuelle Linde oder Baumgruppe mit Linden Kunigunde von Luxemburg als Namensgeber
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https://de.wikipedia.org/wiki/Sch%C3%B6ne%20Eiche%20%28Harreshausen%29
Schöne Eiche (Harreshausen)
Die Schöne Eiche ist eine markante Stieleiche, die nördlich des hessischen Harreshausen steht. Es handelt sich um eine Säuleneiche. Geschichte Dieser Baum und seine durch vegetative Vermehrung erzeugten Nachkommen bilden die Sorte Quercus robur Fastigiata. Sie hat wegen ihres charakteristischen Wuchses seit ihrer Entdeckung im 17. Jahrhundert die Aufmerksamkeit von Forstleuten, Botanikern und Naturwissenschaftlern auf sich gezogen. Es gilt als gesichert, dass alle in Mittel- und Nordeuropa vorhandenen Säuleneichen, die wegen ihrer Wuchsform auch Pyramiden- oder Zypresseneichen genannt werden, von ihr abstammen. Standort Die Schöne Eiche steht in einem Stadtteil von Babenhausen im Landkreis Darmstadt-Dieburg im südlichen Hessen, etwa 25 Kilometer südöstlich von Frankfurt am Main auf etwa 120 Meter über Normalhöhennull etwa 600 Meter nördlich von Harreshausen und 2,5 Kilometer nordöstlich von Babenhausen. Sie steht in einer kleinen Baum- und Strauchgruppe aus jungen Eichen, Linden, Weißdorn und Flieder, umrahmt von einem Holzzaun inmitten eines Feldes. Beschreibung Die Schöne Eiche besitzt einen regelmäßig konisch geformten und im unteren Bereich völlig astfreien Stamm mit 4,21 Metern Umfang, auf einem Meter Höhe gemessen. Erst in zwölf Meter Höhe beginnt die Krone; dort endet der Stamm abrupt. Die Seitentriebe wachsen nicht wie bei anderen Eichen mehr oder weniger waagerecht abstehend, sondern straff nach oben. Sie streben nach kurzem horizontalen Austrieb aufwärts, so dass die Hauptäste etwa parallel verlaufen. Die recht unregelmäßige Form geht auf zwei Blitzeinschläge in den Jahren 1871 und 1928 zurück, bei denen große Teile der Baumkrone verloren gingen. Alter Die Schöne Eiche zählt zu den ältesten Bäumen in Hessen. Schätzungen im Jahre 1940 ergaben ein Alter von 500 Jahren. Es wurden zwei Bohrkerne entnommen, mit deren Hilfe das Forstamt Babenhausen das Alter bestimmte, das im Vergleich zu anderen Eichen bei einem Stammumfang von nur 4,21 Metern sehr hoch ist. Ein so hohes Lebensalter im Verhältnis zum Stammdurchmesser findet man in Deutschland in der Regel nur bei Eiben. Geschichte Entstehung und Entdeckung Bei der Schönen Eiche handelt es sich um eine dendrologische Besonderheit, eine so genannte Knospenmutation der Stieleiche (vgl.: somatische Mutation). Dies ist wissenschaftlich offenbar nicht eindeutig abgesichert. Wahrscheinlich wuchs dieser Baum schon als Sämling (also etwa im Jahr 1450) säulenförmig. Etwa um 1700 ließ Graf Johann Reinhard III. von Hanau einen einzelnen, seitwärts nach Norden strebenden Ast, der in die Normalform zurück mutiert war, durch seinen Oberförster mit einer Büchse abschießen. Zu dieser Zeit war die Eiche schon als Besonderheit bekannt. Um 1740 entdeckte die Öffentlichkeit den Baum. Der Bereich um den Baum wurde freigeschlagen. In späterer Zeit wurde der gesamte Wald zur Gewinnung von Weideland gerodet, die Schöne Eiche blieb als sogenannter Überhälter allein stehen. Wachsender Bekanntheitsgrad Ein General der französischen Truppen, die im Siebenjährigen Krieg die Landgrafschaft Hessen von 1759 bis 1763 besetzt hielten, soll eine Wache zum Schutz des Baumes abgestellt haben, damit durchziehende Einheiten die Eiche oder Teile von ihr nicht als Brennholz für ein Lagerfeuer verwendeten. Der General habe auch Samen von ihr nach Frankreich schicken lassen, damit in seiner Heimat Anbauversuche unternommen werden konnten. Aus dem Jahre 1766 stammt die älteste Zeichnung der Pyramideneiche. Sie zeigt den Baum freigestellt und von einem kleinen, viereckigen Gatter umrahmt. In größerem Abstand befinden sich die nächsten, normalwüchsigen Eichen und Kiefern. Ein Bericht über die Eiche von Johann Christoph Stockhausen befindet sich im Hanauischen Magazin des Jahres 1781: Zu dieser Zeit war die Schöne Eiche rund 100 Fuß (etwa 30 Meter) hoch. Der Schaft hatte einen Anteil von etwa 40 Fuß (zwölf Meter) und die Krone von etwa 60 Fuß (18 Meter). 1789 diente die Schöne Eiche als Titelkupfer für das Forstarchiv. In Gardeners Chronicle erschien sie 1824. Zu diesem Zeitpunkt war sie nur noch 18 Meter hoch und hatte einen Stammumfang von 3,45 Metern. Seit 1795 ist dokumentiert, dass regelmäßig Reiser zur vegetativen Vermehrung der Schönen Eiche entnommen wurden. Der älteste bekannte auf diese Weise erzielte Baum steht noch im Bergpark Wilhelmshöhe bei Kassel. Es gilt als gesichert, dass alle vorhandenen Pyramideneichen in Zentral- und Nordeuropa von der Schönen Eiche bei Harreshausen abstammen. Diese kultivierten Eichen stammen entweder aus vegetativer Vermehrung oder von einer der zahlreichen Samenlieferungen. Die Samen wurden seit Ende des 18. Jahrhunderts unter dem Botaniker Borkhausen in viele europäische Länder verschickt. Der Botaniker Robert Caspary stellte als Erster die Behauptung auf, dass alle Pyramideneichen in Mitteleuropa von der Schönen Eiche abstammen. Er untersuchte 1873 die Eiche sehr gründlich und ermittelte einen Stammumfang in Brusthöhe von 3,05 Metern. Etwas später, 1875, besuchte der Landschaftsgärtner Eduard Petzold die Schöne Eiche und gab einen Umfang von zehn Fuß (etwa 3,3 Meter) in einem Meter Höhe an. Entwicklung bis zur Gegenwart Schon in den 1770er Jahren soll sie durch einen Blitz einen oberen Teil der Krone verloren haben. 1871 wurde die Schöne Eiche wieder vom Blitz getroffen und am 27. Juli 1928 verlor sie bei einem schweren Gewittersturm einen weiteren Teil ihrer Krone, wodurch die vollkommene Pyramidenform stark litt. Ein Einheimischer berichtete: Dieses Ereignis überstand die Eiche aber recht gut. Sie regenerierte sich und trieb aus den verbliebenen Seitenästen neu aus. Im Mai 1959 wurde sie als Naturdenkmal unter Naturschutz gestellt und 1978 saniert. Der Zustand der Eiche ist heute, in Anbetracht des hohen Alters, recht gut. Der Stamm weist einige morsche Stellen auf und ist teilweise hohl. Die Krone, die teilweise durch Seile gesichert wird, ist schütter. 1990 hatte der Stamm in 1,3 Meter Höhe einen Umfang von 3,84 Metern bei einer Höhe von 19 und einem Kronendurchmesser von 9 Metern. Um das Jahr 2000 hatte die Eiche einen Stammumfang von 4,21 Metern, auf einem Meter Höhe gemessen. Nachkommenschaft Vegetativ vermehrt, behalten die Nachkommen die Form grundsätzlich bei. Sämlinge, die eine Säuleneiche als Mutterpflanze haben, zeigen alle einen mehr oder weniger aufrechten Wuchs. Seit 1795 wurden immer wieder Reiser für Veredelungen entnommen, die als botanische Rarität zum Teil teuer verkauft wurden. Die Abkömmlinge der Schönen Eiche lassen sich deshalb nicht mehr komplett überblicken. Großen Anteil an der Verbreitung der Sämlinge und Reiser der Schönen Eiche hatten die Fürstenhäuser und insbesondere die hessischen Landgrafen, die die Pflanzen als dekorative Bäume für größere Gärten, Parks und Alleen verschenkten. Ihre Nachkommen wachsen teilweise schneller als die Mutterpflanze. In Schwerz-Dammendorf im Saalekreis (Sachsen-Anhalt) befindet sich eine Pyramideneiche mit einem Alter von ungefähr 200 Jahren. Sie hatte im Jahr 2006 einem Stammumfang von 5,73 Metern, auf einem Meter Höhe gemessen. Die älteste bekannte, von der Schönen Eiche abstammende Pyramideneiche steht seit 1795 im Bergpark Wilhelmshöhe bei Kassel. Sie ist eine durch Veredelung mit einem Zweig der Schönen Eiche erzielte Tochterpflanze. Andere relativ große, und damit wohl auch recht alte Exemplare "schöner Eichen" stehen in räumlicher Nähe zur Mutterpflanze, so vor allem im nahen Babenhausen (Hessen), aber auch im Schlossgraben in Darmstadt und im Hof des Klosters in Seligenstadt. Heute sind 126 Sorten der Stieleiche bekannt, wovon etwa 35 säulenförmigen Wuchs zeigen, im normalen Baumschulhandel sind davon zwei vertreten. Seit Ende des 18. Jahrhunderts wurden viele abweichende Wuchsformen der mitteleuropäischen Eichen selektiert und vermehrt, darunter auch die der Schönen Eiche. Der Höhepunkt der Eichen-Selektion fand Mitte des 19. Jahrhunderts statt. Die Sorten werden anhand gleicher Merkmale in einzelne Gruppen unterteilt; die von der Schönen Eiche abstammenden gehören dabei der Gruppe der Säuleneichen an. Im Handel gibt es noch die zwei Sorten Fastigiata und Fastigiata Koster. In der Literatur sind für die Sorte Fastigiata als Varietäten die Bezeichnungen Quercus robur var, fastigiata Loud. oder seltener als Form Quercus robur f. fastigiata zu finden. Da die Sämlinge dieser Säuleneichen unterschiedlich ausfallen, dürfte es sich bei den heute unter dem Namen Fastigiata angebotenen Bäumen um eine ganze 'Fastigiata'-Sortengruppe handeln. Die Sorte Fastigiata Koster, ein Sämling von Fastigiata, wächst noch schlanker und straffer aufrecht. Geschichten und Sagen Die Schöne Eiche wurde früher teilweise als Wunderbaum verehrt. Wallfahrer, die auf dem Wege nach Walldürn waren, machten unter ihr Rast und schnitten dabei Rindenstücke, denen heilende Kräfte nachgesagt wurden, aus dem Stamm. Für die ungewöhnliche Wuchsform gab es in der Vergangenheit immer wieder Erklärungsversuche. Beispielsweise soll einst der Bischof von Mainz auf der Jagd in der Nähe der Schönen Eiche seine Monstranz verloren haben. Sie sei auf die noch junge Eiche gefallen und anschließend in den Stamm eingewachsen. Dies soll die Ursache für den ungewöhnlichen Wuchs der Eiche gewesen sein. Seit etwa 1800 hält sich eine weitere Legende über die Schöne Eiche bis in die heutige Zeit. Demnach käme der senkrechte Wuchs der Triebe von dem Standort auf einem zugeschütteten Brunnenschacht. In diesem hätten die Wurzeln der Eiche zu wenig Platz und wüchsen nach unten. In gleicher Weise wie die Wurzeln habe sich auch die Krone ausgebildet. Der Schönen Eiche wurde von einem unbekannten Autoren ein Gedicht gewidmet. Es lautet nach der ersten schriftlichen Überlieferung: Siehe auch Liste markanter und alter Baumexemplare in Deutschland Literatur Caspary, Robert (1873): Über einige Spielarten, die mitten im Verbreitungsgebiet entstanden sind: Die Schlangenfichte Picea excelsa Lk. var. virgata, Pyramideneiche Quercus pedunculata W. var. fastigiata Loud. und andere. Schr. Physik.-ökon. Gesellsch. zu Königsberg 1873: S. 115–136. Johann Christoph Stockhausen: Die schöne Eiche. In: Hanauisches Magazin 1781(4): S. 161–164. Hans Joachim Fröhlich: Wege zu alten Bäumen – Band 1, Hessen. Widi-Druck, Offenbach 1990, S. 26–28 und 148, ISBN 3-926181-06-0. Hans Joachim Fröhlich: Alte liebenswerte Bäume in Deutschland. Cornelia Ahlering Verlag, Buchholz 2000, S. 178, ISBN 3-926600-05-5. Eike Jablonski (2006): Europäische Eichensorten – Sorten, Sammler und Sammlungen. Mitteilungen der Deutschen Dendrologischen Gesellschaft 91:103-126. Stefan Kühn, Bernd Ullrich, Uwe Kühn: Deutschlands alte Bäume. Fünfte, erweiterte Auflage, BLV Buchverlag GmbH & Co. KG, München 2007, S. 76, ISBN 978-3-8354-0183-9. Uwe Kühn, Stefan Kühn, Bernd Ullrich: Bäume, die Geschichten erzählen. BLV Buchverlag GmbH & Co. KG, München 2005, ISBN 3-405-16767-1. Georg Wittenberger: Der Wunderbaum von Harreshausen „Die schöne Eiche“. Hrsg.: vom Heimat- und Geschichtsverein, Babenhausen 2005. Weblinks Julian Moering: Warum diese Eiche einst von Soldaten bewacht wurde. In: hessenschau. 11. Oktober 2022 Pyramideneiche im Klosterhof Seligenstadt auf baumkunde.de Einzelnachweise Naturdenkmal im Landkreis Darmstadt-Dieburg Einzelbaum in Hessen Geographie (Babenhausen, Hessen) Einzelbaum in Europa Individuelle Eiche oder Baumgruppe mit Eichen
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https://de.wikipedia.org/wiki/Wandbilddruck
Wandbilddruck
Wandbilddruck, oft auch Wandschmuck genannt, ist die volkskundliche Bezeichnung für ein druckgrafisches Blatt, das der Ausschmückung von Räumen diente und meist unter Glas gerahmt wurde. Die Zeit von 1840 bis 1940 war die wichtigste Epoche des Wandbilddrucks, da die Entwicklung der Werke hier durch neue Drucktechniken bestimmt wurde, der Ausbau des Verkehrsnetzes einen weitreichenden Vertrieb ermöglichte und der – verglichen mit den vorherigen Jahrhunderten – größere Wohlstand Interesse an Kunst im eigenen Heim aufkommen ließ. Wandbilddrucke wurden meist nach Werken zeitgenössischer Maler angefertigt, die von den Kunstverlagen wegen ihrer populären Motive ausgewählt wurden und von denen sich einige auf den Sektor der Reproduktionsgrafik spezialisiert hatten. Als Ausgangsbasis der Reproduktionen diente nicht das originale Bild, sondern eine als Zwischenschritt angefertigte Vorlage. Eine universelle zeitgenössische Bezeichnung für Wandbilddrucke fehlte. Am verbreitetsten waren die Wörter „Zimmerschmuck“ und „Zimmerzierde“, die allerdings auch anderen Wandschmuck wie Wandkonsolen-Nippes umfassten. Verleger und Händler verwendeten die allgemeine und neutrale Bezeichnung „Kunstblatt“. Der heutige Antiquitätenhandel ordnet Wandbilddrucke als dekorative Grafik ein. Wenn auch Antiquitätenhandel und Flohmärkte auffällige Motive wie Elfenreigen und Heidelandschaften manchmal als Inbegriff des Wandbilddrucks erscheinen lassen, so war die tatsächliche Bandbreite der Themen wesentlich größer. Geschichte Vor 1860 In den Jahrzehnten vor 1840 besaßen nur die Oberschicht und das gehobene Bürgertum gerahmte Drucke, die mitunter aus England und Frankreich importiert und über Generationen hinweg vererbt wurden. Man bevorzugte vor allem mythologische und allegorische Themen, Ansichten sowie literarische und historische Motive. Bis etwa 1830 waren vor allem Kupferstiche, daneben auch Radierungen, Aquatinta und Schabkunst verbreitet. Anschließend setzte sich, zunächst bei Porträts, die Lithografie durch. Nach 1840 belebten die Ausstellungen und Reproduktionsaufträge der neu aufkommenden Kunstvereine sowie Nachrichten von großen Kunstausstellungen das bürgerliche Kunstinteresse. Auch das mittlere Bürgertum erwarb nun zunehmend Wandbilddrucke. Der Bildbedarf der unteren Sozialschichten blieb durch ein reichhaltiges Angebot an Bilderbögen gedeckt. Eine besondere Vorliebe bildete sich für literarische Motive; auch Werke der Genremalerei wurden gerne reproduziert. Humorvolle Szenen wie Salonaffären, Bubenstreiche und Wirtshausprügeleien waren ebenfalls beliebt. Bessere Wandbilddrucke verwendeten nach wie vor den Kupferstich; entsprechend hoch war der Preis. Der 1820 entwickelte Stahlstich ermöglichte ein leichteres Arbeiten und eine auflagenstärkere Reproduktion. Nach dieser Technik gefertigte Werke erreichten zeitweise hohe Auflagen, waren aber nach einigen Jahrzehnten nicht mehr gefragt. Die ausdrucksstarke Kreidelithografie mit ihren weichen Übergängen hingegen eroberte sich rasch die Gunst der Bildkonsumenten und stieg zur wichtigsten Reproduktionstechnik auf. Die Qualität der so hergestellten Drucke variierte beträchtlich. Durch den Einsatz verschiedener Arbeitsweisen wie der Feder-, Pinsel- oder Kreidemanier konnten die Lithografien mit besonderen Effekten und Wirkungen versehen werden. 1860–1890 In der zweiten Hälfte des 19. Jahrhunderts erfuhr die Entwicklung des Wandbilddrucks grundlegende Wandlungen. Der zunehmende Wohlstand und neue Drucktechniken, die eine Massenfertigung erlaubten, erweiterten den Konsumentenkreis erheblich. Auch die Werbung und die Vorführung von Gemälden durch die Druckindustrie im Rahmen von Welt-, Industrie- und Gewerbeausstellungen führte zur breiten Akzeptanz von Druckbildern. Die Tatsache, dass Wandbilder als Accessoires der Wohnungseinrichtung beworben wurden, bewog Kulturkritiker zur misstrauischen Bezeichnung „Möbelbilder“. Der Ausbau des Eisenbahnnetzes ermöglichte den Vertrieb durch Läden und Haustürgeschäft. In der bürgerlichen Schicht verfolgten die Kunstvereine ihre Aktivitäten weiter. Neben dem Bürgertum wurden auch die Bedürfnisse der „kleinen Beamten und Handwerker“ und des „Proletariats“ berücksichtigt, indem man die Ware je nach Zielgruppe in Qualitätsklassen unterteilte. Im Gegensatz zur Druckqualität bestand in der Auswahl der Bildmotive weitgehende Übereinstimmung. Die Genremalerei mit ihren romantischen Familien- und Liebesszenen beherrschte den Markt; auch im Bürgertum traten mythologische, historische und literarische Themen in den Hintergrund. Patriotische Motive wie Fürstenporträts oder Schlachtenszenen sowie Darstellungen festlicher Anlässe und literarischer Geistesgrößen gehörten weiterhin zum festen Bestandteil des Angebots. Noch größer war der Sektor der religiösen Motive. Er hatte vor allem in ländlichen, katholischen Gegenden einen festen Platz, wohingegen im Bürgertum nur einige Standardmotive wie der anklopfende Christus, der gute Hirte oder das Tischgebet verblieben. Die von Leo Schöninger vervollkommnete Galvanografie, mit der sich Kupferstiche leichter vervielfältigen ließen, war für anspruchsvollere Kunstfreunde bestimmt. Sie wurde von den Fotografien von Ölgemälden, Stichen und Skulpturen ersetzt, die sich ab 1865 zunehmend durchsetzten. Während die fotografische Reproduktion von Kunsthistorikern enthusiastisch aufgenommen wurde, betrachtete man die mit dieser Technik hergestellten Wandbilder skeptisch, da sie nicht nach dem originalen Ölgemälde selbst, sondern nach Reproduktionsstichen und -lithografien angefertigt wurden. Ein Nachteil der Fotografien war, dass sie schnell vergilbten. Der Kupferstich verlor ab den 1870er Jahren deutlich an Beliebtheit. Begleiterscheinungen der Zeit waren die auf André Disdéri zurückgehenden „Galerien moderner Meister“ im Visitenkartenformat sowie die Fotografietonbilder, die eine Fotografie vortäuschen sollten. Am umsatzstärksten waren aber die Chromolithografien, mit denen auch farbige Vorlagen reproduziert werden konnten. Sie wurden von Godefroy Engelmann erfunden und später durch Winckelmann & Söhne verbessert. Als teure „Farbendruckbilder“ dienten sie der Wiedergabe von Gemälden für das Bürgertum; als Massenware geringerer Qualität, so genannte „Öldrucke“ (auch „Ölfarbendrucke“, „Ölbilddrucke“), deckten sie den Bedarf weniger begüterter Schichten. Sie machten den Kreidelithografien ab etwa 1875 ernsthafte Konkurrenz. Neben den Chromolithografien etablierten sich die fotomechanischen Reproduktionsverfahren wie Lichtdruck und Heliogravüre, die unter vielen weiteren Bezeichnungen mit nur geringfügigen technischen Unterschieden bekannt waren. 1890–1945 Wandbilddrucke erreichten nun alle Sozialschichten und waren auf die jeweilige Käuferschicht in Geschmack und Preis abgestimmt. Konkurrenz erfuhr der Bilddruck durch Künstler- und Kunstpostkarten. Während des Ersten Weltkriegs kam der Kunsthandel der allgemeinen Stimmung durch patriotische Motive entgegen. Landschafts- und Genredarstellungen waren nach wie vor am beliebtesten. Religiöse Themen waren unverändert populär, passten sich aber dem Wandel der Zeit durch das Streichen altertümlich wirkender Bildformulierungen an. Ab etwa 1900 kamen auch Sportmotive auf. Die Zahl der Chromolithografien nahm langsam ab, während die fotomechanischen Reproduktionsverfahren verbessert wurden. Farbdrucke wie Dreifarbendrucke oder Lichtdruck waren vorherrschend. In den 1920er Jahren erlebten die weltlichen und religiösen Schlafzimmerbilder mit Motiven wie „Elfenreigen“ oder „Hochzeitstraum“ ihre Blütezeit. Nach dem Ersten Weltkrieg fielen die Fürstenbilder weg; sie wurden nur noch für das Ausland angefertigt. In den 1930er Jahren sank die Zahl der religiösen Motive. Stattdessen wurde es gebräuchlich, die Bilder je nach Motiv für ihren Einsatzzweck – Speise-, Wohn-, Herren- oder Kinderzimmer – zu klassifizieren. Landschafts- und Kinderbilder lösten die Genrebilder ab. Außerdem kam so genannte „nationale Bildkunst“ mit Führer- und Hindenburg-Porträts, heroischen Landschaften und idealisierten Bauern- und Arbeiterdarstellungen auf. Fotomechanische Reproduktionsverfahren wie Farbenlichtdruck und Farbentiefdruck lösten alte Verfahren endgültig ab. Nach 1945 Die Bildergewohnheiten nach dem Zweiten Weltkrieg sind wenig erforscht. Der Offsetdruck fand in Deutschland nach dem Krieg allgemeine Verbreitung. Zunächst versuchte man, die im Krieg vernichtete Wohnungseinrichtung wiederherzustellen. Vor allem Flüchtlinge sahen daher in Wandbildern nach alten Motiven Erinnerungsstücke. Parallel zur „Möbelhaus-Moderne“ der 1960er Jahre entwickelten sich neue, zugkräftige Motive, etwa die vollbusige Zigeunerin. Mit der Verfügbarkeit größeren Wohnraums und billigerer Möbel in Mitteleuropa hatte das übergroße Schlafzimmerbild indes ausgedient; die moderne Wohnung verlangte eher viele hochformatige Bilder für die schmalen Wandflächen zwischen den Möbeln. Erst die vor allem unter Jugendlichen beliebten Poster, die vornehmlich Idole aus Film, Musik, Sport und Politik zeigten, machten Riesen-Bilder wieder stubenfähig. In den unteren Sozialschichten wurden, abgesehen von Postern, Landschafts-, Tier- und Blumenbilder zu den beliebtesten Motivgruppen. Einen erheblichen Aufschwung erlebten die „echten Originalgemälde“. Diese billigen Gemäldekopien von alten Meistern oder von den neueren Motiven des Wandbilddrucks wurden unter anderem von belgischen Gefängnisinsassen reihenweise gemalt. Der moderne Kunstdruck arbeitet mit einer mehr oder weniger hohen Zahl von Druckfarben, um Farbtreue zu garantieren. Motive und Künstler Einer Mehrzahl der Käufer von Wandbilddrucken war der Bildinhalt wichtiger als künstlerische und ästhetische Merkmale. Kunstverlage berücksichtigten dies, indem sie ihre Kataloge nach Bildmotiven einteilten. Die Vorlagen für die Reproduktionsdrucke lassen sich in zwei Kategorien einteilen. Einerseits gab es so genannte „Galeriewerke“, die nach Gemälden aus den großen Gemäldegalerien gefertigt wurden. Hier erfuhren einige Werke besondere Verbreitung, etwa Das Abendmahl von Leonardo da Vinci oder die Sixtinische Madonna von Raffael. Vorrang hatten im Wandbilddruck jedoch die „modernen Meister“ – so die zeitgenössische Bezeichnung – die durch Kunstausstellungen, Rezensionen und Abbildungen in Familien- und Kunstzeitschriften auf sich aufmerksam machten und von den Verlegern entsprechend dem gewünschten Bildthema ausgewählt wurden. Weltliche Motive Kinder- und Familienszenen gehörten zu den beliebtesten Genrethemen. Vorläufer des Kindergenres war die niederländische Genremalerei des 17. Jahrhunderts. Später wurde es von Jean-Baptiste Greuze, Jean Siméon Chardin und englischen Porträtisten kultiviert, bevor es um 1830 in Deutschland aufkam. Stets waren die Bilder von Reinheits- und Unschuldsvorstellungen geprägt. Bekannte Maler einfacher Spielszenen ohne besondere Aussage waren Meyer von Bremen, Ludwig Knaus, Hermann von Kaulbach und Paul Friedrich Meyerheim. Ein anderer Bildtypus zeigt Kinder mit erwachsenem Auftreten, als Hoffnungsträger entsprechend der Rollenerwartung zusammen mit Titeln wie „der kleine Soldat“. Die Farbgebung wurde hier den jeweiligen Nationalfarben angepasst. Vorbilder waren Werke wie The Children of Nobility (1841) von Alfred Chalon. Eine weitere Gruppe von Bildern diente der lehrhaften Veranschaulichung bürgerlicher Tugenden am Beispiel von „gutherzigen“ oder opfergebenden Kindern. Unter den Schulszenen war Les révélations von Edouard Girardet weitverbreitet und in Deutschland unter dem Titel „Das ist ein Taugenichts!“ zusammen mit seinem Pendant „Du wirst die Rute bekommen!“ weithin erhältlich. Ab etwa 1900 wandelte sich der Inhalt der Kinderbilder zugunsten des von Corneille Max geprägten niedlichen, süßen Mädchens. Viele Darstellungen von Mutter mit Kleinkind können als profanierte Marienbilder bezeichnet werden. Ein weitverbreitetes Motiv war „der erste Schritt“. Besonders beliebt waren die Bilder von Héloïse Leloir, die allesamt als Farblithografien reproduziert wurden. In den 1920er Jahren kamen auch unter den Schlafzimmerbildern Mutter-Kind-Darstellungen auf; hier waren die Maler Alfred Schwarz und Fr. Laubnitz am gefragtesten. Die Familienszenen sprachen vielfältige Aspekte an, etwa das Generationenverhältnis oder die Unterrichtung. Schönheiten und Erotik. Einen unerlässlichen Katalogsbestandteil der Kunstverlage bildeten Grazien und reizende Mädchenköpfe, darunter Vornamenbilder, Allegorien, Odalisken und antike Göttinnen. Vorbilder waren englische Stahlstichserien wie „Byron’s Beauties“ (1836) des Londoner Verlegers Finden oder Alfred Chalons „Gallery of Grace“ (1832) und Edward Henry Corboulds „Gems of Beauty“ (1840). Auch französische Verlage boten um 1820 Farbstichserien an, die später von den Berliner Verlagen übernommen und umgewandelt wurden. Um 1850 waren die „rustic beauties“ diverser englischer Maler sehr erfolgreich; die dort dargestellten ländlichen Schönheiten wurden oftmals unter dem Titel The Daughter of… reproduziert. Die in den Schönheitsgalerien abgebildeten allegorischen Frauengestalten wie die „Balldame“, „Blumenfreundin“ oder gar die halbnackte „Metschunka, die Lieblingssklavin“ dienten mitunter als Pin-up-girls. Einem kleineren, zahlungskräftigen Kundenkreis waren eigens produzierte erotische Werke vorbehalten, etwa der von August Scherl 1925 angebotene laszive Kupferdruck, betitelt „Zwei Püppchen“. Bereits vor dem Ersten Weltkrieg hatte der Berliner Verlag Richard Bong für derartige Werke geworben. Die üppigen Schönheiten der Orientmalerei mit Titeln wie „Haremsdame“, „Perle des Orients“ oder „Odaliske“ wurden von Berliner Verlagen in die Türkei und den Nahen Osten exportiert. Wie die archivierten Verbotslisten zeigen, fielen sowohl einzelne Blätter als auch ganze Verlagskataloge – besonders, wenn sie die Unterschicht anvisierten – der staatlichen Zensur zum Opfer. Auch von der Verurteilung von Verlegern zu Geldstrafen wegen Verbreitung unzüchtiger Abbildungen wurde des Öfteren berichtet. Liebespaare. Auch Liebespaardarstellungen – in Frankreich „lithographies romantiques“, in England „sentimentals“ genannt – waren weit verbreitet. Zu den Standardmotiven gehörten diejenigen des Malers Frank Stone mit Titeln wie First Appeal, Last Appeal oder Mated; ab etwa 1870 wurden sie von den Gesellschaftsszenen seines Sohnes Marcus verdrängt. Ebenfalls gefragt waren die historischen Szenen John Everett Millais’ wie The Black Brunswicker oder A Huguenot…. Literatur- und Märchenszenen. Literarische Motive gab es als Einzelblätter, Pendants und Vierersuiten; letztere waren vor allem in Frankreich verbreitet. Hatten sich die Kunstverlage in den 1850er und 60er Jahren noch auf ältere Gemälde mit literarischem Inhalt gestützt, so erreichte das Genre ab 1870 mit den Goethe-, Schiller- und Shakespeare-Galerien von Malern wie Wilhelm von Kaulbach, August von Kreling und Ernst Stückelberg eine Blütezeit. Zu den umgesetzten Stoffen zählten Wilhelm Tell, Der Glöckner von Notre-Dame, Der Graf von Monte Christo oder Romeo und Julia. Auch Grimms Märchen dienten im 19. Jahrhundert oft als Vorlage. Patriotische Motive. Europaweit verbreitet und wahrscheinlich am umfangreichsten von allen Sparten war das patriotische Genre, das Fürstenporträts, Historienbilder und Schlachtenszenen umfasste. Die Fürstenporträts gingen aus der Tradition der Porträtstiche im 18. Jahrhundert hervor, gewannen aber mit der Lithografie erheblich an Bedeutung. Fürstenbilder im Haus oder in der Werkstatt wurden zu einer Selbstverständlichkeit und hatten während der ersten Jahre des Ersten Weltkriegs Hochkonjunktur. Ab 1933 nahm das nationalsozialistische Bildgut mit Führerbildern, Sport-, Flieger- und Flottenszenen sowie verherrlichenden Darstellungen der Frontsoldaten im Ersten Weltkrieg stark zu. Bauerngenre. Die Darstellungen des bäuerlichen Lebens gehen auf die niederländische Malerei des 17. Jahrhunderts zurück. Im 18. Jahrhundert kam das Schäfergenre hinzu. Durch ein verstärktes Interesse an Volkstum und Trachten konzentrierten sich ab 1840 Kreise wie die Kronberger Malerkolonie auf Darstellungen des Landlebens; ihre Werke wurden oft reproduziert. In den 1850er und 60er Jahren dienten vor allem die Bilder des ehemaligen Kutschenmalers John Frederick Herring senior als Grundlage für Lithografien bei den Berliner Verlagen. Anfang des 20. Jahrhunderts wurden die Genrebilder von Franz Defregger und anderen populär. Tier- und Jagdmotive. Die Tierszenen zeigten vor allem Katzen, Hunde und Pferde. Bei den Katzenbildern waren Reproduktionen nach Mathilde Aïta, C. H. Blair und Horatio Henry Couldery weit verbreitet. Hunde wurden je nach Szene als Wächter, Jagdhelfer oder Gefährten dargestellt, hier dienten die Werke von Edwin Landseer und Richard Ansdell gerne als Vorlage. Pferde standen im Kontext von Krieg, Jagd, Sport und Gespanndienst. In der Schlachtenmalerei drückte Ansdells Fight for the Standard (1848) treffend den Heroismus bei Reiter und Pferd aus; Reproduktionen des Bildes wurden auch in Übersee und sogar in Neuseeland vertrieben. In Deutschland waren außerdem die Pferdebilder Franz Krügers beliebt. Die Darstellungen von Rennpferden, zusammen mit Angaben von Name, Gestüt und Siegen gingen von England aus und richteten sich an Rennbegeisterte. Unter den deutschen Malern waren hier Carl Steffeck und Heinrich Sperling am gefragtesten. Größere Verbreitung bei den deutschen Kunstverlagen fanden die Pferdeszenen in ländlicher Umgebung von John Frederick Herring. Jagdbilder waren während des gesamten 19. Jahrhunderts bei den populären Kunstverlagen beliebt, darunter auch humoristische Szenen. Im deutschen Raum wurden Karl Friedrich Schulz, Christian Kröner, Carl Zimmermann und Moritz Müller häufig reproduziert. Neben Landseer und Ansdell waren die Jagdszenen von Henry Alken sehr populär. Humoristische Motive. Das humoristische Genre nahm etwa den gleichen Platz wie die historischen Motive ein. Oft wurden Eheszenen und Missgeschicke dargestellt. Einen breiten Raum nahmen auch die Trinkbilder ein, wobei diejenigen von Eduard Grützner am verbreitetsten waren. Ansichten und Landschaften. Während im 19. Jahrhundert die Darstellungen bekannter Städte und Gegenden überwogen, waren in der Öldruckindustrie eher allgemeine, fast immer unsignierte Stimmungsbilder mit Titeln wie „Alphütten im Gasterntal“ oder „Die Dorfschmiede“ vorherrschend. Nach 1900 wurde Hermann Rüdisühli zu einem der gefragtesten Maler für sentimentale und heroische Landschaften. Religiöse Motive In den unteren Sozialschichten und auf dem Land überwogen im Allgemeinen die religiösen Bildmotive. Die Kunstverlage teilten ihre Werke in „weltliche“ und „heilige“ Motive ein, ließen diesen beiden Kategorien aber unterschiedlichen Raum. Bei den Berliner Verlagen machten religiöse Themen höchstens ein Viertel der Gesamtproduktion aus, während sie in München stets den Großteil des Programms einnahmen. Die Konfessionszugehörigkeit der Käufer spielte nur bei Heiligenbildern, Wallfahrtsandenken und Herz-Jesu-Pendants eine Rolle. Bibelszenen. Unter dem Material des Alten Testaments kristallisierten sich bestimmte Szenen heraus, die häufig dargestellt und reproduziert wurden: Josefs- und Mosesgeschichte, das Urteil des Salomo sowie Szenen um Rut, Judit, Rebekka, Rachel, Susanna und Delila. Die Genreszenen „Aussetzung und Findung Mosis“ wurden vor allem nach Paul Delaroche angefertigt und erreichten weite Verbreitung. Wesentlich häufiger waren die auf dem Neuen Testament basierenden Themen. Die nach den Nazarenern angefertigten Druckgrafiken, vor allem der Typus des anklopfenden, tröstenden und belohnenden Christus, fanden beim gehobenen Bürgertum ihren Platz. Unter den Gleichnissen war der des verlorenen Sohns mit Abstand am populärsten. Zu den Malern, deren Werke für den Wandbilddruck umgezeichnet wurden, zählten Bernhard Plockhorst, Enrico Schmidt, Johann Roth, Wilhelm Steinhausen und Heinrich Ferdinand Hofmann. Sonstige Themen. Ein im europäischen und amerikanischen Wandbilddruck weit verbreitetes Bild war The Infant Samuel (1776) von Joshua Reynolds, das bereits ein Jahr nach seiner Fertigstellung auf den Markt gebracht wurde. Unter den sehr beliebten Schutzengelbildern waren das Morgen- und Abendgebet sowie der Engel, der ein Kinderpaar am Felsabgrund oder auf einer Brücke bewacht, häufige Themen. Im angelsächsischen Raum waren die Pendants „Gottvertrauen“ und „Barmherzigkeit“, die einen aus dem Meer ragenden Felsen mit einem Kreuz, an das sich junge Mädchen klammern, in vielen Varianten verbreitet. Sie gehen auf die als Rock of Ages und Simply to the Cross I Cling betitelten Bilder von Johannes Adam Oertel zurück; das Motiv ist jedoch bereits im frühen 17. Jahrhundert anzutreffen. Auch die im 19. Jahrhundert noch nicht tabuisierten Friedhofsbilder waren regulärer Bestandteil der Verkaufskataloge. Sie wurden vor allem von englischen Genremalern wie John Callcott Horsley seit der Jahrhundertmitte geschaffen. Verwandt sind die so genannten Traumbilder, die Wunsch- oder Hoffnungserscheinungen enthalten. Besonders weit verbreitet waren hier Thomas Brooks’ Bilder The Mother’s Dream und The Believer’s Vision. Verwendung und Funktion Private Wohnräume Die Druckgrafik bildete zusammen mit den privaten Bildnissen den Hauptbestandteil des üppigen bürgerlichen Wandschmucks der Biedermeierzeit. Sogar an Fenster- und Türnischen wurden gerne Bilder gehängt. Wie zeitgenössische Interieurbeschreibungen und Empfehlungen von Kunstverlagen nahelegen, variierte die Wahl der Motive von Zimmer zu Zimmer. Im Salon hingen in der Mehrzahl Ölgemälde. Als Reproduktionsgrafiken waren allenfalls Kunstvereinsgaben akzeptiert. Es dominierten historische Darstellungen, Landschaften und Reproduktionen klassischer Meister. Ein Favorit war Arnold Böcklins Toteninsel, die sehr oft kopiert wurde. Das Speisezimmer hingegen beherbergte nur unbeschwerte Motive wie Stillleben. Im Herrenzimmer war ein breitgefächertes Angebot von mythologischen Themen über Trinkbilder bis hin zu Jagdmotiven anzutreffen, auch an freizügigen Darstellungen nahm man keinen Anstoß. Im Gegensatz dazu herrschten im Boudoir reizende, dekorative und liebliche Genreszenen vor. Später wurden außerdem ernstere, religiöse Motive empfohlen. Die Schlafzimmerbilder, die über die Ehebetten gehängt wurden, gab es erst in den 1910er Jahren. Für das Kinderzimmer waren in erster Linie Märchendarstellungen vorgesehen, aber auch Schutzengelbilder, vor allem als Öldrucke. In den Fluren hing stets der Haussegen. Auf dem Land waren religiöse Motive, ob als Lithografie oder Öldruck, wesentlich zahlreicher. In katholischen Gegenden machten sie den größten Teil der Bilder aus. Über die Bildergewohnheiten in den städtischen Elendsquartieren ist dank der Fotografien der Berliner Wohnungsenquête, die von 1903 bis 1920 von der Krankenkasse organisiert wurde, einiges bekannt. Dort, wo die einstige bürgerliche Wohnung nach sozialem Abstieg einer elenden Behausung weichen musste, behielt man in der Regel den Wandschmuck aus den besseren Tagen, inklusive Haussegen. Öffentliche Räume Die preiswerte Druckgrafik wurde auch in Kirchen und Kapellen verwendet, etwa an den Beichtstühlen oder Kreuzwegstationen. Für letztere boten alle Kunstverlage, die sich auf religiöse Grafik spezialisiert hatten, eine Folge von 14 Blättern an. Kirchliche Kreise betonten stets die pädagogische Wirkung, die sie sich durch Anbringung geeigneter Bilder in Waisenhäusern, Kinderheimen, Spitälern, Irrenanstalten, Armenhäusern und Gefängnissen erhofften. Der Wandschmuck in den Schulen war immer wieder Gegenstand von Diskussionen. Am häufigsten waren hier Fürstenbilder, religiöse Motive und Ansichten. Mehrere Kunstverlage boten unter dem Schlagwort „Für Schule und Haus“ als familiengerecht, patriotisch und künstlerisch einwandfrei empfundene Blätter an. In den Gasthäusern waren neben der typischen Wirtshausimagerie historische und literarische Themen verbreitet. Hotels zierten bevorzugt weder zu altmodische noch zu avantgardistische Motive. Hier dominierten Landschaften und Ansichten sowie Reproduktionen sehr bekannter Gemälde, zum Beispiel Vincent van Goghs Sonnenblumen. Funktionen Der Kauf von Wandbilddrucken erfüllte in erster Linie ein Schmuck- und Dekorationsbedürfnis. Im 19. Jahrhundert wurden Wandbilddrucke, ungeachtet ihrer tausendfachen Reproduktion und unabhängig von der jeweiligen Gesellschaftsschicht, generell mit Kunst gleichgesetzt. Der Besitz von Kunst diente dem Prestige und unterstrich durch seinen Bildinhalt Wohlsituiertheit und Bildung. Die neue Massenware Wandbild wurde im Allgemeinen als Möglichkeit der Vermittlung von Kunst für alle Schichten begrüßt. So zeigte sich das Massenblatt Die Gartenlaube 1884 begeistert von der „modernen Kunstindustrie“: Vehementer Kritik sahen sich erst die Schlafzimmerbilder in den 1920er Jahren ausgesetzt. Bestimmte Motive dienten der Demonstration eines gruppenspezifischen Bekenntnisses. Eine patriotische Gesinnung äußerte sich etwa durch Bilder historisch-kriegerischer Ereignisse, allegorische Darstellungen und besonders durch Porträts von Fürsten und Feldherren. Wenn im Salon oder Wohnzimmer Bilddrucke mit religiösen Motiven hingen, so unterstrichen sie die christliche Grundhaltung des Hauses. Mythologische Bildinhalte hingegen deuteten eher auf eine humanistische Bildung des Besitzers hin. Gedenk- und Geschenkblätter wie Konfirmations-, Kommunions- und Hochzeitsandenken sind durch ihren Text oder rückseitige Notizen als solche gekennzeichnet. Die Druckindustrie Umzeichnung, Aufbereitung und Ausschmückung Beim Ausgangsbild der Wandbilddrucke handelte es sich meistens um ein Ölgemälde. Die fertigen Lithografien wurden jedoch nicht direkt nach dem Original, sondern nach einem Kupferstich, Mezzotinto, Aquatinta oder Stahlstich reproduziert. Auch fotografische Reproduktionen wurden nicht nach dem originalen Ölgemälde, sondern nach derartigen Vorlagen angefertigt. Dieser Zwischenschritt war eine Voraussetzung für die schnelle Umsetzung von Neuerscheinungen. Andererseits vergaben die Kunstverlage auch Auftragsarbeiten, die auf ihr Verlagsprogramm ausgerichtet waren. Je nach anvisiertem Kundenkreis trivialisierten und popularisierten die Verlage die Originalwerke. Wie auch bei anderen Arten der Populargrafik konnte gegenüber dem Original durch Änderung der Bildkomposition, Reduzierung von Bildinhalt, Tiefe, Perspektive und Bildelementen, Änderung des Aussehens von Personen, Hinzufügen von Ornamenten oder anderen Eingriffen ein eingängigeres und anrührenderes Erscheinungsbild vermittelt werden. Verleger von Öldrucken geringer Qualität beschäftigten hierzu unbekannte Zeichner und Lithografen. Nur bei Verlagen, die das mittlere und gehobene Bürgertum anvisierten, lassen sich die Namen der umzeichnenden Lithografen – die stets für mehrere Verlage gleichzeitig arbeiteten – feststellen. Zu den bekannteren Namen zählten C. F. Schwalbe (* 1816), ein Mitbegründer des für Berliner Verlage typischen gefälligen, weichen Umzeichnungsstils, Gustav Bartsch (seit 1847 in Berlin), der sich auch als Genremaler betätigte, Wilhelm Bülow (ab 1847 verzeichnet) und W. Jab (ab 1838 tätig). Kolorierer und Koloristen waren vor der Zeit des Farbendruckes, aber auch mit dem Aufkommen der Fotogravüren, für die teilweise oder volle Ausmalung der Vorlage zuständig. Der Begriff Kolorierer umfasste hierbei, im Gegensatz zu den Koloristen, nur ungelernte Arbeitskräfte für grobe Arbeiten mit der Schablone. Wandbilddrucke waren mit dem häufig um Verse ergänzten Bildtitel und der Verlagsadresse versehen. Letztere fiel beim Abschneiden oder Verdecken mit dem Passepartout weg. Der Name des Malers wurde oft verschwiegen und gelegentlich durch den des Umzeichners ersetzt. Der Zusatz „comp.“ (=composuit) sollte eine künstlerische Urheberschaft andeuten, die nicht bestand. Nur bei den hochwertigeren Lithografien behielt man ein vollständiges Impressum, wie es im 18. Jahrhundert bei den Reproduktionsgrafiken von Gemälden die Regel gewesen war. Es war üblich, der Bildoberfläche durch Kalandrieren oder Gaufrieren eine Struktur, meist eine imitierte Leinenbindung, zu verleihen. Auch das Überziehen mit Lacken und Firnissen sowie die Dekorierung durch Tinsel, Glimmer oder Stickgarn war verbreitet. Fabrikation und Vertrieb Unter den Bezeichnungen der mit der Herstellung, Herausgabe und dem Vertrieb von Wandbilddrucken befassten Unternehmen war Kunstanstalt am verbreitetsten. Dieser allgemeine Begriff konnte einen Hersteller, eine Druckerei oder ein Vertriebsunternehmen, unter Umständen auch für andere Produkte wie Postkarten, Glasmalereien und kunstgewerbliche Erzeugnisse, bezeichnen. Im Gegensatz dazu beschäftigten sich Kunstverlage in der Regel nicht mit dem Druck, sondern lediglich mit der Herausgabe. Mit dem Druck beauftragte man eigene Druckanstalten, zumal nur diese bei aufwändigen Reproduktionstechniken über die nötigen Fachkräfte und Maschinen verfügten. Die beiden Branchen Kunstanstalt und Kunstverlag wurden unter dem Begriff Kunstverlagsanstalt zusammengefasst. Die chromolithografischen Anstalten und Ölfarbendruckinstitute vereinten Verlag und Druck. Mit dem Vertrieb von Kunstblättern und anderen Kunstgegenständen waren die als Kunsthandel oder Kunsthandlung firmierenden Anstalten betraut. Den Anfang in der Wandbilddruckproduktion bildete der Kunstverleger, der die Vorlagen für den Reproduktionsdruck erwarb; der Preis dafür war sehr unterschiedlich. Zusätzlich musste noch der Stecher, der in mitunter jahrelanger Arbeit die Druckplatte anfertigte, bezahlt werden. So etwa erhielt Paul Sigmund Habelmann für seinen Stich des „Kinderfestes“ von Ludwig Knaus 36.000 Mark. Als sich nach etwa 1890 fotomechanische Reproduktionsverfahren durchsetzten, passte sich der Ankaufspreis von Gemälden und Reproduktionsrechten den gesunkenen Umzeichnungs- und Druckkosten an. Der Großhandel fand zwischen Verlegern und Kommissionsgeschäften oder Verlegern und Sortimentern statt. Die Verlage warben in Branchenzeitschriften und entsandten Vertreter, die die Kunsthandlungen regelmäßig aufsuchten, um auf Neuerscheinungen aufmerksam zu machen und Bestellungen entgegenzunehmen. Bilddrucke waren immer auch Exportartikel; besonders nach dem Ersten Weltkrieg stieg die Nachfrage an Wandbilddrucken aus dem Ausland an. Ein wichtiger Umschlagplatz waren Jahrmärkte, daneben war der Straßen- und Hausierhandel verbreitet. Werbung machten die Einzelhändler für ihre Bilder in den Kunst- und Familienzeitschriften, Tageszeitungen und in den Schaufenstern oder durch das Versenden von Prospekten. Forschungsgeschichte Erste volkskundliche Forschungsarbeiten zum Thema Wandschmuck erschienen in den späten 1960er Jahren, nachdem ein Katalog der Lithografien des Frankfurter Kunstverlags Eduard Gustav May erstellt wurde. Zur gleichen Zeit wurde populärer, „kitschiger“ Wandschmuck zum Sammlungsobjekt. Der Forschung geht es jedoch nicht um eine künstlerische oder stilistische Bewertung der Bilder, sondern um die gesellschaftliche Rolle des Wandbilddrucks. 1973 wurde im Historischen Museum Frankfurt am Main die wegweisende Ausstellung „Die Bilderfabrik“ gezeigt, zu der ein gleichnamiger Katalog erschien. Seitdem ist der Wandbilddruck gelegentlich Gegenstand von Ausstellungen, deren Kataloge einen wesentlichen Bestandteil der Forschung bilden. Literatur Allgemeine Literatur Wolfgang Brückner und Christa Pieske: Die Bilderfabrik. Dokumentation zur Kunst- und Sozialgeschichte der industriellen Wandschmuckherstellung zwischen 1845 und 1973 am Beispiel eines Großunternehmens, Historisches Museum Frankfurt am Main, Frankfurt 1973. Wolfgang Brückner: Elfenreigen, Hochzeitstraum. Die Öldruckfabrikation 1880–1940, DuMont Schauberg, Köln 1974. ISBN 3-7701-0762-4 Bruno Langner: Evangelische Bilderwelt. Druckgraphik zwischen 1850 und 1950 (=Schriften und Kataloge des Fränkischen Freilandmuseums 16), Fränkisches Freilandmuseum, Bad Windsheim 1992. ISBN 3-926834-22-6 Christa Pieske: Bilder für jedermann. Wandbilddrucke 1840–1940 (=Schriften des Museums für Deutsche Volkskunde Berlin 15), Keyser, München 1988. ISBN 3-87405-188-9 Bibliografie Wolfgang Brückner: Massenbilderforschung: eine Bibliographie bis 1991/1995 (=Veröffentlichungen zur Volkskunde und Kulturgeschichte 96). Institut für deutsche Philologie, Würzburg 2003. Weblinks Bilderfabrik – Massenware Postkarte Einzelnachweise Druckerzeugnis Drucktechnik nach Produkt Volkskunde
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Friedrich Wilhelm Schulz
Friedrich Wilhelm Schulz (meist Wilhelm Schulz, nach zweiter Heirat Wilhelm Schulz-Bodmer, * 13. März 1797 in Darmstadt, Landgrafschaft Hessen-Darmstadt; † 9. Januar 1860 in Hottingen, Schweiz) war ein hessischer Offizier und deutscher radikaldemokratischer Publizist. Als Demagoge verurteilt, entfloh er 1834 aus der Haft, emigrierte in die Schweiz und wirkte von dort aus als freier politischer Schriftsteller. Im Jahr 1848 in die Frankfurter Nationalversammlung gewählt, gehörte er zur Linken. Sein bekanntestes Werk ist Der Tod des Pfarrers Friedrich Ludwig Weidig. Leben Jugend und Militärlaufbahn Wilhelm Schulz kam aus einer evangelisch-lutherischen Beamtenfamilie in hessisch-darmstädtischen Diensten. Sein Großvater Wilhelm Friedrich Ernst (1713–1786) und sein Vater Johann Ludwig Adolf (1753–1823) hatten mehrfach gegen Willkürakte der landgräflichen Verwaltung protestiert und waren dafür gemaßregelt worden. Der Gymnasiast Schulz opponierte gegen die Standesvorurteile seiner Lehrer und wurde dafür trotz guter Leistungen zum Schuljahrwechsel 1811 nicht versetzt. So beschloss der Vierzehnjährige, Soldat zu werden, und bewarb sich mit Unterstützung seines Vaters um die Aufnahme ins Leibregiment des Landesherrn. Hessen-Darmstadt, inzwischen von Napoleon zum Großherzogtum erhoben, gehörte dem Rheinbund an und seine Truppen standen auf der Seite Frankreichs. 1813 hatte der sechzehnjährige Leutnant Schulz bereits in drei Schlachten gekämpft, zuletzt in der Völkerschlacht bei Leipzig, wo ihn ein französischer Kamerad beim Rückzug über die Elster vor dem Ertrinken rettete. Nach dem Frontwechsel des Rheinbundes nahm er auf preußisch-österreichisch-russischer Seite bis zur endgültigen Niederlage Frankreichs 1815 an zwei weiteren Feldzügen teil. Politische Agitation und erster Hochverratsprozess Zwischen den Feldzügen wurde Schulz vom aktiven Dienst beurlaubt und zu mathematischen und militärwissenschaftlichen Studien an die Universität Gießen abkommandiert. 1814 trat er dort über die „Teutsche Lesegesellschaft“ mit den Gebrüdern Karl und Adolf Ludwig Follen in Verbindung, um die sich damals die „Gießener Schwarzen“ sammelten, Keimzelle der entstehenden Burschenschaftsbewegung. Er wurde 1816 Mitglied des Gießener Germanenbundes und später, 1821, schloss er sich der Burschenschaft Germania Gießen an. Zurück in der Garnison, schloss sich Schulz dem Kreis um die Darmstädter Rechtsanwälte Heinrich Karl Hofmann und Theodor Reh an, dem oppositionelle Handwerker, Arbeiter, Studenten und Offiziere angehörten. Anders als die radikalen Burschenschafter setzen die „Darmstädter Schwarzen“ nicht auf Umsturz durch eine Elite überzeugter Revolutionäre, sondern wandten sich ans Volk. Sie forderten für das Großherzogtum Hessen eine ausgehandelte Verfassung mit Volksrepräsentation. Im Kampf um die Verfassung des Großherzogtums Hessen riefen sie Bürger und Bauern schließlich zum Widerstand, auch durch Steuerverweigerung, auf und waren damit 1820 letztendlich erfolgreich. Im Zuge dieser Auseinandersetzung veröffentlichte Schulz 1819 anonym das Frag- und Antwortbüchlein über allerlei, was im deutschen Vaterland besonders Not tut. Die Flugschrift, Vorläuferin des Hessischen Landboten, war in der Form eines Katechismus abgefasst: „Wird denn ein Kaiser, König, Fürst, oder wie sonst die höchste Obrigkeit heißt, auch vom Volk bezahlt und erhalten?“ „Ja. Sie sind weiter nichts als die obersten Diener und Beamten des Volks und sollen so viel bekommen, dass sie in Ehren leben können und als sie verdienen, aber nicht mehr. So lange aber noch ein Bürger- und Bauersmann Hunger und Kummer leiden muss, ist es gar unrecht, wenn Fürsten-Schmarotzer, Komödianten, Huren, Pferde und Hunde füttern dürfen, Jagden und Schmausereien geben und vom Schweiß des Landes prassen und schwelgen.“ Das Frag- und Antwortbüchlein fand in den Staaten des Deutschen Bundes weite Verbreitung und ging 1819 während des Bauernaufstands im Odenwald von Hand zu Hand. Als nach der Ermordung August von Kotzebues durch den Burschenschafter Karl Ludwig Sand die Demagogenverfolgung einsetzte, wurde Schulz als Autor der Schrift ermittelt, verhaftet und nach einjähriger Untersuchungshaft des Hochverrats angeklagt. Da das Militärgericht wegen der 1820 neu erlassenen hessischen Verfassung Milde walten ließ, endete sein hinter verschlossenen Türen geführter Prozess mit einem Freispruch. Das Mobbing, das der erzkonservative Prinz Prinz Emil, jüngster Sohn des Großherzogs, nach dieser Entscheidung im Offizierskorps organisierte, bewog Schulz jedoch dazu, seinen Abschied einzureichen. Jurastudium, Berufsverbot und Tätigkeit als Journalist Nach der Entlassung aus dem Militärdienst studierte Schulz in Gießen Rechtswissenschaft und legte 1823 das juristische Fakultätsexamen ab. Doch die hessischen Behörden verweigerten ihm die Zulassung bei Gericht, was einem Verbot gleichkam, den angestrebten Beruf als Advokat auszuüben. Zwischen 1825 und 1831 arbeitete Schulz als Korrespondent und Übersetzer für Johann Friedrich Cottas Hesperus. Encyclopädische Zeitschrift für gebildete Leser. Mit der dort veröffentlichten Artikelserie Irrtümer und Wahrheiten aus den ersten Jahren nach dem letzten Kriege gegen Napoleon und die Franzosen distanzierte er sich von der politischen Romantik der Burschenschaften und ihrem „überdeutschen Nationalstolz, in den man sich für kurze Zeit selbst bis zur Verachtung der anderen Völker hineinphantasiert hatte“. Er ging sogar so weit, die Karlsbader Beschlüsse gut zu heißen, was er später bereute, da es ihm zwar eine lobende Erwähnung in Goethes Tagebuch einbrachte, jedoch die Freundschaft mit seinem Mitkämpfer Heinrich Karl Hofmann kostete, der von der „unbegreiflichen Verirrung eines Mannes von solchem Geist und solchem Herzen“ schrieb. 1828 gründete Schulz zusammen mit dem liberalen Rechtsanwalt Karl Buchner in Darmstadt das Montagsblatt für Freunde gebildeter Unterhaltung. In der wenig später fehlgeschlagenen Hoffnung, eine materielle Existenz darauf zu gründen, heiratete er nach neunjähriger Verlobung Caroline Sartorius, die Cousine des „Darmstädter Schwarzen“ Christian Sartorius. Politische Publizistik, zweiter Hochverratsprozess und Flucht aus dem Kerker Als 1830 nach der französischen Julirevolution in Deutschland das politische Leben wieder in Bewegung kam, wirkte Schulz an verschiedenen Zeitungsprojekten Cottas mit, die ihn vorübergehend nach Augsburg, München, Stuttgart und Karlsruhe führten. Als Mitarbeiter an den von Friedrich Wilhelm August Murhard begründeten und von Cotta verlegten Allgemeinen Politischen Annalen befreundete Schulz sich mit den badischen Liberalen Karl von Rotteck und Carl Theodor Welcker. In München lernte er Johann Georg August Wirth kennen und lieferte Beiträge zu dessen Deutscher Tribüne. Ende 1831 reichte er an der Universität Erlangen seine Dissertation Über das zeitgemäße Verhältnis der Statistik zur Politik ein. Im Januar 1832 machte Cotta den frischgebackenen doctor juris zum Chefredakteur des Hesperus, entließ ihn aber noch im selben Monat, als Schulz die Zeitschrift zur politischen Tageszeitung und zum liberalen Kampforgan umzuwandeln versuchte. Das Ehepaar Schulz wurde aus Württemberg ausgewiesen. Zur Abwehr der verschärften Zensur, die mit polizeilicher Verfolgung und militärischer Unterdrückung einherging, gründeten August Wirth, Philipp Jakob Siebenpfeiffer und Friedrich Schüler Anfang 1832 den Deutschen Preß- und Vaterlandsverein. Die politische Protestbewegung erreichte breite Bevölkerungsschichten und erhob ihre Forderungen in zahlreichen Massenkundgebungen. Im Mai nahm Schulz am Hambacher Fest teil, im Juni trat er beim Fest in Wilhelmsbad als Redner auf. Als der Bundestag am 28. Juni weitere Volksfeste und das Tragen von Schwarz-Rot-Gold verbot, verfasste er im Auftrag des Preß- und Vaterlandsvereins die Flugschrift Das Recht des deutschen Volkes und die Beschlüsse des Bundestags, in welcher er zur Wahl oppositioneller Abgeordneter in die Landtage, zur Steuerverweigerung und Volksbewaffnung aufrief. Diese Schrift wurde sofort verboten. Dasselbe geschah mit weiteren Flugschriften aus seiner Feder und mit der zweimal wöchentlich erscheinenden Zeitung Der deutsche Volksbote, die er 1833 zusammen mit Karl Buchner in Offenbach am Main herausgab. Sein unter vollem Namen erschienenes Hauptwerk aus dieser Zeit, Deutschlands Einheit durch Nationalrepräsentation, Rotteck und Welcker gewidmet, wurde nur in Preußen und Württemberg verboten, diente jedoch im nachfolgenden Prozess gegen ihn als Beweismittel. Schulz’ Biograf Walter Grab bemerkt zu dieser Schrift: „Es gibt kaum eine zweite politische Prognose eines Zeitgenossen, die dermaßen präzise die Ereignisse von 1848 in Frankreich und Deutschland voraussagte.“. Im Herbst 1833, ein halbes Jahr nach dem Frankfurter Wachensturm, war für die hessische Justizbehörde die Zeit gekommen, Schulz verhaften zu lassen und ihm den Prozess zu machen. Seine Verteidiger August Emmerling und Theodor Reh konnten nicht verhindern, dass er als Zivilist vor ein nicht-öffentliches Militärtribunal gestellt und am 18. Juni 1834 „wegen fortgesetzten Versuchs des Verbrechens einer gewaltsamen Veränderung der Staatsverfassung“ zu fünfjährigem strengen Festungsarrest verurteilt wurde. Gleich nach Antritt seiner Strafe auf der Festung Babenhausen schmiedete er mit seiner Frau Ausbruchspläne. Caroline Schulz verschaffte ihm Werkzeug und Verbindungen. Der Ausbruch gelang auf abenteuerliche Weise in der Nacht vom 30. auf den 31. Dezember 1834. Zu Neujahr befand sich Schulz bereits im Elsass in vorläufiger Sicherheit. Er beschrieb seine Flucht 12 Jahre später im Briefwechsel eines Staatsgefangenen mit seiner Befreierin. Erstes Exil in Straßburg und Zürich Wiedervereint in Straßburg schloss das Ehepaar Schulz Freundschaft mit dem Dichter Georg Büchner, der steckbrieflich als Mitverfasser des Hessischen Landboten gesucht wurde. Da die Stadt kein sicheres Asyl bot, bewarb sich Schulz um eine Lehrberechtigung an der von den siegreichen Zürcher Liberalen neu gegründeten Universität. Büchner folgte seinem Beispiel, und ab Herbst 1836 wohnten die Freunde, nunmehr Kollegen, Tür an Tür in der Zürcher Spiegelgasse 12. Als Büchner wenige Monate später schwer erkrankte, pflegte ihn das Ehepaar Schulz bis zu seinem Tode am 19. Februar 1837. Schulz’ Erinnerungen an Büchner gelten heute als eine der Hauptquellen für das letzte Lebensjahr des Dichters. In den ersten Jahren seines Schweizer Exils befasste sich Schulz mit Nationalökonomie, Statistik und den politischen Verhältnissen in der Schweiz. Die energische, von der Landbevölkerung ausgehende Bewegung, die 1831 in der sogenannten Regeneration die Vorherrschaft des Adels und der Patrizier auf unblutige Weise beseitigt und mehreren Kantonen, darunter Zürich, liberale Verfassungen gegeben hatte, entsprach seinem Ideal. Von Metternichs Agenten wegen der „auf Deutschland influierenden Verhältnisse der Schweiz“ sorgfältig überwacht, lieferte er Korrespondentenberichte an Cottas Augsburger Allgemeine, an Brockhaus' Blätter für literarische Unterhaltung, an Campes Telegraph für Deutschland und, ab 1842, an die von Karl Marx redigierte Rheinische Zeitung. Auf Marx übte Schulz durch seine Studie Die Bewegung der Produktion und die darin anhand von Statistiken sorgfältig belegte Theorie der Verelendung einen Einfluss, der sich in den Ökonomisch-Politischen Manuskripten nachweisen lässt. Wie Marx sah Schulz die Polarisierung der Gesellschaft in arm und reich als notwendige Folge der kapitalistischen Produktionsweise. Im Gegensatz zu ihm betrachtete er die bürgerlichen Eigentumsverhältnisse als unveränderliches Ergebnis geschichtlicher Entwicklung und erwartete, ähnlich wie Lorenz von Stein, dessen Schriften er kannte, vom Sozialstaat und der christlichen Ethik die Aufhebung des gesellschaftlichen Widerspruchs. Die kommunistischen und anarchistischen Bewegungen erschienen ihm zwar als unvermeidliche Reaktion der Verelendeten auf das ausbeuterische Wirtschaftssystem und dessen Stütze, den absolutistischen Staat, ihre Methoden jedoch als verwerflich, ihre Ziele als illusionär und ihre Führer daher als gefährliche Phantasten und fanatische Schwärmer. Kommunismus und Nihilismus (als welchen er den doktrinären Atheismus der Linkshegelianer auffasste) bezeichnete er als „die Zwillingsbären, die aller Orten, wo sie sich einfressen, mit ihrer aufdringlichen Volksfreundschaft die heilige Sache der Befreiung des Volkes von Geistesdruck und Leibesnot gefährden und verpfuschen.“ Seine Warnungen vor Kommunismus und Anarchismus sprach Schulz auch in den betreffenden Stichwortartikeln des Rotteck-Welckerschen Staatslexikons aus. Für diese „Bibel des deutschen Liberalismus“ verfasste er über 50 Beiträge und viele Ergänzungen. Daneben veröffentlichte er im Literarischen Comptoir Zürich und Winterthur mehrere umfangreiche Bücher. Dieser Verlag gehörte den deutschen Emigranten Julius Fröbel und Adolf Ludwig Follen, Schulz’ altem Gießener Bekannten, und entwickelte sich Anfang der 1840er Jahre zu einem bedeutenden Publikationsort für deutsche „Zensurflüchtlinge“. Hier erschien 1843 von Schulz anonym Der Tod des Pfarrers Friedrich Ludwig Weidig. Ein aktenmäßiger und urkundlich belegter Beitrag zur Beurteilung des geheimen Strafprozesses und der politischen Zustände Deutschlands. Weidig hatte den Hessischen Landboten mitverfasst und war – vier Tage nach Büchner – im Darmstädter Kerker unter zweifelhaften Umständen verstorben. Die hessische Justizbehörde stellte seinen Tod als Selbstmord dar. Schulz dokumentierte die unmenschlichen Haftbedingungen und schweren Misshandlungen Weidigs durch seine Inquisitoren, untersuchte seine Todesumstände und kam zum Schluss, dass Weidig mit großer Wahrscheinlichkeit von seinem Untersuchungsrichter Konrad Georgi und dessen Gehilfen zur Vertuschung der Übergriffe ermordet worden war. Schulz’ Anklage verursachte ähnlich wie später Zolas «J’accuse» einen innenpolitischen Sturm. Vergeblich versuchten die deutschen Regierungen, die Welle von Protesten gegen die Geheimjustiz einzudämmen. In der publizistischen Auseinandersetzung um Weidigs Tod griff Schulz wiederholt zur Feder. Mitverfasst von Welcker erschien 1845 die Schrift Geheime Inquisition, Zensur und Kabinettsjustiz in verderblichem Bunde. Schlussverhandlung mit vielen neuen Aktenstücken über den Prozeß Weidig. Doch war damit die Akte nicht geschlossen: „Die Wogen der Erregung über den Justizmord an Weidig gingen noch in der Revolution von 1848 hoch.“ Tatsächlich zählt die Beseitigung des Inquisitionsprozesses und der Geheimjustiz zu deren wenigen bleibenden Erfolgen. Schulz’ Anteil bei der Durchsetzung rechtsstaatlicher Prinzipien in politischen Strafverfahren wurde erst in jüngerer Zeit angemessen gewürdigt. Sein Biograph schreibt: „Die Einführung geordneter Rechtsprechung, die im Interesse der Gesamtbevölkerung lag und ohne die ein moderner Staat undenkbar ist, war zu keinem geringen Teil dem Kampf Wilhelm Schulz’ und seiner Gefährten zu danken.“ Durch sein Arbeitspensum ließ Wilhelm Schulz sich nicht davon abhalten, zusammen mit seiner Frau eine Reihe von Freundschaften zu pflegen, vor allem mit Dichtern. Im Follenschen Haus „am Sonnenbühl“, dem Mittelpunkt der Zürcher Emigranten, begegnete er Georg Herwegh, Hoffmann von Fallersleben, Gottfried Keller und Ferdinand Freiligrath. 1845 nahmen Schulz und Keller für Follen Partei, als dieser mit Arnold Ruge und Karl Heinzen in den „Zürcher Atheismusstreit“ verwickelt war. Als Ruge Schulz’ persönliche Ehre angriff, forderte dieser ihn zum Duell. Ruge ging nicht auf die Forderung ein und begann ihn publizistisch zu bekämpfen. Anfang 1847 starb Caroline Schulz nach schwerer Krankheit. Kurz vor ihrem Tod hatte sie eine Eheschließung ihrer langjährigen Freundin Katharina Bodmer mit Schulz für den Fall ihres Ablebens angebahnt. Tatsächlich heirateten die beiden im September 1847 am neuen Londoner Wohnsitz der Familie Freiligrath. Im Spätherbst desselben Jahres diente Schulz für die kurze Dauer des Sonderbundskriegs als Offizier im eidgenössischen Heer. Abgeordneter in der Frankfurter Nationalversammlung Nach 13 Jahren Exil kehrte Wilhelm Schulz-Bodmer im März des Revolutionsjahres 1848 erstmals wieder auf deutschen Boden zurück und nahm an den Beratungen des Frankfurter Vorparlaments teil. Als dessen liberal-konservative Mehrheit die Zusammenarbeit mit dem „Fürstenbundestag“ beschloss, schwanden seine anfänglichen Hoffnungen auf eine deutsche Republik. Als Kandidat des Wahlkreises Hessen-Darmstadt versprach er seiner Wählerschaft, die eigene republikanische Gesinnung hintanzustellen und sich in der Nationalversammlung für die konstitutionelle Monarchie als künftige deutsche Staatsform einzusetzen. Den Versuch Struves und Heckers, durch weitere revolutionäre Aktionen in Baden das deutsche Volk mitzureißen und die Republik zu erzwingen, lehnte er als aussichtslos ab und sprach in seinem Wahlaufruf gar von einem „Verbrechen am deutschen Volk“. Dennoch blieb Schulz sich bewusst, dass selbst das Minimalprogramm einer konstitutionellen Monarchie nur verwirklicht werden konnte, wenn das Parlament energische Maßnahmen zum Schutz gegen reaktionäre Übergriffe und zur Befestigung seines Ansehens in der Bevölkerung durchführte. So drängte er 10 Tage nach dem Zusammentreten der Paulskirchenversammlung auf Sofortmaßnahmen gegen Arbeitslosigkeit und wirtschaftliche Not der unteren Volksschichten Schaffung eines Milizheeres Einrichtung eines Exekutivausschusses zur Durchsetzung der Parlamentsbeschlüsse. Seine Anträge und wiederholten Appelle fruchteten jedoch so wenig wie die der Gesamtheit der Linken, zu der er sich rechnete. Statt eines der Nationalversammlung verantwortlichen Exekutivausschusses wurde am 29. Juni ein Fürst zum Reichsverweser gewählt, statt eine Volksmiliz zu schaffen, beschloss das Parlament am 15. Juli die Aufstockung der weiterhin von reaktionären Offizieren kommandierten Heere des Deutschen Bundes. In der Polen-Debatte unterlag am 29. Juli der von Schulz mitunterstützte Antrag, die Teilung Polens „für ein schmachvolles Unrecht“ zu erklären, mit 101 gegen 331 Stimmen bei 26 Enthaltungen. In der Schleswig-Holstein-Frage erzielt die Linke zunächst einen knappen Mehrheitsbeschluss gegen den preußisch-dänischen Waffenstillstand, der jedoch am 16. September rückgängig gemacht wurde, worauf am 17. in Frankfurt ein blutiger Aufstand ausbrach. Das Ehepaar Schulz-Bodmer nahm am selben Tag in Darmstadt an einer Gedächtnisfeier am Grab Weidigs teil und kehrte erst nach Frankfurt zurück, als der Belagerungszustand wieder aufgehoben wurde. Nach der Aufsplitterung der Linken trat Schulz der Fraktion Westendhall, als „Linke im Frack“ verspottet, bei, ohne sich deren Programm, das keinerlei soziale Maßnahmen vorsah, zu eigen zu machen. In der zweiten Hälfte des Jahres 1848 verlor das Paulskirchenparlament vollends seinen politischen Einfluss. Der Auflösung der Preußischen Nationalversammlung und der Ermordung Robert Blums während der Wiener Gegenrevolution hatten die Volksvertreter nichts außer papierenen Proklamationen entgegenzusetzen. Seine letzte größere Rede hielt Schulz am 23. November in der Debatte über das Bank- und Geldwesen in der zukünftigen Reichsverfassung. Er erinnerte die Versammlung an ihr Versäumnis, die im Volk populäre Idee einer Nationalbank zu verwirklichen und damit die Wirtschaftskrise zu beheben. Stattdessen habe sie sich militärisch und finanziell von der Gnade der Partikularstaaten abhängig gemacht und „statt der wirklichen Einheit nur einen umgekehrten Peter Schlehmil zustandegebracht, dem der Teufel zwar nicht den Schatten, wohl aber den Körper selbst gestohlen hat, um nur einen Schatten übrig zu lassen.“ Das Protokoll vermerkt dazu Wutausbrüche der Rechten. Anfang 1849 ging es in den Debatten der Paulskirche um die Rolle Österreichs und Preußens im künftigen Bundesstaat und um die Frage, wer Kaiser werden sollte. Schulz hatte 1848 die Denkschrift über die internationale Politik Deutschlands veröffentlicht und darin die Einbeziehung Österreichs als südosteuropäische Ordnungsmacht und Gegengewicht gegen Preußen befürwortet. Auch hier kämpfte er auf verlorenem Posten: Die Versammlung entschied sich für die kleindeutsche Lösung und trug dem preußischen König die erbliche Kaiserwürde an. Nach der Zurückweisung der Kaiserdeputation beantragte Schulz am 23. April eine Reihe revolutionärer Maßnahmen, wie Absetzung aller Fürsten und des Reichsverwesers, sofern sie die Reichsverfassung nicht anerkannten, Wahl einer fünfköpfigen Reichsregentschaft, Einberufung aller jungen Männer zu den Waffen etc., Anträge, die wohl eher als verzweifelte Satire gemeint waren und die die bereits in Auflösung begriffene Versammlung belachte und an Ausschüsse überwies. Wochen später, nach der Niederschlagung des Dresdner Maiaufstands, und als das auf 104 Abgeordnete zusammengeschmolzene Rumpfparlament bereits nach Stuttgart geflüchtet war, wurden sie wieder hervorgezogen und beschlossen, – viel zu spät, um den Aufständen der Reichsverfassungskampagne noch irgendeinen politischen Rückhalt zu verschaffen. Die Gegenrevolution hatte gesiegt. Wilhelm Schulz-Bodmer, erneut als „politischer Verbrecher“ auf der Fahndungsliste, floh Anfang Juli zurück in die Schweiz. In der noch 1849 in Frankfurt erschienenen Flugschrift: Deutschlands gegenwärtige politische Lage und die nächste Aufgabe der demokratischen Partei resümierte Schulz die Niederlage der deutschen Revolution mit den Worten: „Eine von der Nation berechtigte und berufene Versammlung ließ die Macht, die ganze Heeresmacht und die ganze Finanzmacht in den Händen derselben Regierungen, deren Gewalt sie zur Rettung des gemeinsamen Vaterlandes beschränken sollte und wollte, und da sie sich dem eitlen Wahn hingab, durch Worte Geschichte machen zu können, so sind an dieser kolossalen Torheit die Hoffnungen der Nation gescheitert und haben vorerst daran scheitern müssen.“ Zweites Exil in Zürich und militärpolitische Publizistik Nach ihrer Rückkehr gründete Kitty Schulz-Bodmer in Zürich eine Privatschule für Mädchen und ermöglichte es damit ihrem Mann, sich ganz der wirtschaftlich-politischen Analyse des Heereswesens zu widmen. Schulz teilte die Erwartungen der unterlegenen Linken auf einen baldigen Wiederaufschwung der Revolution und, als dieser ausblieb, ihre Hoffnung auf einen allgemeinen Kriegszug der westlichen Nationen gegen Russland als der Zentrale der absolutistischen Reaktion in Europa. Doch schien ihm der Erfolg eines solchen Krieges von vorausgegangenen tief greifenden Heeresreformen abhängig. 1855, nach dem Ausbruch des Krimkriegs, veröffentlichte er in Leipzig sein Hauptwerk Militärpolitik. Mit besonderer Beziehung auf die Widerstandskraft der Schweiz und den Kampf eines Milizheers gegen stehende Heere. Anknüpfend an Schriften des preußischen Offiziers und Demokraten Wilhelm Rüstow, der unweit Zürichs im Exil lebte, verurteilte er die Organisation stehender Heere als „militärische Sklaverei“, deren Nutzen in keinem Verhältnis zu den Kosten ständen, die sie den Völkern aufbürdeten. An ihrer Stelle propagierte er Volksheere nach nordamerikanischem und Schweizer Muster. Skeptisch geworden gegenüber der Zugkraft von Ideen wie Freiheit und Völkersolidarität, setzte er dabei mehr auf den menschlichen Egoismus und ersann zur Aufrechterhaltung von Disziplin und Kampfmoral im Volksheer ein System materieller Anreize. Nach den Worten seines Biografen war er sich mit Rüstow „darüber einig, dass zwischen militärischer und politischer Verfassung ein untrennbarer Zusammenhang bestand und dass sich die freiheitliche Staatsstruktur auch und vor allem im Heerwesen ausdrücken müsse.“ Schulz’ Ausführungen zum Krimkrieg und die darin enthaltenen Empfehlungen an Napoléon III. erlauben jedoch den Schluss, dass er im Gegensatz zu Rüstow, dem späteren Generalstabschef Giuseppe Garibaldis, der Ansicht war, die Umwandlung der stehenden Heere in Volksheere werde die ersehnten freiheitlichen Staatsverfassungen nach sich ziehen. Die Militärpolitik fand nicht den Widerhall, die sich ihr Autor versprochen hatte. Im Glauben, dass der Materialismusstreit zwischen Carl Vogt und Rudolf Wagner, bei dem es um die Existenz einer unsterblichen Seele und den christlichen Schöpfungsglauben ging, seinem Buch das Publikum abspenstig gemacht habe, legte Schulz sich in einem Pamphlet mit beiden an, kanzelte aber besonders den ehemaligen Reichregenten Vogt ab. Damit verdarb er es um ein Haar mit seinem alten Freund Gottfried Keller, der sich in seiner Heidelberger Studienzeit unter dem Einfluss Ludwig Feuerbachs vom Gegner zum Anhänger des Atheismus gewandelt hatte. Zum Befremden seiner Freunde versuchte der von einem Augenleiden geplagte Schulz, sein Projekt Politikern und Militärpersonen, die er für einflussreich hielt, zur Kenntnis zu bringen, ja anzudienen. So wandte er sich wiederholt an den ehemaligen preußischen Gesandten in London Christian Karl Josias von Bunsen. Als dieser die Militärpolitik lobte, unterbreitete Schulz ihm eine zweite Schrift, Die Rettung der Gesellschaft aus den Gefahren der Militärherrschaft, in welcher er zur statistischen Untermauerung seiner These von der Barbarei und Nutzlosigkeit stehender Heere die Lehren des englischen Freihändlers und Befürworters der Abrüstung Richard Cobden aufgriff. Bunsen versprach, das Buch befreundeten englischen Politikern und Verlegern zu empfehlen, konnte aber nicht Wort halten. Selbst durch diese Enttäuschung, die umso herber war, als Frau Kitty die Rettung der Gesellschaft bereits ins Englische übersetzt hatte, ließ Schulz sich nicht entmutigen. Im Mai 1859, am Vorabend des Sardinischen Kriegs, sieben Monate vor seinem Tod, veröffentlichte er die Broschüre Entwaffnung oder Krieg. Sein letzter dringender Appell an den Common sense gipfelte in den Worten: „Keinen Krieg! Die vernichtende Strafe der öffentlichen Meinung über den Friedensbrecher! Die Völker und Regierungen wollen den Frieden, sie wollen die den Frieden verbürgende Entwaffnung! […] Der friedebrechenden Regierung nicht einen Centime mehr, nicht einen Soldaten mehr!“ Schulz’ Biograph erblickt in dieser Parole sein Vermächtnis: „Als entscheidenden Beitrag zur Kontroverse des Jahres 1859 sind seine pazifistischen Abrüstungslosungen anzusehen, die Allgemeingültigkeit beanspruchten und von bürgerlichen Demokraten folgender Generationen aufgegriffen werden sollten.“ So ging Schulz’ radikale Kritik an der Heeresverfassung seiner Zeit in die Formulierung ein, mit der Alfred Nobel 1896 testamentarisch den nach ihm benannten Friedenspreis stiftete: „Ein Teil dem, der am meisten oder besten für die Verbrüderung der Völker und für die Abschaffung oder Verminderung der stehenden Heere sowie für die Bildung und Austragung von Friedenskongressen gewirkt hat.“ Bedeutung Nach den Worten seines Biographen Walter Grab: „Dieser Mann mit dem Allerweltsnamen, hinter dem keine Massenbewegung, keine organisierte Partei stand, war der einzige politische Publizist Deutschlands, der während der gesamten Zeitspanne vom Sturz Napoleons bis zum Aufkommen einer eigenständigen Arbeiterbewegung, also über vierzig Jahre lang, die freiheitlichen Grundsätze der bürgerlichen Demokratie konsequent und unerschütterlich verfocht.“ Werke Flugschriften, Bücher, Aufsätze (Auswahl) Frag- und Antwortbüchlein an den deutschen Bürgers- und Bauersmann über allerlei, was im deutschen Vaterland besonders Not tut. Deutschland [d. i. Frankfurt am Main] 1819. (Anonym erschienene Flugschrift.) Wider aufgelegt und herausgegeben durch Karl-Ludwig Ay, als Das Frag- und Antwortbüchlein des Darmstädtischen Offiziers Friedrich Wilhelm Schulz. In Zeitschrift für bayerische Landesgeschichte, Bd. 35 (1972), Verl. d. Kommission, München S. 728–770. Irrtümer und Wahrheiten aus den ersten Jahren nach dem letzten Kriege gegen Napoleon und die Franzosen. Darmstadt 1825. (Buchveröffentlichung der Artikelserie für die Zeitschrift Hesperus). Das Eine, was Deutschland Not tut. In: Allgemeine Politische Annalen. Hrsg. von Carl von Rotteck. 7. Bd., 1. Heft, Juli 1831, S. 1–44. An die versammelten Vertreter des deutschen Volks. In: Deutsche Tribüne. Ein Konstitutionelles Tagblatt. Hrsg. von August Wirth. Nr. 2, 2. Juli 1831. Über das zeitgemäße Verhältnis der Statistik zur Politik. In: Beilage zum Morgenblatt für gebildete Stände. Nr. 310, 25. November 1831. (Druckfassung von Schulz’ Erlanger Dissertation). Das Recht des deutschen Volkes und die Beschlüsse des Frankfurter Bundestages vom 28. Juli 1832. Deutschland [d. i. Frankfurt am Main] 1832. (Anonyme Flugschrift im Auftrag des Preß- und Vaterlandsvereins). Deutschlands Einheit durch Nationalrepräsentation. Stuttgart 1832. Über Bürgergarden, Landwehr und noch einiges andere, was damit in Verbindung steht. Ein Wort zur Beherzigung an Bürger und an Bauern. König, Hanau 1833. Die Bewegung der Production. Eine geschichtlich-statistische Abhandlung zur Grundlegung einer neuen Wissenschaft des Staates und der Gesellschaft. Zürich und Winterthur 1843. MDZ Reader (Neudruck mit einer Einleitung von Gerhard Kade. Glashütten im Taunus 1974). Der Tod des Pfarrers Dr. Friedrich Ludwig Weidig. Ein aktenmäßiger und urkundlich belegter Beitrag zur Beurteilung des geheimen Strafprozesses und der politischen Zustände Deutschlands. Zürich und Winterthur 1843. Digitalisat (Anonym erschienen. Fotomechanischer Nachdruck. Leipzig 1975). Geheime Inquisition, Zensur und Kabinettsjustiz in verderblichem Bunde. Schlussverhandlung mit vielen neuen Aktenstücken über den Prozeß Weidig. Braun, Karlsruhe 1845. (Digitalisat) (Mitverfasser: Carl Theodor Welcker). Die wahrhaftige Geschichte vom deutschen Michel und seinen Schwestern. Nach bisher unbekannten Quellen bearbeitet und durch sechs Bilder von M. Disteli erläutert. Zürich und Winterthur 1845. MDZ Reader (Anonym erschienen, Schulz’ größter buchhändlerischer Erfolg.) Briefwechsel eines Staatsgefangenen mit seiner Befreierin. 2 Bdd. Mannheim 1846. BSB-Digitalisat: Bd. 1 und Bd. 2. Eine literarische Fehde über den neuphilosophischen Nihilismus. In: Blätter für literarische Unterhaltung. Nr. 104, Leipzig 14. April 1846. An die deutschen Männer in Dörfern und Städten. Darmstadt [Mai] 1848. (Flugblatt mit Schulz’ Wahlaufruf). Denkschrift über die internationale Politik Deutschlands. Darmstadt 1848. MDZ Reader Die österreichische Frage und das preußisch-deutsche Kaisertum. Eine in der Paulskirche nicht gehaltene Rede. Darmstadt 1849. Deutschlands gegenwärtige politische Lage und die nächste Aufgabe der demokratischen Partei. Literarische Anstalt, Frankfurt am Main 1849. (Digitalisat) (Analyse der Gründe für die Niederlage der Revolution.) Rezension der von Büchners Bruder Ludwig herausgegebenen Sammlung Nachgelassene Schriften von G. Büchner. In: Adolph Kolatschek (Hrsg.): Deutsche Monatsschrift für Politik, Wissenschaft, Kunst und Leben. 2. Jg. 2. Heft. Bremen 1851, S. 210–235. (Neudruck in: Walter Grab: Georg Büchner und die Revolution von 1848. Der Büchner-Essay von Wilhelm Schulz aus dem Jahr 1851. Text und Kommentar von Walter Grab. Unter Mitarbeit von Thomas Michael Mayer. Königstein im Taunus 1985. ISBN 3-7610-8310-6). Militärpolitik. Mit besonderer Beziehung auf die Widerstandskraft der Schweiz und den Kampf eines Milizheers gegen stehende Heere. Leipzig 1855. Die Rettung der Gesellschaft aus den Gefahren der Militärherrschaft. Eine Untersuchung auf geschichtlicher und statistischer Grundlage über die finanziellen und volkswirtschaftlichen, die politischen und sozialen Einflüsse des Heerwesens. Brockhaus, Leipzig 1859. (Digitalisat) Entwaffnung oder Krieg? Eine Denkschrift für den italienischen Kongreß. Brockhaus, Leipzig 1859. (Digitalisat) Enzyklopädische Artikel im Rotteck-Welckerschen Staatslexikon (Auswahl) Von Schulz verfasste Artikel aus dem Rotteck-Welckerschen Staatslexikon: Afrika Ägypten seit 1845 Anarchie Asien seit 1845 Australien seit 1845 Bevölkerung Cassel, Hessen-Cassel Communismus und Sozialismus Demagog Demokratie Dictatur Einheit Europa Italien Kunst Politische Arithmetik Revolution Runkelrübenzucker Spanien Staatskunde, Statistik Taktik und Strategie Literatur Helge Dvorak: Biographisches Lexikon der Deutschen Burschenschaft. Band I: Politiker. Teilband 5: R–S. Winter, Heidelberg 2002, ISBN 3-8253-1256-9, S. 359–362. Walter Grab: Ein Mann der Marx Ideen gab. Wilhelm Schulz. Weggefährte Georg Büchners. Demokrat der Paulskirche. Eine politische Biographie. Droste Verlag. Düsseldorf 1979, ISBN 3-7700-0552-X. Walter Grab: Dr. Wilhelm Schulz aus Darmstadt. Weggefährte von Georg Büchner und Inspirator von Karl Marx. Büchergilde Gutenberg, Frankfurt am Main 1987. Walter Grab: Schulz, Wilhelm. In: Manfred Asendorf, Rolf von Bokel (Hrsg.): Demokratische Wege. Deutsche Lebensläufe aus fünf Jahrhunderten. J. B. Metzler, Stuttgart, Weimar 1997, ISBN 3-476-01244-1, S. 565–567. Ludwig Maenner: Ein Querkopf des vormärzlichen Liberalismus: Wilhelm Schulz-Bodmer. In: Archiv für hessische Geschichte. Neue Folge. Bd. 13, 1922. Michael Schalich: Karl Marx und Wilhelm Schulz. Zur offenen Frage der Marxschen Rezeption von Wilhelm Schulz’ „Die Bewegung der Production“ (1843) und ihrer Bedeutung für die Herausbildung des historischen Materialismus und der Kritik der politischen Ökonomie. Dissertation, Universität Hannover, 1994 (online). Weblinks Erwähnung von Schulz’ Die Bewegung der Produktion in Das Kapital von Karl Marx (Kapitel 13, Abschnitt 1, Anmerkung 88). Einzelnachweise Mitglied der Frankfurter Nationalversammlung Publizist Teilnehmer am Hambacher Fest Burschenschafter (19. Jahrhundert) Deutscher Emigrant in der Schweiz Politische Literatur Literatur (Deutsch) Deutscher Geboren 1797 Gestorben 1860 Mann Mitglied des Vorparlaments
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https://de.wikipedia.org/wiki/Finnische%20Verfassung%20von%201919
Finnische Verfassung von 1919
Die finnische Verfassung von 1919 war die erste Verfassung der seit dem 6. Dezember 1917 unabhängigen Republik Finnland. Sie trat am 17. Juli 1919 in Kraft und ersetzte die noch aus schwedischer Zeit stammende gustavianische Verfassung von 1772. Sie blieb in ihren wesentlichen Zügen unverändert, bis sie am 1. März 2000 durch eine neue Verfassung abgelöst wurde. Als Resultat eines langen Streits zwischen republikanischen und monarchistischen Strömungen sah die republikanische Verfassung ein Staatsoberhaupt mit umfassenden Rechten vor, die an die früheren Monarchenrechte angelehnt waren. Entstehungsgeschichte Der zur Verabschiedung der Verfassung von 1919 führende Prozess wurde durch die Abdankung des russischen Zaren Nikolaus II. eingeleitet. Die folgenden Verfassungsdebatten drehten sich in erster Linie um das Verhältnis zu Russland, die Frage der Staatsform und die Position des Parlaments. Politische Entwicklungen im Inneren und Äußeren gaben der Debatte immer wieder neue Richtungen, bis schließlich am 17. Juli 1919 eine republikanische Verfassung mit einem ungewöhnlich starken Präsidentenamt in Kraft trat und die Republik Finnland entstand. Zugehörigkeit zu Russland als Verfassungsfrage Finnland war seit 1809 ein autonomes Großfürstentum im russischen Zarenreich. Während dieser Zeit hatte die Verfassung aus der früheren, schwedischen Zeit im Wesentlichen fortgegolten. Sie bestand in erster Linie aus der unter König Gustav III. erlassenen Verfassung von 1772, ergänzt durch die 1789 durch den sogenannten Vereinigungs- und Sicherheitsbrief gemachten Änderungen. Die aus der schwedischen Zeit hergebrachte Volksvertretung, der ständische Reichstag, wurde mit der Reichstagsordnung von 1906 durch ein in gleicher Wahl gewähltes Einkammerparlament ersetzt. Das oberste Verwaltungsorgan stellte in Finnland der Senat dar, dessen Mitglieder durch den Zaren bestimmt und diesem verantwortlich waren. Der Senat bestand aus zwei Abteilungen, der Rechts- und der Wirtschaftsabteilung. Erstere fungierte als oberstes Gericht, letztere war eine Art Regierung. Zar Nikolaus II., Staatsoberhaupt des Großfürstentums wie des Gesamtreiches, verzichtete am 15. März 1917 als Folge der Februarrevolution auf den Thron. Die Regierungsgewalt wurde von einer parlamentarisch ernannten Provisorischen Regierung übernommen. Dies warf in Finnland umgehend die Verfassungsfrage auf, nachdem die überlieferte schwedische Verfassung zentral auf dem Vorhandensein eines Monarchen aufbaute. Politisch wie juristisch war zunächst vor allem umstritten, wie sich der Wegfall des Großfürsten auf die Zugehörigkeit Finnlands zum Russischen Reich auswirkte. Die Provisorische Regierung beharrte rigoros auf dem Standpunkt, dass die Union zwischen Russland und Finnland weiterhin bindend sei und sie nur durch ausdrücklichen Vertrag gelöst werden könne. Die Mehrheit der finnischen Politiker in allen Parteien sah dagegen für eine Union ohne den gemeinsamen Monarchen keine Grundlage. Allerdings befürwortete die Mehrheit in den bürgerlichen Parteien eine Verhandlungslösung mit der russischen Regierung. Dieser kooperative Standpunkt wurde gestützt durch juristische Gutachten des Staatsrechtlers und Politikers Rabbe Axel Wrede, denen zufolge auch ohne den Zaren zwischen Finnland und dem Russischen Reich eine legitime staatsrechtliche Bindung bestehe. Die radikaleren Verfechter der Unabhängigkeit konnten sich auf das staatsrechtliche Gutachten des namhaften Professors Rafael Erich stützen, nach dessen Ansicht die Beziehung zu Russland eine reine Personalunion war, die nach der Abdankung des Zaren ohne Weiteres als aufgelöst zu betrachten sei. Unter Parlamentsmacht zur Unabhängigkeit Die juristische Diskussion wurde bald von der politischen Entwicklung überrollt. Das von einer sozialdemokratischen Mehrheit geführte Finnische Parlament verabschiedete am 18. Juli 1917 das „Staatsgesetz“, mit dem es erklärte, die oberste Macht in Finnland nunmehr selbst auszuüben. Die zwischenzeitlich wieder erstarkte russische Provisorische Regierung löste im Einverständnis mit den finnischen Bürgerlichen das Parlament auf, und der paritätisch mit Sozialdemokraten und Bürgerlichen besetzte Senat beugte sich dieser Entscheidung gegen den Widerstand der Sozialisten. In der Neuwahl im Oktober verloren Letztere ihre Mehrheit. Gleichzeitig stürzte in Russland die Provisorische Regierung und die Bolschewiki ergriffen die Macht. Auch die zuvor auf eine Kooperation mit Russland drängenden bürgerlichen Politiker Finnlands wollten Lenins Regierung nicht als Erben der kaiserlichen Macht ansehen. Zum zentralen Streitpunkt wurde nun die Frage, in wessen Hände die zuvor dem Zaren zugestandene Macht gelegt werden solle. Während die Sozialdemokraten darauf bestanden, dass entsprechend dem Staatsgesetz die oberste Staatsgewalt durch das Parlament ausgeübt werde, beriefen sich die Konservativen auf § 38 der Verfassung von 1772. Diese für den Fall des Erlöschens eines Herrscherhauses geschaffene Vorschrift sah vor, dass für die Übergangszeit ein Reichsverweserausschuss die königlichen Befugnisse halten solle. In der Sitzung des Parlaments am 9. November standen sich drei Vorschläge gegenüber. Die Sozialdemokraten verlangten die rückwirkende Inkraftsetzung des Staatsgesetzes, was gleichzeitig die Ungesetzlichkeit des neuen Parlaments bedeutet hätte. Die konservativen Parteien beantragten die Einsetzung eines Reichsverweserausschusses. Der Kompromissvorschlag von Santeri Alkio vom Landbund sah die Ratifizierung des Staatsgesetzes ohne Rückwirkung vor. Die Tagesordnung sah vor, dass im ersten Abstimmungsgang zwischen den beiden Varianten des Staatsgesetzes gewählt werden und der Sieger dieser Abstimmung gegen die Reichsverweservariante antreten solle. Die Konservativen konnten an diesem Tag erreichen, dass sich ihr Vorschlag durchsetzte, indem sie im ersten Abstimmungsgang für den sozialdemokratischen Antrag stimmten und so sicherstellten, dass als Gegenvorschlag im zweiten Wahlgang nur eine Variante zur Verfügung stand, welcher der Landbund nicht zustimmen konnte. Die endgültige Bestimmung der Reichsverweser wurde jedoch verschoben. Unterdessen waren die Unruhen im Land immer bedrohlicher geworden. Am 14. November rief die Arbeiterbewegung einen Generalstreik aus. Unter dem Eindruck des Streiks und zahlreicher damit zusammenhängender Gewalttaten trat am 15. November das Parlament erneut zusammen. Mit den Stimmen der Sozialdemokraten und gemäßigter Konservativer verabschiedete es schließlich einen erneuten Kompromissvorschlag Alkios: Finnland blieb damit vorläufig ohne formelles Staatsoberhaupt, hatte sich aber gleichzeitig faktisch von Russland gelöst. Die förmliche Unabhängigkeitserklärung des finnischen Parlaments vom 6. Dezember 1917 und die Anerkennung der Souveränität Finnlands durch Sowjetrussland am 4. Januar 1918 vollendeten den Ablösungsprozess. Monarchistische Entwicklung des Jahres 1918 Abgesehen von der Übernahme der Monarchenrechte durch das Parlament blieben die alten Institutionen zunächst bestehen. Die Regierung bildete der Senat, dessen Wirtschaftsabteilung als Regierungschef Pehr Evind Svinhufvud vorstand. Die weitere Klärung der verfassungsrechtlichen Fragen wurde durch die inneren Spannungen und den am 27. Januar 1918 ausbrechenden Bürgerkrieg in den Hintergrund gedrängt. Als der Bürgerkrieg schließlich zu Ende war, trat das Parlament am 15. Mai mit einem neuen Gesicht zusammen: Bis auf einen Abgeordneten fehlten alle sozialdemokratischen Volksvertreter. Die so unter sich gebliebenen bürgerlichen Parteien waren sich einig, dass es mit der weiterhin geltenden gustavianischen Verfassung nicht vereinbar sei, dass die Volksvertretung die oberste Staatsgewalt ausübe. Stattdessen verlangte die Verfassung die Wahl eines neuen Königs. Als Übergangslösung orientierte sich das Parlament an der in der ausgehenden Kalmarer Union üblichen Praxis, als Stellvertreter des Königs einen Reichsverweser einzusetzen. Ohne diesen Titel offiziell zu verwenden, bestimmte das Parlament den Senatsvorsitzenden Svinhufvud zum Träger der obersten Staatsgewalt. Zum neuen Senatsvorsitzenden berief dieser Juho Kusti Paasikivi. Sowohl Svinhufvud als auch Paasikivi waren entschiedene Monarchisten. Der neue Senat begann mit der Vorbereitung einer neuen, monarchistischen Verfassung. Für diese Richtungsentscheidung sprachen neben der staatspolitischen Überzeugung der Protagonisten auch außenpolitische Gründe. Die Regierung der bürgerlichen Seite hatte im Bürgerkrieg substanzielle Hilfe der deutschen Armee erhalten und sich in diesem Zuge auch vertraglich eng an Deutschland gebunden. Auch der neue finnische König sollte der deutschen Kaiserfamilie entstammen. Nachdem Prinz Oskar von Preußen, Sohn des Kaisers Wilhelm II., abgelehnt hatte, fiel die Wahl auf den mit der Kaiserfamilie verschwägerten Friedrich Karl von Hessen. Die monarchistische Richtung war unter den Parlamentsparteien jedoch nicht unumstritten. Insbesondere der Landbund unter Santeri Alkio war nachdrücklich republikanisch eingestellt, aber auch Teile der Jungfinnischen Partei, führend unter ihnen Kaarlo Juho Ståhlberg zählten zum republikanischen Lager. Dieses konnte sich besonders auf die Unabhängigkeitserklärung vom 6. Dezember 1917 berufen, in welcher ausdrücklich eine republikanische Verfassung angekündigt worden war. Der Senat legte dem Parlament im Juni den Entwurf für eine monarchistische Verfassung vor, die starke republikanische Opposition verhinderte aber in drei Wahlgängen bis zum August das Zustandekommen der notwendigen Fünfsechstelmehrheit. Daraufhin berief sich der Senat auf die weiterhin gültige Verfassung von 1772 und ließ auf deren Grundlage eine Königswahl durchführen. So wurde Friedrich Karl am 9. Oktober 1918 zum König Finnlands gewählt. Republik mit monarchistischem Einschlag Erneut wurde die Verfassungsdebatte von den äußeren Ereignissen überholt. Der Zusammenbruch der deutschen Kriegführung und die Abdankung des Kaisers Wilhelm II. am 9. November 1918 entzogen der finnischen Krone des Deutschen Friedrich Karl den Boden. Svinhufvud und Paasikivi wandten sich nun an den ehemaligen Oberbefehlshaber der Armee, Carl Gustaf Emil Mannerheim, der im Mai unter anderem wegen seiner kritischen Haltung an der Deutschlandorientierung der Regierung seinen Rücktritt eingereicht hatte und nun die Beziehungen zu den Ententemächten verbessern sollte. Paasikivis Senat wurde am 27. November durch eine neue Regierung unter Lauri Ingman ersetzt. Erstmals wurde die Regierung nicht mehr Senat, sondern Staatsrat (valtioneuvosto) genannt, und Ingman fungierte als Ministerpräsident. Am 12. Dezember trat Svinhufvud zurück, Mannerheim wurde neuer Reichsverweser. Zwei Tage später verzichtete Friedrich Karl offiziell auf seine Krone. Zur gleichen Zeit führten die fundamentalen Differenzen in der Frage der Staatsform zu einer Neusortierung der bürgerlichen Parteienlandschaft. Der Großteil der Jungfinnischen Partei sowie die kleine Volkspartei gingen in der republikanischen Nationalen Fortschrittspartei auf, die jungfinnischen Monarchisten und der Großteil der Finnischen Partei gründeten die Nationale Sammlungspartei. Republikanisch gesinnt waren auch der Landbund sowie die Sozialdemokraten. Auf Druck der Ententemächte wurden im März 1919 Parlamentswahlen abgehalten, die den republikanischen Parteien eine überwältigende Mehrheit bescherten. Zum neuen Ministerpräsidenten bestimmte der Reichsverweser Kaarlo Castrén von der Fortschrittspartei. In dieser politischen Lage war es nunmehr offensichtlich, dass die neue Verfassung Finnlands eine republikanische sein würde. Die Parlamentsmehrheit aus Sozialdemokraten, Landbund und Fortschrittspartei befürwortete eine die Volkssouveränität betonende Lösung, in welcher die Macht auf das Parlament konzentriert wäre. Die bisherigen Monarchisten verlangten dagegen, dass dem Staat ein starkes Staatsoberhaupt vorstehen müsse, ob dies nun ein König oder ein Präsident sei. Sie stützten sich auf die Montesquieu’sche Lehre von der Gewaltenteilung und auf die Ansicht, dass ein unabhängiges Staatsoberhaupt eigensüchtige und überstürzte Entscheidungen verhindern könne. Die Reichstagsordnung sah vor, dass ein verfassungsändernder Beschluss mit einfacher Mehrheit gefasst werden und nach einer weiteren Parlamentswahl vom nächsten Parlament mit Zweidrittelmehrheit bestätigt werden müsse. Ohne eine zwischenzeitliche Wahl bedurfte der Beschluss einer Fünfsechstelmehrheit. Daher konnten die Monarchisten mit ihren rund 50 der 200 Abgeordneten die Verfassungsgebung bis nach einer weiteren Parlamentswahl aufschieben. Bis dahin würde nicht einmal ein Präsident gewählt werden können. Da die labile außenpolitische Lage einen solchen Schwebezustand gefährlich erscheinen ließ, wurden den Monarchisten bedeutende Zugeständnisse gemacht. Am 21. Juni 1919 verabschiedete das Parlament eine Verfassung, die auf dem bereits 1917 von einer Kommission unter der Leitung von Kaarlo Juho Ståhlberg erarbeiteten Entwurf sowie auf dem Kompromissvorschlag von Heikki Ritavuori beruhte und mit dem starken Präsidenten an der Spitze monarchistische Züge erkennen ließ. Nach kurzem Zögern unterzeichnete der monarchistisch gesinnte Reichsverweser Mannerheim am 17. Juli die Verfassung, die damit in Kraft trat. Weitere Verfassungsgesetze und Geltungsdauer Das Tauziehen um die richtige Verfassung und die letztlich eilige Verabschiedung der Verfassung hatten zur Folge, dass nicht alle sachlich zur Staatsverfassung gehörenden Regelungen im 1919 verabschiedeten Verfassungsgesetz (wie in Schweden „Regierungsform“, hallitusmuoto, genannt) niedergelegt wurden. Die Reichstagsordnung (valtiopäiväjärjestys) von 1906, die zum verfassungsrechtlichen Kernbereich gehörende Regelungen wie das Gesetzgebungsverfahren enthielt, blieb unverändert in Kraft, bis sie 1928 erneuert und den Bedürfnissen der Republik angepasst wurde. Einige weitere Bereiche waren 1919 ungeregelt geblieben, und so wurde die Verfassung 1922 durch zwei weitere Gesetze ergänzt, eines betreffend die Kontrolle und Verantwortlichkeit von Regierungsmitgliedern, das andere betreffend den Staatsgerichtshof. Diese vier Gesetze hatten gleichermaßen Verfassungsrang und ihre Änderung konnte nur im verfassungsgebenden Verfahren erfolgen. Es gehörte damit während der gesamten Geltungsdauer der Verfassung von 1919 zu den (mit dem benachbarten Schweden geteilten) Besonderheiten des finnischen Verfassungsrechts, dass die Verfassung nicht in einem, sondern in vier Gesetzesdokumenten enthalten war. Sie blieb mit vereinzelten Änderungen in Kraft, bis sie mit Wirkung zum 1. März 2000 von der neuen finnischen Verfassung abgelöst wurde. Grundzüge der finnischen Verfassungsordnung 1919–2000 Die durch die Verfassung von 1919 geschaffene Verfassungsordnung hatte in ihren wesentlichen Zügen bis ins Jahr 2000 Bestand. Sie fußte auf der Gesetzgebungsmacht des Parlaments einerseits und einer starken administrativen Stellung des Präsidenten andererseits. Viele der wesentlichen Züge der Verfassungsordnung lehnten sich an die im Großfürstentum Finnland geltenden Institutionen an. Parlament Die oberste Gewalt im Staat sprach die Verfassung von 1919 der Volksvertretung zu, welche im Finnischen den 1906 angenommenen Namen Parlament (eduskunta, wörtlich „Vertreterschaft“), in der schwedischen Sprache dagegen weiterhin den aus der Zeit von König Gustav I. Wasa stammenden Namen Reichstag (riksdag) führte. Das Parlament war das zentrale Gesetzgebungsorgan. Gesetzesinitiativen konnten vom Staatsrat, aber auch von einzelnen Abgeordneten ausgehen. Die Legislaturperiode des Parlaments betrug ursprünglich drei Jahre. Sie wurde 1954 um ein Jahr verlängert. Die Wahl des aus 200 Abgeordneten bestehenden Parlaments erfolgte in allgemeiner und gleicher Wahl durch alle männlichen und weiblichen Staatsbürger ab dem Alter von 24. Die Altersgrenze wurde 1945 auf 21, 1970 auf 20 und schließlich 1975 auf 18 Jahre gesenkt. Alle Wahlberechtigten waren auch passiv wahlberechtigt. Das Wahlsystem beruhte auf einer Einteilung in Wahlkreise, aus denen jeweils im Verhältniswahlrecht eine dem Bevölkerungsanteil des Wahlkreises entsprechende Zahl von Abgeordneten gewählt wurde. Seit 1948 bildete die autonome Provinz Åland einen eigenen Wahlkreis, der unabhängig von der Einwohnerzahl einen Abgeordneten entsandte. In den Wahlen gab der Wähler seine Stimme nicht einer Partei, sondern unmittelbar individuellen Kandidaten. Die Gesamtsumme der an Kandidaten einer Partei gegebenen Stimmen in einem Wahlkreis entschied über die Zahl der von dieser Partei aus dem Wahlkreis zu entsendenden Abgeordneten, wobei die Verteilung nach dem D’Hondt-Verfahren erfolgte. Die Sitze der Partei wurden von den Kandidaten mit den meisten individuellen Stimmen eingenommen. Präsident und Regierung Die starke Stellung des finnischen Präsidenten, die deutliche Züge des bisherigen monarchistischen Systems trug, gehörte zu den prägenden Eigenschaften der finnischen Verfassung von 1919. Der Präsident war der Oberbefehlshaber der Armee. In Kriegszeiten konnte er den Befehl an eine andere Person übertragen, war hierzu aber nicht verpflichtet. Die Außenpolitik unterstand der Autorität des Präsidenten, für Entscheidungen über Krieg und Frieden bedurfte er jedoch der Zustimmung des Parlaments. Er hatte das jederzeitige Recht, das Parlament nach eigenem Ermessen aufzulösen und Neuwahlen anzusetzen. Vom Parlament beschlossene Gesetze bedurften grundsätzlich der Unterschrift des Präsidenten. Verweigerte er die Ausfertigung, konnte das Gesetz erst nach den nächsten Parlamentswahlen durch das neue Parlament erneut beschlossen werden. In diesem Fall trat es auch ohne die Ausfertigung des Präsidenten in Kraft. Die Regierung des Landes stellte der Staatsrat dar. Dieser stand in der Kontinuität der Wirtschaftsabteilung des Senats aus der Zeit des Großfürstentums. Der Vorsitz wurde vom Ministerpräsidenten geführt. Ebenso wie früher der Senat wurde der Staatsrat nicht vom Parlament gewählt, sondern vom Präsidenten ernannt. Die neue Verfassung sah vor, dass der Staatsrat das Vertrauen des Parlaments genießen müsse. In der Verfassungspraxis wurde es als ausreichend angesehen, dass das Parlament dem Staatsrat kein ausdrückliches Misstrauensvotum aussprach. Seiner Natur nach war der Staatsrat damit vor allem ein Hilfsorgan der präsidentialen Verwaltung. In der Praxis schwankte das Ausmaß der Einflussnahme des Präsidenten auf die Regierungsbildung, ebenso wie die Ausübung seiner sonstigen Befugnisse, erheblich. Die Wahl des Präsidenten erfolgte vermittels eines direkt vom Volk gewählten, mit 300 Personen besetzten Wahlmännergremiums. In zwei Wahlgängen erforderte die Wahl die absolute Mehrheit der Wahlmänner. Soweit kein Kandidat diese Mehrheit erreichte, fand zwischen den beiden Kandidaten mit den meisten Stimmen ein Stichentscheid im dritten Wahlgang statt. Dieses System wurde 1988 durch ein gemischtes Verfahren ersetzt. Das Volk stimmte direkt über die Präsidentschaftskandidaten ab, wählte aber zugleich 300 Wahlmänner. Das Wahlmännergremium führte die Wahl durch, wenn nicht einer der Präsidentschaftskandidaten vom Volk die absolute Mehrheit der Stimmen erhalten hatte. Ab 1994 wurde die Präsidentenwahl schließlich auf eine direkte Volkswahl umgestellt, notfalls mit einem Stichentscheid im zweiten Wahlgang. Damit das staatliche Leben der neuen Republik Finnland ohne weitere Verzögerungen in Gang kommen konnte, sah die Verfassung für die Wahl des ersten Präsidenten eine Ausnahmeregelung vor. Dieser wurde bereits am 27. Juli 1919 unmittelbar durch das Parlament gewählt. Der Kandidat des linken und mittleren politischen Spektrums, Kaarlo Juho Ståhlberg, setzte sich mit 143 zu 50 Stimmen gegen den für die Konservativen angetretenen Gustaf Mannerheim durch. Die Amtszeit des Präsidenten betrug sechs Jahre. Ursprünglich konnte der amtierende Präsident beliebig oft erneut antreten. Im Jahr 1994 wurde durch Verfassungsänderung die Amtsinhaberschaft auf zwei aufeinanderfolgende Amtsperioden begrenzt. Verfassung und Gesetzgebung Die Änderung der in den vier Verfassungsgesetzen niedergelegten Bestimmungen setzte ein besonderes Gesetzgebungsverfahren voraus. Nachdem das Parlament das Gesetz in dritter Lesung mit einfacher Mehrheit beschlossen hat, musste das Gesetz über die nächste Parlamentswahl hinaus ruhen und sodann vom neuen Parlament mit Zweidrittelmehrheit bestätigt werden. Im Eilverfahren konnten verfassungsändernde Gesetze ohne zwischenzeitliche Wahl mit einer Fünfsechstelmehrheit verabschiedet werden. Als verfassungsrechtliches Erbe aus der Zeit des Großfürstentums brauchten verfassungsändernde Gesetze nicht den Text der Verfassungsgesetze zu ändern. Vielmehr konnte jedes reguläre Gesetz Vorschriften enthalten, die mit der Verfassung in Konflikt standen. Ein solches als Ausnahmegesetz bezeichnetes Gesetz musste im gleichen Gesetzgebungsverfahren beschlossen werden wie ein unmittelbar verfassungsänderndes Gesetz. Das Institut der Ausnahmegesetze hatte sich in der Zeit der russischen Herrschaft entwickelt, da damals die alten schwedischen Verfassungsgesetze fortgalten, diese aber nach seinerzeitigem Verständnis durch finnische Staatsorgane nicht unmittelbar geändert werden konnten. So mussten sich die finnischen Gesetzgeber mit der mittelbaren Änderung der Vorschriften durch Ausnahmegesetze behelfen. Die Kontrolle der Verfassungsmäßigkeit von Gesetzen wurde bereits in der russischen Zeit durch einen Gesetzesausschuss der finnischen Stände ausgeübt. Diese Tradition setzte sich im unabhängigen Finnland im Verfassungsausschuss des Parlaments fort. Dieses aus Parlamentsabgeordneten gebildete Gremium gab im jeweiligen Gesetzgebungsverfahren Stellungnahmen zu Verfassungsfragen ab. Dabei war Zielrichtung der Vorabkontrolle vornehmlich die Findung des richtigen Gesetzgebungsverfahrens: Solange das Ausnahmegesetzverfahren eingehalten wurde, konnte ein Gesetz nach finnischem Verständnis nicht gegen die Verfassung verstoßen. Erst im letzten Jahrzehnt des Bestehens der Verfassung von 1919 verschob sich die Praxis in Richtung auf eine inhaltliche Anpassung der Gesetze. Der Verfassungsausschuss war in der Verfassung von 1919 nicht ausdrücklich vorgesehen und wurde erst 1995 im Zuge der Grundrechtsreform in den Verfassungstext aufgenommen. Nichtsdestoweniger stellte er die einzige Kontrollinstanz dar. Weder sah die Verfassung ein Verfassungsgericht vor, noch hatten die finnischen Gerichte die Kompetenz, einfache Gesetze wegen eines Verstoßes gegen die Verfassung zu verwerfen oder unangewendet zu lassen. Grundrechte Das zweite Kapitel der Verfassung von 1919 enthielt eine Reihe von Grundrechten, unter ihnen die Freiheit der Person, der Gleichberechtigungsgrundsatz, Meinungs- und Pressefreiheit, Versammlungs- und Vereinigungsfreiheit sowie die Glaubensfreiheit. Die Regelungen zu den Grundrechten waren knapp und beschränkten sich in vielen Fällen auf die Aufzählung des Rechts und die Feststellung, dass über den Gebrauch des Grundrechts durch Gesetz bestimmt wird. In der Praxis haben sich daher nur schwerfällig konkrete Anwendungsgrundsätze herausgebildet, vornehmlich durch die Tätigkeit des Verfassungsausschusses. In den Gerichten blieb die direkte Anwendung der Grundrechte ein seltener Ausnahmefall. Im Jahr 1995 wurden die Grundrechte in einer umfassenden Reform neu gefasst und internationalen Standards angepasst. Auch nach der Reform blieb es jedoch dabei, dass die Grundrechte keinen individuellen Schutz gegen grundrechtswidrige formelle Gesetze des Parlaments gewährten. Die Verfassung legte fest, dass die finnische und die schwedische Sprache gemeinsam Landessprachen sind und sich grundsätzlich gleichberechtigt gegenüberstehen. Die Verfassung stellte damit einen ersten Schlusspunkt hinter den über Jahrzehnte erbittert geführten Sprachenstreit dar. Ablösung Seit den Siebzigerjahren des 20. Jahrhunderts war die finnische Verfassung zunehmendem Modernisierungsdruck ausgesetzt. Viele Einzelreformen, die bedeutendste unter ihnen die Grundrechtsreform, wurden im Wege der Änderung einzelner Verfassungsvorschriften durchgeführt. Zunehmend gewann aber die Auffassung Oberhand, dass die in verschiedene Grundgesetze verstreute Verfassung auf Dauer nicht in zufriedenstellender Weise modernisiert werden kann. Das Parlament forderte die Regierung 1990 zur Vorbereitung eines neuen Grundgesetzes auf. Im Folgejahr schloss sich die Verfassungskommission diesem Standpunkt an. 1992 brachte das Parlament zum Ausdruck, dass es insbesondere eine stärkere Bindung des Präsidenten an das Parlament für erforderlich hält. Der Staatsrat legte 1998 den Entwurf für die neue Verfassung vor, die in modifizierter Form am 1. Juni 1999 verabschiedet wurde. Sie trat am 1. März 2000 in Kraft und hob damit alle vier bisherigen Verfassungsgesetze auf. Literatur Helen Endemann: Das Regierungssystem Finnlands: die finnische Regierungsform von 1919 im Vergleich mit der Weimarer Reichsverfassung. Lang, Frankfurt am Main 1999. [Europäische Hochschulschriften: Reihe 2, Rechtswissenschaft], ISBN 3-631-34568-2. Martin Scheinin: . In: Pekka Timonen (Hrsg.): , Helsinki 1999, ISBN 952-14-0001-3 (S. 234–274, zitiert: Scheinin). Pentti Virrankoski: . SKS, Helsinki 2001, ISBN 951-746-342-1 (zitiert: Virrankoski). Ingrid Bohn: Finnland – Von den Anfängen bis zur Gegenwart. Verlag Friedrich Pustet, Regensburg 2005, ISBN 3-7917-1910-6. Einzelnachweise Weblinks Finnische Verfassung von 1919 und spätere Änderungen (finnisch) Erste Fassung der Verfassung (schwedisch) Deutsche Übersetzung des finnischen und schwedischen Verfassungstextes von 1919 Finnische Geschichte (20. Jahrhundert) Historische Verfassung Rechtsgeschichte (Finnland) Verfassung von 1919 Konflikt 1919 Rechtsquelle (20. Jahrhundert)
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Baltimore-Klasse
Die Baltimore-Klasse war eine Klasse Schwerer Kreuzer der United States Navy aus den letzten Jahren des Zweiten Weltkrieges. Nach dem Ende des Krieges wurden die Kreuzer größtenteils in die Reserveflotte verlegt, aber während des Koreakriegs reaktiviert. Bis 1971 waren alle Schiffe des ursprünglichen Entwurfs außer Dienst gestellt. Vier Einheiten der Klasse wurden allerdings bereits während der 1950er-Jahre zu den ersten Lenkwaffenkreuzern der Welt umgebaut und bildeten die Boston-Klasse und die Albany-Klasse. Diese blieben teilweise bis 1980 in Dienst. Geschichte Planung und Bau Direkt nach dem Ausbruch des Zweiten Weltkrieges in Europa im September 1939 wurden in der US Navy Studien über den Bau einer neuen Klasse von Schweren Kreuzern angestoßen, die letztlich zum Bau der Baltimore-Klasse führten. Mit dem Krieg wurden auch die ohnehin eher großzügig ausgelegten Beschränkungen der Zweiten Londoner Flottenkonferenz obsolet – diese hatte den Bau Schwerer Kreuzer völlig untersagt. Die Baltimore-Klasse wurde dann einerseits an die USS Wichita (CA-45) angelehnt, einen Schweren Kreuzer von 1937, der den Übergang vom Zwischenkriegs- zum Weltkriegsdesign darstellte, und andererseits an die zu der Zeit im Bau befindliche Cleveland-Klasse. Der Bau der ersten vier Schiffe der Baltimore-Klasse wurde am 1. Juli 1940 in Auftrag gegeben, vier weitere wurden im Laufe des Jahres bestellt. Ein zweites Paket, das sechzehn zusätzliche Einheiten umfasste, wurde am 7. August 1942 bewilligt. Die Fertigstellung der Einheiten verzögerte sich jedoch, da die Navy dem Bau der Leichten Kreuzer der Cleveland-Klasse den Vorzug gab. Von diesen konnten in kürzerer Zeit mehr Einheiten für die Verwendung in Flugzeugträgerkampfgruppen gebaut werden. Als der Bau der ersten acht Baltimores aus diesem Grund recht schleppend lief, nutzte man in der Navy die Gelegenheit, den ersten Entwurf noch einmal zu überdenken und zu verbessern. Auch dieser neue, modifizierte Entwurf zögerte sich jedoch hinaus, so dass weitere sieben Einheiten nach ursprünglichem Design auf Kiel gelegt und fertiggestellt wurden. So wurden zwischen 1943 und 1946 vierzehn Einheiten der Baltimore-Klasse in den Dienst der US Navy gestellt, der Bau eines fünfzehnten Kreuzers der Klasse, der den Namen Norfolk tragen sollte, wurde zu Ende des Zweiten Weltkrieges nach acht Monaten Bauzeit gestoppt und der halb fertige Rumpf wieder verschrottet. Weitere neun Bestellungen wurden zu einem modifizierten Entwurf umgewandelt. Größter Auftragnehmer für den Bau der Klasse war Bethlehem Steel, die auf dem Fore River Shipyard in Quincy, Massachusetts acht Einheiten fertigte. New York Shipbuilding in Camden, New Jersey baute vier Schiffe und die Philadelphia Naval Shipyard in Philadelphia, Pennsylvania stellte eine Einheit fertig, die zweite wurde nicht vollendet. Die Einheiten wurden nach Städten der Vereinigten Staaten benannt, einzige Ausnahme bildete die Canberra, die zu Ehren der versenkten HMAS Canberra nach der australischen Hauptstadt benannt wurde. Die Klassifikation lautete CA, eine Bezeichnung, die ursprünglich für armoured cruiser (Panzerkreuzer) stand, aber später auch für die heavy cruiser, also die Schweren Kreuzer, verwendet wurde. Modifikationen Weiterentwicklungen Der Rumpf der Baltimore-Klasse wurde für die Entwicklung mehrerer anderer Klassen verwendet. Die Kreuzer der Oregon-City-Klasse unterschieden sich nur unwesentlich von den Baltimores. Diese bestand aus den ursprünglich als Einheiten der Baltimore-Klasse geplanten, dann aber als modifizierter Entwurf auf Kiel gelegten Kreuzern. Von den neun geplanten Einheiten wurden allerdings nur drei fertiggestellt. Der Rumpf der Oregon-City-Klasse war mit dem der Baltimores praktisch identisch. Die Hauptunterschiede der beiden Schiffsklassen waren die Reduzierung auf nur einen Schornstein und eine Veränderung der Aufbauten, vorwiegend um die Topplastigkeit zu verringern. Einen nochmals vergrößerten Entwurf stellte die Des-Moines-Klasse dar. Während das grundsätzliche Deckslayout nicht verändert wurde, trugen die drei Kreuzer dieser Klasse die ersten vollautomatischen Großkalibergeschütze auf Kriegsschiffen überhaupt. Keines dieser Schiffe kam aber rechtzeitig zur Flotte, um noch in den Zweiten Weltkrieg einzugreifen. Aus dem Entwurf des Baltimore-Rumpfes wurde außerdem das Design für den Bau der beiden Leichten Flugzeugträger der Saipan-Klasse entwickelt. So wurde zum Beispiel die Anordnung der Maschinen übernommen. Allerdings waren diese Rümpfe gegenüber denen der Baltimore-Klasse verbreitert worden. Diese Schiffe wurden 1947/48 fertiggestellt. Da sie aber bereits Mitte der 1950er-Jahre für die Flugzeuge des Jet-Zeitalters zu klein waren, wurden sie für andere Aufgaben umgebaut und als Nachrichtenverbindungsschiff bzw. Hauptquartiersschiff verwendet. Umbauten (Boston- und Albany-Klasse) Bereits Ende der 1940er-Jahre plante die Navy, Kriegsschiffe mit Raketen auszustatten. 1946 wurde das ehemalige Schlachtschiff USS Mississippi (BB-41) und 1948 der ehemalige Seeflugzeugtender USS Norton Sound (AV-11) zu Versuchsschiffen für diesen Zweck umgerüstet. Beide erhielten unter anderem die RIM-2 Terrier, wie sie ab 1952 beim Umbau erster Serienschiffe verwendet wurde. Hierfür wurden zwei Baltimore-Kreuzer (Boston und Canberra) umgerüstet. Diese Schiffe waren somit die weltweit ersten Lenkwaffenkreuzer. Die beiden Schiffe der neuen Boston-Klasse wurden 1955 respektive 1956 wieder in Dienst gestellt und als CAG klassifiziert. Das in der Bezeichnung neu hinzugekommene G stand für guided missile oder Lenkflugkörper, die Beibehaltung des A kennzeichnete die Tatsache, dass die Kreuzer ihre schweren Buggeschütze behielten. In den folgenden Jahren wurden noch sechs Leichte Kreuzer der Cleveland-Klasse mit Lenkwaffen ausgerüstet. Mit der USS Long Beach (CGN-9) wurde 1957 dann der erste Lenkwaffenkreuzer-Neubau auf Kiel gelegt. Trotzdem wurden weitere Schiffe konvertiert, so ab 1958 zwei Baltimore-Kreuzer (Columbus und Chicago) sowie eine Einheit der Oregon-City-Klasse (Albany), die zur neuen Albany-Klasse von Lenkwaffenkreuzern zusammengefasst wurden. Diese kamen 1962 bis 1964 zur Flotte. Zwei weitere (Rochester der Oregon-City-Klasse und Bremerton der Baltimore-Klasse) Umbauten sollten folgen, jedoch wurde die Konvertierung aus finanziellen Gründen nicht mehr durchgeführt. Im Gegensatz zu den Kreuzern der Boston-Klasse wurde bei der Albany-Klasse ein Totalumbau vorgenommen; das heißt, es wurden sowohl sämtliche Waffensysteme als auch die kompletten Aufbauten entfernt und durch neue ersetzt. Dies erklärt auch die hohen Umbau-Kosten von 175 Mio. US-Dollar pro Einheit. Da hier keine großkalibrigen Waffen an Bord blieben, wurde als Klassifizierung CG genutzt. Dienstzeit Von den vierzehn fertiggestellten Einheiten kamen zwölf noch vor Japans Kapitulation am 2. September 1945 zur Flotte. Allerdings nahmen nur sieben Schiffe dieser Klasse an Schlachten des Pazifikkrieges teil, die Quincy fuhr als einziger Baltimore-Kreuzer auch in europäischen Gewässern. Die restlichen Einheiten absolvierten während der letzten Tage des Krieges noch Erprobungsfahrten. Bis 1947 waren zehn Einheiten außer Dienst gestellt und der Reserveflotte zugeteilt worden, vier blieben über das Ende des Krieges hinaus in Dienst. Anfang der 1950er-Jahre jedoch wurden sechs Einheiten reaktiviert. Damit blieben vier Einheiten außer Dienst: Die Fall River wurde nie wieder aktiviert, die Boston und die Canberra wurden umgebaut und als Boston-Klasse weitergeführt. Die Chicago wurde erst 1958 anlässlich des Umbaus zum Albany-Kreuzer reaktiviert. Damit waren während des Koreakriegs zehn Baltimores einsatzbereit. Sechs dieser Schiffe führten dort Geleitschutzoperationen und Küstenbeschießungen durch, die anderen verstärkten die Flotte, unter anderem in europäischen Gewässern. Nach dem Koreakrieg wurden ab 1954 die restlichen unmodifizierten Kreuzer endgültig außer Dienst gestellt. 1963 befand sich nur noch die Saint Paul in Dienst, die als einzige der nicht umgebauten Einheiten noch im Vietnamkrieg zum Einsatz kam und erst 1971 deaktiviert wurde. Boston und Canberra nahmen am Vietnamkrieg teil und wurden 1970 außer Dienst gestellt. Da ihre Lenkwaffen zu diesem Zeitpunkt schon veraltet waren, fuhren beide bereits seit 1968 wieder als CA. Die Lenkwaffen waren entfernt und die Starter der Raketen damit ohne Funktion. Von der Albany-Klasse fuhr nur die Chicago vor Vietnam, die anderen beiden Einheiten waren im Atlantik stationiert. Albany und Chicago blieben bis 1980 aktiv, Columbus bis 1975. Alle vierzehn Einheiten der Baltimore-Klasse wurden nach ihrer Außerdienststellung an Abwrackunternehmen verkauft und abgewrackt, die Chicago als letzte im Jahr 1991. Einheiten Beschädigungen Im Weltkrieg wurde lediglich die Canberra durch Feindfeuer beschädigt, am 13. Oktober 1944 musste sie einen Lufttorpedotreffer hinnehmen, der im Maschinenraum 23 Menschen das Leben kostete. Ein Jahr später wurde die Reparatur in der Boston Naval Shipyard beendet und das Schiff der Atlantikflotte zugeteilt. Der Pittsburgh wurde im Juni 1945 in einem Taifun ihre gesamte Bugpartie weggerissen, Opfer waren nicht zu beklagen. Nachdem sich das Schiff durch 70-Knoten-Winde nach Guam gekämpft hatte und dort notdürftig repariert werden konnte, wurde schließlich in der Puget Sound Naval Shipyard eine vollständige Wiederherstellung vorgenommen. Im Koreakrieg kostete ein Feuer im vorderen Geschützturm am 12. April 1952 30 Männer der Saint Paul das Leben. 1953 wurde dasselbe Schiff durch eine Küstenbatterie getroffen, aber niemand verletzt. Ebenso erging es der Helena 1951 und der Los Angeles 1953. Die Boston wurde im Juni 1968 Opfer von friendly fire, als sie und ihre Begleitung, der australische Zerstörer HMAS Hobart (D39), von Flugzeugen der United States Air Force für feindliche Ziele gehalten und mit AIM-7 Sparrows angegriffen wurden. Nur die Hobart wurde aber ernsthaft beschädigt – der Gefechtskopf einer Rakete, welche die Boston getroffen hatte, detonierte nicht. Technik Schiffsmaße Die Schiffe hatten eine Gesamtlänge von 205 m eine Kielwasserlinie von 202 m und eine Breite von 21 m. Die Schiffe hatten einen Tiefgang von 7,30 und die Verdrängung lag zwischen 14.472 tn.l. und 17.000 tn.l. Am Bug lag die Oberkante des Rumpfes 10,1 Meter über der Wasseroberfläche, am Heck 7,6 Meter. Die Schornsteine waren 26,2 Meter hoch, auf den Masten befand sich mit 34,2 Metern die höchste Stelle. Die Aufbauten belegten mittschiffs rund ein Drittel der Länge, sie waren in zwei Deckshäuser aufgeteilt. Jeweils der Lücke zwischen diesen zugewandt befanden sich zwei dünne Schornsteine, weiter zu Bug respektive Heck zwei Pfahlmasten zur Aufnahme der Ortungselektronik. Antrieb Die Schiffe der Baltimore -Klasse waren mit vier Dampfturbinen ausgestattet, die jeweils eine Welle antrieben und insgesamt 120.000 Shp (88.260 kW) entwickelten, mit der sie eine Höchstgeschwindigkeit von 33 Knoten (61 km/h) erreichte. Der Dampf wurde von vier Babcock und Wilcox Wasserrohrkesseln geliefert. Die Schiffe konnten maximal 2.250 tn.l. Heizöl mitführen, was ihnen bei 15 Knoten (27 km/h) eine Reichweite von 10.000 Seemeilen (18.500 km) ermöglichte. Bewaffnung Die Hauptbewaffnung der Schiffe der Baltimore-Klasse bestand aus drei Geschütztürmen zu je drei Rohren mit dem Kaliber 203 mm und der Kaliberlänge 55. Von diesen befanden sich zwei am Bug, das dritte am Heck. Die Reichweite dieser Geschütze lag bei 27,8 Kilometern. Sekundärbewaffnung waren sechs Zwillingstürme Kaliber 127 mm, Kaliberlänge 38, zwei davon an jeder Seite der Aufbauten, die restlichen beiden jeweils hinter den Hauptbatterien. Diese Geschütze konnten sowohl zur Bekämpfung feindlicher Schiffe und Flugzeuge wie auch zum Küstenbeschuss eingesetzt werden. Ihre Reichweite für den Beschuss von Oberflächenzielen lag bei 16 Kilometern, außerdem konnten Flugzeuge in Höhen bis zu 9,8 Kilometern noch von den Geschossen erreicht werden. Zusätzlich besaßen die Einheiten eine sehr starke reine Flugabwehrbewaffnung, bestehend aus zwölf 40-mm-Vierlingsflak von Bofors (oder elf Vierlinge und zwei Zwillinge bei den Schiffen, die achtern nur einen Flugzeugkran hatten) und, je nach Schiff und Indienststellungszeitpunkt, 20 bis 28 20-mm-Maschinenkanonen. Die kleinkalibrigen Waffen wurden allerdings bald entfernt; die 20-mm-Flak bereits ersatzlos kurz nach dem Krieg, da sie zu ineffektiv gegen die japanischen Flugzeuge gewesen waren, während die 40-mm-Bofors im Laufe der 1950er-Jahre durch bis zu 20 76-mm-Fla-Geschütze ersetzt wurden. Vier Einheiten (Toledo, Helena, Macon und Los Angeles) wurden zwischen 1956 und 1958 außerdem mit drei Marschflugkörpern vom Typ SSM-N-8A Regulus bestückt. Letztlich allerdings blieb die Stationierung solcher nuklear bestückter Raketen auf Überwasserschiffen ein Versuch, der nur bis in die 1960er hinein unternommen wurde. Die nachfolgende UGM-27 Polaris wurde nur noch von Atom-U-Booten getragen. Bei den Lenkwaffenkreuzern der Boston-Klasse wurde die Bewaffnung auf dem Vorschiff im ursprünglichen Zustand belassen. Die beiden Einheiten behielten also zwei 203-mm-Türme und fünf der 127-mm-Batterien. Als Flak wurden zu Beginn 1955 zwölf, kurze Zeit später noch acht 76-mm-Kanonen verwendet. Das eigentliche Herzstück der neuen Bewaffnung waren allerdings zwei Doppelarmstarter für Mittelstreckenluftabwehrraketen vom Typ RIM-2 Terrier auf dem Achterschiff. Die Reichweite dieser Rakete lag zu Beginn bei rund 10 Seemeilen (18 Kilometer), spätere Versionen hatten die doppelte Reichweite. Unter den Startern wurden zwei langgestreckte Magazine für die Flugkörper installiert, in denen zusammen 144 Terrier gelagert werden konnten. Da die Terrier – die erste seegestützten Fla-Lenkwaffe der US Navy überhaupt – recht schnell von neueren Modellen des Typs Standard Missile 1 obsolet gemacht wurde, wurden die Anlagen auf beiden Schiffen 1968 deaktiviert, die Starter aber an Bord belassen. Die Totalumbauten der Albany-Klasse sollten ursprünglich gar keine Rohrwaffen mehr erhalten und nur noch mit Lenkraketen bewaffnet werden. Erst nach einer Intervention des damaligen US-Präsidenten John F. Kennedy wurden, wie vorher schon auf dem Atomkreuzer Long Beach, mittschiffs zwei 127-mm-Einzelkanonen installiert. Am Bug sowie achtern wurde je ein Doppelarmstarter für die Langstrecken-Fla-Lenkwaffe RIM-8 Talos mit einer Reichweite von bis zu 50 Seemeilen (über 90 Kilometer) und Magazinkapazität von insgesamt 104 Raketen geschaffen. Seitlich der Aufbauten wurden außerdem zwei Doppelarmstarter für die Kurzstreckenrakete RIM-24 Tartar (Reichweite 7,5 Seemeilen oder 14 Kilometer, später verbessert auf bis zu 17,5 Meilen oder über 30 Kilometer) aufgestellt; die Nachladekapazität betrug hier 84 Raketen. Mittschiffs wurde zur U-Boot-Abwehr ein Achtfachstarter für Raketentorpedos vom Typ RUR-5 ASROC aufgestellt, außerdem zwei Dreifachtorpedowerfer für Mark-46-Leichtgewichtstorpedos. Panzerung Die Seitenpanzerung betrug vertikal 152 mm und die Deckspanzerung horizontal bis zu 76 mm. Die Geschütztürme waren ebenfalls zwischen 76 und 152 mm stark gepanzert, der Kommandoturm besaß mit 203 mm die stärkste Panzerung. Die Schiffe der Boston-Klasse lagen rund einen halben Meter tiefer im Wasser und verdrängten rund 500 ts mehr als ihre ehemaligen Schwesterschiffe. Da die Boston-Klasse nur ein Teilumbau war, blieb das vordere Drittel im Wesentlichen unangetastet. Erste deutliche Veränderung war die Zusammenfassung der ehemals zwei Schornsteine zu einem einzelnen dicken, der in der vorher existenten Lücke zwischen den Deckshäusern platziert wurde. Da die Lenkwaffen mehr Leitelektronik benötigten, wurde außerdem der vordere Pfahlmast durch einen Vierbein-Gittermast mit vergrößerter Plattform ersetzt. Die auffälligste Veränderung war aber die Installation der Lenkwaffenstarter und der dazugehörigen Magazine, die das gesamte achterliche Drittel der Schiffe einnahmen und die dortigen Geschütze verdrängten. Die drei Albanys wurden bis auf Decksebene herunter abgebrochen und komplett neu aufgebaut, weshalb sie ihren ehemaligen Schwestern nach dem Umbau nicht im Entferntesten ähnelten. So ging das Deckshaus nun über zwei Drittel der Schiffslänge und war fast durchgängig zwei Decks hoch. Darüber lag die kastenförmige Kommandobrücke, die ein markantes Merkmal dieser Schiffe wurde. Die je zwei Masten und Schornsteine wurden zu so genannten „Macks“ verbunden, wie sie erstmals auf den Schiffen der Leahy-Klasse verwendet wurden. Dabei waren die Plattformen für die Elektronik oben an den Schornsteinen statt wie auf herkömmlichen Masten auf Deck befestigt. Der höchste Punkt auf dem vorderen Mack lag mehr als 40 Meter über der Wasseroberfläche. Solche Höhen konnten nur durch den Einsatz von Aluminiumlegierungen erreicht werden, die beim Bau der Albanys für die Aufbauten in hohem Maße eingesetzt wurden. Trotzdem stieg die Verdrängung der Einheiten auf über 18.000 ts bei voller Zuladung. Elektronik Ortungselektronik Zu Beginn besaßen die Kreuzer der Baltimore-Klasse Radare vom Typ SG für Oberflächen- und SK für Luftziele. Die Reichweite für Bodenziele lag, je nach Größe des Ziels, zwischen 15 und 22 Seemeilen (28 und 40 Kilometer), das SK konnte Bomber in mittleren Höhen auf etwa 100 Meilen oder 180 Kilometer orten. Zum Koreakrieg wurden dann leistungsfähigere Radare nachgerüstet, diese waren vom Typ SPS-6 (von Westinghouse) oder später SPS-12 (von der Radio Corporation of America) als 2D-Radar und dazugehörig SPS-8 als Höhenfinder. Mit diesen Radaren wurde die Ortungsreichweite gegen Bomber auf bis zu 145 Meilen gesteigert. Länger aktive Schiffe erhielten in ihren letzten Jahren als Luftüberwachungsradar SPS-37 (ebenfalls von Westinghouse) für SPS-6 beziehungsweise SPS-12, als Oberflächensuchradar ein SPS-10 von Raytheon. Damit konnte eine Ortungsreichweite von über 400 Kilometern gegenüber Flugzeugen erreicht werden. Die modifizierten Einheiten erhielten ein weit vielfältigeres Paket an Radaranlagen. Auf Boston und Canberra wurden neben einem CXRX-Radar (ein modifiziertes SPS-8, das nie in Serienproduktion ging) auch ein SPS-30-Höhenfinder hinzugefügt. In den 1960er-Jahren wurden auch hier SPS-6 und SPS-8 durch SPS-37 ersetzt. Die Albanys erhielten – einhergehend mit dem kompletten Neubau der Aufbauten – auch ein komplett neues Elektronikpaket. Dies bestand Anfang der 1960er-Jahre aus einem rund 145 Meilen weit wirkenden SPS-39, einem echten 3D-Radar von Hughes und einem SPS-43, ein Luftüberwachungsradar von Hughes/Westinghouse mit einer Reichweite von über 200 Meilen. Als Höhenfinder wurden zwei SPS-30 eingesetzt und als Oberflächensuchradar wiederum SPS-10. SPS-39 wurde bald durch das modernere SPS-52 (ebenfalls von Hughes) ersetzt. Hiermit konnten kleine Flugzeuge auf 60 Meilen, große auf 245 Meilen geordert werden. Mit dieser Ausstattung wurden die Schiffe letztlich deaktiviert. Feuerleitelektronik Die Kreuzer der Baltimore-Klasse besaßen von Beginn an elektronische Feuerleitgeräte (FLG) zur Bestimmung der Geschützparameter, womit auch Ziele hinter dem Horizont angegriffen werden konnten. Die Hauptartillerie wurde von zwei FLG Mark 34, gekoppelt mit einem Flugleitradar Mk. 8, gesteuert, die Flak erhielt ihre Zieldaten von zwei FLG Mk. 37 mit Mk.-4-Radar. Später wurden analog zu den Hauptradaren die Feuerleitradare modernisiert. Die Feuerleitgeräte blieben dabei gleich, wurden bei Zugang der 76-mm-Flak aber durch vier Mk. 56 mit Radar Mk. 35 verstärkt. Die mit Lenkwaffen ausgerüsteten Einheiten der Boston-Klasse behielten je ein nach vorn gerichtetes Mk. 34 und ein Mk. 37 für die Rohrwaffen, die achterlichen FLG dieser Typen wurden zu Gunsten von Leitgeräten für die Lenkwaffen Terrier entfernt. Hierfür wurde eine Feuerleitanlage (FLA) Mk. 71 eingesetzt, gepaart mit zwei Leitradaren Mk. 25, später ersetzt durch SPQ-5. Die Flak wurden durch sechs Mk. 56 gesteuert. Die Schiffe der Albany-Klasse erhielten zwei FLA Mk. 77 für die Talos-Lenkwaffen, die mit je zwei Radarbeleuchtern der Typen SPG-49 und SPW-2 kombiniert wurden, und zwei FLA Mk. 74 für die Tartar, assoziiert mit Radarbeleuchtern SPG-51. Für die Flak waren zwei Mk. 56 an Bord. Sonstige Elektronik Die Albany-Klasse bekam mit dem Umbau auch eine Sonaranlage vom Typ SQS-23, deren Herzstück ein im Durchmesser 20 Fuß (6,1 Meter) großer Wandler war. Die Anlage wurde im Bug der Schiffe untergebracht. Bordflugzeuge Die Bordfluganlagen auf den Kreuzern der Baltimore-Klasse bestanden während des Zweiten Weltkrieges aus zwei auf den seitlichen Kanten des Achterdecks montierten Flugzeugkatapulten, zwischen denen sich ein nach vorn verschiebbarer Lukendeckel befand, der das Dach des darunterliegenden Unterdeckshangars war. Die ersten vier Einheiten der Klasse hatten je zwei Flugzeugkräne, die restlichen nur noch einen am Heck. Von den Katapulten konnte bei voller Fahrt je ein Flugzeug vom Typ Vought OS2U Kingfisher, später auch Curtiss SC-1 Seahawk gestartet werden, das sowohl zur Aufklärung als auch zur U-Jagd und Seenotrettung Verwendung fanden. Die Maschinen waren Wasserflugzeuge, nach einem Einsatz wasserten sie also nahe der Kreuzer und konnten durch bei den ersten vier Einheiten zwei – später nur noch einen – Kran geborgen und wieder auf ihr Katapult gehoben werden. Anfang der 1950er Jahre wurden die Katapulte und damit auch die Fähigkeit zum Flugzeugstart entfernt, die Kräne blieben erhalten. Auf der Macon wurde bereits 1948 statt der Katapulte eine leicht erhöhte Landeplattform für Helikopter installiert. Da dadurch jedoch der Bestreichungswinkel des achterlichen Geschützes stark eingeengt wurde, wurde dieser Versuch recht schnell wieder beendet und eine solche Plattform auch später auf keinem Schwesterschiff mehr verwendet. Auf den Einheiten der Albany-Klasse wurde achtern des letzten Lenkwaffenstarters wieder ein Platz für Helikopterlandungen und VERTREP (vertical replenishment, also die Versorgung durch schwebende Helikopter) geschaffen, diesmal allerdings direkt auf dem Deck, nicht auf einer Plattform. Besatzung Die Besatzungszahl der Schiffe variierte je nach Zeit und taktischer Situation, aber auch je nach Quelle unterscheiden sich die Zahlen. So waren zu Kriegszeiten mehr Seeleute auf den Schiffen. Außerdem wurden einige Kreuzer, unter anderem alle drei Albanys, während eines Umbaus als Flaggschiff ausgerüstet, sie besaßen also besondere Räume für einen Admiral und dessen Stab. Die Besatzungszahlen der Einheiten, wie sie vom Stapel liefen, also während und kurz nach dem Zweiten Weltkrieg, lagen zu Friedenszeiten bei rund 60 Offizieren und über 1000 Mannschaften. Wenn im Krieg ein Stab an Bord war konnten diese Zahlen auf bis zu 80 Offiziere und mehr als 1500 Mannschaften ansteigen. Auf den Bostons waren 80 Offiziere und mehr als 1650 Mannschaften auch im Frieden und ohne Stab die Standardbesatzung. Da die fast reine Lenkwaffenausstattung der Albanys weniger Bedienungspersonal benötigte, sank die Besatzungszahl im Frieden auf 60 Offiziere und unter 1000 Mannschaften, mit Stab befanden sich im Schnitt 85 Offiziere und 1120 Mannschaften auf einem Schiff. Andere Quellen geben aber wesentlich höhere Zahlen an. So verzeichnet das Naval Vessel Register für die Albany über 100 Offiziere und 1400 Mannschaften. Verglichen mit heutigen Kreuzern sind diese Besatzungszahlen außerordentlich hoch. So benötigen die etwas kleineren, aktuell in Dienst stehenden Kreuzer der Ticonderoga-Klasse nur noch rund 400 Mann, ein Zeichen für die fortschreitende Automatisierung und Computerisierung auf Kriegsschiffen, wie sie etwa im Smart Ship Project vorangetrieben wird. Die Quartiere für die Besatzungsmitglieder auf den Baltimores und Lenkwaffen-Umbauten befanden sich hauptsächlich unter Deck, in den Aufbauten wurden Kommando- und Kontrollräume eingerichtet, außerdem unter Umständen auch die Stabsräumlichkeiten. Einsatzprofil Schnelle, mit Artillerie bewaffnete Schiffe wie die der Baltimore-Klasse wurden von der US Navy im Zweiten Weltkrieg hauptsächlich zum Schutz der schnellen Flugzeugträger in Trägerkampfgruppen eingesetzt. Auf Grund ihrer starken Flugabwehrbewaffnung konnte die Baltimore-Klasse insbesondere zur Luftabwehr der Kampfgruppen beitragen. Außerdem wurde die 20,3-cm-Hauptartillerie und auch die Mittelartillerie der Schiffe regelmäßig zum Landzielbeschuss zur Unterstützung von amphibischen Landungen verwendet. Für Gefechte gegen japanische Kreuzer und Zerstörer sah die US Navy Schwere Kreuzer auf Grund der geringen Kadenz der Hauptbewaffnung als weniger geeignet an. Deshalb wurden die Schiffe im Gegensatz zu den Leichten Kreuzern nicht im Südwestpazifik eingesetzt. Nach dem Umbau zu Lenkwaffenkreuzern dienten die Schiffe wiederum vor allem zur Sicherung der Trägerkampfgruppen. Die totalumgebauten Schiffe der Albany-Klasse konnten dabei außer zur Luftabwehr auch zum Schutz vor Unterwasserangriffen beitragen, und sie wurden vorzugsweise als Flottenflaggschiffe verwendet. Die Artilleriebewaffnung der teilumgebauten Schiffe wurde im Vietnamkrieg weiterhin zum Landzielbeschuss verwendet. Gegen Ende ihrer Dienstzeit war dies die Hauptaufgabe der teilumgebauten Schiffe, da die Flugkörper vom Typ Terrier als veraltet angesehen wurden und die zugehörigen Lenkwaffenanlagen deshalb stillgelegt worden waren. Literatur Weblinks globalsecurity.org: Baltimore-Klasse, Boston-Klasse und Albany-Klasse (englisch) Anmerkungen Einzelnachweise Militärschiffsklasse (Vereinigte Staaten) Kreuzerklasse Philadelphia Naval Shipyard
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Philebos
Der Philebos (, latinisiert ) ist ein in Dialogform verfasstes Werk des antiken griechischen Philosophen Platon. Wiedergegeben wird ein fiktives Gespräch von Platons Lehrer Sokrates mit den beiden jungen Athenern Philebos und Protarchos. Das Hauptthema ist die ethische Bewertung der Lust. Philebos und Protarchos sind Hedonisten, sie betrachten die Lust als höchsten Wert und setzen sie mit dem schlechthin Guten gleich. Sokrates vertritt die Gegenposition, für ihn haben Vernunft und Einsicht Vorrang. Die Berechtigung und den Wert der Lust bestreitet er zwar nicht, doch zeigt er die Verschiedenartigkeit der Lüste auf und tritt für eine differenzierte Beurteilung ein. Er verwirft manche Arten der Lust, da sie schädlich seien, und billigt den übrigen, den „reinen“ Lüsten, nur einen untergeordneten Rang in der hierarchischen Wertordnung zu. Die Unterscheidung zwischen den Lustarten führt zu allgemeinen Überlegungen über die Einheit und Vielheit von Arten, die unter einem Oberbegriff zusammengefasst werden, und über die Gattungen, in die sich alles Seiende aufteilen lässt. Lust und Unlust treten im menschlichen Leben in verschiedenen Erscheinungsformen und Mischungsverhältnissen auf. Sokrates untersucht die Ursachen, die Entstehung und die Beschaffenheit dieser Faktoren und ihrer wechselnden Kombinationen, die verschiedenartige Gemütszustände ergeben. Die Besonderheiten der einzelnen Lustformen werden herausgearbeitet und die Gründe für deren unterschiedliche Bewertung dargelegt. Am Ende des Dialogs präsentiert Sokrates eine universale Wertordnung. Darin nimmt das richtige Maß, die Verhältnismäßigkeit, den obersten Platz ein und die Lust – soweit sie berechtigt ist – den untersten. Schädliche Lüste sind zu meiden. Die rechte Mischung der erwünschten Faktoren soll ein gelungenes Leben ermöglichen und einen ausgeglichenen Gemütszustand herbeiführen. Protarchos sieht das ein, Philebos äußert sich nicht mehr. Der Philebos, in dem neben dem Kernthema eine Reihe weiterer philosophischer Fragen zur Sprache kommt, gilt als einer der anspruchsvollsten Dialoge Platons. In der modernen Forschung findet besonders die von Sokrates vorgenommene Einteilung alles Seienden in vier Klassen viel Beachtung. Erörtert wird unter anderem das Verhältnis dieser Klassifizierung zu Platons Ideenlehre und zu seiner „ungeschriebenen Lehre“ oder Prinzipienlehre. Ort, Zeit und Teilnehmer Im Gegensatz zu manchen anderen platonischen Dialogen ist der Philebos nicht als Erzählung eines Berichterstatters gestaltet. Das Dialoggeschehen ist nicht in eine Rahmenhandlung eingebettet, sondern setzt unvermittelt ein. Über Ort, Zeit und Anlass des Gesprächs erfährt man nichts. Als Schauplatz kommt jedenfalls nur Athen, die Heimatstadt des Sokrates, in Betracht. Außer den drei Gesprächspartnern Sokrates, Protarchos und Philebos ist noch eine Schar von jungen Männern anwesend, die aber nur schweigend zuhören. Es sind offenbar Bewunderer des Philebos, dessen Schönheit in dem homoerotisch geprägten Milieu geschätzt wird. Philebos spielt nur eine unwesentliche Nebenrolle, obwohl der Dialog nach ihm benannt ist. Die Debatte findet zwischen Sokrates und Protarchos statt. Sokrates ist wie in den meisten platonischen Dialogen die Hauptfigur, der sachkundige Philosoph, der die Debatte lenkt und dominiert und den anderen zu Erkenntnissen verhilft. Im Unterschied zu den frühen Dialogen, wo er sich mit seiner eigenen Ansicht zurückhält und seine Gesprächspartner mit zielführenden Fragen auf neue Gedanken bringt, entwickelt er hier eine eigene Theorie. Da der Dialog eine literarische Fiktion ist, darf das Konzept, das Platon Sokrates in den Mund legt, nicht als Position des historischen Sokrates aufgefasst werden, wenngleich die ethische Einstellung der Dialogfigur der Grundhaltung ihres realen Vorbilds ungefähr entsprechen dürfte. Philebos ist jung, eher ein Jugendlicher als ein junger Mann. Für die Existenz eines historischen Bekannten des Sokrates namens Philebos gibt es außerhalb des Dialogs keinen Beleg. Es ist gut möglich, dass es sich um eine frei erfundene Gestalt handelt. Dafür spricht, dass kein historischer Träger dieses Namens bekannt ist und es sich um einen sprechenden Namen handelt, der zu der Figur passt („Jugendliebhaber“ oder „Freund der Jugendlust“). Weitere Indizien für Fiktionalität sind, dass der Name seines Vaters nicht genannt wird und Platon ihm kein Profil gegeben hat, das eine historische Einordnung ermöglichen könnte. Auffällig ist, dass Philebos zwar die Titelgestalt ist und die Ausgangsthese aufstellt, aber die Verteidigung der These Protarchos überlässt, während er selbst sich ausruht und zuhört. Nur selten und kurz ergreift er das Wort, und am Schluss nimmt er die Widerlegung seiner These kommentarlos hin. Er ist träge und nur an Genuss interessiert und scheut die gedankliche Anstrengung einer Debatte. Seine Weltanschauung ist einfach. Mit seinem Auftreten und seiner ganzen Haltung entspricht er dem negativen Bild eines untüchtigen, selbstzufriedenen und unbelehrbaren Hedonisten, das der Autor dem Leser vor Augen stellen will. Möglicherweise hat ihm Platon Züge des Mathematikers und Philosophen Eudoxos von Knidos verliehen. Eudoxos, ein jüngerer Zeitgenosse Platons, war Hedonist, und die Hedonismuskritik im Philebos war einer Forschungshypothese zufolge gegen seine Lehre gerichtet. Allerdings zeigt Platons Philebos weniger Intelligenz und Interesse am Gedankenaustausch, als man von einem fähigen Wissenschaftler wie Eudoxos erwarten würde. Wiederholt wird seine Schönheit hervorgehoben. Zu seiner erotischen Attraktivität passt sein besonderes Verhältnis zur Liebesgöttin Aphrodite, der er den Namen der Lust (Hedone) gibt; offenbar ist er der Ansicht, mit seinem Bekenntnis zum Hedonismus im Sinne der Göttin zu handeln. Der Umstand, dass sich Philebos nicht an der philosophischen Untersuchung beteiligt, deutet darauf, dass er ein irrationales Prinzip verkörpert, das als solches nicht Rechenschaft gibt. Bei Protarchos wird in der Forschung die Wahrscheinlichkeit, dass es sich um eine historische Person handelt, höher eingeschätzt als bei Philebos, doch bestehen auch in diesem Fall Zweifel. Im Dialog nennt ihn Sokrates „Sohn des Kallias“. Ob damit der reiche Athener gemeint ist, der in der Forschungsliteratur „Kallias III.“ genannt wird, ist umstritten. Dorothea Frede glaubt, dass Protarchos einer der beiden Söhne Kallias’ III. war, die in Platons Apologie erwähnt werden. Sie wurden, wie Platons dortigen Angaben zu entnehmen ist, von dem Sophisten Euenos von Paros unterrichtet. Im Philebos spricht Protarchos respektvoll von dem berühmten Rhetoriklehrer Gorgias und gibt sich als dessen eifriger Schüler zu erkennen. Möglicherweise ist Platons Protarchos mit einem Autor – offenbar einem Rhetor – dieses Namens zu identifizieren, den Aristoteles zitiert. Als Dialogfigur ist Protarchos ebenso wie Philebos ein Vertreter der Athener Oberschicht, in der zur Zeit des Sokrates Bildungsbemühungen Wertschätzung fanden und auch philosophische Themen auf Interesse stießen. Im Gegensatz zu Philebos erweist sich Protarchos als lernwillig und flexibel. Er tritt bescheiden auf und ist bereit, seine hedonistische Weltanschauung einer unvoreingenommenen Prüfung unterziehen zu lassen, während Philebos schon zu Beginn verkündet, dass er seine Meinung keinesfalls ändern wird. Schließlich lässt sich Protarchos von Sokrates überzeugen, nachdem er längere Zeit versucht hat, seine Position zu verteidigen. Inhalt Die Erarbeitung der Voraussetzungen Die Ausgangssituation Die Darstellung setzt unvermittelt in einem bereits laufenden Gespräch ein. Philebos hat die These aufgestellt, das Gute und Erstrebenswerte sei für alle Lebewesen das Vergnügen oder die Lust (hēdonḗ). Die Lust führe den Zustand der Eudaimonie („Glückseligkeit“) herbei und bewirke damit ein gelungenes Leben. Sokrates hat das bestritten und für die Gegenthese plädiert, es gebe Wichtigeres und Vorteilhafteres: Vernunft, Erkenntnis und Erinnerung, eine richtige Auffassung und wahrheitsgemäßes Überlegen. Beim Versuch, sich damit auseinanderzusetzen, ist Philebos ermüdet. Erschöpft überlässt er nun Protarchos die Aufgabe, den gemeinsamen Standpunkt der beiden gegen die Kritik des Sokrates zu verteidigen. Protarchos will ergebnisoffen diskutieren, Philebos hingegen erklärt unumwunden, er werde auf jeden Fall immer am Vorrang der Lust festhalten. Lust und Lüste Sokrates beginnt seine Kritik an der Lustverherrlichung mit dem Hinweis, es handle sich bei der Lust gar nicht um eine einfache, einheitliche Gegebenheit. Vielmehr gebe es vielfältige und sogar ungleichartige Phänomene, die unter diesem Begriff zusammengefasst würden. Die Lust eines ausschweifenden Menschen sei nicht mit der eines besonnenen vergleichbar und die eines vernünftigen nicht mit der eines Wirrkopfs. Dem hält Protarchos entgegen, die Ursachen der angenehmen Gefühle seien zwar entgegengesetzte Sachverhalte, die Wirkung sei aber stets dieselbe. Er meint, Lust sei immer einfach Lust und immer gut. Sokrates stellt einen Vergleich mit dem Begriff „Farbe“ an: Sowohl Schwarz als auch Weiß seien Farben, und doch sei das eine das genaue Gegenteil des anderen. Analog gebe es gegensätzliche Lüste; manche seien schlecht, andere gut. Das räumt Protarchos zunächst nicht ein. Erst als Sokrates auch das von ihm favorisierte Gut, die Erkenntnis, als uneinheitlich bezeichnet, gibt Protarchos die Vielfalt der Lüste zu, da nun seine Position durch diese Sichtweise nicht benachteiligt wird. Einheit und Vielheit Das allgemeine Problem, auf das die Gesprächspartner gestoßen sind, ist das Verhältnis von Einheit und Vielheit, eines der Kernthemen der platonischen Philosophie. Es fragt sich, wie es möglich ist, dass die Lüste oder die Erkenntnisse einerseits verschiedenartig sind, andererseits aber doch eine Einheit bilden, die jeweils den gemeinsamen Begriff rechtfertigt. Dabei geht es nicht um die einzelnen konkreten Phänomene, deren offenkundige Mannigfaltigkeit trivial ist, sondern um das Allgemeine, das ihnen zugrunde liegt, also um Begriffe wie „der Mensch“, „das Schöne“ oder „das Gute“ und deren Unterteilungen. In der platonischen Ideenlehre, auf die Sokrates hier anspielt, werden solche Begriffe als „platonische Ideen“ aufgefasst, das heißt als eigenständig existierende, unveränderliche metaphysische Gegebenheiten. Die Ideen sind verursachende Mächte, sie rufen in der sichtbaren Welt die ihnen jeweils entsprechenden Phänomene hervor. Hierbei zeigt sich aber ein fundamentales Problem dieses platonischen Modells: Einerseits gelten die einzelnen Ideen als separate, einheitliche, unwandelbare Entitäten, sind also sowohl voneinander als auch von den sinnlich wahrnehmbaren Erscheinungen strikt getrennt, andererseits hängen sie dennoch mit dem Bereich der Sinnesobjekte eng zusammen und sind dort irgendwie anwesend, denn sie bewirken die Existenz und die Beschaffenheit von allem, was dort entsteht und vergeht. Die platonische Idee ist eine stabile, begrenzte Einheit und erscheint zugleich als grenzenlose Vielheit, vereinigt also Gegensätze. Das erscheint paradox und soll nun begreiflich gemacht werden. Die Einsicht, dass die Dinge aus Einem und Vielem bestehen und dass in ihnen Begrenzung mit Unbegrenztheit zusammentrifft, nennt Sokrates ein Geschenk der Götter. Dabei erinnert er an den mythischen Prometheus, dem die Menschen nach der Sage das Feuer verdanken. Dem Philosophen ist die Aufgabe gestellt, die Struktur der von Einheit und Vielheit gebildeten Gesamtrealität zu untersuchen und zu beschreiben. Dabei kommt es auf Genauigkeit an. Es genügt nicht, den Übergang von abgegrenzter Einheit zu unbegrenzter Vielheit als Sachverhalt festzustellen. Vielmehr ist die Anzahl der Zwischenstufen, des mittleren Bereichs zwischen dem absolut einheitlichen Einen und der Welt der Grenzenlosigkeit zu ermitteln. Wenn der Zwischenbereich richtig erkundet wird, erforscht man die Wirklichkeit sachgemäß auf philosophische Weise. Anderenfalls verirrt man sich in den fruchtlosen Spitzfindigkeiten, die für streitlustige Debattierer zum Selbstzweck werden. Die Erforschung der abgestuften Wirklichkeit Sokrates veranschaulicht das Gemeinte anhand von Beispielen. „Sprachlaut“ und „Ton“ sind allgemeine Begriffe, die eine unbegrenzte Vielfalt von einzelnen akustischen Phänomenen umfassen. Sprache besteht aus Lauten, Musik aus Tönen. Wem nur die Allgemeinbegriffe „Laut“ und „Ton“ und die Existenz einer Fülle von entsprechenden Einzelphänomenen bekannt sind, der besitzt noch keinerlei brauchbares Wissen. Sprachkundlich oder musikalisch kompetent ist nur, wer über die Anzahl und die Arten der relevanten Laute oder Töne Bescheid weiß, wer also die einzelnen Elemente der jeweiligen Menge vollständig und korrekt klassifizieren kann. Zu diesem Zweck geht man vom allgemeinsten Oberbegriff aus, der Gattung „Sprachliche Verlautbarung“ oder „Ton“. Man stellt fest, aus welchen Untergattungen diese Gattung besteht und wie diese wiederum in Arten und Unterarten zerfallen. So schreitet man vom Allgemeinen zum Besonderen voran und erfasst die Struktur des betreffenden Wissensgebiets. Auf dem Gebiet der sprachlichen Laute beispielsweise stellt sich heraus, dass sie in Konsonanten und Vokale zerfallen. Bei den Konsonanten sind stimmlose und stimmhafte zu unterscheiden, und die stimmlosen weisen wiederum zwei Unterarten auf. Auf der untersten Ebene gelangt man dann zu den einzelnen Lauten, die nicht weiter unterteilbar sind. Man findet heraus, wie viele von ihnen es gibt und zu welchen Klassen sie jeweils gehören. Analog ist mit den Oberbegriffen „Lust“ und „Einsicht“ (oder „Vernunft“) zu verfahren, wenn man sachkundig werden will. Dieses System der methodisch durchgeführten Begriffseinteilung ist heute unter der Bezeichnung Dihairesis (Dihärese) bekannt. Die Einordnung von Lust und Vernunft in ein Klassifikationssystem Zunächst bringt Sokrates allerdings noch eine andere Überlegung vor, mit der er auf die Ausgangsfrage nach der Rangordnung der Güter zurückkommt. Er schlägt vor, die Möglichkeit zu prüfen, dass weder die Lust noch die Vernunft das höchste Gut ist, sondern ein Drittes, das beiden überlegen ist. Das höchste Gut kann nur „das Gute“ sein, das schlechthin Gute, das von nichts übertroffen wird und dem zur Vollkommenheit nichts fehlt. Dies kann aber weder auf die Lust noch auf die Vernunft zutreffen. Ein angenehmes Leben ohne Verstandesfunktion wäre dem eines niederen Tieres ähnlich, das sich weder der Vergangenheit noch der Zukunft bewusst ist und nicht einmal sein gegenwärtiges Wohlbefinden zu schätzen weiß, und ein vernünftiges Leben ohne Empfindungsfähigkeit erscheint nicht als erstrebenswert. Benötigt werden somit beide Faktoren, und keiner von beiden kann mit dem schlechthin Guten gleichgesetzt werden. Zu klären bleibt, welcher von ihnen wertvoller ist. Protarchos befürchtet, dass die Lust schlecht abschneiden wird, will aber nicht von dem Bemühen um Wahrheit ablassen. Bevor die neue Untersuchung beginnen kann, ist die allgemeine Frage nach der Klassifikation der Gesamtheit des Seienden zu klären. Die gesamte Wirklichkeit lässt sich in vier Gattungen einteilen: das Unbegrenzte (ápeiron) oder die Grenzenlosigkeit, die Begrenzung (péras) oder das Grenzartige, das aus diesen beiden Zusammengemischte und die Ursache der Vermischung. Alles beliebig Steigerungs- und Verminderungsfähige wie „warm“ und „kalt“, „groß“ und „klein“, „schnell“ und „langsam“ zählt zur Gattung des Unbegrenzten, während Gleichheit und alle mathematisch ausdrückbaren Gegebenheiten als bestimmte Größen zum Grenzartigen gehören. Die Mischung dieser beiden Gattungen kommt dadurch zustande, dass dem seiner Natur nach Unbegrenzten bestimmte Grenzen gesetzt werden und so von Zahlen abhängende Strukturen entstehen. Beispielsweise entsteht Musik durch eine bestimmte Mischung von Hohem und Tiefem, Schnellem und Langsamem, die auf Zahlenverhältnissen beruht. Auch die Gesundheit ist eine bestimmte Mischung von Faktoren, die für sich allein genommen Exzess und Krankheit bewirken würden. Solche Mischungen erfolgen nicht willkürlich und beliebig, sondern sind geordnet und maßvoll. Ihre Ursache – die vierte Gattung – ist das, was das tendenziell Unbegrenzte durch Maß und Ordnung bändigt, für die richtigen Mischungsverhältnisse sorgt und damit alles Schöne und Wertvolle erzeugt. In diese Klassifizierung werden nun Lust und Unlust eingeordnet. Mit „Lust“ sind alle angenehmen Gefühle gemeint, mit „Unlust“ alle unangenehmen. Beide zählen zum beliebig Steigerungsfähigen und somit Unbegrenzten. Das aus ihnen gemischte menschliche Leben ist der dritten Gattung zuzurechnen, den durch Begrenzung von Unbegrenztem entstandenen Dingen. Der Vernunft kommt die Aufgabe zu, für das richtige Mischungsverhältnis zu sorgen. Somit gehört sie zur vierten Gattung, zu den Ursachen der Mischung, die dem Ungeordneten und Maßlosen Struktur verleihen. Dies gilt nicht nur für die Vernunft im Menschen, sondern analog auch für die Vernunft, die im gesamten Kosmos waltet und ihn ordnet. Die Weltvernunft sorgt beispielsweise für die regelmäßigen Bewegungen der Himmelskörper und den Wechsel der Jahreszeiten. Vernünftig kann nur Beseeltes sein; wie im Menschen die Vernunft eine Seele voraussetzt, muss auch der vernünftig und schön geordnete Kosmos eine Seele, die Weltseele, aufweisen. Die nähere Untersuchung von Lust und Unlust Zwei Hauptarten von Lust und Unlust Mit dem nächsten Untersuchungsschritt kehrt Sokrates zur Frage nach den Arten der Lust und der Unlust zurück. Dabei geht er von der Entstehung beider Zustände des menschlichen Gemüts aus. Deren Ursache sieht er in der Gattung. Damit meint er nicht die Gattung, zu der Lust und Unlust gehören, sondern diejenige des Gemüts, denn das Gemüt ist der Ort beider Zustände, insoweit sie im Menschen konkret auftreten. Das Gemüt zählt zur Gattung der durch Begrenzung von Unbegrenztem entstandenen, also durch Mischung charakterisierten Dinge. In den Lebewesen hat die Natur durch vernünftiges Zusammenmischen und Begrenzen von tendenziell unbegrenzten Faktoren eine harmonische Ordnung erzeugt. Diese zeigt sich unter anderem in der Gesundheit. Ein solcher harmonischer Zustand ist weder von Lust noch von Unlust geprägt. Beide treten erst auf, wenn die Harmonie gestört wird und sich auflöst. Jede solche Störung wird als Schmerz empfunden; ihre Behebung wird als Rückkehr zur natürlichen Harmonie von einem Lustgefühl begleitet. Beispielsweise sind Hunger und Durst Formen von Unlust, die aus Mangelzuständen – Störungen einer natürlichen Balance – resultieren; ihre Beseitigung durch Behebung des Mangels ist mit Lust verbunden. Ebenso ruft ein widernatürliches Übermaß an Hitze oder Kälte Unlust hervor, während die Rückkehr zur Harmonie durch Abkühlung bzw. Erwärmung ein angenehmes Gefühl bewirkt. Bei den genannten Erscheinungen handelt es sich um eine erste Art von Lust und Unlust, die von aktuellen körperlichen Verhältnissen hervorgerufen wird. Eine zweite Art entsteht in der Seele durch die bloße Erwartung von Lustvollem und Schmerzhaftem; ihre Ursache ist die Erinnerung an entsprechende Erfahrungen. Ferner ist zu beachten, dass es auch einen dritten Zustand neben dem lustvollen und dem schmerzvollen gibt. Das ist der harmonische und ungestörte, bei dem Lust und Unlust nicht im Übermaß vorkommen. Das Vermeiden starker Schwankungen zwischen Vergnügen und Schmerz ist für eine von der Vernunft geprägte Lebensweise charakteristisch. Anschließend wendet sich Sokrates der Art von Lust und Unlust zu, die keine Reaktion auf aktuelle körperliche Vorgänge ist. Sie wird von Vorstellungen ausgelöst, die sich aus der Erinnerung ergeben. Hier geht es um eine Lust, die von der Seele allein ohne den Körper erzeugt wird. Die Seele sucht in der Welt ihrer Erinnerungen und Vorstellungen nach Lust. Solches Streben äußert sich als Begierde nach etwas. Begierde ist immer ein Erstreben des Gegenteils des gegenwärtigen Zustands; Leere ruft das Bedürfnis nach Fülle hervor. Das Gegenteil muss man bereits kennen, um es erstreben zu können. Dazu ist nur die Seele in der Lage, denn nur sie verfügt über Erinnerungen. Der Körper ist auf die Gegenwart beschränkt und kann daher nichts begehren. Somit sind alle Begierden rein seelischer Natur. Wahrheit und Einbildung bei Lust und Unlust Als Nächstes wird die Mischung von Lust und Unlust näher ins Auge gefasst. Dabei stellt sich die Frage, was diese Empfindungen mit Realität und Illusion zu tun haben. Durch das Zusammentreffen von Empfindungen, die vom Körper ausgelöst werden, mit rein seelisch bedingten Gefühlen entstehen unterschiedliche Mischungen von Lust und Schmerz. Wenn jemand unter einem körperlichen Mangelzustand – einer „Leere“ – leidet, wird sein Schmerz durch seine gleichzeitigen Vorstellungen entweder gelindert oder verstärkt, je nachdem, ob er die Wiedererlangung der ersehnten Fülle erwartet oder die Erinnerung an die Fülle mit Hoffnungslosigkeit verbunden ist. Vorstellungen und Erwartungen, die Gefühle erzeugen, können realistisch oder irrig sein. Somit weisen sie jeweils ein bestimmtes Verhältnis zu Wahrheit und Unwahrheit auf. Ebenso stehen nach Sokrates’ These auch die von ihnen hervorgerufenen Empfindungen von Lust und Unlust in einer Beziehung zu Wahrheit und Unwahrheit. Das bedeutet, dass es „wahre“ und „falsche“ Lust gibt. Eine im Traum oder im Wahnsinn erlebte Lust ist von anderer Qualität als eine, die einen Bezug zur Wirklichkeit hat. Man muss zwischen begründeter und illusorischer Lust und Unlust unterscheiden; eine Lust auf illusorischer Basis ist falsch, ihr fehlt der Wahrheitsbezug. Protarchos sieht das anders. Für ihn hat Lust immer dieselbe Beschaffenheit, mag ihre Ursache real oder nur eingebildet sein. Eine Meinung kann falsch sein, Lust hingegen ist immer durch ihre bloße Existenz „wahr“. Allerdings gibt Protarchos zu, dass sowohl Meinungen als auch Lüsten die Eigenschaft Schlechtigkeit zukommen kann. Davon geht die Gegenargumentation des Sokrates aus, der Analoges für die Falschheit behauptet: Wie eine Meinung kann auch eine Freude oder ein Schmerz verfehlt sein. Bei den Meinungen hängen die Qualitäten „falsch“ und „richtig“ vom Wahrheitsgehalt ab. Diese Bestimmung will Sokrates auf die zugehörigen Empfindungen übertragen: Es ist möglich, Vergnügen oder Schmerz über etwas nur deswegen zu empfinden, weil man sich darüber irrt. Dann hat man nicht nur eine falsche Meinung darüber, sondern auch das Vergnügen oder der Schmerz beruht auf einer falschen Voraussetzung, ist verfehlt und somit „falsch“. Das lehnt Protarchos ab. Er hält daran fest, dass nur die Meinung falsch sei. Die Lust ebenfalls „falsch“ zu nennen findet er abwegig. Meinungen ergeben sich, wie Sokrates nun ausführt, aus dem Vergleich von Wahrnehmungen mit Erinnerungen an frühere Wahrnehmungen. Dieser Vergleich kann aber fehlgehen; Wahrnehmungen und die Erinnerungen an sie können irrtumsbehaftet sein. Sokrates vergleicht die Seele, in der die Erinnerungen aufgezeichnet sind, mit einem Buch, das wahre und falsche Berichte enthält, die ein Schreiber dort aufgezeichnet und ein Maler illustriert hat. Die Aufzeichnungen im Gedächtnis samt den Bildern lösen in der Seele, die sie betrachtet, Hoffnungen und Befürchtungen, angenehme und unangenehme Gefühle aus. Da aber manche Aufzeichnungen falsch sind und vieles von dem Erhofften oder Befürchteten nicht eintreten wird, ist auch die von solchen Erinnerungen und Erwartungen erzeugte Lust und Unlust illusorisch. Ebenso wie eine unzutreffende Meinung hat sie kein Korrelat in der Realität und ist somit falsch. Schlechte Menschen haben falsche Aufzeichnungen, sie leben in Illusionen und ihre Freuden sind „falsch“, denn sie sind nur lächerliche Nachahmungen wahrer Freuden. Die Schlechtigkeit schlechter Lüste beruht auf ihrer Falschheit. Protarchos stimmt einem Teil dieser Überlegungen zu, widerspricht aber der letzten These: Ihm leuchtet nicht ein, dass Schlechtigkeit zwangsläufig auf Falschheit zurückzuführen sein soll. Aus seiner Sicht können Lust und Unlust zwar schlecht sein, insoweit sie mit Schlechtem zusammenhängen, aber diese Schlechtigkeit ist nicht wie bei den Meinungen eine Folge ihrer Falschheit, sie besteht nicht in einem bestimmten Verhältnis zu Wahrheit und Unwahrheit. Darauf bringt Sokrates ein neues Argument vor. Er weist darauf hin, dass das Urteil über die Stärke von Lüsten und Schmerzen davon abhängt, welchen Gesichtspunkt man ihnen gegenüber einnimmt, wenn man sie vergleichend einschätzt. Diese Abhängigkeit von der Perspektive vergleicht er mit optischen Täuschungen, um zu zeigen, dass es bei Lüsten ebenso wie bei Sinneseindrücken Falsches geben kann. Lustvolles, leidvolles und maßvolles Leben Nun wählt Sokrates einen neuen Ansatz. Den Ausgangspunkt bildet die Beobachtung, dass nur relativ starke körperliche Veränderungen wahrgenommen werden und Lust und Unlust hervorrufen. Daher gibt es nicht nur ein lustgeprägtes und ein leidgeprägtes Leben, sondern auch eine dritte, neutrale Lebensweise, bei der Lust und Schmerz kaum in Erscheinung treten, da die Schwankungen des Körperzustands schwach sind. Mit dieser Feststellung wendet sich Sokrates gegen die Lehre bestimmter einflussreicher Philosophen, die nur zwischen Lust und Unlust unterscheiden und behaupten, die Lust bestehe in nichts anderem als der Schmerzlosigkeit oder der Freiheit von Unlust, also im neutralen Zustand. Indem diese Denker die Lust als bloße Abwesenheit von Unlust definieren, billigen sie ihr keine eigenständige Realität zu. Damit erweisen sie sich als die schärfsten Gegner des Hedonismus. Eine Argumentation der lustfeindlichen Philosophen könnte lauten: Die stärksten Formen von Lust und Unlust erzeugen die größten Begierden. Kranke erleben schwerere Mangelzustände als Gesunde. Daher haben sie heftigere Begierden und verspüren bei deren Befriedigung stärkere Lust. Ihre Lust übertrifft zwar nicht der Menge nach, aber der Intensität nach die der Gesunden. Ebenso verhält es sich mit den Ausschweifenden, die zum Exzess neigen: Ihre Lust ist intensiver als die der Besonnenen und Maßvollen, die nichts übertreiben. Das bedeutet: Ein schlechter Zustand von Körper und Seele ermöglicht die größte Lust. Somit hat die Lust ihren Ursprung nicht in der Vortrefflichkeit (aretḗ), sondern in deren Gegenteil. Zwecks Prüfung des Arguments fasst Sokrates zunächst die drei Lustarten ins Auge: die nur körperlich bedingten, die rein seelischen und die, die von beiden Faktoren bewirkt werden. Dabei zeigt sich, dass bei allen drei Typen die intensivsten Lüste keineswegs besonders rein – also frei von Unlustaspekten – sind. Vielmehr sind sie alle durch eine erhebliche Unlustbeimischung gekennzeichnet. Bei den rein seelischen Lüsten kann man dies gut im Theater beobachten, etwa bei einer Tragödie, wo die Zuschauer zugleich Tränen vergießen und sich freuen. Auch in der Komödie tritt die Mischung zutage: Das Publikum lacht, verspürt also Lust, aber das Vergnügen beruht auf Missgunst, einer negativen Emotion, die eine Form von Unlust darstellt. Es handelt sich um Freude über ein Übel. Man freut sich darüber, dass die Theaterfiguren lächerlich sind und ihrer Unwissenheit und Unfähigkeit zum Opfer fallen. So mischen sich Lust und Unlust. Das geschieht nicht nur beim Betrachten des Geschehens im Theater, sondern auch in der Tragödie und Komödie des Lebens. Wie mit der Missgunst verhält es sich auch mit Gefühlen wie Zorn, Sehnsucht, Trauer, Furcht und Eifersucht. Sie alle sind nicht rein, sondern aus Lust und Unlust gemischt. Sokrates hat gezeigt, dass viele vom Menschen begehrte Genüsse – besonders die intensivsten – nicht als Zustände reiner Lust zu erklären sind, sondern jeweils auf einer bestimmten Mischung von Lust und Unlust beruhen. Auch unter diesem Gesichtspunkt erweist sich die Bezeichnung „falsche Lust“ als berechtigt. Wahr oder echt sind demnach nur reine Lüste, also Lüste, die weder aus der Beseitigung einer Unlust entstehen noch selbst eine Beimischung von Unlust aufweisen. Die reinen Lüste bestehen, wie Sokrates nun ausführt, keineswegs in der Abwesenheit von Unlust, sondern haben eine eigene Realität und Beschaffenheit. Sie beziehen sich beispielsweise auf schöne Farben und Gestalten sowie auf angenehme Gerüche und Töne. Hierzu gehört auch die Freude am Lernen, am Gewinn von Erkenntnissen. Solche Freuden sind im Gegensatz zu den heftigen Lüsten maßvoll. Sokrates betont, dass es nur auf die Reinheit der Lust, nicht auf ihre Menge oder Intensität ankomme; die geringste reine Lust sei angenehmer, schöner und wahrhaftiger als die größte unreine. Die Vergänglichkeit der Lust Sokrates schneidet nun ein weiteres Thema an: das Verhältnis der Lust zum Sein und zum Werden. Damit bezieht er sich auf die philosophische Unterscheidung zwischen dem ewigen, vollkommenen und autarken Seienden einerseits und dem vergänglichen, unvollkommenen und abhängigen Werdenden andererseits. Das Seiende ist Ursache, das Werdende wird verursacht. Alle Lust entsteht und vergeht. Da sie dem Bereich des Verursachten und Vergänglichen angehört, kommt ihr kein wahres Sein zu, sondern nur ein Werden. Daraus ist ihre Minderwertigkeit ersichtlich, denn alles Werdende und dem Verfall Ausgesetzte ist von Natur aus mangelhaft und hat immer Bedarf nach etwas anderem. Hier kehrt Sokrates zur Ausgangsfrage des Dialogs zurück. Sein Argument lautet: Alles Werdende ist auf ein ihm übergeordnetes Seiendes ausgerichtet. Das Werden ist kein Selbstzweck, sondern jeder Werdeprozess findet um eines Seins willen statt. Das Gute als höchster Wert kann somit nicht etwas sein, was um eines anderen willen entsteht, sondern nur das, um dessentwillen Werdendes entsteht. Damit meint Sokrates gezeigt zu haben, dass die Gleichsetzung der Lust mit dem Guten lächerlich ist. Er fügt noch weitere Argumente hinzu. Protarchos sieht die Schlüssigkeit der Beweisführung ein. Die Untersuchung der Vernunft Nach der Untersuchung des Werts der Lust unterwirft Sokrates die Vernunft und das Wissen einer analogen Prüfung. Wiederum geht es um die Frage der „Reinheit“ und „Wahrheit“, hier bezogen auf die Genauigkeit und Zuverlässigkeit der Ergebnisse, welche die einzelnen Wissensgebiete – Handwerkskünste und Wissenschaften – liefern. Betrachtet man die Brauchbarkeit der Wissensgebiete unter diesem Aspekt, so zeigt sich die Überlegenheit der Fächer, in denen gerechnet und gemessen wird, über die weniger exakten, in denen man sich auf Beobachtung und Abschätzung verlassen muss. Zugleich ergibt sich, dass die reine Theorie, die von absoluten Gegebenheiten handelt, der Empirik, die sich nur mit Annäherungen befasst, prinzipiell überlegen ist. In diesem Sinne steht die reine Geometrie über der Baukunst als angewandter Geometrie. Von ausschlaggebender Bedeutung für die Wissenschaftssystematik ist die Qualität der Herangehensweise. In dieser Hinsicht ist die Dialektik, die fachkundige, systematische Analyse nach den Regeln der Logik, allen anderen Wissenschaften überlegen. Ihr gebührt der Vorrang, weil sie die klarsten und genauesten Ergebnisse mit dem höchsten Wahrheitsgrad liefert. Ihr Objekt ist der Bereich des unwandelbaren Seins, dem absolute Reinheit und Wahrheit zukommt. Je unbeständiger etwas ist, desto ferner ist es der Wahrheit. Über Veränderliches kann es kein zuverlässiges Wissen geben. Die Rangordnung der Güter Aus den bisherigen Überlegungen ergibt sich die Rangordnung der Güter. Die Vernunft ist dem Wahren, dem Wirklichen, dem absolut Guten näher als die Lust, daher steht sie in der Rangordnung über ihr. Allerdings ist die Vernunft nicht mit dem Guten identisch, denn sonst würde sie allein dem Menschen genügen und die Lust wäre überflüssig. Bei der Bestimmung dessen, was hinsichtlich des menschlichen Lebens das Gute ist, greift Sokrates auf die bereits gewonnene Erkenntnis zurück, dass das Leben aus Lust und Unlust gemischt ist und es daher auf die richtige Mischung ankommt. Menschliches Leben ist eine Mischung unterschiedlicher Faktoren. Nun erhebt sich die Frage, welche Arten des Wissens in die Mischung aufgenommen werden sollen. Es stellt sich heraus, dass nicht nur das höchste und zuverlässigste Wissen, die reine Theorie, für ein gelungenes Leben benötigt wird, sondern auch manches empirische und technische Wissen trotz seiner Ungenauigkeit erforderlich ist. Da kein untergeordnetes Wissen jemals schaden kann, wenn das übergeordnete vorhanden ist, sind alle Wissensarten willkommen. Anders verhält es sich hingegen mit der Lust. Die größten und heftigsten Lüste sind sehr schädlich, da sie die Erkenntnisse zugrunde richten. Daher dürfen nur die „wahren“ Lüste, die rein sind und mit der Besonnenheit in Einklang stehen, zugelassen werden. Nun ist zu untersuchen, was denn die gute, wertvolle Mischung, die ein gelungenes Leben ermöglicht, ausmacht. Es stellt sich die Frage, ob dieser ausschlaggebende Faktor eher der Lust oder der Vernunft verwandt ist. Sokrates hält die Antwort für einfach, ja sogar für trivial, denn jeder Mensch kenne sie: Die Qualität einer Mischung hänge immer vom richtigen Maß und der Verhältnismäßigkeit ab. Bei deren Fehlen herrsche immer ein verderbliches Chaos. Das rechte Maß offenbare sich in der Gestalt von Schönheit und Vortrefflichkeit. Außerdem müsse auf jeden Fall Wahrheit beigemischt werden. Im menschlichen Leben trete das Gute nicht unmittelbar in seiner Einheit in Erscheinung, es lasse sich aber als Schönheit, Angemessenheit und Wahrheit fassen. Die Wirksamkeit des Guten habe „bei der Natur des Schönen Zuflucht gefunden“. Aus diesen Überlegungen ergibt sich schließlich die genaue Bestimmung der hierarchischen Rangordnung der Güter. Die Vernunft ist der Lust weit überlegen, da sie sowohl an der Wahrheit als auch am Maß und an der Schönheit mehr Anteil hat. Das höchste der Güter unterhalb des schlechthin Guten ist das rechte Maß, an zweiter Stelle folgt das Schöne, an dritter die Vernunft. Den vierten Rang nehmen die Wissenschaften, Künste und wahren Meinungen ein, den fünften die reinen Lüste. An diesem Befund ändert sich auch dann nichts, wenn alle Ochsen, Pferde und sonstigen Tiere zusammen für den Vorrang der Lust eintreten, indem sie ihr nachjagen. Protarchos stimmt dem auch im Namen des Philebos zu. Philebos äußert sich nicht mehr. Philosophischer Gehalt Den Ausgangspunkt der Diskussion bildet die alte, schon bei Hesiod thematisierte Streitfrage, ob der Lust oder der Vernunft, Erkenntnis und Tugend der Vorrang gebührt. Platon beschränkt sich aber nicht auf die Klärung dieser Frage, sondern nimmt das Thema zum Anlass, eine philosophische Theorie der gesamten Wirklichkeit des Seienden und des Werdenden zu skizzieren. Ein Hauptgedanke, der im Philebos herausgearbeitet wird, ist die außerordentliche Bedeutung des Maßes. Die Abgemessenheit und Verhältnismäßigkeit spielt für Platons Sokrates sowohl in der Weltordnung als auch im menschlichen Leben eine zentrale Rolle als Grundlage alles Guten und Schönen. Ihr wird die Unmäßigkeit hedonistischer Ausschweifung als Kontrast gegenübergestellt. Die Betonung der mathematischen Weltordnung und ihrer philosophischen Erforschung sowie des Gegensatzpaars Begrenztheit und Grenzenlosigkeit lässt den Einfluss pythagoreischen Gedankenguts erkennen. Schwierigkeiten bereitet die Verbindung der von Platons Sokrates eingeführten vier Klassen des Seienden mit der platonischen Ideenlehre. Umstritten ist die Frage, ob die Klassen – oder zumindest ein Teil von ihnen – als Ideen aufzufassen sind. Insbesondere die Annahme, dass auch das Unbegrenzte eine Idee sei, ist problematisch und wird kontrovers diskutiert. Außerdem ist diskutiert worden, ob die Ideen in eine der vier Gattungen einzuordnen oder mit einer von ihnen zu identifizieren sind. Außerdem ist unklar, welche Rolle die Ideenlehre im Philebos spielt. Da sie nicht ausdrücklich thematisiert wird, ist vermutet worden, dass sie hier nicht präsent sei. Diese Annahme passt zu der Hypothese, Platon habe sich in seiner letzten Schaffensperiode von der Ideenlehre distanziert, er habe sie aufgegeben oder zumindest für revisionsbedürftig gehalten. Allerdings legt sein Sokrates im Philebos großes Gewicht auf die Unterscheidung zwischen dem übergeordneten Bereich des unveränderlichen Seins und der von diesem abhängigen Welt des Entstehens und Vergehens. Somit hat Platon zumindest an einem Kernbestandteil des Konzepts, das der Ideenlehre zugrunde liegt, festgehalten. Die Frage, ob er seine Grundposition geändert hat, ist in der Forschung stark umstritten. Die Auffassung der „Unitarier“, die meinen, er habe durchgängig eine kohärente Sichtweise vertreten, steht der „Entwicklungshypothese“ der „Revisionisten“ entgegen, die ein Abrücken von der Ideenlehre oder zumindest von deren „klassischer“ Variante annehmen. Aus unitarischer Sicht wird das im Philebos dargelegte Weltbild als Antwort auf die Problematisierung der Ideenlehre im Dialog Parmenides interpretiert. Formulierungen wie „Werden zum Sein“ (génesis eis ousían) deuten auf Platons Auseinandersetzung mit der Frage, wie der Zusammenhang zwischen den beiden wesensverschiedenen Bereichen des Seins und des Werdens zu erklären ist. Dieses Problem, das in der modernen Forschung mit dem Fachbegriff Chorismos bezeichnet wird, hat ihn stark beschäftigt. Besonders intensiv wird über die schwierige Interpretation und die Schlüssigkeit von Sokrates’ Argumentation zur Begründung der „Falschheit“ von Lüsten diskutiert. Dabei geht es um die Fragen, was genau der Begriff „falsch“ in diesem Zusammenhang bedeutet und auf welchen Aspekt bestimmter Lüste er sich bezieht. Erörtert wird, ob für Platons Sokrates eine falsche Lust wegen ihres illusionären Charakters keine wirkliche Lust ist, sondern nur scheinbar zu den Lüsten zählt, oder ob es sich um eine Falschheit analog der Irrigkeit einer Meinung handelt. In letzterem Fall ist die Falschheit ein Defekt, der nicht verhindert, dass tatsächlich eine Lust vorliegt. Ein weiteres Thema von kontroversen Debatten ist das Verhältnis der Metaphysik des Philebos zu Platons „ungeschriebener Lehre“ oder „Prinzipienlehre“, die er aus grundsätzlichen Erwägungen niemals schriftlich fixiert hat. Einer stark umstrittenen Forschungsmeinung zufolge kann diese Lehre aus einzelnen Andeutungen in den Dialogen und Angaben in sonstigen Quellen in den Grundzügen rekonstruiert werden („Tübinger und Mailänder Platonschule“, „Tübinger Paradigma“). Vertreter dieser Hypothese meinen auch im Philebos Hinweise auf die Prinzipienlehre entdeckt zu haben oder Äußerungen im Dialog im Licht der Prinzipienlehre erklären zu können. Nach einer auf diesem Verständnis basierenden Interpretation entsprechen die im Philebos verwendeten Ausdrücke „Begrenzung“ und „das Unbegrenzte“ den Begriffen „das Eine“ (to hen, Einheit) und „unbegrenzte“ oder „unbestimmte“ Zweiheit (ahóristos dyás) der Prinzipienlehre. Das „Mehr und Weniger“ im Philebos, die Steigerungs- und Verminderungsfähigkeit, ist demnach „das Große und Kleine“ oder „das Groß-Kleine“ (to méga kai to mikrón) der Prinzipienlehre; mit diesem Begriff soll Platon die unbestimmte Zweiheit beschrieben haben. Ferner wird diskutiert, ob Platon eine Gesamtdeutung der Lust vorlegt, die alle Arten von Lust umfasst, oder ob die Arten für ihn so fundamental verschieden sind, dass er auf eine allgemeingültige Bestimmung der Natur der Lust verzichtet. Die erstgenannte Interpretation ist die traditionelle und vorherrschende. Mark Moes stellt ein therapeutisches Ziel des Dialogs in den Vordergrund. Nach seiner Deutung geht es in erster Linie darum, dass Sokrates als Therapeut, als „Seelenarzt“ auftritt, der analog dem Vorgehen eines Arztes zuerst eine Diagnose stellt und sich dann der Therapie zuwendet. Demnach geht es um die Gesundheit der Seele, die Sokrates durch den Hedonismus geschädigt sieht. Seine Bemühungen zielen darauf ab, Protarchos zu heilen, indem er ihn zur rechten Lebensweise hinführt. Diese Wirkung soll auch bei hedonistisch gesinnten Lesern erzielt werden. Entstehung In der Forschung besteht nahezu Einmütigkeit darüber, dass der Philebos zu den späten Dialogen Platons zählt. Dafür sprechen sowohl der sprachstatistische Befund als auch die inhaltliche Nähe zu anderen späten Werken, insbesondere zum Timaios. Allerdings ist die maßgebliche Rolle der Figur des Sokrates für das Spätwerk untypisch. Vereinzelt wird eine etwas frühere Datierung – Entstehung in der letzten Phase von Platons mittlerer Schaffensperiode – vorgezogen. Für eine genauere Einordnung innerhalb der Gruppe der späten Dialoge fehlt es an ausreichenden Anhaltspunkten. Die Hypothese, dass der Philebos Platons Reaktion auf den Hedonismus des Eudoxos von Knidos darstellt, hat zur Vermutung geführt, dass die Abfassung bald nach 360 v. Chr. zu datieren ist, doch ist dies sehr unsicher. Textüberlieferung Die antike Textüberlieferung beschränkt sich auf wenige kleine Papyrus-Fragmente. Die älteste erhaltene mittelalterliche Philebos-Handschrift wurde im Jahr 895 im Byzantinischen Reich für Arethas von Caesarea angefertigt. Die Textüberlieferung des Philebos ist wegen mancher Korruptelen problematischer als diejenige anderer Dialoge, sie stellt somit die Textkritik vor besondere Herausforderungen. Rezeption Antike und Mittelalter Platons Schüler Aristoteles setzte sich intensiv mit der platonischen Lustlehre auseinander. Dabei erwähnte er den Philebos zwar nirgends namentlich, doch nahm er öfters inhaltlich auf ihn Bezug. Außerdem hatte er ihn möglicherweise bei seinen Angaben über die ungeschriebene Lehre im Sinn. Aristoteles’ Schüler Theophrast widersprach der These von Platons Sokrates, es gebe eine falsche Lust, und bekannte sich zu der Auffassung des Protarchos, alle Lustaffekte seien „wahr“. In der Tetralogienordnung der Werke Platons, die anscheinend im 1. Jahrhundert v. Chr. eingeführt wurde, gehört der Philebos zur dritten Tetralogie. Der Philosophiegeschichtsschreiber Diogenes Laertios zählte ihn zu den „ethischen“ Schriften und gab als Alternativtitel „Über die Lust“ an. Dabei berief er sich auf eine heute verlorene Schrift des Gelehrten Thrasyllos. Der Rhetor und Literaturkritiker Dionysios von Halikarnassos schätzte den Philebos; er vermerkte lobend, Platon habe in diesem Werk den sokratischen Stil bewahrt. Der berühmte Arzt Galen verfasste eine heute verlorene Schrift „Über die Übergänge im Philebos“, worin er die Verfahren des Schließens im Dialog untersuchte. In der Zeit des Mittelplatonismus (1. Jahrhundert v. Chr. bis 3. Jahrhundert) fand der Philebos bei den Platonikern anscheinend wenig Beachtung. Plutarch versuchte die vier Klassen des Seienden, die Platons Sokrates im Philebos unterscheidet, mit den im Dialog Sophistes benannten fünf „größten Gattungen“ zu verbinden, indem er eine fünfte Klasse hinzufügte und die Klassen als Abbilder der Gattungen deutete. Im 3. Jahrhundert verfasste ein in Athen lebender Mittelplatoniker namens Eubulos eine heute verlorene Schrift, in der er unter anderem den Philebos behandelte. Auch der Mittelplatoniker Demokritos, der ebenfalls im 3. Jahrhundert lebte, setzte sich mit dem Dialog auseinander; ob er einen Kommentar schrieb, ist unklar. Ein stärkeres Interesse am Philebos zeigten die Neuplatoniker. Ihnen ging es insbesondere um die metaphysischen Aspekte des Dialogs, doch fanden auch die ethischen Beachtung. Plotin († 270), der Begründer des Neuplatonismus, nahm in seiner unter dem Titel Wie die Vielheit der Ideen zustande kam, und über das Gute überlieferten Abhandlung öfters auf den Philebos Bezug. Plotins bekanntester Schüler Porphyrios († 301/305) verfasste einen Philebos-Kommentar, von dem nur Fragmente überliefert sind. Möglicherweise hat auch sein Mitschüler Amelios Gentilianos einen Kommentar geschrieben. Porphyrios’ Schüler Iamblichos († um 320/325), ein führender Vertreter des spätantiken Neuplatonismus, ließ in seiner Schule den Philebos als einen der zwölf aus seiner Sicht wichtigsten Dialoge Platons studieren. Er verfasste einen Kommentar dazu, von dem nur wenige Fragmente überliefert sind. Auch die im 5. Jahrhundert in Athen lehrenden Neuplatoniker Proklos und Marinos von Neapolis kommentierten den Dialog. Marinos, ein Schüler des Proklos, verbrannte seinen langen Kommentar, nachdem der Philosoph Isidor, den er um eine Stellungnahme gebeten hatte, das Werk kritisiert und die Meinung geäußert hatte, der Kommentar des Proklos sei ausreichend. Vielleicht schrieben auch Theodoros von Asine und Syrianos Kommentare. Von diesem Schrifttum ist kein einziges Werk erhalten geblieben. Nur die Nachschrift einer Lehrveranstaltung des Damaskios († nach 538) über den Philebos ist erhalten. Sie wurde früher zu Unrecht Olympiodoros dem Jüngeren zugeschrieben. Damaskios nahm kritisch zur Philebos-Interpretation des Proklos Stellung. Im Mittelalter war der Dialog zwar manchen byzantinischen Gelehrten bekannt, doch die lateinischsprachigen Gebildeten des Westens hatten keinen Zugang zu dem Werk. Frühe Neuzeit Im Westen wurde der Philebos im Zeitalter des Renaissance-Humanismus wiederentdeckt. Der in Florenz tätige berühmte Humanist und Platon-Kenner Marsilio Ficino schätzte ihn sehr. Er fertigte eine lateinische Übersetzung an. Als sein Gönner, der Staatsmann Cosimo de’ Medici, im Juli 1464 auf dem Totenbett lag, las ihm Ficino den lateinischen Text vor. Schon Anfang 1464 hatte Cosimo sein besonderes Interesse am Philebos, „Platons Buch über das höchste Gut“, bekundet, da er nichts eifriger erstrebe als die Kenntnis des sichersten Weges zur Glückseligkeit. Ficino veröffentlichte den lateinischen Philebos 1484 in Florenz in der Gesamtausgabe seiner Platon-Übersetzungen. Außerdem verfasste er einen Kommentar zu dem Dialog, dessen dritte, endgültige Fassung 1496 gedruckt wurde, und hielt vor einem großen Publikum Vorträge über die im Philebos erörterten Fragen. Dabei ging es ihm darum, für den Platonismus zu werben und den Einfluss zeitgenössischer Aristoteliker zurückzudrängen. Die Erstausgabe des griechischen Textes erschien im September 1513 in Venedig bei Aldo Manuzio als Teil der ersten Gesamtausgabe der Werke Platons. Der Herausgeber war Markos Musuros. Thomas More legte in seinem 1516 veröffentlichten Dialog Utopia ein Lustkonzept dar, das seine Auseinandersetzung mit dem Gedankengut des Philebos erkennen lässt. Moderne Philosophische Aspekte Der Philebos gilt als anspruchsvoll und schwer verständlich. Schon 1809 bemerkte der einflussreiche Platon-Übersetzer Friedrich Schleiermacher in der Einleitung zur ersten Auflage seiner Übersetzung des Dialogs: „Von je her hat man dieses Gespräch für eines der wichtigsten, aber auch der schwersten unter den Werken des Platon angesehn.“ In der neueren Forschung wird aber hervorgehoben, dass der Aufbau des Philebos gut durchdacht sei. Gewürdigt werden unter anderem die Affektlehre und der Ansatz zu einer Theorie des Komischen, der den ersten überlieferten Versuch dieser Art bildet. Georg Wilhelm Friedrich Hegel fand im Philebos „das Esoterische der Platonischen Philosophie“; darunter sei das Spekulative zu verstehen, das zwar publiziert sei, aber doch verborgen bleibe „für die, welche nicht das Interesse haben, es zu fassen“. Scheinbar gehöre das Vergnügen in den Kreis des Konkreten, doch müsse man wissen, dass die reinen Gedanken das Substantielle seien, wodurch über alles noch so Konkrete entschieden werde. Die Natur des Vergnügens ergebe sich aus der Natur des Unendlichen, Unbestimmten, zu dem es gehöre. Friedrich Wilhelm Joseph Schelling schätzte den Philebos. In seinem 1794 verfassten Aufsatz Timaeus, einem Jugendwerk, setzte er sich mit der Frage nach dem Entstehen einer wahrnehmbaren Welt auseinander. Dabei zog er den Philebos heran. Sein besonderes Interesse galt den vier Gattungen, die er „allgemeine Weltbegriffe“ nannte, und dem „Werden zum Sein“. Er betonte, die vier Gattungen seien nicht als Begriffe von Entitäten zu verstehen, sie seien nicht Bezeichnungen für etwas Seiendes, sondern Kategorien für alles real Seiende. Das Unbegrenzte sei als das Prinzip der Realität alles Realen zu deuten, auch als Prinzip der Qualität, die Begrenzung als das Prinzip der Quantität und der Form alles Realen. In seinem Dialog Bruno (1802) nahm Schelling bei der Bestimmung des Gegenstands der Philosophie auf den Philebos Bezug. 1903 legte der Neukantianer Paul Natorp seine Abhandlung Platos Ideenlehre vor, in der er auch ausführlich auf den Philebos einging, den er als tief eindringende psychologische Untersuchung bezeichnete. Es handle sich um einen der wichtigsten Dialoge für die platonische Logik. Allerdings habe Platon bedauerlicherweise den Schritt zu einer Wissenschaft vom Werden, einer „logischen Grundlegung der Erfahrungswissenschaft“, trotz entscheidender Schritte in diese Richtung nicht vollzogen, sondern an einem schroffen Gegensatz von Wandelbarem und Unwandelbarem festgehalten. Hans-Georg Gadamer untersuchte den Philebos in seiner 1931 publizierten Marburger Habilitationsschrift eingehend aus phänomenologischer Sicht. Auch später befasste er sich intensiv mit dem Dialog, den er hermeneutisch interpretierte. Er versuchte anhand des Philebos zu zeigen, dass die Idee des Guten nach Platons Auffassung im menschlichen Leben immanent und ein Aspekt gelebter Erfahrung sei. Damit rückte er Platons Denkweise in die Nähe derjenigen des Aristoteles; er meinte, im Philebos sei aristotelisches Gedankengut vorweggenommen. Mit diesem Ansatz der Habilitationsschrift stand er unter dem Einfluss seines Lehrers Martin Heidegger, von dessen Sichtweise er sich jedoch später teilweise distanzierte. Im Rahmen eines an Heidegger orientierten Verständnisses fand Gadamer Platons Gedanken einer „wahren“ oder „falschen“ Lust nachvollziehbar. Die so aufgefasste Lust sei „wahr, sofern in ihr Seiendes als erfreulich vermeint ist, das erfreulich ist“. Die Befindlichkeit der Lust sei immer „verstanden aus ihrem Entdeckthaben des Seienden, ‚an dem‘ man sie hat“. Platon sehe sie „als eine Weise des entdeckenden Begegnenlassens der Welt“. Dieses Lustkonzept entsprach Gadamers eigener Auffassung; er nahm mit Heidegger an, Affekte seien eine eigene Weise des Entdeckens von Seiendem, unabhängig von ihrer Verbindung mit Meinungen. Außerdem vertrat Gadamer die Gleichsetzung des Guten mit dem Schönen, womit er die platonische Ethik „ästhetisierte“. Die Auseinandersetzung mit dem Philebos, insbesondere mit dem dort vorgetragenen Dialektikverständnis, spielte in der Entwicklung von Gadamers Philosophie eine wesentliche Rolle. Der Philosoph Herbert Marcuse befasste sich in seiner 1938 veröffentlichten Schrift Zur Kritik des Hedonismus mit dem Philebos. Er befand, Platon habe als erster Denker den Begriff des wahren und falschen Bedürfnisses, der wahren und falschen Lust erarbeitet und damit Wahrheit und Falschheit als Kategorien eingeführt, die auf jede einzelne Lust anwendbar seien. Damit werde das Glück dem Kriterium der Wahrheit unterworfen. Die Lust müsse der Unterscheidung nach Wahrheit und Falschheit, Recht und Unrecht zugänglich sein, anderenfalls sei das Glück untrennbar mit dem Unglück verbunden. Der Grund der Unterscheidung könne jedoch nicht in der einzelnen Lustempfindung als solcher liegen. Vielmehr werde eine Lust dann unwahr, wenn das von ihr gemeinte Objekt „an sich“ gar nicht lustvoll sei. Die Wahrheitsfrage betreffe aber nicht nur das Objekt, sondern auch das Subjekt der Lust. Platon verbinde das Gutsein des Menschen mit der Wahrheit der Lust und mache so aus der Lust ein moralisches Problem. Damit werde die Lust unter den Anspruch der Gesellschaft gestellt und trete in den Bereich der Pflicht. Indem Platon der „reinen“ Lust, die er als einzige gutheißt, ausschließlich unlebendige Gegenstände als Objekte zuweise, also die vom gesellschaftlichen Lebensprozess am weitesten entfernten Dinge, trenne er sie „von allen wesentlichen personalen Beziehungen“. Der amerikanische Philosoph Donald Davidson, ein einflussreicher Vertreter der analytischen Philosophie, wurde 1949 an der Universität Harvard mit einer Dissertation über den Philebos promoviert. Er vertrat eine „revisionistische“ Position: Platon habe, als er diesen Dialog schrieb, nicht mehr geglaubt, die Ideenlehre könne die Hauptgrundlage eines Ethikkonzepts sein. Den Gedanken einer engen Verbindung zwischen Ideen und Werten habe er aufgegeben. Daher habe er einen neuen Ansatz für seine Ethik finden müssen. Jacques Derrida befasste sich in seinem Essai La double séance („Die zweifache Séance“), der ein Teil seines 1972 publizierten Werks La dissémination ist, mit der Schriftlichkeit und der Mimesis. Als Ausgangspunkt wählte er die Stelle im Philebos, wo die Seele mit einem Buch verglichen wird, das Aufzeichnungen eines Schreibers und Bilder eines Malers enthält. William K. C. Guthrie tadelte einen Mangel an Eindeutigkeit in der Terminologie des Philebos, insbesondere hinsichtlich des Begriffs „Lust“, und meinte, die Argumentation des Sokrates sei nicht überzeugend; seine Ausführungen seien eher ein Glaubensbekenntnis als eine philosophische Untersuchung. Protarchos sei im Gegensatz zu Philebos kein echter Hedonist, denn ein solcher hätte seine Position entschiedener verteidigt. Der Philosoph Karl-Heinz Volkmann-Schluck zählte die im Philebos gebotene Wesensanalyse der Lust „zu dem Größten, was Plato gedacht hat“. Sie sei von Aristoteles fortgesetzt worden, dann aber als zentrales Thema des philosophischen Denkens verschwunden. Erst Friedrich Nietzsche habe das Thema wieder in Angriff genommen. Literarische Aspekte Friedrich Schleiermacher, der den Inhalt des Philebos schätzte, äußerte sich über die literarische Qualität abfällig. Er befand, der Dialog gewähre unter diesem Gesichtspunkt keinen reinen Genuss, wie man ihn von anderen Werken Platons gewohnt sei; der dialogische Charakter trete nicht recht hervor, das Dialogische sei nur noch eine äußere Form. In diesem Sinne äußerte sich auch der renommierte Philologe Ulrich von Wilamowitz-Moellendorff, der die literarische Gestaltung ebenfalls missbilligte; es sei eine Schuldisputation ohne künstlerischen Reiz und nur der Schatten eines sokratischen Dialogs. Die Gesprächsform sei erstarrt, die dramatische Kraft erloschen. Zur Sache habe Platon aber Bedeutendes zu sagen. Nietzsche hielt das „Frage- und Antwortenspiel“ für eine „durchsichtige Hülle für die Mittheilung fertiger Constructionen“. Anderer Ansicht war Paul Friedländer; er meinte, die künstlerische Qualität werde von modernen Lesern meist verkannt. Das mangelnde Verständnis für die „dialogische Lebendigkeit“ zeige sich an der verfehlten Interpunktion in den Textausgaben. Olof Gigon urteilte, die Szenerie wirke nur auf den ersten Blick lebendig, die Lebendigkeit sei bloßer Schein. Es seien keine wirklichen Porträts gezeichnet, sondern es werde gleichsam eine szenische Apparatur routinemäßig abgespielt. Ausgaben und Übersetzungen Gunther Eigler (Hrsg.): Platon: Werke in acht Bänden. Bd. 7, 4. Auflage. Wissenschaftliche Buchgesellschaft, Darmstadt 2005, ISBN 3-534-19095-5, S. 255–443, 447–449 (Abdruck der kritischen Ausgabe von Auguste Diès, 4. 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Artemis, Zürich/München 1974, ISBN 3-7608-3640-2, S. 3–103 (mit Einleitung von Olof Gigon S. VII–XXVI). Literatur Übersichtsdarstellungen Marcel van Ackeren: Das Wissen vom Guten. Bedeutung und Kontinuität des Tugendwissens in den Dialogen Platons. Grüner, Amsterdam 2003, ISBN 90-6032-368-8, S. 258–274. Michael Erler: Platon (Grundriss der Geschichte der Philosophie. Die Philosophie der Antike, hrsg. von Hellmut Flashar, Band 2/2). Schwabe, Basel 2007, ISBN 978-3-7965-2237-6, S. 253–262, 648–651. Peter Gardeya: Platons Philebos. Interpretation und Bibliographie. Königshausen & Neumann, Würzburg 1993, ISBN 3-88479-833-2. Kommentare Seth Benardete: The Tragedy and Comedy of Life. Plato’s Philebus. University of Chicago Press, Chicago/London 1993, ISBN 0-226-04239-1 (englische Übersetzung und Kommentar). Dorothea Frede: Platon: Philebos. Übersetzung und Kommentar (= Platon: Werke, hrsg. von Ernst Heitsch und Carl Werner Müller, Band III 2). 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