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https://de.wikipedia.org/wiki/Quest-Expedition
Quest-Expedition
Die Quest-Expedition (offizieller Name: Shackleton-Rowett-Expedition 1921–1922) war eine Forschungsreise in die Antarktis und zugleich die letzte Expedition des Polarforschers Ernest Shackleton. Die von dem englischen Geschäftsmann John Quiller Rowett finanzierte Entdeckungsfahrt ist nach dem Forschungsschiff Quest benannt. Obwohl Shackleton die Umrundung des antarktischen Kontinents und die Suche nach „verschollenen“ subantarktischen Inseln als Ziele genannt hatte, blieb der genaue Zweck dieser nach eigenen Worten in Bezug auf wissenschaftliche Erkenntniserweiterungen weitgehend unklar. Noch vor dem Erreichen des Zielgebiets starb Shackleton in Grytviken (Südgeorgien) an einem Herzinfarkt. Unter der Leitung von Shackletons Stellvertreter Frank Wild wurde die Expedition mit einem verkürzten Programm fortgesetzt. Die Quest erwies sich jedoch aufgrund ihrer geringen Größe und der schwachen Motorisierung als ungeeignet, weit in das antarktische Packeis vorzustoßen. Stattdessen ließ Wild das Schiff Kurs auf Elephant Island nehmen, wo sechs Jahre zuvor 21 gestrandete Teilnehmer der Endurance-Expedition mehrere Monate auf ihre Rettung gewartet hatten. Im Anschluss daran sollte die Quest für einen weiteren Vorstoß ins Packeis in Kapstadt überholt werden. Dort erreichte Wild und die anderen Expeditionsteilnehmer die in den Quellen unbegründete Order von Rowett, die Expedition abzubrechen und nach England zurückzukehren. Obwohl der wissenschaftliche Erkenntnisgewinn kaum erwähnenswert ist, so ist die Reise zumindest von historischer Bedeutung. Sie markiert das Ende des sogenannten Goldenen Zeitalters der Antarktis-Forschung und den Übergang zu einer technischen Epoche antarktischer Forschungsreisen. Das Ereignis, durch das die Expedition der Öffentlichkeit in Erinnerung blieb und das den Ablauf der Reise überschattete, war der plötzliche Tod Ernest Shackletons. Vorgeschichte und erste Planung Shackleton kehrte von der Endurance-Expedition, bei der er durch seinen persönlichen Einsatz alle Expeditionsteilnehmer vor dem sonst sicheren Tod bewahrt hatte, im Mai 1917 in das unter dem Eindruck des Ersten Weltkriegs stehende England zurück. Obwohl er eigentlich schon zu alt dafür war, meldete er sich als Kriegsfreiwilliger und wurde im Rang eines Majors auf eine Militäroperation nach Nordrussland geschickt. Wenig zufrieden mit seinen Aufgaben schrieb er nach Hause: Nach Kriegsende kehrte Shackleton im März 1919 nach England zurück. Er hoffte auf finanzielle Gewinne durch die Gründung eines Unternehmens, das sich um die wirtschaftliche Förderung der nordwestrussischen Region bemühen sollte. Zu diesem Zweck begab er sich auf die Suche nach weiteren Investoren, doch alle Planungen kamen nach der Machtübernahme der Bolschewiki im Zuge des Russischen Bürgerkriegs zum Erliegen. Während der folgenden fünf Monate um den Jahreswechsel 1919/1920 hielt Shackleton in der Philharmonic Hall in London zweimal täglich an sechs Tagen pro Woche Vorträge über die Endurance-Expedition. Zunehmend ermüdet von dieser Tätigkeit begann er trotz hoher Schulden aus vorangegangenen Unternehmungen, die Möglichkeiten zu einer weiteren Expeditionsreise auszuloten. Shackleton plante, eine Reise in die Arktis zu unternehmen, Dieses Gebiet nördlich von Alaska und westlich des Kanadisch-arktischen Archipels war zu diesem Zeitpunkt noch weitgehend unerforscht. Aufgrund bereits existierender Aufzeichnungen zu Gezeitenströmungen vermutete Shackleton dort große Landmassen, die wären. Außerdem hoffte er, erstmals den nördlichen Pol der Unzugänglichkeit zu erreichen. Im März 1920 wurden seine Pläne von der Royal Geographical Society befürwortet und fanden auch bei der kanadischen Regierung Unterstützung. In der Folgezeit bemühte sich Shackleton um die Finanzierung seines Vorhabens, dessen Kosten er zunächst mit £ 50.000 (heute rund £  [£ 1 =  €]) bezifferte. Dabei traf er seinen alten Schulfreund aus der Zeit am Dulwich College, den erfolgreichen Geschäftsmann John Quiller Rowett (1874–1924). Dieser stellte ihm ein Startkapital zur Verfügung, mit dem Shackleton den norwegischen Robbenfänger Foca I und weitere Ausrüstung kaufen sowie mit der Anwerbung von Expeditionsteilnehmern beginnen konnte. Im Mai 1921 zeichnete sich bei der kanadischen Regierung aufgrund einer angespannten Haushaltslage ein Umdenken ab. Nach einer Reihe von Telegrammen zwischen Shackleton und dem kanadischen Premierminister Arthur Meighen zog die Regierung ihre Zusage, die Expedition finanziell zu unterstützen, zurück. Statt alle Planungen aufzugeben, entschloss sich Shackleton zu einer Neuorientierung. Mitte Mai informierte er seinen alten Gefährten Alexander Macklin (1889–1967), der sich zu dieser Zeit in Kanada zum Kauf von Schlittenhunden für die Expedition aufhielt, dass das neue Ziel die Antarktis sei, um dort ozeanografische Forschungsarbeiten und solche zur Küstenkartografie sowie Studien zum Vorkommen an Mineralien durchzuführen. Vorbereitungen Neuausrichtung, Finanzierung und Ausrüstung der Expedition Bereits vor dem Rückzug der kanadischen Regierung hatte Shackleton Überlegungen zu einer Antarktisexpedition anstelle einer Reise in die Beaufortsee angestellt. Laut der späteren Aussage seines Freundes Hugh Robert Mill (1861–1950), eines langjährigen Bibliothekars der Royal Geographical Society, hatte er schon im März 1920 unterschiedliche Pläne ausgearbeitet. Als Alternative zur Expedition in die Beaufortsee hatte Shackleton nach eigener Aussage vorgesehen. Dazu gehörte die Suche nach „verschollenen“ oder falsch kartografierten subantarktischen Inseln (zum Beispiel Dougherty Island und die Nimrod-Gruppe), die Untersuchung der mineralischen Vorkommen auf diesen Inseln und ein umfangreiches wissenschaftliches Forschungsprogramm. Letzteres beinhaltete Tiefenmessungen vor der Gough-Insel, um einer vermuteten bathyalen Kontinentalverbindung zwischen Afrika und Südamerika nachzugehen. Die Autoren und Shackleton-Biografen Margery und James Fisher bezeichneten diese Pläne als und Nach Meinung des Shackleton-Biografen Roland Huntford hatte die Expedition kein wirkliches Ziel und war Shackleton selbst nannte seine Absichten und bezog sich in dieser Einschätzung insbesondere auf das bei der Expeditionsreise mitgeführte Wasserflugzeug, das schließlich jedoch nicht zum Einsatz kam. Zudem wurden zahlreiche technologische Neuerungen für Forschungsschiffe eingeführt, wie zum Beispiel zwei Exemplare der erst kurz zuvor patentierten Schleuderscheibe, ein Kreiselkompass mit selbstleuchtender Skale, ein elektrisch beheizbarer Ausguck und ein sogenannter Odograph, mit dessen Hilfe die Geschwindigkeit und die Route des Schiffes ermittelt und aufgezeichnet wurden. Trotz schlechter Erfahrungen mit einem Funkwellenempfänger auf der Endurance waren auf der Quest zwei Funkgeräte unterschiedlicher Reichweite installiert. Shackleton hatte bei seinen vorherigen Expeditionen besonderen Wert auf die Dokumentation durch Fotografien und Filmaufnahmen gelegt. Daher wurde auch für diese Reise Für die ozeanografischen Vermessungsarbeiten war der Einsatz einer Lotmaschine vorgesehen. All diese Anschaffungen wurden mit Hilfe der von Rowett stammenden Sponsorengelder finanziert. Dieser hatte sich inzwischen bereiterklärt, die gesamten Kosten der Expedition zu übernehmen, die Shackleton schließlich mit etwa £ 100.000 (heute rund £ ) veranschlagte. Hierdurch wurde die Quest-Expedition zur ersten vollständig aus privater Hand finanzierten Forschungsreise in die Antarktis. Frank Wild schrieb hierzu später: Die einzige öffentlich wahrnehmbare Anerkennung, die Rowett erfuhr, war, dass sein Name in der offiziellen Benennung der Expedition Erwähnung fand. Nach Darstellung des Shackleton-Biografen Roland Huntford war Rowetts Erscheinungsbild eigentlich das eines schwerfälligen und nüchternen Geschäftsmanns, der im Wein- und Spirituosengeschäft ein Vermögen verdient hatte. 1920 war er Mitgründer und Hauptkapitalgeber eines an der University of Aberdeen ansässigen Forschungsinstituts für Tierernährung gewesen und hatte zahnmedizinische Forschungsarbeiten am Middlesex Hospital in London unterstützt. 1924 nahm er sich offenbar aufgrund einer bevorstehenden Privatinsolvenz das Leben. Schiff Der Robbenfänger Foca I, den Shackleton im März 1921 erwarb und nach einem Vorschlag seiner Frau Emily (1868–1936) in Quest umbenannte, war ein 1917 in Norwegen gebauter Schoner mit einer Länge von 111 Fuß (etwa 34 m) und einer maximalen Breite von 23 Fuß (etwa 7 m). Besonders markant war sein senkrechter Vordersteven. Die Vermessung des Schiffes lag bei 205 Brutto- und 94 Nettoregistertonnen und die Ladekapazität bei 120 Tonnen (nach anderen Quellen 125 Tonnen). Shackleton ließ das Schiff in Southampton mit einer Ketschtakelage ausstatten. Es verfügte über ein geräumiges Deckshaus über dem erhöhten Achterdeck, elektrisches Licht in den Kabinen, Rahsegel am Großmast und einen Hilfsantrieb in Form einer zweizylindrigen Verbunddampfmaschine des Herstellers Kalnæs Maskin Verkstad aus Tønsberg. Die Dampfmaschine sollte gegen einen Dieselmotor ersetzt werden, doch die zeitliche Verzögerung durch einen Werftarbeiterstreik verhinderte den Umbau. Der Dampfantrieb war für eine Geschwindigkeit von bis zu 7 Knoten ausgelegt. In Wirklichkeit wurden jedoch maximal nur etwa 5½ Knoten erreicht, und die Quest neigte schon bei geringem Seegang zum Rollen. Bereits am Tag der Abfahrt aus England kam Shackleton zu der Überzeugung, dass das Schiff für längere Seereisen ungeeignet war. Aufgrund diverser Pannen und Betriebsstörungen musste die Quest auf der Reise nach Süden in jedem Zwischenhafen repariert werden. Mannschaft In einem Artikel in der London Times hatte Shackleton angekündigt, mit etwa einem Dutzend Teilnehmern, die ihn in der Mehrzahl bereits auf früheren Expeditionen begleitet hatten, in die Antarktis aufzubrechen. Am Abreisetag aus London waren es in Anpassung an das Expeditionsprogramm schließlich 20 Männer. Der stellvertretende Expeditionsleiter Frank Wild hatte an allen Antarktisexpeditionen teilgenommen, an denen auch Shackleton beteiligt gewesen war. Darüber hinaus verfügte er über Erfahrungen durch seine Teilnahme an der Australasiatischen Antarktisexpedition (1911–1914) unter Douglas Mawson. Sieben weitere Männer, unter ihnen Kapitän Frank Worsley, waren Veteranen der Endurance-Expedition. Der Elektriker James Dell (1880–1968) hatte zusammen mit Shackleton und Wild rund 20 Jahre zuvor an der Discovery-Expedition unter der Leitung von Robert Falcon Scott teilgenommen. Shackleton rechnete auch mit Tom Crean, den er als Verantwortlichen für die Rettungsboote vorsah, doch Crean hatte sich bereits ins Privatleben zurückgezogen und lehnte daher Shackletons Angebot ab. Ernest Joyce hatte sich nach der Teilnahme an der Ross Sea Party mit Shackleton wegen ausstehender Zahlungen überworfen und wurde daher nicht berücksichtigt. Unter den Neulingen befand sich der neuseeländische Offizier der Royal Air Force Roderick Carr (1891–1971). Shackleton heuerte ihn als Piloten des Expeditionsflugzeugs an, einer einmotorigen Avro 534, die zu einem Wasserflugzeug mit einem 80-PS-Motor umgebaut worden war. Shackleton und Carr kannten sich aus der gemeinsamen Zeit in Nordrussland während des Ersten Weltkriegs. Letzterer hatte danach als Stabschef bei den litauischen Luftstreitkräften gearbeitet. Da der Doppeldecker wegen fehlender Teile schließlich nicht zum Einsatz kam, assistierte Carr während der Expedition bei wissenschaftlichen Arbeiten. Zum wissenschaftlichen Personal gehörte der australische Biologe Hubert Wilkins, der bereits über arktische und antarktische Erfahrungen verfügte, sowie der kanadische Geologe George Vibert Douglas (1892–1939), der sich ursprünglich für die eigentlich vorgesehene Forschungsreise in die Beaufortsee gemeldet hatte. Die größte öffentliche Aufmerksamkeit erhielten James Marr und Norman Mooney (1905–1945). Beide wurden im Rahmen einer durch die Daily Mail organisierten Ausschreibung aus 1700 Pfadfindern ausgewählt, die sich um eine Teilnahme an der Expedition beworben hatten. Der von den Orkney-Inseln stammende Mooney verließ bereits in Madeira das Schiff aufgrund anhaltender Seekrankheit. Expeditionsreise Reise nach Süden Am 17. September 1921 verabschiedeten König Georg V. und zahlreiche Schaulustige die Expeditionsmannschaft in London. Nach dem Auslaufen aus den St. Katharine Docks fuhr die Quest zunächst auf der Themse flussabwärts nach Gravesend und dann in die Nordsee. Shackletons Absicht bestand ursprünglich darin, nach Kapstadt zu fahren und unterwegs die größeren der südatlantischen Inseln anzusteuern. Von dort aus war eine Fahrt nach Enderbyland vorgesehen, um der antarktischen Küstenlinie nach Coatsland bis ins Weddell-Meer zu folgen. Am Ende der ersten Sommersaison sollte die Quest dann zunächst Südgeorgien und schließlich wieder Kapstadt anlaufen, um dort für eine weitere Reise zur Antarktis instand gesetzt zu werden. Jedoch ließen Schwierigkeiten mit dem Schiff gleich nach der Abfahrt aus England alle Planungen hinfällig werden. Probleme mit der Dampfmaschine zwangen die Mannschaft zu einem einwöchigen Zwischenaufenthalt in Lissabon und danach auch auf Madeira und den Kapverdischen Inseln. Aufgrund dieser Verzögerungen änderte Shackleton die Reiseroute und ließ die Quest Kurs auf Rio de Janeiro nehmen, um den Schiffsantrieb generalüberholen zu lassen. Dort traf sie am 22. November 1921 ein. Die Reparaturen an der Dampfmaschine und weitere Instandsetzungsarbeiten verzögerten die Weiterreise um einen weiteren Monat. Hierdurch war an eine Fahrt nach Kapstadt und anschließend ins Packeis nicht mehr zu denken. Dies bedeutete auch, dass zusätzlicher Proviant und Ausrüstungsgegenstände, die von England nach Kapstadt vorausgeschickt worden waren, nicht aufgenommen werden konnten. Shackleton plante, nach Grytviken auf Südgeorgien auszuweichen, in der Hoffnung, dort zumindest einige Bestände ergänzen zu können. Auf die Frage, wohin sich die Quest nach dem Aufenthalt in Grytviken wenden sollte, blieb Shackleton die Antwort schuldig. Alexander Macklin schrieb dazu in sein Tagebuch: Shackletons Tod Am 17. Dezember 1921, einen Tag vor der Abreise aus Rio, erkrankte Shackleton ernsthaft. Schiffsarzt Alexander Macklin hatte die Nachricht von einem Werftarbeiter erhalten, Shackleton habe einen Herzinfarkt erlitten. Eine eingehende Untersuchung und Behandlung durch Macklin lehnte Shackleton ab und sagte am nächsten Tag, dass er sich schon sehr viel wohler fühle. Nach Aussage anderer Expeditionsteilnehmer wirkte er dagegen bei der Überfahrt nach Grytviken seltsam matt und teilnahmslos. Entgegen seiner sonstigen Haltung, keinen Alkohol an Bord zu erlauben, trank Shackleton jeden Morgen Champagner, Sein angegriffener Gesundheitszustand wurde vermutlich weiter durch Sorgen belastet; insbesondere gab es erneute Probleme mit dem Dampfkessel des Schiffes und die vorbereitete Weihnachtsfeier musste wegen eines Sturms ausfallen. Als am Neujahrstag 1922 der Sturm abflaute, notierte er in sein Tagebuch: Am 4. Januar kam die Küste Südgeorgiens in Sicht und die Quest ging noch am selben Tag im Hafen von Grytviken vor Anker. Nach einem Besuch der örtlichen Walfangstation kehrte Shackleton offenbar erholt an Bord zurück. Er teilte Frank Wild mit, die ausgefallene Weihnachtsfeier am nächsten Tag nachholen zu wollen, und zog sich in sein Quartier zurück, um sich seinem Tagebuch zu widmen. Sein letzter Eintrag lautete: Später schlief Shackleton; sein Schnarchen wurde von James McIlroy (1879–1968) gehört, der gerade seine Wache beendet hatte. Kurz nach 2 Uhr am Morgen des 5. Januar 1922 wurde Alexander Macklin in Shackletons Kabine gerufen. Nach Macklins Aussage habe Shackleton über Schmerzen in Rücken und Gesicht geklagt und nach Schmerzmitteln verlangt. Macklin habe seinem Patienten erklärt, dass dieser überarbeitet sei und ein geregelteres Leben führen solle. Shackleton habe gefragt: worauf Macklin geantwortet habe: Kurz darauf habe Shackleton einen schweren Herzinfarkt erlitten und sei sofort gestorben. Macklin stellte bei der späteren Autopsie des Leichnams als Todesursache eine Arteriosklerose in den Koronargefäßen fest, die sich durch Shackletons angegriffenen Allgemeinzustand verschlimmert habe. Am späteren Morgen verständigte Frank Wild die durch die Nachricht schockierte Mannschaft mit den knappen Worten: Shackletons Leichnam wurde in Grytviken für den Transport nach England einbalsamiert. Leonard Hussey (1891–1964) begleitete den Sarg bei der Abfahrt am 19. Januar nach Montevideo. Hier erreichte ihn die Nachricht von Shackletons Witwe Emily (1868–1936) mit der Bitte, ihren Mann in Südgeorgien zu bestatten. Hussey kehrte mit dem Sarg an Bord des Dampfers Woodville nach Grytviken zurück, wo Shackleton am 5. März nach einer kurzen Andacht in der örtlichen lutherischen Kirche auf dem benachbarten Friedhof beigesetzt wurde. Da die Quest Südgeorgien bereits verlassen hatte, war Hussey der einzige Expeditionsteilnehmer, der neben einigen norwegischen Walfängern Shackletons Begräbnis beiwohnte. Das Grab schmückte zunächst ein einfaches Holzkreuz, das sechs Jahre später durch eine Granitstele ersetzt wurde. Fahrt durch die Packeiszone des Weddell-Meers Nach Shackletons Tod bestand die Aufgabe des neuen Expeditionsleiters Frank Wild zunächst darin, über die Ziele der Weiterreise der Quest zu entscheiden. Nachdem die Probleme mit dem Dampfkessel behoben waren und Ausrüstung und Proviant zumindest teilweise in Südgeorgien ergänzt werden konnten, entschied Wild, gemäß Shackletons Plänen zunächst ostwärts zur Bouvetinsel zu fahren, um dann nach Süden ins Packeis möglichst in die Nähe von Enderbyland vorzudringen und mit Vermessungsarbeiten zum Küstenverlauf zu beginnen. Zudem sollte das „Verschollene Land“ am nördlichen Rand des Weddell-Meers ausfindig gemacht werden, von dem James Clark Ross 1842 auf seiner Antarktisreise berichtet hatte. Allerdings hingen diese Vorhaben vom Wetter, den Eisbedingungen und den Möglichkeiten des Schiffes ab. Die Quest verließ Grytviken am 18. Januar 1922 mit Kurs auf die Südlichen Sandwichinseln. Durch hohe Dünung lief sie mittschiffs voll Wasser. Wild klagte darüber, dass das Schiff , an einigen Stellen leckgeschlagen war, wenig Fahrt machte und dabei viel Kohle verbrauchte. Ende Januar gab Wild den Plan, die Bouvetinsel anzusteuern, auf und ließ stattdessen direkten Kurs nach Süden nehmen. Am 4. Februar wurde die Packeisgrenze erreicht. Die Quest war das bis dahin kleinste Schiff, das in die Packeiszone vordrang, und nach den bisherigen Problemen argwöhnte Wild: Am 12. Februar erreichte das Schiff bei unweit zur Küste von Enderbyland seine höchste südliche Breite. Angesichts sinkender Temperaturen und immer dichter werdenden Packeises ließ Wild in der Sorge, das Schiff könne vom Eis eingeschlossen werden, in nordwestliche Richtung abdrehen. Nachdem zwischen dem 18. und 24. Februar mehrere neuerliche Anläufe gescheitert waren, nach Süden vorzudringen, fuhr die Quest schließlich in direktem westlichen Kurs. Wild und Kapitän Worsley wurden sich während der Fahrt durch das Weddell-Meer zunehmend uneins über die weitere Strategie der Expedition. Auch bei den anderen Expeditionsteilnehmern zeichnete sich eine wachsende Unzufriedenheit ab, deren Auswirkungen Wild nach eigener Darstellung unterband – ohne diese näher zu benennen. Am 12. März erreichte die Quest bei das Gebiet, in dem James Clark Ross 80 Jahre zuvor Land gesehen haben wollte. Messungen mit der Lotmaschine ergaben jedoch, dass bei einer Meerestiefe von 2300 Faden (etwa 4200 Meter) die Nähe von Land praktisch ausgeschlossen werden konnte. Zwischen dem 15. und 20. März wurde die Quest vom Meereis eingeschlossen und die knapper werdende Kohle zu einem ernsthaften Problem. Als das Schiff wieder freikam, ließ Wild in der Hoffnung, die schwindenden Brennstoffvorräte mit Tran von See-Elefanten aufzufüllen, direkten Kurs auf Elephant Island nehmen. Nach Auffassung von James Marr war dies nur ein vorgeschobener Grund: Die Insel kam am 25. März in Sicht, doch eine Anlandung am Point Wild scheiterte an den schlechten Wetterbedingungen. Nur durch das Fernglas konnten die Veteranen der Endurance-Expedition einige markante Orientierungspunkte ihres alten Lagers ausmachen, bevor das Schiff auf der Westseite der Insel zur Robbenjagd vor Anker ging. Nachdem sich die Männer mit genügend Vorräten eingedeckt hatten, stach die Quest wieder in See und erreichte Südgeorgien am 6. April. Rückkehr nach England Die Expeditionsteilnehmer hielten sich einen Monat lang in Südgeorgien auf. In dieser Zeit errichteten die Endurance-Veteranen auf dem Hope Point an der King Edward Cove, der Hafenbucht von Grytviken, ein Gedenkkreuz in Erinnerung an Shackleton. Am 8. Mai 1922 verließ die Quest Grytviken und fuhr bei rauer See zunächst zur Insel Tristan da Cunha, die seit der Annexion von 1816 zu den britischen Überseegebieten gehört. Nach der Ankunft am 20. Mai überreichte James Marr in einer feierlichen Zeremonie dem örtlichen Pfadfinderstamm eine Fahne von Robert Baden-Powell. Wild beschrieb die Bewohner der Insel in seinem Reisebericht als Während des fünftägigen Aufenthaltes wurden Kurzexpeditionen auf die benachbarten Inseln Inaccessible und Nightingale Island unternommen, um dort geologische und biologische Proben zu nehmen. Im Anschluss daran erfolgte ein weiterer Zwischenaufenthalt auf der Gough-Insel zwecks botanischer Untersuchungen. Am 18. Juni traf die Quest in Kapstadt ein, wo sie von einer großen Menschenmenge überschwänglich begrüßt wurde. Der südafrikanische Premierminister Jan Christiaan Smuts ehrte die Expeditionsteilnehmer mit einem offiziellen Empfang. Darüber hinaus wurden sie auch von anderen Honoratioren zu festlichen Abendgesellschaften eingeladen. Zu ihrer Enttäuschung erreichte sie dort auch Rowetts Order, nach England zurückzukehren. So verließ die Quest am 19. Juli Kapstadt in Richtung Norden und traf nach Zwischenaufenthalten auf St. Helena, Ascension, São Vicente und São Miguel am 16. September 1922, fast auf den Tag genau ein Jahr nach Beginn der Expedition, in Plymouth ein. Nachwirkungen und Bewertungen Nach Wilds Darstellung endete die Expedition , nach anderer Quelle wurde den Expeditionsteilnehmern dagegen bei der Ankunft in Plymouth ein euphorischer Empfang bereitet. Wild äußerte die Hoffnung, dass Die Ergebnisse dieser Arbeiten fasste Wild in fünf Kapiteln im Anhang seines Buches zur Expedition zusammen. In ihnen sind unter anderem die Bemühungen der wissenschaftlichen Expeditionsmannschaft bei der Datenerhebung und Probensammlung während der Zwischenaufenthalte sowie die von George Vibert Douglas und Roderick Carr vorgenommenen Vermessungsarbeiten zum Küstenverlauf Südgeorgiens vor der Fahrt ins Packeis dargestellt. Diese Ergebnisse wurden zudem in einigen wissenschaftlichen Artikeln veröffentlicht. Das Fehlen einer klar definierten Zielsetzung der Expedition wurde noch dadurch verschärft, dass bei der Reise nach Süden ein Zwischenaufenthalt in Kapstadt zur Aufnahme wichtiger Gerätschaften nicht möglich war. In Südgeorgien konnte nur wenig Ersatzmaterial besorgt werden. So standen weder Schlittenhunde noch Schlitten zur Verfügung, was eine von Wild geplante Anlandung im Grahamland an der nördlichen Spitze der Antarktischen Halbinsel sinnlos machte. Der Tod Shackletons war ein schwerer Rückschlag für die Expedition. Sehr bald wurde die Frage aufgeworfen, ob Wild ein angemessener Ersatz für ihn sein konnte, denn nach Darstellung Roland Huntfords war Wild schwerer Alkoholiker. Nach anderer Meinung ließe sich demgegenüber darüber streiten, ob unter der Leitung Shackletons bessere Resultate erzielt worden wären, da dessen Verhalten während der Reise nach Süden von Teilnahmslosigkeit, Stimmungsschwankungen und Unschlüssigkeit gekennzeichnet war. Im Hinblick auf die geplante Einführung technischer Innovationen bei Antarktisexpeditionen war es eine herbe Enttäuschung, dass das Expeditionsflugzeug nicht eingesetzt werden konnte. Shackleton hatte große Erwartungen daran geknüpft und dieses Vorhaben im Vorfeld eingehend mit dem britischen Luftfahrtministerium erörtert. Auch die beiden mitgeführten Funkgeräte waren nur bedingt einsatzfähig. Das größere von ihnen arbeitete nicht ordnungsgemäß und wurde deshalb schon frühzeitig stillgelegt. Das zweite Gerät hatte nur eine Reichweite von ungefähr 400 km. Auch Wilds Versuch, auf Tristan da Cunha ein neues Funkgerät zu installieren, lieferte nicht den gewünschten Erfolg. Nach dem Ende der Quest-Expedition dauerte es sechs Jahre, bis erneut Forschungsreisen dieser Größenordnung in die Antarktis unternommen wurden (siehe Liste von Antarktisexpeditionen). Die nachfolgenden Expeditionen, zu deren Protagonisten unter anderen der Australier John Rymill und die US-Amerikaner Richard Evelyn Byrd und Finn Ronne zählen, unterschieden sich jedoch grundlegend von ihren Vorgängern. Anstelle des Pioniergeists und des nationalen Prestiges rückten nunmehr die systematische Erkundung der Antarktis und die Erprobung technischer Neuerungen in den Vordergrund, zu denen die Errichtung dauerhafter Forschungsstationen gehören. Daher wird die Quest-Expedition gemeinhin als Schlusspunkt des Goldenen Zeitalters der Antarktis-Forschung und als Übergang zu einer technischen Epoche antarktischer Forschungsreisen betrachtet. Von den Veteranen der Endurance-Expedition kehrte außer Frank Worsley keiner mehr in die Antarktis zurück. Unter den anderen Expeditionsteilnehmern schrieb Hubert Wilkins Geschichte, als er im April 1928 zusammen mit seinem Copiloten Carl Ben Eielson einen transarktischen Flug von Point Barrow in Alaska nach Spitzbergen unternahm. Schon ein halbes Jahr später, am 16. November 1928, starteten sie auf Deception Island zum ersten Motorflug in der Antarktis. Am 20. Dezember flogen sie über die Gerlache-Straße und die Antarktische Halbinsel in unbekanntes Gebiet und entdeckten u. a. den Stefansson-Sund und die Hearst-Insel. 1931 scheiterte Wilkins’ Versuch, den Nordpol von Spitzbergen aus mit dem Unterseeboot Nautilus zu erreichen. In den 1930er Jahren organisierte er mehrere Expeditionen seines Freundes und Geldgebers, des US-Amerikaners Lincoln Ellsworth, mit dem Ziel, den antarktischen Kontinent zu überfliegen. Der dritte Versuch war 1935 erfolgreich. James Marr nahm nach seiner Ausbildung zum Meeresbiologen an mehreren australischen Expeditionen am Ende der 1920er und in den 1930er Jahren teil. Der verhinderte Antarktispilot Roderick Carr wurde Air Marshal bei der Royal Air Force. In den Jahren nach dieser Forschungsreise hatte die Quest eine wechselvolle Geschichte als Expeditionsschiff während der British Arctic Air Route Expedition (BAARE, 1930–1931) nach Grönland unter der Leitung des britischen Arktisforschers Gino Watkins (1907–1932), als Minensucher im Zweiten Weltkrieg und schließlich wieder als Robbenfänger. Am 5. Mai 1962 sank das Schiff vor der Nordküste Labradors, nachdem es durch Eisdruck leckgeschlagen war. Teile des Deckshauses inklusive Shackletons Kabine waren bereits 1923 nach Verkauf des Schiffes an eine norwegische Reederei bei Umbauten demontiert worden und wurden später im Freilichtmuseum von Saltdal aufbewahrt. Die norwegische Zweigstelle des South Georgia Heritage Trust (SGHT) plante, das Deckshaus im Südgeorgien-Museum von Grytviken auszustellen. Das Vorhaben wurde jedoch nicht umgesetzt. Stattdessen ist das Deckshaus seit Herbst 2015 im Besitz des Heimatmuseums der irischen Stadt Athy unweit von Shackletons Geburtsort Kilkea. Zitierte Literatur Standardwerke zur Quest-Expedition Ergänzende Werke Weblinks Shackleton–Rowett Expedition 1921–1922, Beschreibung der Expedition mit Mannschaftsliste in Englisch. Abgerufen am 19. Januar 2010. The Voyage of the QUEST, Beschreibung der Expedition in Englisch. Abgerufen am 19. Januar 2010. Freeze Frame – historic polar images, Informationen (in Englisch) zur Quest-Expedition mit zahlreichen Fotografien. Abgerufen am 27. Januar 2010. Library of New South Wales, Fotos der Quest-Expedition von Hubert Wilkins und Alexander Macklin. Abgerufen am 26. August 2010. Einzelnachweise Antarktis-Expedition Ereignis 1921 Ereignis 1922 Ernest Shackleton
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https://de.wikipedia.org/wiki/Poverty%20Point
Poverty Point
Poverty Point ist ein archäologischer Fundort im Nordosten des US-Bundesstaates Louisiana nahe der Ortschaft Epps im West Carroll Parish. Auf einem etwa 160 ha großen Gelände befinden sich in Größe und Komplexität einzigartige Erdwerke einer präkolumbischen Indianerkultur. Diese werden auf die Zeit zwischen 18. und 10. Jahrhundert v. Chr. datiert, stammen damit aus dem Ende der Archaischen Periode. Die auffälligsten Erdwerke sind sechs Erdwälle in Form halber konzentrischer Ringe, die mit ihren Enden an den Hangabbruch zu einem Wasserlauf in der Talebene des Mississippi stoßen. Zur Anlage gehören auch mindestens sechs als Mounds bezeichnete künstliche Hügel, innerhalb und außerhalb der Halbringe. Die Erbauer gehörten zu einer Jäger-, Sammler- und Fischer-Kultur, in der bereits einfache Keramiken hergestellt wurden. Das Material für ihre steinernen Werkzeuge bezogen sie aus weit, zum Teil über 2000 km entfernten Gegenden. Poverty Point ist das namensgebende Zentrum der Poverty Point Culture, einer archäologischen Kultur, die in Teilen des heutigen Louisiana und in angrenzenden Gebieten in Mississippi und Arkansas belegt ist, und die bis nach Florida ausstrahlte. Am Ort der Anlage Poverty Point wurden schon im späten 19. und frühen 20. Jahrhundert prähistorischer Artefakte gefunden. Die Struktur als Anlage wurde aber erst in den 1950er Jahren auf Luftbildern erkannt. Seitdem finden fast durchgehend Ausgrabungen statt. Die Anlage ist als State Historic Site ausgewiesen und wird vom Louisiana Department of Culture, Recreation and Tourism verwaltet. Seit 1962 ist der Fundort von der Bundesregierung als National Historic Landmark anerkannt. 2014 wurde Poverty Point als Weltkulturerbe der UNESCO geschützt. Der Antrag des US-Innenministeriums wurde damit begründet, Poverty Point sei ein herausragendes Bauwerk einer Jäger- und Sammler-Kultur, die größte Siedlung im Nordamerika seiner Zeit und möglicherweise „die größte Siedlung von Jägern und Sammlern aller Zeiten“. Der Name Poverty Point stammt von einer gleichnamigen Plantage aus dem 19. Jahrhundert, auf deren Grund die Erdbauten gefunden wurden. Die Anlage Poverty Point liegt auf der Flussterrasse Marçon Ridge am Hangabbruch zum sie östlich begrenzenden Fluss Bayou Marçon. Westliche Begrenzung dieser bei Poverty Point rund 15 km breiten und in Nord-Süd-Richtung etwa 200 km langen Terrasse ist der Boeuf River. Beide Flüsse sind Altarme des Mississippi, der heut etwa 25 km östlich von Poverty Point fließt. Die Terrasse liegt knapp 30 m über dem Meer und etwa 10 bis 12 m über dem umgebenden Schwemmland, war also schon in prähistorischer Zeit dauerhaft vor Überflutung geschützt. Während sie im Osten mit einem Hangabbruch direkt an den Bayou Marçon grenzt, geht sie auf der Westseite flach in das umgebende Sumpfland über. Das Erdreich der Terrasse besteht in der Tiefe aus Lehm und Schwemmmaterial. An der Oberfläche befindet sich eine mehrere Meter dicke Löss-Schicht. Die Wälle Die sechs Wälle in Form konzentrischer Halbringe umschließen zusammen mit der Hangkante, an die sie stoßen, einen geschlossenen Innenraum. Sie waren vermutlich rund 1,6 bis 2 m hoch (heutige Höhe etwas über 1 m) und hatten linsenförmigen Querschnitt. Der Radius des äußeren Walls ist etwa 600 m. Der radiale Abstand zwischen den Kämmen der äußeren Wälle beträgt zwischen 45 und 55 m und zwischen denen der beiden inneren Wälle etwa 80 m. In den Wällen befinden sich auf für alle gleichen Radial-Strahlen etwa 30 m breite Lücken, die sie in je sechs Segmente unterteilen. Im Südwesten führt ein radial annähernd zum südlichsten äußeren Hügel ausgerichteter Schüttdamm über die Wälle und über eine außerhalb befindliche natürliche Mulde. Alle Erdbauten bestehen überwiegend aus dem Erdreich der Umgebung, das Material für die Wälle wurde teilweise direkt zwischen ihnen entnommen, so dass sich dort flache Gräben bildeten. Die klumpige Struktur lässt heute noch erkennen, dass das Material in Körben transportiert wurde. Aus der unterschiedlichen Größe der Klumpen zwischen wenigen Kilogramm bis über 25 kg wird abgeleitet, dass Männer, Frauen und Kinder gemeinsam an der Anlage bauten. Die Mounds Um die Wälle gruppieren sich mindestens sechs als Mounds bezeichnete künstliche Hügel, von denen zwei innerhalb und vier außerhalb der Wälle liegen. Ein weiterer Hügel knapp 2 km südlich ist heute als wesentlich älter erkannt und stand wohl in keinem direkten Zusammenhang, könnte aber als Landmarke für die Ausrichtung der Anlage gedient haben. Der größte Mound (Mound A) liegt im Westen außerhalb der Wälle, nahezu in Flucht mit der mittleren Unterbrechung. Er besteht aus einer halbhohen vorgelagerten Plattform im Osten, aus der nach Westen eine Rampe auf einen Kegel aufsteigt, die an der Spitze eine kleine Plattform erreicht. Die Gesamtform wurde von frühen Ausgräbern als Vogel mit dem Kopf an der Spitze, der Rampe als Rücken, der Plattform als Schwanz und dem Kegel als ausgebreitete Flügel angesehen, so dass Mound A auch als Bird Mound bezeichnet wird. Die Interpretation gilt heute als rein spekulativ. Der nächstkleinere ist Motley Mound, mehr als 1 km entfernt im Norden. Er könnte ebenfalls in der Form von Mound A angelegt worden sein, ist aber schlecht erhalten oder wurde nie fertiggestellt. Die beiden Mounds im Inneren der Wälle waren grob oval, Sarah’s Mound (Mound D) ist linsenförmig, während Dunbar Mound (Mound C) zu einer umlaufenden Plattform aufsteigt, in deren Mitte sich eine Kuppe erhebt. Mound B, außerhalb im Nordwesten, war rund, Ballcourt Mound (Mound E), außerhalb im Südwesten, hatte eine rechteckige Grundform und war oben abgeflacht. Erst 2014 wurde im Nordosten ein weiterer, kleiner runder Mound entdeckt und Mound F genannt. Die Hügel maßen ursprünglich etwa 20 m Höhe für den größten Mound A, vermutlich 15 m für Motley Mound, 7 m für Mound B und gut mannshoch für die Mounds C bis E. Mound F erreichte höchstens 1,5 m. Die drei äußeren Mounds nahe den Wällen sind nahezu exakt auf einer Nord-Süd-Achse angeordnet. Motley Mound liegt genau nördlich von Dunbar Mound. Bei früheren Vermessungen ging man davon aus, dass sie jeweils eine perfekte Flucht bilden und diskutierte über die verwendete Vermessungstechnik. Inzwischen wurden die Annahmen über die Symmetrie und Exaktheit der Anlage und den Stand der Vermessungstechnik ihrer Erbauer relativiert. Die Plaza Die als Plaza bezeichnete Innenfläche der Wallanlage ist in Nord-Süd-Richtung etwa 600 m lang und hat eine Fläche von 14 ha. Die natürlichen Unebenheiten der Fläche wurde durch Aufschüttungen ausgeglichen, eine von ihr ausgehende, flach und gleichmäßig abfallende Rampe gilt als Zugang zum Wasser. Bereits früh wurde angenommen, dass auf der Plaza nur besondere Aktivitäten stattfanden, weil dort bei Untersuchungen und oberflächlichen Grabungen keinerlei Artefakte gefunden wurden. Alltäglicher Gebrauch führt immer zum Verlust von Gegenständen und Hinterlassenschaften von abgenutztem Material. Erst mit geomagnetischen Untersuchungen mittels hochempfindlicher Gradiometrie nach dem Jahr 2000 konnten tiefer liegende Strukturen im Boden der Plaza gefunden werden. Es handelt sich um vier runde Anordnungen von Pfostenlöchern, die im Rahmen von Lehrgrabungen ab 2009 näher untersucht wurden. Erste Ergebnisse zeigen, dass die Löcher nicht dem bisher von den Wällen bekannten Typ entsprechen, sie sind ungewöhnlich groß und mit fast drei Metern auch auffallend tief. Außerdem wurden bei den Grabungen auf der Plaza große Mengen Artefakte ohne Gebrauchsspuren gefunden. Datierung Zwischen den 50er Jahren des 20. und Anfang des 21. Jahrhunderts wurden viele Radiokohlenstoffdatierungen an Proben aus Wällen und Mounds durchgeführt. Die Ergebnisse variieren erheblich, so dass eine Datierung der Anlage schwierig ist. In den Anfängen der Radiokohlenstoff-Datierung wurden noch zu wenige Proben genommen und diese nicht ausreichend gegen Verunreinigung geschützt. Für die Mounds wurden in den Jahren 2001 bis 2006 neue 14C-Datierungen erhoben. Durch Ausschluss von Proben, die kalibriert mehr als 100 Jahre aus dem sonstigen Konfidenzintervall herausfallen, wurde daraus 2006 eine grobe Datierung auf die Zeit vom 18. bis zum 10. Jahrhundert v. Chr. vorgenommen. Mound B wurde als erster Mound radiokohlenstoff-datiert, diese Daten wurden allerdings schon früh und mit unzuverlässigen Methoden ermittelt, gemeinsam und unmittelbar benachbart erhobene Proben weichen um über 1800 Jahre voneinander ab und sind grob fehlerhaft. Jüngere Untersuchungen aus dem Jahr 2001 erlauben die Annahme, dass Mound B im Norden das älteste Bauwerk der Anlage ist und innerhalb einer sehr kurzen Bauzeit von Wochen oder wenigen Monaten zu einem unbekannten Zeitpunkt zwischen 1738 und 1522 v. Chr. errichtet wurde. Mound E im Süden wurde fast gleichzeitig oder kurz darauf aufgebaut. Mound C ist schwierig zu datieren, weil der Bauplatz zwischen dem Abtragen der obersten Bodenschicht zum Herstellen einer ebenen Fläche und dem Beginn der Aufschüttungen als Wohnplatz verwendet wurde. Er folgte aber vermutlich nach den beiden erstgenannten Mounds. Für Mound A, den größten der künstlichen Hügel, liegen seit 2007 gute Daten vor. Die Konfidenzintervalle weisen darauf hin, dass er wohl erst nach Abschluss von Mound C begonnen wurde. Neuere Auswertungen datieren den Bau zwischen 1311 v. Chr. und 1217 v. Chr. und nehmen eine sehr kurze Bauzeit von 30 bis 90 Tagen an. Mound D ist der jüngste Teil der Anlage, er wurde am Ende der archaischen Periode und vielleicht erst in der Woodland-Periode erbaut, weil Woodland-Artefakte in den obersten Schichten des Mounds eingelagert gefunden wurden. Das deutet darauf hin, dass dort möglicherweise ursprünglich kein Mound angelegt worden war, sondern er erst nachträglich auf und an die Ringstruktur an der Hangkante aufgeschüttet wurde. Die Datierung der Wälle ist aufgrund der Probennahme nach heute überholten Methoden unzuverlässig. Neuere systematische Daten liegen hier bisher nicht vor. Sie wurden wohl im 18. oder 17. Jahrhundert v. Chr. begonnen, wobei die Daten so über die Wälle verteilt sind, dass die Fehlermarge keine Aussagen über die Reihenfolge der Bauten erlaubt. Gesamtbild Die sechs Wälle (je sechs Segmente) und sechs Mounds gelten als Modell der Welt. Sechs ist die Zahl der Richtungen, also der vier Richtungen der Sonne, dazu das Oben des Himmels und das Unten der Erde. Die Halbkreise sind mit ihrer Öffnung zum Sonnenaufgang im Osten ausgerichtet. Die gesamte Anlage strahlt Harmonie aus. Ihre Aufgabe sei gewesen diese zwischen ihren Erbauern und allen Menschen und den Kräften der Natur herzustellen und zu besiegeln. Die Symmetrie sollte Gefahren abweisen. Die Erdwerke sollten die Kräfte von Leben und Tod beeinflussen. Die „harmonischen Proportionen“ der Gesamtanlage, ihre Ausrichtung zur Sonne und die Ringform, die „den Umlauf der Sonne am Tag und im Jahreskreis“ aufnimmt, versprachen „Schutz vor Tod, Leid, Krankheit und anderen Übeln“. Außerdem schufen sie, folgt man Jon Gibson, Heimat; die Zusammenarbeit bei der Herstellung trug seiner Meinung nach zur Gemeinschaftsbildung bei. Das Gesamtvolumen der Bauten betrug zwischen 650.000 und über 750.000 m³ Erdreich oder nach jüngeren Schätzungen 750.000–1.000.000 m³. Dies entspricht etwa einem Viertel bis einem Drittel des Volumens der Cheops-Pyramide. Gemessen an menschlicher Arbeitskraft hätten 100 in Vollzeit arbeitende Männer die Anlage in 21–24 Jahren errichten können. Andere, auf längeren Bauzeiten und/oder Teilzeit beruhenden Berechnungen ergeben: 500 Männer einer Generation (in ein bis zwei Monaten pro Jahr) 100 Männer von drei Generationen (in sechs oder sieben Tagen pro Monat) 100 Männer in 300 Jahren (wenige Tage pro Monat) Diese Zahlen bestätigen lediglich die Aussage, dass die Anlage in der Zeit der Poverty Point Culture in realistischen Zeiträumen errichtet werden konnte. Es ist jedoch nicht möglich zu sagen, ob über den ganzen Zeitraum daran gearbeitet wurde oder vielleicht nur eine Generation die Hauptleistung getragen hat. Die jüngeren Hinweise auf kurze Bauzeiten einzelner Mounds lassen annehmen, dass jeweils für kurze Bauphasen von einem oder wenigen Monaten Menschen aus einem weiten Umfeld zusammenkamen, um gemeinsam das Erdwerk zu errichten. Im Baumaterial vorwiegend der Wälle und in kleinerem Umfang auch in die Mounds sind hunderttausende Artefakte eingelagert. Dabei handelt es sich überwiegend um Überreste der Zubereitung von Nahrungsmitteln und der Werkzeugherstellung, um aufgegebene und abgenutzte steinerne Werkzeuge sowie Scherben keramischer Gefäße. Es wurden aber auch einige wenige Schmuckgegenstände gefunden, vorwiegend steinerne Perlen und vereinzelt Anhänger aus Kupfer. Daher wird angenommen, dass die Bewohner in Hütten oder Zeltkonstruktionen in Nähe der Wälle und Mounds lebten und arbeiteten, obwohl keine eindeutigen Nachweise von Pfostenlöchern gefunden werden konnten. Tradition und Vorläufer Die Marçon Ridge wurde vor rund 11.000 Jahren von Paläo-Indianern besiedelt. Die frühesten Funde im Gebiet zählen zur Clovis-Kultur und bestehen in Projektilspitzen und Faustkeilen. Während die Angehörigen der Clovis-Kultur im gesamten Verbreitungsgebiet in kleinen Verbänden als Jäger und Sammler je nach Saison den Nahrungsquellen folgend durch große Gebiete streiften, war die Marçon Ridge ein so attraktiver Lebensraum, dass sie ganzjährig bewohnt wurde. Der Rücken im Sumpfland war locker mit Baumarten bewaldet, die Eicheln, Pekannüsse und andere Früchte trugen. Die Wälder waren reich an jagbarem Wild, das zur Flutsaison aus der ganzen Region auf dem Rücken konzentriert war. Allerdings fehlten auf dem Rücken aus Sedimenten und Löss jegliche Steine. Die Clovis-Kultur bezog das Material für ihre Werkzeuge aus rund 800 km entfernten Steinbrüchen auf dem Edwards Plateau in Texas, wo Hornstein in guter Qualität vorkam, der bereits dieser ersten flächendeckenden amerikanischen Kultur bekannt war. Ebenfalls bekannte Fundstellen für qualitativ gleichwertigen Feuerstein bei Fort Payne in Alabama waren zwar nur rund 400 km entfernt, lagen aber auf dem anderen Ufer des Mississippi. Dessen Unterlauf war kurz nach dem Ende der letzten Eiszeit (in Nordamerika als Wisconsin Glaciation bezeichnet) durch den über viele Jahrhunderte langsam abschmelzenden Laurentidischen Eisschild ganzjährig so angeschwollen, dass er höchstens in harten Wintern passierbar war, wenn er vollständig zugefroren war. Die Dalton- und die San-Patrice-Kultur am Beginn der Archaischen Periode bis etwa 5500 v. Chr. unterschieden sich im Stil der Steinwerkzeuge und es wurden neue Quellen für verschiedene Werkzeugsteine erschlossen. Die Bevölkerungszunahme führte dazu, dass sich Gruppen bildeten, die bestimmte Gebiete besiedelten, so dass es „die größte Veränderung war, Nachbarn zu haben.“ Die Menschen wachten über die Grenzen ihrer Territorien. Die Beschaffung von Stein für Werkzeuge wurde für die Bewohner der Marçon Ridge zunehmend schwieriger, so dass sie auf Hornstein-Kies auswichen, der nur rund 50 bis 80 km westlich zwischen dem Ouachita und dem Red River gefunden wurde. Die Steine waren zwar kleiner, ließen sich aber genauso bearbeiten. In der Archaischen Periode, um 5500 v. Chr., trat eine Klimaveränderung ein. Für mehrere Jahrtausende wurde der Südosten Nordamerikas trockener. Wälder gingen etwas zurück, Wiesen breiteten sich aus, die Strömung des Mississippi verringerte sich, so dass er mehr Sedimente ablagerte, wodurch die Flusssohle und in der Folge der Wasserspiegel stiegen und sich das Bett häufiger umlagerte. Die Bewohner der Marçon Ridge entwickelten neue Techniken zur effizienteren Nutzung von Baumfrüchten und Ölsamen und der Fischfang nahm an Bedeutung zu. Die Bevölkerungsdichte stieg weiter an und die Menschen bauten einen bescheidenen Austausch von Gütern auf. Arkansasstein aus den 200 km entfernten Ouachita Mountains und Quarz wurden in kleinem Rahmen herbeigeschafft. Die Mengen waren so gering, dass es sich um persönliche Geschenke oder Brautpreise handeln kann. Im Norden des Südostens, am Ohio River und seinen Nebenflüssen, wie dem Green River entstanden um 4000 v. Chr. große und systematisch angehäufte Strukturen aus Muschelschalen, die so genannten shell middens. In der nach dem Fundort Indian Knoll benannten Indian Knoll phase errichteten die dortigen Bewohner runde, halbkreis- oder ringförmige Strukturen aus den Überresten der Nahrungszubereitung. Ob dafür bereits eine planvolle Zusammenarbeit und Leitung erforderlich war oder ob die Grundstruktur aus der Nutzung entstand und dann über längere Zeit ohne Plan oder Führung ausgebaut wurde, ist bislang nicht zu beantworten. Ebenfalls um 4000 v. Chr. begannen die Menschen gemeinsam an Bauprojekten zu arbeiten, die nach Art, Material und Umfang nur als planvoll angenommen werden können. Die ersten Mounds entstanden am Unterlauf des Mississippi. Sie waren klein und rund; um 1,50 m hoch und mit höchstens 15–20 m Durchmesser. Daraus entwickelten sich wesentlich größere Erdbauten, auch solche, die aus mehreren Elementen zusammengesetzt wurden. Die älteste große Anlage war Watson Brake, beim heutigen Monroe in Louisiana, etwa 95 km von Poverty Point entfernt und rund 2000 Jahre älter. Watson Brake ist schlecht erhalten und bestand aus einem großen Mound und neun oder zehn kleinen, die einen Kreis von der Größe eines Fußballfeldes bildeten. Im Norden von Poverty Point wurden bei frühen Ausgrabungen im äußersten Ring mehrere Proben genommen, die bereits in die mittelarchaische Zeit datiert wurden. Sie wurden zumeist als Messfehler aufgrund der noch unzureichenden Technik interpretiert, könnten aber auch auf eine kleine Vorgänger-Konstruktion hindeuten. Über die Motivation der ersten Mound-Bauer gibt es eine Vielzahl von Spekulationen. Demnach waren die Bauten Symbole oder sie veränderten das Aussehen der Landschaft. Sie schufen Heimat, wie Gibson mutmaßt. Erzählungen heutiger und historischer Indianer-Kulturen bringen die Mounds mit ihrer Schöpfungsgeschichte und ihrem Schöpfer in Verbindung. Sicher kann angenommen werden, dass die Mounds magisch und ihr Bau eine ehrenvolle Tat der Gemeinschaft war, um die Kräfte des Universums positiv zu beeinflussen, und an oder auf den Mounds fanden rituelle Handlungen statt. Die Zeremonien werden als Zusammenkünfte verstreut lebender Gruppen angesehen, mit Bedeutung für den Austausch von Legenden, praktischem Wissen und als Heiratsmarkt. Poverty Point Culture – die Erbauer Am Ende der Archaischen Periode traten am Unterlauf des Mississippi zwei simultane Veränderungen auf: Die Bewohner bezogen gewaltige Mengen exotischen Gesteins auch aus weit entfernten Quellen und sie begannen mit dem Bau der größten bekannten Anlage aller Jäger- und Sammler-Kulturen. Als Anstoß wurde die Einführung von Hämatit und Magnetit aus den Boston Mountains auf dem Nordufer des Arkansas Rivers beschrieben. Beide Gesteine sind Eisenerze und haben ein besonders hohes spezifisches Gewicht. Daher eignen sie sich für Steingewichte an Fischernetzen, insbesondere Stellnetze und Wurfnetze. In Gewässern mit nennenswerter Strömung müssen diese beschwert werden, um nicht aufzutreiben. Die Verwendung von kleinen, handhabbaren Gewichten aus dem exotischen Material könnte den Fischfang wesentlich ertragreicher gemacht haben. Wenige spezialisierte Fischer konnten so eine größere Bevölkerung ganzjährig mit den Grundnahrungsmitteln versorgen. Da Fisch, zumal im warmen Klima Louisianas, nicht aufbewahrt werden kann, konnten sie den Ertrag auch nicht sinnvoll für individuelle Zwecke nutzen, sondern stellten ihn der Allgemeinheit zur Verfügung. Dadurch wurde erhebliche Arbeitskraft frei, die für Gemeinschaftsprojekte genutzt werden konnte, um eine Anlage vom Umfang Poverty Points zu errichten. Das Vorbild der Fischer könnten auch die Mitglieder der Gemeinschaft, die über Beziehungen zu anderen Sippen in Gebieten mit Steinvorkommen verfügten, veranlasst haben, ihre Ressource nicht individuell zu nutzen, sondern der Gemeinschaft zugänglich zu machen. Die Gesellschaft muss als egalitär gelten, da sich keine Anzeichen für eine soziale Schichtung erkennen lassen. In Poverty Point und den Außenstellen der Poverty-Point-Kultur wurden keinerlei Horte von exotischem Gestein gefunden und keine Hinweise darauf, dass sich Individuen Steine über den eigenen Bedarf hinaus aneigneten. Stattdessen scheint das Material nach den Aufgaben verteilt worden zu sein; wer für seine Tätigkeit ein Werkzeug aus speziellem Stein brauchte, der bekam es. Neben Fisch und Wild bestand die Ernährung aus Nüssen wie Eicheln, Hickory und Pekannuss und Früchten wie Trauben und Amerikanischen Persimonen. Weiterhin wurde Flaschenkürbis nachgewiesen. Bei letzterem besteht die Möglichkeit, dass er in der Art eines Gartens angebaut oder seine Verbreitung anderweitig gefördert wurde. Weitere Nahrungsmittel wurden nur in geringem Umfang gefunden. An der Küste kamen noch Meeresfrüchte hinzu. Artefakte Die Lage von Poverty Point am Unterlauf des Mississippi bot die Möglichkeit, per Boot gewaltige Steinmassen aus dem gesamten Flusssystem zu beziehen. Bleiglanz kam vom oberen Mississippi im heutigen Missouri, Wisconsin und Iowa, besonders hochwertiger Feuerstein (grey northern flint) vom Nebenfluss Ohio, einzelne Stücke Hornstein von dessen Zufluss, dem Tennessee River. Speckstein wurde aus dem heutigen Süden Tennessees bezogen, entweder über den Tennessee River oder vom Fundort zum Golf von Mexiko und dann auf dem Meer bis zur Mündung des Mississippis. Aus dem Speckstein wurden Schüsseln und Schalen geschnitten, die aber selten und vermutlich kostbar waren. Kupfer wurde in kleinen Mengen von den Großen Seen im heutigen Ontario im Süden Kanadas und bis aus Nova Scotia im Osten Kanadas bezogen. Daneben wurden weiterhin die bisherigen Quellen für gewöhnlichere Gesteine in der Nähe genutzt. Die Gesamtmenge importierten Gesteins wird auf etwa 70 Tonnen geschätzt. Je nach Zweck wurden aus den unterschiedlichen Gesteinen vielfältige Werkzeuge angefertigt. Grobe Grabstöcke mit Steinkopf dienten dazu, essbare Wurzeln auszugraben, Faustkeile wurden zu Erdarbeiten eingesetzt, Projektilspitzen auf Wurfspeeren waren die Jagdwaffe. Polierte Steingewichte waren an als Atlatl bezeichneten Speerschleudern befestigt, kleine Formen waren vermutlich an Fischernetzen befestigt. Schaber und verschiedenste Klingen aus scharfkantig und flach abgesplittertem Stein dienten zur Zerkleinerung von Nahrung und der Bearbeitung von Leder. Typische Artefakte für Poverty Point selbst, nicht aber für alle peripheren Orte, sind als Microblades bezeichnete Klingen aus sehr schmalen Abschlägen. Sie weisen häufig nur an einer Seite Abnutzungsspuren auf. Daher wird diskutiert, ob sie in nicht erhaltene hölzerne oder knöcherne Griffe eingelassen waren und zum Abschaben von Knollen und Wurzeln wie der Wasser-Gleditschie dienten. Diese könnten eine wichtige Quelle von Kohlenhydraten der Bevölkerung dargestellt haben. Die häufig gefundenen tropfenförmigen Steingewichte werden traditionell als Beschwerung von Fischnetzen gedeutet. Eine neuere Analyse sieht sie als Hinweise auf Gewichtswebstühle, da sie immer in größerer Zahl in häuslichem Kontext gefunden werden. Bei Verwendung zum Fischfang, hätten sie auch einzeln und außerhalb der Wohnbereichen verloren gehen und gefunden werden müssen. Gefäße sind seltene Funde, sie bestanden überwiegend aus Speckstein, teilweise aus Sandstein, daneben aus Keramik. Die Keramik war einfach, jedoch wurden Scherben mit verschiedenen Magerungsmittel gefunden. Umstritten ist, ob die Keramik an Ort und Stelle produziert oder importiert wurde. Materialanalysen lassen vermuten, dass höchstens ein kleiner Teil der wenigen keramischen Scherben aus lokalem Material bestand. Dabei wird vermutet, dass zunächst in Poverty Point die Herstellung von einfacher Keramik aus lokalem Material erfunden wurde, bevor Keramiktechniken mit Pflanzenfasern als Magerungsmittel importiert wurden. Stattdessen gibt es Hinweise darauf, dass Gefäße überwiegend aus Flaschenkürbissen gefertigt wurden; aus demselben Material könnten auch Tassen, Löffel und Schwimmkörper für Netze hergestellt worden sein. Schmuckstücke wurden in Form von Kettenanhängern aus Keramik, Stein und Kupfer gefunden. Kultischer Charakter kann kleinen Figuren unterstellt werden, die Tiere beziehungsweise androgyne oder eindeutig weibliche Menschen abbilden. Aus Jaspis wurden kleine Tierfiguren gefertigt, die als Eulen gedeutet werden. Sie wurden auch an anderen Orten der Poverty-Point-Kultur gefunden und gelten als charakteristische Artefakte auch wenn ihre spezifische Bedeutung unbekannt ist. In Steinen und keramischen Gefäßen wurden Ritzungen gefunden. Die meisten stellen Tiere (Vögel, Schildkröten und selten nicht identifizierbare, vierfüßige Tiere) dar oder sind geometrisch dekorativ. Einige bestehen aus komplizierten Glyphen, die runde und geschwungene Formen der Natur mit geometrischen Figuren kombinieren. Die kleinen figürlichen Darstellungen werden als Fetische oder Talismane interpretiert, die eigene Kräfte entwickeln oder diese symbolisieren. Die häufigsten Fundobjekte und charakteristischen Artefakte für die Poverty-Point-Kultur sind die so genannten Poverty Point Objects, kurz PPO, aus Löss geformte und getrocknete Erdballen von 2,5 bis 5 cm Größe in mehreren typischen Formen. Sie dienten zum Kochen in Erdöfen, indem sie im Feuer erhitzt und dann in teilweise mit Ton ausgeformte Erdgruben zusammen mit der Nahrung gelegt wurden. Die Erdballen gaben die Hitze kontrolliert ab und mit etwas Übung war es möglich, die Temperatur und Garzeit zu steuern. Kulturraum Die eigentliche Poverty-Point-Kultur erstreckte sich über ein Gebiet von rund 1800 km². Die Poverty-Point-Anlage war das kulturelle Zentrum und lag auch geografisch zentral. In allen Richtungen außer im Osten, der Flutebene, lagen auf der Marçon Ridge im Umkreis von etwa vier bis sechs Kilometern mehrere kleine Siedlungen, die den Kern der Kultur bildeten. Weitere kleine Siedlungen und dutzende Wohnplätze lassen sich in Entfernungen bis etwa 33 km nachweisen. Sie werden als Peripherie angesehen, die den Kern mit Lebensmitteln versorgte. Entlang der Marçon Ridge und vereinzelt auch in den Sümpfen westlich davon wurden weitere Siedlungen gefunden, die der Poverty-Point-Kultur zugerechnet werden. Ihre Entfernung zum Zentrum betrug mehrere Tagesreisen, sie waren sehr unterschiedlich stark an das Zentrum gebunden. Gemeinsamkeiten und Unterschiede existieren bei Materialien, Werkzeugformen und Stilen im künstlerischen Ausdruck. Die Kultur strahlte weit über dieses Gebiet hinaus: Entsprechende Funde wurden gleichermaßen an der Yazoo site in der östlichen Flutebene des Mississippis gemacht, wie in Grand Marais am Mittellauf des Ouachita Rivers. Ein Mound mit Poverty-Point-Bezug, allerdings wesentlich kleiner als im Kerngebiet, wurde in Catahoula am Unterlauf des Ouachita erkannt. Gut erforscht ist die Claiborne site an der Küste des Golfs von Mexiko östlich des heutigen New Orleans. Als entfernteste Region mit Povery-Point-Einfluss gilt der Elliot’s Point Complex an der Nordwest-Küste Floridas. Er besteht aus über 90 einzelnen Fundorten im Florida Panhandle, die durch exotisches Gestein und Koch-Bällchen aus Ton sowie charakteristische Siedlungsstrukturen dem Poverty-Point-Kulturraum zugeordnet werden. Allerdings sind dort die Nachweise der Steinbearbeitung weit seltener als im Kerngebiet der Kultur und in den Küstengebieten liegen die Fundorte an shell middens statt Mounds. Weil für den Bau der Erdwerke in den nachgewiesenen kurzen Zeiträumen eine höhere Zahl an Mitarbeitern erforderlich ist, als im eigentlichen Kulturraum unter den damaligen Bedingungen mit ihren Familien Nahrung finden konnten, müssen für die Arbeiten Menschen aus einem weiten Umfeld zusammengekommen sein, was der Verbreitung von Artefakten mit Poverty-Point-Bezug entspricht. Motivation und Austausch von Gütern Es gibt verschiedene Theorien, wie die Erbauer von Poverty Point den Bezug der Gesteine von weit entfernten Fundorten organisierten und motivierten. Jon Gibson diskutiert den Austausch mit Handelsgütern, die keine archäologischen Spuren hinterlassen haben, wie Salz und Federn des Nashornpelikans, die als Schmuck und zu zeremoniellen Zwecken verwendet worden sein könnten. Er verwirft dies jedoch und nimmt an, dass alle Bewohner des Südostens Nordamerikas im Einzugsgebiet des Mississippis und darüber hinaus das Projekt Poverty Point unterstützen wollten. Die Gegenleistung für den Bezug der Steine war die Errichtung der Anlage, die durch ihre Form und Ausrichtung eine globale Harmonie der Welt herstellen sollte. Er glaubt, die zentrale Motivation der Lieferungen sei die „Macht der Güte“ gewesen. Wenn sich die neueren Analysen bestätigen, dass in Poverty Point eine große Zahl an Gewichtswebstühlen betrieben wurden, dann könnten auch Textilien als Tauschgut in Frage kommen. Auch sie hätten keine direkten Spuren hinterlassen. Allgemeinere Deutungsansätze sprechen davon, dass Poverty Points Einfluss „in symbolischer Macht begründet lag, nicht in der Ausweitung von wirtschaftlicher oder politischer Macht.“ Andere Ansätze sehen Poverty Point als Gemeinschaftsprojekt und Symbol für das Aufeinandertreffen und Zusammenwirken von Vorgängerkulturen, also der im Norden und den Mississippi flussaufwärts gelegenen Kulturen mit den Küstenkulturen im Süden und Südosten. Sie hätten demnach ihre jeweiligen Fähigkeiten in das gemeinsame Vorhaben eingebracht. Analog früheren Kulturen der Archaischen Periode hätten auch die Angehörigen der Poverty-Point-Kultur Reisen zur Initiation in die Gemeinschaft unternommen. Sie hätten jedoch die Entfernungen dieser Fahrten deutlich erweitert und von den realen oder mythischen Orten ihrer Herkunft Materialien mitgebracht. Das Ende der Poverty-Point-Kultur Das Ende der Poverty-Point-Kultur war zugleich der Umbruch von der Archaischen Periode zur Woodland-Periode. Die Ursachen sind unklar. Neben klimatischen Veränderungen mit Folgen für die Nahrungsversorgung wird auch diskutiert, ob der Aufwand für die Anlage von Poverty Point mit dem damit verbundenen Sozialsystem und den Wirtschaftsformen die Möglichkeiten der Kultur mittel- und langfristig überforderte. Möglicherweise ließen sich die sozialen Organisationen nicht mehr aufrechterhalten, Handel und überregionale Kontakte wären demnach zusammengebrochen. Der kulturelle und soziale Neuanfang im Poverty-Point-Gebiet wird als Tchefuncte-Kultur bezeichnet, die bereits der Woodland-Periode zugerechnet wird. Sie ist nicht nur durch die weite Verbreitung und lokale Herstellung von Keramik gekennzeichnet, sondern zeichnet sich durch neue soziale Strukturen aus, die sich in den Artefakten und Siedlungsformen niederschlagen. Im Verlauf der Woodland-Periode wurde der Ackerbau am Unterlauf des Mississippi eingeführt. Mounds wurden auch in der Woodland-Periode errichtet, jedoch keine komplexen Anlagen wie Poverty Point. Als indirekte Nachfolger der Poverty-Point-Kultur gelten die Koroa und weitere Angehörige der Tunica-Sprachfamilie. Forschungsgeschichte 1832 zogen der Pflanzer Phillip Guier und seine Frau Sarah aus Kentucky ins nördliche Louisiana und kauften einen Teil des Geländes, um eine Baumwollplantage zu errichten. Ab 1851 ist der Name Poverty Point für seine Plantage nachgewiesen. Etwa zu diesem Zeitpunkt muss er auch weitere Flächen angekauft haben, so dass die gesamte, noch nicht als solche entdeckte Fundstätte in seinem Besitz war. Trotz der Namensgebung, poverty heißt Armut, war Guier wirtschaftlich erfolgreich, für 1860 gab er ein Vermögen von 120.000 Dollar an. Seine Frau Sarah und einige spätere Familienangehörige wurden auf Mound D begraben, der deshalb auch als Sarah’s Mound bezeichnet wird. Die flachen Ringe fielen den Guiers nicht als künstliche Strukturen auf und wurden durch die Bodenbearbeitung mit dem Pflug über Jahrzehnte langsam abgetragen und partiell eingeebnet. In den 1830er Jahren notierte ein Siedler namens Jacob Walter seine Beobachtung des großen Mounds A und der an der Oberfläche zu findenden Erdbällchen, den heute so genannten Poverty Point Objects. 1873 fand die erste Vermessung der Region statt, Poverty Point wurde nicht als auffällig erkannt. Im Winter 1911/12 entdeckte der Archäologe Clarence B. Moore, der auch zahlreiche andere Mounds erforschte, die Anlage und publizierte seinen Bericht von mehreren Mounds, den Erdbällchen und anderen Artefakten. 1926 entsandte die Smithsonian Institution einen Mitarbeiter, der Bruchstücke einer Specksteinschale fand. Eine besondere Bedeutung wurde dem Ort jedoch nicht beigemessen, weshalb die Louisiana State Route 577 durch das Gelände geführt wurde. 1933 versuchte der Archäologe James A. Ford eine Zeittafel der Kulturen am unteren Mississippi zu erstellen. Obwohl er Poverty Point kannte, er war sogar dort gewesen, ließ er den Fundort aus, weil er die Befunde nicht einordnen konnte. 1935 grub der Arzt und Amateur-Archäologe Clarence Webb einen Graben am Fuß eines Mounds aus, in dem tausende Bruchstücke von Gefäßen aus Speckstein lagen. Sein Fund wurde 1944 publiziert, Webb blieb der Fundstelle verbunden und arbeitete an späteren Grabungen mit. Während des Zweiten Weltkriegs wurde die Region nach Erdöl und -gas erkundet, ein Ölunternehmer sammelte an Poverty Point große Mengen an Artefakten und arbeitete in den 1950er Jahren mit den Archäologen zusammen. Bei den Ausgrabungen der Works Progress Administration im Rahmen des New Deals der 1930er Jahre und in weiteren umfassenden Publikationen zur Siedlungsgeschichte der Region in den 1940er und frühen 1950er Jahren wurde Poverty Point völlig ignoriert. Die Artefakte passten stilistisch zu keiner bekannten Kultur, Form und Größe der bis dahin erkannten Mounds ließen sich nicht einordnen. In den 1950er Jahren finanzierte das American Museum of Natural History in New York die erste groß angelegte Ausgrabung. James A. Ford besorgte zur Vorbereitung Luftaufnahmen, die das United States Army Corps of Engineers in den 1930er Jahren für den Deichbau angefertigt hatte. Er erkannte auf den Bildern erstmals, dass die Geländerippen, die bis dahin für unregelmäßig und natürlichen Ursprungs gehalten worden waren, eine geometrische Anlage darstellten und dass sie, nicht die Mounds, die eigentliche Besonderheit Poverty Points waren. Ford und sein Kollege Robert Neitzel diskutierten, ob es sich ursprünglich um eine geschlossene, achteckige Anlage handelte, die teilweise mit dem Gelände erodiert war, oder ob die Ringe als Halbkreise zu einem schon bei der Erbauung vorhandenen Hangabbruch orientiert waren und darüber, ob alle Mounds zur Anlage mit den Ringen gehörten. Bei den Grabungen fanden sie hunderttausende PPOs in Feuergruben, daraufhin begannen sie mit den wahrscheinlich ersten Ansätzen experimenteller Archäologie in Amerika und formten selbst Bällchen aus Löss, experimentierten mit ihnen und wiesen so ihren Zweck nach. Außerdem nahmen sie die ersten 14C-Datierungen vor, noch mit unzulänglichen Methoden, was in großen Konfidenzintervallen resultierte. Bis zu Fords Tod Ende der 1960er Jahre arbeiteten Ford und Webb zusammen und entwarfen Konzepte der Kultur von Poverty Point und der Anlage. Sie gingen noch davon aus, dass es sich um eine Siedlung handeln müsse, die bereits Ackerbau betrieb und nahmen an, dass Mais die Ernährungsgrundlage der Menschen gewesen sei. Außerdem spekulierte Ford über Einflüsse aus Mesoamerika, die chronologischen Zusammenhänge und eine Invasion von Angehörigen der erst in der Folge als wesentlich jünger erkannten Hopewell-Kultur aus dem Norden, die den Anstoß zum Bau der Anlage gegeben hätte. In den 1970er Jahren stieß Jon Gibson zu den Archäologen um Webb und wurde für die nächsten dreißig Jahre der einflussreichste Experte für die Kultur von Poverty Point. Er entwickelte die Theorie, dass hier das erste Häuptlingstum auf dem nordamerikanischen Kontinent entstanden wäre. Die These brach in den frühen 1980ern zusammen, als deutlich wurde, dass Poverty Point keine agrarische Gesellschaft war und auch keine Anzeichen für Gesellschaftliche Schichten und eine Struktur mit Häuptlingen gefunden wurden. Der Ausbau des Fundortes zu einer Gedenkstätte des Staates Louisiana mit Museum ermöglichte neue Grabungen und 14C-Datierungen. In den 1980 und 90er Jahren wurden auf der Marçon Ridge und in der umliegenden Region eine Vielzahl peripherer Siedlungen und Lager gefunden, die in engem Austausch mit Poverty Point standen. Die Forschung konzentrierte sich auf die Beziehungen zwischen den Orten der Poverty-Point-Kultur einerseits und dem Austausch, insbesondere von Gestein, mit Menschen außerhalb der Kultur. Neuere Probennahmen und Grabungen an den Mounds erlauben seit 2001 eine Überprüfung früherer Datierungen und dadurch weitgehend gesicherte Daten zur Erstellung der Anlage. Neben 14C-Daten liegen auch Thermolumineszenzdatierungen von in den Mounds gefundenen keramischen Objekten vor. 2001 wurde punktuell eine geomagnetische Prospektion vorgenommen. Damit konnte nachgewiesen werden, dass Unterschiede in der Zusammensetzung der verbauten Erde, Ansammlungen von organischem Material als Siedlungsabfall und Kochgruben auch zerstörungsfrei von der Oberfläche gefunden werden können. Seit 2002 liegt auch ein detailliertes digitales Geländemodell vom heutigen Zustand der Anlage vor. Poverty Point heute Die Anlage wurde 1962 auf Initiative der Archäologen als National Historic Landmark ausgewiesen. Der Bundesstaat Louisiana kaufte das Gelände 1972 an und widmete es als State Historic Site. Die Anlage wird jährlich von etwa 15.000 Menschen besucht. Auf der Freifläche im Zentrum der Ringe steht seit 1975 ein kleines Besucherzentrum mit Museum, von dem aus täglich mehrmals Führungen, auch mit einer Wegebahn angeboten werden. Ein etwa vier Kilometer langer Rundweg führt durch das Gelände, vorbei an den am besten erhaltenen Ringen und den großen Mounds. Im Norden liegen jenseits eines kleinen Wasserlaufs Unterkünfte und Werkstätten für Archäologen des Poverty Point Station Archaeology Program der University of Louisiana at Monroe. 1988 schuf der Kongress die Voraussetzungen für eine Übernahme durch den Bund als National Monument. Der Staat Louisiana hätte die Flächen jedoch kostenlos abgeben müssen, was von Louisiana abgelehnt wurde. Das National Monument ist daher nur eine formale Hülle. Die Smithsonian Institution nahm die Anlage 2010 in ihren Forschungsverbund auf. Das erleichtert dem State Historic Site den Zugang zum Verleih von Sammlungsgegenständen für Ausstellungen, zu Fortbildungsveranstaltungen und der Zusammenarbeit bei Forschungs- und Bildungsprogrammen. In den Jahren 2011/2012 wurden die Bäume auf den Mounds der Anlage gefällt. Ihre Wurzeln galten als Gefahr für die Erdwerke, weil sie bei Sturmschäden den Boden aufreißen könnten. Die Erde zwischen den Wurzelstöcken wurde gesammelt und wird seitdem in den Wintermonaten auf Artefakte untersucht. Damit zeigen die Mounds wieder das Aussehen, das sie mutmaßlich zur Zeit der Nutzung hatten. 2008 wurde Poverty Point auf die Tentativliste für die Ausweisung als UNESCO-Welterbe aufgenommen, im Januar 2013 wurde die formale Nominierung eingereicht. Im Juni 2014 nahm das Welterbe-Komitee Poverty Point in die Liste des UNESCO-Welterbes auf. Nachdem keine neueren Datierungen für Motley Mound im Norden der Anlage vorliegen, wurde er vom Welterbe ausgenommen. Er soll ergänzt werden, wenn zuverlässige Daten vorliegen. Das International Council on Monuments and Sites hatte in seiner Evaluation von Poverty Point die kulturelle Bedeutung der Anlage als außerordentlich und auszeichnungswürdig eingestuft, äußerte jedoch Kritik am Schutz der Anlage und des Umfeldes. Es empfahl den Highway 577 aus dem Gebiet zu verlegen und einen gesetzlichen Schutz der landwirtschaftlichen Flächen rund um die Anlage vor Bebauung einzuführen. Außerdem sei zu überlegen, ob benachbarte Fundorte des Siedlungskerns in den Schutz einbezogen werden sollten. Literatur Jon Gibson: The Ancient Mounds of Poverty Point. University of Florida Press, Gainesville u. a. 2000, ISBN 0-8130-1833-1. Kathleen M. Byrd (Hrsg.): The Poverty Point Culture – Local Manifestations, Subsistence Practices, and Trade Networks. (= Geoscience & Man. 29). Geoscience Publications, Louisiana State University, Baton Rouge 1991, ISBN 0-938909-50-9. Jon Gibson: Poverty Point – A Terminal Archaic Culture of the Lower Mississippi Valley. Department of Culture, Recreation and Tourism, Louisiana Archaeological Survey and Antiquities Commission, 1996. (Kurzfassung online: Poverty Point) James A. Ford, Clarence H. Webb: Poverty Point, a Late Archaic Site in Louisiana. (= Anthropological Papers Vol. 46). Teil 1. American Museum of Natural History, New York 1956. (die Erstbeschreibung der Ausgrabungen von 1953 bis 1955, auch online, PDF, 55 MB) George R. Milner: The Moundbuilders – Ancient Peoples of Eastern North America. Thames & Hudson, New York/ London 2005, ISBN 0-500-28468-7. Kathleen O’Neal Gear, W. Michael Gear: People of the owl – a novel of prehistoric North America. Forge, New York 2003, ISBN 0-312-87741-2. (historischer Roman, der in der Poverty-Point-Kultur spielt) Weblinks Louisiana Office of State Parks: Poverty Point State Historic Site (offizielle Seite) (englisch) Louisiana Office of Tourism: Poverty Point World Heritage Site (Tourismus-Site mit vielen Informationen, englisch) – formale Seite der Bundesverwaltung ohne eigene Inhalte, Besucher werden auf die Website des Staates Louisiana weitergeleitet Poverty Point Earthworks: Evolutionary Milestones of the Americas, Louisiana Educational Television Authority and Louisiana Department of Culture, Recreation & Tourism, 1999 – Video, Windows Media Player oder Real Player, Laufzeit 22 min , Jon Gibson, 2002 – mit Informationen über die Arbeit der Archäologen National Geographic: Louisiana’s Best-Kept Secret Now a World Heritage Site, 22. Juni 2014 Einzelnachweise Archäologischer Fundplatz in den Vereinigten Staaten Archäologischer Fundplatz in Amerika National Historic Landmark (Louisiana) Geographie (Louisiana) Geschichte von Louisiana West Carroll Parish National Monument (Vereinigte Staaten) Welterbestätte in den Vereinigten Staaten Welterbestätte in Amerika Weltkulturerbestätte Denkmal im National Register of Historic Places (Louisiana) Archaische Periode (Amerika) Archäologischer Fundplatz (Altamerika) Mound
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https://de.wikipedia.org/wiki/Heeresflugplatz%20Celle
Heeresflugplatz Celle
Der Heeresflugplatz Celle „Immelmann-Kaserne“ (ICAO-Code: ETHC, abgekürzt HFlPl Celle) ist ein Militärflugplatz des deutschen Heeres in Niedersachsen. Die in der Gemarkung der Stadt Celle gelegene Einrichtung wurde im Jahr 1934 eröffnet und befindet sich seither durchgängig in militärischer Nutzung. Während der Berliner Luftbrücke 1948/49 war der Flugplatz ein bedeutender Einsatzstützpunkt, von dem aus Kohle und Lebensmittel in den Westteil der abgeriegelten Großstadt geflogen wurden. Heute wird die Anlage von der Bundeswehr überwiegend für die Ausbildung beziehungsweise Übungen von luftbeweglicher Infanterie, der taktischen Aus- und Weiterbildung von Hubschrauberpiloten sowie getrennt davon der Grundausbildung von Unteroffizier- und Feldwebelanwärtern genutzt. Bis zum Ende des Zweiten Weltkriegs lautete die Bezeichnung „Fliegerhorst Celle-Wietzenbruch“; während der alliierten Besatzung von 1945 bis 1957 war sein Name zunächst „Airfield B.118“, dann „RAF Station Celle“. Später erhielt der Heeresflugplatz zusätzlich den Namen „Immelmann-Kaserne“. Lage und Anfahrt Geographische Lage Der Heeresflugplatz Celle liegt 4,8 Kilometer südwestlich der Stadtmitte Celles und 31,2 Kilometer nordöstlich der Stadtmitte Hannovers. Im Westen schließt sich das Wietzenbruch an, ein moorähnliches Gebiet, das nach dem Fluss Wietze und dem umgebenden Bruchwald benannt ist. Das Gelände gab auch dem nördlich des Flugplatzes liegenden Stadtteil Wietzenbruch seinen Namen. Im Osten und Süden führt die Bahnstrecke Hannover–Hamburg vorbei. Der Mittelpunkt der Start- und Landebahn, der Bezugspunkt des Flugplatzes, liegt 39,3 Meter (129 Fuß) über Normalnull. Verkehrsanbindung Der Fliegerhorst wird über eine Stichverbindung der Landesstraße 310 angefahren, die als Zubringer zu den Bundesautobahnen 7 und 352 dient. Neben den Autobahnen wird Celle und damit auch der Flugplatz überregional durch die Bundesstraßen 3, 191 und 214 erschlossen. Seit Dezember 2005 verfügt die Immelmann-Kaserne über eine nach ihr „Kaserne“ benannte Haltestelle der städtischen Buslinie 13. Geschichte Für Details über die ehemals stationierten Einheiten und Luftfahrzeugtypen siehe Hauptartikel Liste ehemaliger Einheiten und Luftfahrzeuge des Heeresflugplatzes Celle Vorgeschichte der Luftfahrt um Celle 1910 unternahm ein Privatmann namens Schlüter erste Flugversuche auf der Scheuener Heide im Randgebiet eines Stadtteils von Celle auf der nördlichen Allerseite. Zu diesen waren die Celler Bürger mittels Zeitungsannoncen als Zuschauer eingeladen. Bedeutung erlangte die Fliegerei um Celle jedoch erst, als sich die Kaiserliche Marine auf der Suche nach einem „Marine-Landeflugplatz“ für das Gelände bei Scheuen entschied. Der Flugplatz konnte am 3. Oktober 1918 fertiggestellt werden und fortan fand bis zum Kriegsende regelmäßiger Flugbetrieb statt. Durch die Piloten verbreitete sich die Nachricht vom Kieler Matrosenaufstand sehr schnell auch in Celle und am 7. November 1918 kam es – von Scheuen ausgehend – auch in Celle zum Aufstand. Nach dem Kriegsende wurde der Flugplatz im Juni 1919 aufgegeben und weitere, nachweisbare Flüge fanden erst wieder ab Mitte der 1920er-Jahre statt. Jedoch erlangte das Gelände keine große Bedeutung mehr. Ab Mitte der 1930er erfuhr es als Außenlandeplatz des Fliegerhorstes Celle-Wietzenbruch erneut eine fliegerische Nutzung. Das ehemalige Flugfeld umfasst heute teilweise das zivile Segelfluggelände Scheuen. Wehrmacht 1933 bis 1945 Da dem Deutschen Reich nach dem Ersten Weltkrieg durch den Versailler Vertrag eine eigene Luftwaffe verboten war, bedienten sich die regierenden Nationalsozialisten der Tarnung des Deutschen Luftsportverbandes (DLV), um die Aufrüstung einer Luftstreitmacht voranzutreiben. So wurde – wie an vielen Orten Deutschlands – im Bereich um Celle nach einer geeigneten Stelle für einen Fliegerhorst gesucht. Die Wahl fiel auf ein Gelände bei Wietzenbruch. Dort sollte nach offizieller Angabe einer der Sitze der „Deutschen Verkehrs-Fliegerschule GmbH“ (DVS) entstehen. Die exakte Begründung für diese Standortwahl ist nicht überliefert. Die architektonische Leitung lag bei Ernst Sagebiel, der zur damaligen Zeit deutschlandweit tonangebend für den Bau von Fliegerhorsten war. Mit der Vertiefung des Fuhsekanals im Osten und des Adamsgrabens im Westen begannen die umfassenden Arbeiten zur Einebnung und Trockenlegung des morastigen Geländes. Zeitgleich entstanden die ersten Gebäude, so dass 1934 die geplante Fliegerschule einziehen konnte. Der nachgiebige, moorige Untergrund musste wenig später zwei Spaten tief mit Bitumen vermengt werden, um ein Einsinken der Luftfahrzeuge zu verhindern. Bedingt durch das Bitumen-Gras-Gemisch konnte das Oberflächenwasser nur schlecht abfließen, so dass regelmäßig große Wasserflächen auf dem Flugfeld entstanden. Aufgrund des federnden Untergrundes erhielt das Flugfeld von den Piloten den Namen „Gummiwiese“. Am 9. März 1935 wurde mit einer Rede Hermann Görings die Tarnung durch den DLV deutschlandweit aufgegeben und die Luftwaffe trat auf dem Fliegerhorst offiziell als Hausherr auf, die Beschäftigten gaben sich offen als Soldaten zu erkennen und trugen die Uniformen der Wehrmacht. Im weiteren Verlauf stationierte die Reichsluftwaffe immer größere Flugzeuge auf dem Fliegerhorst; der Ausbildungsbetrieb umfasste schließlich nahezu alle gängigen deutschen, militärischen Luftfahrzeugtypen der Zeit. Der Schulbetrieb erforderte aufgrund seines Umfanges Außenlandeplätze bei den nahe gelegenen Orten Hustedt, Scheuen und Dedelstorf. 1937 musste aus Kapazitätsgründen die Blindflugausbildung (Vorläufer des Instrumentenfluges) auf den etwa 35 Kilometer weiter ostwärts gelegenen Fliegerhorst Wesendorf ausgelagert werden. Nach dem Kriegsbeginn erfolgte die Verlegung der Flugschule zum Flughafen Leipzig-Mockau. Von November bis Dezember 1939 lag hier die I. Gruppe des Sturzkampfgeschwaders 77 mit ihren Junkers Ju 87B. Im März 1940 starteten von hier aus die Heinkel He 111P der II. und III. Gruppe des Kampfgeschwaders 54. Aber schon im April wurden sie verlegt. Erst ab Mai 1943 lagen hier wieder reguläre Verbände, als hier nacheinander Teile der Transportgeschwader 1, 2 und 4 mit der Junkers Ju 52 stationiert waren. Nachdem im März 1944 die letzten Transportflieger abgezogen waren, kam ab Juli 1944 die I. Gruppe des Kampfgeschwaders 40 mit der Heinkel He 177 auf den Platz und blieb bis August. In den letzten Monaten des Krieges, ab März 1945, flog noch die II. Gruppe des Jagdgeschwaders 26 mit ihren Focke-Wulf Fw 190D von hier aus letzte Einsätze. Ab dem Frühjahr 1944 unterstand der Flugplatz bis Kriegsende der Fliegerhorstkommandantur in Wesendorf. Kampfhandlungen Ab dem Jahr 1944 erfolgte in einer Flugzeughalle zeitweise die Endfertigung der Junkers Ju 88, dennoch blieb Celle-Wietzenbruch für die Kriegshandlungen insgesamt von untergeordneter Bedeutung. Daher und aufgrund eines geschickten Tarnanstrichs der Flugzeughallen war der Platz nur selten Ziel alliierter Luftangriffe. Dokumentiert sind Angriffe mit Bordwaffen alliierter Kampfflugzeuge am 8. April 1944 und ein Jahr später am 9. oder 10. April 1945. Dabei wurde im Jahr 1944 nach Angaben der Angreifer eine Junkers Ju 52/3m zerstört sowie eine Messerschmitt Bf 109, drei Focke-Wulf Fw 190 und eine Ju 88 beschädigt. Deutsche Zeitzeugen berichteten hingegen, dass bei diesem Angriff ein US-amerikanischer Jagdpilot so lange die Flugzeughalle V angriff, bis sich die platzeigene Flugabwehr auf den Flieger eingestellt hätte und den Piloten . Nach alliierten Angaben seien bei einem Angriff mit 40 Kampfflugzeugen am 10. April 1945 insgesamt zwölf Savoia-Marchetti SM.83, zwei Heinkel He 111 und drei nicht näher bezeichnete Schulungsluftfahrzeuge zerstört worden. Deutschen Angaben zufolge erfolgte dieser Angriff bereits am 9. April 1945 und erzielte keine Wirkung mehr, da die Angehörigen der letzten auf dem Fliegerhorst stationierten Einheit der Wehrmacht, der Flugzeugführerschule A/B 6, die verbliebenen Luftfahrzeuge gesprengt und anschließend die Kaserne verlassen hätten. Das Gelände wurde am 11. April 1945 von einem zurückbeorderten Oberfeldwebel kampflos und nahezu unbeschädigt an die britischen Streitkräfte übergeben. Alliierte Streitkräfte 1945 bis 1957 Die British Air Force of Occupation zog auf dem Platz ein, den die Alliierten zunächst als Airfield B.118 bezeichneten, später wurde daraus die RAF Station Celle. Bereits kurz nach der Einnahme verlegte die britische Luftwaffe metallene Lochplatten auf dem Flugfeld um dieses tragfähig für größere Flugzeuge zu machen. Nach anfänglichen Verbindungsflügen nach Großbritannien und Überwachungsflügen entlang der Luftkorridore nach Berlin sank die Zahl der Flugbewegungen schnell wieder und der Platz blieb von nachrangiger Bedeutung. Ab Ende Mai 1945 lag hier mit einer dreimonatigen Unterbrechung im Sommer 1945 eine Staffel Spitfire PRXI/PR19 Fotoaufklärer der BAFO, die 2. Squadron. Sie war Ende 1946 zunächst die letztverbliebene Spitfire-Staffel auf deutschem Boden und verlegte Mitte April 1947 nach RAF Wunstorf. 1947 fand gar kein Flugbetrieb mehr statt und die Luftfahrzeughallen dienten als Abstellflächen für Möbel und Panzer. Berliner Luftbrücke Mit dem Beginn der Berliner Luftbrücke im Juni 1948 änderte sich dies schlagartig. Die Alliierten benötigten dringend weitere Flugplätze und Celle bot eine strategisch günstige Lage: kürzeste Distanz nach Berlin und direkt am mittleren Luftkorridor gelegen. Im Gegensatz zu den meisten anderen Standorten der Luftbrücke wurde RAF Station Celle jedoch nicht vollständig in US-amerikanische Verwaltung übergeben. Die britische Luftwaffe blieb mit einem kleinen Kontingent Soldaten vor Ort und behielt das Oberkommando. Neben Faßberg und Wunstorf war der Fliegerhorst Celle der dritte Einsatzflughafen der Region. Für die Durchführung der Versorgungsflüge des 317th Troop Carrier Wing der US Air Force mit Douglas C-54 Skymaster, bei denen zunächst überwiegend Kohle nach Berlin geflogen wurde, musste der Flugplatz stark ausgebaut werden. Er erhielt unter anderem einen Gleisanschluss mit ungewöhnlich langer Verladerampe (etwa 300 Meter) und direkter Anbindung zum Flugfeld sowie nun erstmals eine befestigte Start- und Landebahn aus Teer und Makadam sowie weitläufige Abstellflächen nördlich und südlich der Piste. Waren es zu Beginn der Luftbrücke noch etwa 600 Tonnen Fracht insgesamt, wurden im Frühjahr 1949 täglich 1000 Tonnen Kohle sowie 1000 Tonnen Lebensmittel transportiert. Somit entwickelte sich RAF Station Celle nach RAF Station Faßberg zum Platz mit dem zweithöchsten Warenumschlag überhaupt. Zu dieser Zeit wurde die Hälfte aller Güter zur Versorgung Berlins von diesen beiden Plätzen aus zu der eingeschlossenen Bevölkerung geflogen. 5000 deutsche Arbeitskräfte unterstützten die Arbeiten auf dem Fliegerhorst. Für sie und die Soldaten wurden nördlich der Kaserne großflächig Nissenhütten zur Unterbringung errichtet. Die Celler Bevölkerung erregte sich derweil über die „Veronikas“ genannten Frauen die, von den gut bezahlten Soldaten angelockt, mehr oder minder offen Liebschaften mit US-Amerikanern suchten. Ein öffentlicher Aufruf der Stadt Celle prangerte in der bürgerlichen Bevölkerung hervorriefen. Das öffentliche Entsetzen und die wiederkehrenden Aufrufe zur Sittlichkeit durch städtische Mandatsträger in der lokalen und regionalen Presse wurden schließlich bundesweit bekannt. So befassten sich die Stuttgarter Nachrichten am 14. Februar 1949 in einem halbseitigen Artikel mit . Von der Zeit der Luftbrücke zeugt heute noch das Luftbrückendenkmal, das – in etwas kleinerer Form als in Berlin und Frankfurt am Main – an der Zufahrtsstraße zum Fliegerhorst steht und zudem das Stadtteilwappen Wietzenbruchs ziert. Nach dem Ende der Luftbrücke wurde das Gelände wieder ausschließlich von den britischen Luftstreitkräften genutzt, die zunächst mit De Havilland DH.98 Mosquito ausgerüstet war. Nach Ausbruch des Koreakrieges im Jahr 1950 begann eine Aufrüstung der RAF Second Tactical Air Force, aus der später die RAF Germany entstand. Für die RAF Station Celle bedeutete dies eine Modernisierung durch Zulauf von Vampires, den ersten Strahlflugzeugen, die auf dem Platz stationiert waren. Im Januar 1954 rüsteten die beiden Vampire-Staffeln des 139. Wing (Geschwader) auf deren Nachfolger Venom um. Die infrastrukturelle Fähigkeit zum schnellen Aufbau einer erneuten Luftbrücke nach Berlin wurde bis zur deutschen Wiedervereinigung aufrechterhalten und konsequent weiter ausgebaut. Unter anderem wurde die Start- und Landebahn in den 1960er-Jahren erst verlängert und später komplett erneuert. Für die Piste 26 wurde ein Instrumentenlandesystem installiert und es erfolgte der Bau einer umfassenden Beleuchtung für die Verladerampe noch Ende der 1980er-Jahre, kurz vor dem Fall der Berliner Mauer. Da eine neuerliche Luftbrücke nach Berlin eine innere Angelegenheit des Staates gewesen wäre, die Bundeswehr jedoch nur im erklärten Verteidigungsfall im Inland tätig werden darf, trug das Bundesministerium des Innern die Kosten für den Unterhalt und die Erweiterung der Anlagen. Bundeswehr seit 1957 Ein Jahr nach der Aufstellung der Bundeswehr übergaben die Briten am 29. November 1957 den Flugplatz an die deutschen Heeresflieger. Damit wurde Celle nach Niedermendig und neben Fritzlar einer der ersten Standorte der damals jüngsten Truppengattung des deutschen Heeres, die im Laufe der Jahre verschiedene fliegende Einheiten und Verbände in Celle stationierte. Als Besonderheit waren von 1959 bis 1967 mit zwei Lufttransportgeschwadern auch Luftwaffeneinheiten in Celle stationiert. Somit ergab sich, bis in die 1990er-Jahre einmalig in der Bundeswehr, ein dauerhaft gemischt genutzter Fliegerhorst von Heer und Luftwaffe. Das Lufttransportgeschwader 62 verlegte jedoch bereits 1960 nach Köln und später weiter nach Wunstorf. Das in Celle 1961 aufgestellte Lufttransportgeschwader 63 wurde im Jahr 1967 nach Hohn bei Rendsburg verlegt, wo es auch heute noch stationiert ist. Im Herbst 1961 wurde auf dem Fliegerhorst Celle eine kleinere Einheit der Nationalgarde der Vereinigten Staaten stationiert, die hier aufgrund der Spannungen nach dem Berliner Mauerbau zum Einsatz bei einer eventuellen Neuauflage der Berliner Luftbrücke in Reserve gehalten wurde. Nach der Verlegung der Transportgeschwader stationierte die Luftwaffe keine fliegenden Verbände mehr in Celle. Dennoch stellte weiterhin eine gemischte Einheit aus Heer und Luftwaffe die Flugsicherungsdienste. In Celle bestand neben der stationären auch eine mobile Flugsicherungseinheit, die unter anderem mit einem mobilen Tower ausgerüstet war und damit beispielsweise sogenannte Autobahn-Notlandeplätze betreiben konnte. Weiterhin leistete von 1959 bis 1966 eine mit mobilem Radar ausgestattete US-amerikanische Luftwaffeneinheit auf dem Fliegerhorst Dienst. Diese Einheit leitete Marschflugkörper vom Typ TM-61C (MGM-1 Matador), indem sie sich nach deren Start per Funk mit der Steuereinheit verband und so die Rakete ins Ziel lenken konnte. Da sie für die lückenlose Abdeckung des Luftraumes insbesondere in Richtung Osten jedoch nicht unbedingt notwendig war, ist die Einheit aus Kostengründen wieder aufgelöst worden. Von 1963 bis 1981 befand sich auf dem Heeresflugplatz Celle eine Versuchsstaffel, die Erprobungen mit Drohnen und neu einzuführenden Hubschraubertypen wie beispielsweise der Bölkow Bo-105 in der Version als Panzerabwehrhubschrauber durchführte. Die Einheit mit der längsten Stationierungszeit in Celle war die Heeresfliegerstaffel 7, zuverlegt im Jahr 1961 vom Heeresflugplatz Rheine. Sie ist 1968 zum Bataillon aufgewertet und nach drei Jahren wieder zu einer Staffel zurückgestuft worden. 1979 erfolgte die Umbenennung in Heeresfliegerstaffel 1. Die mit dem Verbindungs- und Beobachtungshubschrauber Alouette II ausgerüstete Einheit wurde 1994 aufgelöst. Am 28. Juli 1967 erhielt die Einrichtung im Rahmen einer feierlichen Zeremonie den zusätzlichen Namen „Immelmann-Kaserne“ in Erinnerung an den deutschen Piloten Max Immelmann. Das Fliegerass fiel während des Ersten Weltkrieges am 18. Juni 1916. Anfang der 1970er-Jahre wurde die Truppengattung der Heeresflieger personell massiv aufgestockt. 1971 wurde mit dem Heeresfliegerregiment 10, ausgerüstet mit Bell UH-1D, erstmals ein Verband von Regimentsgröße in Celle geschaffen. Im Jahr 1979 wurde ein zweites Regiment, das mit Panzerabwehrhubschraubern ausgestattete Heeresfliegerregiment 16 aufgestellt. Da der Fliegerhorst nicht den Platz für zwei Regimenter bietet war von Anfang an geplant, eines der beiden auf den Heeresflugplatz Faßberg zu verlegen. Die endgültige Entscheidung führte im Jahr 1981 entgegen der ersten Absicht zur Verlegung des Heeresfliegerregiments 10 nach Faßberg. Dessen Regimentswappen zeigt noch heute das stilisierte Celler Schloss. Nach dem Ende des Kalten Krieges wurde im Jahr 1991 die Fähigkeit zum Instrumentenflug in Celle ebenso wie die Notlandeplätze auf Bundesautobahnen aufgegeben und daher die Flugsicherung entsprechend reduziert. Das Instrumentenlandesystem, die Anflugkontrollstelle (Radar) sowie die bis dahin vorhandenen Ausstattungsmerkmale zum schnellen Aufbau einer erneuten Luftbrücke nach Berlin wurden außer Betrieb genommen. Mehrere kleinere Einheiten und Dienststellen wurden in den folgenden Jahren aufgelöst oder verlegt; auch die Luftwaffe zog sich ganz vom Fliegerhorst zurück. Einziger am Standort Celle verbliebener fliegender Verband war das Heeresfliegerregiment 16, ausgerüstet mit Panzerabwehrhubschraubern vom Typ Bölkow Bo-105 (PAH 1A1). 2002/2003 ist im Rahmen der Umstrukturierung der Bundeswehr und der Vorbereitung auf die Einführung der neuen Hubschraubertypen NH-90 und Eurocopter Tiger das Heeresfliegerregiment 16 aufgelöst worden. Teile der Heeresfliegerwaffenschule zogen auf dem Flugplatz ein. Zur gleichen Zeit wurden in Celle wieder kleinere, selbstständige Hubschraubereinheiten aufgestellt. Mit der Aufnahme des Schulungsflugbetriebes wurde der Fliegerhorst Celle seit 2003 wieder instrumentenanflugfähig und das 1981 von Celle weg verlegte Hubschraubermuster Bell UH-1D hielt – zusätzlich zur weiterhin eingesetzten Bölkow Bo-105 – erneut Einzug auf dem Flugplatz. Mit der Umstellung auf den neuen Transporthubschrauber NH90 benötigte die Heeresfliegertruppe keine weiteren UH-1D-Piloten. Am 25. August 2010 wurde der Schulungsbetrieb des Heeresfliegerausbildungszentrum C in Wietzenbruch auf diesem Muster eingestellt und die letzten sieben am Standort verbliebenen UH-1D wurden nach Faßberg überführt, wo sie dem Transporthubschrauberregiment 10 angehörten. Weiterhin wurden sämtliche Bölkow Bo-105 der Bundeswehr in Celle zusammengezogen und von dort für Schulungszwecke und Verbindungsflüge genutzt. Nach der Entscheidung zur Aufgabe der Bölkow Bo-105 als fliegendes Waffensystem wurde das Ausbildungszentrum C in „Internationales Hubschrauberausbildungszentrum TE 900 Celle Restflugbetrieb Bo-105“ umbenannt und nahm die ebenfalls aufgelösten selbstständigen Einheiten Heeresfliegerverbindungs- und Aufklärungsstaffel 100 sowie Heeresfliegerinstandsetzungsstaffel 100 auf. Dieses zur Abwicklung des Flugbetriebs errichtete Konstrukt wird mit Wirkung zum 30. Juni 2017 aufgelöst. Am 13. Dezember 2016 fand der letzte Flug mit einer Formation aus 18 Hubschraubern dieses Typs statt. Damit sind am Heeresflugplatz Celle keine fliegende Waffensysteme stationiert. Zum 1. Juli 2016 wurde das Ausbildungs- und Übungszentrum Luftbeweglichkeit in der Kaserne aufgestellt. Dieses betreibt den Flugplatz und unterstützt übende Verbände mit überwiegend simulationsgestützten und geringen real geflogenen Anteilen bei der Professionalisierung. Weiterhin steht der Flugplatz mit seiner Kapazität für Transportluftfahrzeuge bspw. für den Fallschirmsprungdienst der Luftlandebrigade 1 zur Verfügung. Katastrophenhilfe Nur bei erklärtem Verteidigungs- oder Katastrophenfall oder zur Amtshilfe dürfen Soldaten der Bundeswehr im Inland eingesetzt werden. Auf dem Heeresflugplatz Celle stationierte Soldaten waren bisher sieben Mal im Rahmen der Katastrophenhilfe innerhalb Deutschlands tätig. Während der Sturmflut im Februar 1962 starteten von Celle aus Evakuierungs- und Versorgungsflüge, überwiegend in das Hamburger Umland. Hierbei kamen vorrangig die Nord Noratlas des Lufttransportgeschwaders 63 sowie Alouette II der Heeresfliegerstaffel 7 zum Einsatz. Beim Brand in der Lüneburger Heide im August 1975 setzte das Heeresfliegertransportregiment 10 den Hubschraubertyp Bell UH-1D mit „Smokeys“, unter die Hubschrauber gehängte Löschwasserbehälter, massiv zur Brandbekämpfung ein. Auch das bodengebundene Personal unterstützte die Brandabwehr mit den zur Verfügung stehenden Mitteln. Im Laufe der Schneekatastrophe 1978/1979 zeichnete sich insbesondere die Flugsicherungskompanie Nord mit Radarunterstützung der Rettungsdienste während der katastrophalen Wetterlage aus. Vornehmlich zur Sicherung der Deiche und für Verbindungs- und Überwachungsflüge während des Oderhochwasser 1997 wurden einzelne Soldaten und Hubschrauber des Heeresfliegerregimentes 16 in die Katastrophengebiete entsandt. Der reguläre Dienstbetrieb am Standort ist parallel fortgesetzt worden. Beim ICE-Unfall von Eschede am 3. Juni 1998 war der Heeresflugplatz Celle die zuständige Stelle für die Koordination des massiven Rettungs- und Bergungseinsatzes der Bundeswehr zu Lande und in der Luft. Zwei der verunglückten Waggons sowie die zugehörigen Teile der Bahntrasse und alle relevanten Drehgestelle wurden bis zum Abschluss der Untersuchungen über den Unfallhergang auf dem Fliegerhorst in der damals leeren Flugzeughalle V gelagert. Das gesamte Gebiet der Bundesrepublik Deutschland ist für den Katastrophenfall in Zuständigkeitsbereiche der Bundeswehr aufgeteilt. Bei örtlich begrenzten Fällen ist der jeweilige Standortälteste Ansprechpartner ziviler Behörden und Organisationen. Bei Bedarf kann jedoch Unterstützung aus anderen Bereichen angefordert werden. So waren für die Transporte Schwerstverletzter überwiegend Bell UH-1D des Heeresflugplatzes Faßberg im Einsatz, obwohl dessen Zuständigkeitsbereich erst etwas nördlich der Unfallstelle beginnt. Zur Unterstützung der Hilfeleistung der Bundeswehr während der Elbhochwasser 2002 und 2006 waren erneut Soldaten und Material aus Celle zur Unterstützung abgestellt. Wie bei der Oderflut zuvor wurde der Dienstbetrieb am Standort jedoch weiter fortgesetzt. Sonstiges Im Zeitraum vom September 2015 bis zum März 2016 wurde die Sporthalle und ein angrenzendes Gebäude in der Immelmann-Kaserne als Notunterkunft für geflüchtete Menschen genutzt. Dazu wurde ein Teil der Kaserne provisorisch herausgetrennt und ein Interimszugang in Richtung der Marienwerder Allee geschaffen. Nach wenigen Tagen übernahm das Deutsche Rote Kreuz den Weiterbetrieb der Notunterkunft von der Bundeswehr. Die Vorkehrungen wurden nach Ende der Nutzung vollständig zurückgebaut. Zwischenfälle Am 15. Februar 1949 verunglückte eine Douglas DC-4/C-54M der United States Air Force (USAF) (Luftfahrzeugkennzeichen 44-9062) nach einem Triebwerksausfall bei der Landung auf dem Militärflugplatz Celle. Nach einem anderen Bericht ereignete sich der Unfall etwa 10 Meilen (16 Kilometer) nördlich davon. Das Flugzeug wurde irreparabel beschädigt. Alle drei Besatzungsmitglieder überlebten den Unfall. Am 26. Mai 1949 kam es mit einer Douglas DC-4/C-54D-15-DC der United States Air Force (USAF) (43-17230) auf dem Militärflugplatz Celle zu einer Bruchlandung. Das Flugzeug wurde irreparabel beschädigt. Alle Insassen überlebten den Unfall. Flugplatzmerkmale Der Heeresflugplatz Celle ist ein kontrollierter Militärflugplatz, an dem Sicht- und Instrumentenflug zugelassen sind. Die überwiegende Zahl der heute noch genutzten Gebäude wurde vor 1940 errichtet. Nur wenige wesentliche Neubauten erfolgten nach der Übernahme des Fliegerhorstes durch deutsche Heeresflieger, beispielsweise das Anflugkontrollgebäude (Tower mit Approach) sowie zusätzliche Unterkünfte im nördlichen Kasernenbereich. Markanteste Änderungen der Infrastruktur waren die Erweiterung des Flugplatzgeländes nach Westen in Verbindung mit einer Verlängerung der Start- und Landebahn zur Berliner Luftbrücke 1948 und nochmals Ende der 1960er, sowie 1994 die Verlegung des Fuhsekanales nach Osten aus der Kaserne heraus. Dieser führte ursprünglich direkt am Flugfeld entlang durch die Kaserne. Mehrere Gebäude des Flugplatzes mussten im Laufe der Jahre wegen Baufälligkeit oder aus Gründen des Umweltschutzes abgerissen werden, unter anderen die sogenannte „Berlin-Küche“ (Küche und Speisesaal aus der Zeit der Berliner Luftbrücke), das Fliegerhorst-Kino, das Schwimmbad sowie eine Tankanlage. Andere wurden und werden nach und nach – teils mehrfach – saniert und umgebaut. Manche sind in ihrer Funktion vollständig oder teilweise geändert. So wird die ehemalige Reithalle heute als Sporthalle genutzt. Aus Kostengründen stimmte die Bundeswehr im Jahr 2005 der Stilllegung des zuletzt von den Osthannoverschen Eisenbahnen bedienten Gleisanschlusses zu. Der Nachschub an Kerosin wird seitdem über Tankwagen sichergestellt. Bereits ein Jahr später begann der Rückbau der Gleise vom Celler Bahnhof nach Wietzenbruch, dem bis dahin letzten Rest der ehemaligen Allertalbahn. Organisation Die gesamte Anlage ist Militärischer Sicherheitsbereich, vollständig von einem Kasernenzaun umschlossen und somit für die Öffentlichkeit nicht zugänglich. Organisatorisch besteht eine interne Trennung zwischen Kasernen- und Flugbetriebsbereich. Zutrittsberechtigt zum Kasernenbereich sind grundsätzlich alle Angehörigen der Bundeswehr und verbündeter Streitkräfte. In diesem Teil sind die Verwaltungs-, Betreuungs-, Sport- und Sanitätseinrichtungen sowie die Unterkünfte gelegen. Zusätzlich existiert am Standort noch ein Offizierheim. Der Flugbetriebsbereich ist nochmals speziell eingezäunt und umfasst das Flugfeld, die Flugzeughallen und Abstellflächen für Luftfahrzeuge sowie die Einrichtungen zum Betreiben des Flugplatzes, beispielsweise Radaranlagen, Tower und Tanklager. Der Zugang zum Flugbetriebsbereich wird – ähnlich einem zivilen Verkehrsflughafen – grundsätzlich nur Personen gestattet, die in diesem Bereich ihre Arbeitsstätte haben oder als Luftfahrzeugbesatzung beziehungsweise Passagier zwingend das Flugfeld betreten müssen. Landeflächen Die Dimensionen der Piste mit 1831 Metern Länge und 45 Metern Breite bei zusätzlich 303 Metern Überrollstrecke im Osten (gesamte asphaltierte und nutzbare Länge 2134 Meter) erlauben grundsätzlich Starts und Landungen nahezu aller gängigen Luftfahrzeuge. Als bisher größtes Flugzeug landete 1972 eine Lockheed C-5 Galaxy in Celle, um einen Materialtransport durchzuführen. Entsprechend der überwiegenden Nutzung als Übungs- und Ausbildungsflugplatz der Bundeswehr unter anderem für Hubschrauberpiloten stehen parallel zur befestigten Start- und Landebahn verschiedene Graslandeflächen zur Verfügung. In diese jeweils mindestens 50 Meter breiten und zwischen 50 und 500 Meter langen Grasstreifen können Punktlandungen sowie Autorotationen und andere Hubschrauber-Notverfahren geübt werden. Um die Lärmbelastung für die über Jahrzehnte an den Flugplatz herangewachsene Stadt möglichst gering zu halten und die Kapazität insgesamt besser auslasten zu können, wird zusätzlich ein Hubschrauberübungs- und Absetzgelände in Scheuen, nordöstlich der Stadt Celle, betrieben. Dort können, etwas abseits von bebautem Gebiet auf einem Standortübungsplatz, ebenfalls Landeübungen mit Hubschraubern sowie Absetzübungen von Luftlandetruppen aus Hubschraubern und Transportluftfahrzeugen durchgeführt werden. Der Flugplatz verfügt nicht über Hakenfanganlagen oder andere Sicherungseinrichtungen für strahlgetriebene Luftfahrzeuge und wird daher nur im Ausnahmefall von Kampfflugzeugen angeflogen. Infrastruktur Zum Abstellen, Warten und Instandsetzen von Luftfahrzeugen stehen insgesamt fünf Flugzeughallen zur Verfügung, eine davon ist als Werft ausgelegt. Jede der Hallen kann dabei je nach Typ bis zu 24 Hubschrauber fassen. Die Abstellflächen im Freien vor den Hallen bieten Platz für rund 40 Luftfahrzeuge unterschiedlicher Größen. Weitere Standflächen bieten die Nord-, die Südwest- und die Südostspinne. Diese Abstellflächen sind aufgelockert spinnenförmig angeordnet und teilweise durch Bepflanzung gedeckt, wie zur Zeit des Kalten Krieges üblich. Diese werden überwiegend nicht mehr fliegerisch genutzt, stehen jedoch begrenzt für Übungen platzfremder Einheiten zur Verfügung. Kerosin (F-34), mit dem fast alle Militär- und die meisten zivilen Luftfahrzeuge fliegen, wird bereitgehalten. Kraftstoffe wie AvGas, MoGas und Dieselkraftstoff, die überwiegend für Sportflugzeuge genutzt werden stehen nicht zur Verfügung. Das Betanken erfolgt über Tankfahrzeuge. Die früher zusätzlich betriebene Unterflur-Tankanlage dient nur noch als Kerosinlager. Luftraum Der Flugplatz wird umgeben von einer Kontrollzone der Luftraumklasse „D“, die jedoch nur bei Öffnung des Flugplatzes aktiv ist. Der Luftraum im Zuständigkeitsbereich der Anflugkontrollstelle ist als „E“ mit 1000 Fuß Untergrenze klassifiziert. Navigationshilfen Der Flugplatz verfügt über ein ungerichtetes Funkfeuer (Frequenz: 311 kHz, Kennung: CEL). Dieses wird für An- und Abflugverfahren des Heeresflugplatzes Celle, aber auch von der zivilen Deutschen Flugsicherung als An- und Abflughilfe für die Flughäfen Hannover und Braunschweig-Wolfsburg verwendet sowie in der Funknavigation als Wegpunkt zweier Luftstraßen. Weiterhin ist der Platz mit einem Präzisionsanflugradar (PAR-80) und einem Flughafen-Rundsichtradar ausgestattet. Die bis Ende des Jahres 2017 genutzte ASR-910 wird derzeit durch das Nachfolgesystem ASR-S umgerüstet. Dienste Auf dem Flugplatz ist eine Flugberatung, eine Außenstelle des Geoinformationsdienstes der Bundeswehr (Wetterberatungsstelle) und eine eigene Feuerwache stationiert. Somit werden alle notwendigen Dienste für den nationalen und internationalen Flugverkehr verfügbar gehalten. Der Heeresflugplatz Celle ist „Airport of Entry“ (Zollflughafen) und darf somit direkt aus dem nicht-europäischen Ausland angeflogen werden. Nutzung Der Fliegerhorst steht als militärischer Flugplatz während seiner Öffnungszeiten grundsätzlich für alle Luftfahrzeuge der Bundeswehr, der Polizei und Bundespolizei, sowie der NATO-Mitgliedsstaaten zur Verfügung. Aus Gründen des Lärmschutzes für die Zivilbevölkerung sowie um den eigenen Ausbildungsflugbetrieb nicht unnötig zu stören, wird dies durch eine sogenannte „PPR“–Regelung eingeschränkt; das bedeutet eine Genehmigung zum Anflug auf Celle ist vor Antritt des Fluges einzuholen. Starts und Landungen ziviler Maschinen bedürfen einer vorherigen schriftlichen Anfrage und Genehmigung oder müssen durch einen Mitbenutzungsvertrag abgedeckt sein. Lediglich Luftnotlagen sind ausgenommen. Zusätzlich zu den Einheiten, die den Flugplatz fliegerisch nutzen oder den Flugbetrieb unterstützen sind auf dem Heeresflugplatz Celle Einheiten und Dienststellen untergebracht, die lediglich auf die militärische Infrastruktur zurückgreifen. Diese Nutzer sind dabei von der Verwendung der Liegenschaft als Fliegerhorst unabhängig. Sie befinden sich aus organisatorischen, historischen oder Kapazitätsgründen mit in der Immelmann-Kaserne. Auftrag und Aufgaben aller auf dem Heeresflugplatz Celle stationierten Einheiten leitet sich aus den Vorgaben des Weißbuch 2006 ab. Neben individuellem Auftrag und Aufgaben ist allen auf dem Heeresflugplatz Celle stationierten Einheiten gemeinsam, dass sie jederzeit im Rahmen der Amts- und Katastrophenhilfe zum Schutz und zur Rettung der Bevölkerung Deutschlands zur Verfügung stehen sowie zivile Behörden und Dienststellen, beispielsweise die Polizei, unterstützen. Einheiten mit fliegerischem Auftrag Es sind keine Einheiten mit eigenen Luftfahrzeugen auf dem Heeresflugplatz Celle stationiert. Einheiten mit flugunterstützendem Auftrag Ausbildungs- und Übungszentrum Luftbeweglichkeit Das Ausbildungs- und Übungszentrum Luftbeweglichkeit betreibt den Heeresflugplatz Celle und stellt übenden Einheiten die infrastrukturellen Möglichkeiten für simulatorgestützte wie auch real durchgeführte Übungen mit fliegerischen Anteilen zur Verfügung. Geoinformationsberatungsstelle Celle Die Aufgaben der Geoinformationsberatungsstelle umfassen den Flugwetterdienst generell für den regionalen Bereich sowie bei Einsatzflügen für die gesamte Flugstrecke – bei Bedarf weltweit. Rund um die Uhr werden Wetterbeobachtungen durchgeführt, selbst wenn der Flugplatz an sich geschlossen ist. Die Daten werden in ein weltumspannendes Fernmeldesystem für Wetterdaten eingesteuert und das sich ergebende Bild vor Ort ausgewertet. Bei sich entwickelnden regionalen Unwettern gibt die Beratungsstelle Warnungen und Informationen, insbesondere an die Luftfahrzeugbesatzungen, heraus. Heeresflugplatzfeuerwehr Celle Die Heeresflugplatzfeuerwehr stellt den Brandschutz und die Technische Hilfeleistung auf dem Fliegerhorst sicher. Sie ist rund um die Uhr im Dienst, selbst wenn der Flugplatz an sich geschlossen ist. Bei einem Flugunfall oder einer Luftnotlage ist sie für die Erstmaßnahmen sowohl auf dem Flugplatzgelände als auch im Nahbereich zuständig. Zusätzlich stellt die Einheit bei Bedarf den Brandschutz auf dem Hubschrauberübungsgelände Scheuen sicher. Sanitätsversorgungszentrum Celle Um die unentgeltliche truppenärztliche Versorgung der Soldaten sicherzustellen, ist auf dem Flugplatz ein Sanitätsversorgungszentrum als Außenstelle der Sanitätsstaffel Einsatz Munster mit mehreren Praktischen- sowie Fachärzten und Zahnärzten untergebracht. Unterstützt wird diese Komponente von speziell ausgebildeten Fliegerärzten, die von den flugunterstützenden Einheiten gestellt werden. Bei Zwischenfällen im Flugverkehr während der regulären Dienstzeiten stellen die Fliegerärzte gemeinsam mit der Feuerwehr die Erstversorgung Verletzter sicher. Standortservice Aufgrund der im Grundgesetz vorgeschriebenen Trennung zwischen militärischem Auftrag und ziviler Wehrverwaltung unterhält die Bundeswehr auf dem Gelände des Fliegerhorstes Außenstellen ziviler Dienstleistungszentren, den sogenannten Standortservice. Diese stellen den technischen Betrieb der Anlagen sowie die Pflege und Verwaltung des Geländes mitsamt allen Gebäuden und Einrichtungen sicher und stellt diese den militärischen Nutzern zur Verfügung. Zuständig für den Standort Celle ist das Bundeswehr-Dienstleistungszentrum Hannover. Militärseelsorge Für die Durchführung der Militärseelsorge auf dem Fliegerhorst befindet sich eine vom evangelischen und katholischen Standortpfarrer ökumenisch genutzte Kapelle auf dem Gelände, in der monatlich Gottesdienste durchgeführt werden. Der ständige Dienstsitz der zuständigen Militärgeistlichen ist Hannover. Sie sind Teil des „psychosozialen Netzwerks der Hilfe“. Das Netzwerk bestehend aus den Fliegerärzten, den Standortpfarrern und anderen sozialen Einrichtungen der Bundeswehr. Es betreut hilfesuchende Soldaten bei privaten sowie dienstlichen Problemen und betreut Betroffene, deren Angehörige und eingesetzte Rettungskräfte bei einem Flugunfall oder Zwischenfall. Einrichtungen anderer Glaubensgemeinschaften sind nicht vorhanden. Einheiten ohne fliegerischen Bezug Unteroffizierschule des Heeres Die Unteroffizierschule des Heeres, Lehrgruppe D (ehemals das Feldwebel-/Unteroffizieranwärterbataillon 2, aufgelöst am 22. September 2022) führt die Laufbahnlehrgänge für künftige Unteroffiziere und Feldwebel des Heeres durch. Standortältester Celle Der Standortälteste Celle repräsentiert den Heeresflugplatz Celle und weitere militärische Liegenschaften um Celle nach außen, vor allem gegenüber der Stadt sowie dem Landkreis Celle und der örtlichen Presse. Er ist Ansprechpartner für zivile Dienststellen und Behörden, insbesondere bei der Koordinierung der Amts und Katastrophenhilfe durch die Bundeswehr. Der Standortälteste übt Dienstaufsicht über alle Einheiten des Standortes aus und regelt Angelegenheiten von gemeinsamem Belang, beispielsweise die Nutzungszeiten für den Standortübungsplatz Scheuen und die Standortschießanlage. Feldwebel für Reservistenangelegenheiten Diese Kleindienststelle ist Verbindungselement zu den in den Landkreisen Celle und Heidekreis wohnenden Reservisten der Bundeswehr. Zum Aufgabenbereich gehören Weiterbildungs- und Informationsveranstaltungen für ehemalige Soldaten sowie organisatorische Unterstützung bei Reserveübungen. Dabei arbeitet der Feldwebel für Reservistenangelegenheiten eng mit dem Verband der Reservisten der Deutschen Bundeswehr (VdRBw) zusammen. Der Feldwebel für Reservistenangelegenheiten untersteht dem Landeskommando Niedersachsen. Verband der Reservisten der Deutschen Bundeswehr Der Verband der Reservisten der Deutschen Bundeswehr ist ein staatlich geförderter Verein, der im Auftrag und mit finanzieller Unterstützung des Deutschen Bundestages die Reservistenarbeit übernimmt. Die Kreisgeschäftsstelle Celle ist dabei in Zusammenarbeit mit dem Feldwebel für Reservistenangelegenheiten zuständig für die Betreuung der Mitglieder im Landkreis Celle. Sie führt regelmäßige Veranstaltungen durch und informiert ihre Mitglieder durch eine halbjährlich erscheinende Rundschrift. Zivile Nutzung Bis in die 1980er Jahre nutzten vornehmlich Angehörige der europäischen Adelshäuser, insbesondere des englischen, sowie weitere Personen des öffentlichen Lebens die Möglichkeit, auf den für Journalisten und Fotografen unzugänglichen Militärflugplätzen zu landen. Bekannteste Gäste auf dem Fliegerhorst Celle waren die niederländische Prinzessin Beatrix 1965, Elizabeth Bowes-Lyon („Queen Mum“) 1965 und 1984, Elisabeth II. (Königin des Vereinigten Königreichs von Großbritannien und Nordirland) 1967, 1984 und 2015 sowie Prinz Charles mit Diana 1987. Weiterhin wurde der Heeresflugplatz Celle gelegentlich genutzt, um Truppenbesuche britischer Adeliger bei den in der Region stationierten britischen Streitkräften abzuhalten, sowie die traditionellen, seit Sophie Dorothea von Braunschweig-Lüneburg bestehenden Verbindungen zwischen dem Hause Windsor und der Herzogstadt Celle zu pflegen. Mit der vermehrten Auflösung oder Verlegung britischer Verbände aus Deutschland sank diese Bedeutung jedoch seit den 1990ern. Ein Anfang der 1990er gestarteter Vorstoß Celler Politiker, den Flugplatz für eine generelle zivile Mitnutzung auszubauen, wurde wegen der aller Voraussicht nach fehlenden Wirtschaftlichkeit – insbesondere aufgrund der Nähe zum Flughafen Hannover-Langenhagen – nicht weiter verfolgt. Eine erneute Untersuchung zehn Jahre später scheiterte am Widerstand der Bundeswehr gegen eine solche Mitnutzung. Bei lokalen Großveranstaltungen, wie beispielsweise dem Celler Trialog, oder zu offiziellen Anlässen in der Region wird der Heeresflugplatz Celle durch hochrangige, überwiegend nationale, Militärs und Politiker, vereinzelt und nach vorheriger individueller Genehmigung von anderen Persönlichkeiten für Landungen und Abflüge genutzt. Bedeutung und Entwicklung Der Heeresflugplatz Celle tritt überörtlich außerhalb der internen Medien der deutschen Heeresflieger nur sehr selten in Erscheinung. Er ist, anders als beispielsweise die Ramstein Air Base, kein nationaler Begriff für einen Militärflugplatz. Ziviler Flugverkehr findet auf dem Fliegerhorst grundsätzlich nicht statt. Wirtschaftliche Bedeutung Der Heeresflugplatz Celle stellt für die strukturschwache Region Celle einen starken Wirtschaftsfaktor dar. Pro Jahr werden etwa 5 Millionen Euro für Baumaßnahmen und Bauunterhalt sowie etwa 2,5 Millionen Euro für die Bewirtschaftung und den Betrieb ausgegeben (Stand 2008). In der Kaserne sind über 800 Soldaten, Beamte und zivile Arbeitnehmer beschäftigt. Militärische Bedeutung Nahezu jeder jüngere Hubschrauberpilot der Bundeswehr hat bis zum Jahr 2016 zumindest Teile seiner Ausbildung in Celle absolviert. Der dem Heeresflugplatz Celle zugeordnete Luftraum stellt in der Luftfahrt einen Verbund der militärischen Flugplätze Bückeburg, Wunstorf, Celle und Faßberg (von Südwest nach Nordost) dar. Dies ermöglicht militärischen Flugverkehr von- und zueinander unter ausschließlich militärischer Kontrolle. Die Nähe zu den Truppenübungsplätzen Bergen und Munster macht Celle zum Ausgangs- und Basispunkt nationaler und internationaler Übungen mit Beteiligung von Luftfahrzeugen. Zukünftige Entwicklung Aus Kostengründen und zum Schutz der Bevölkerung vor Lärm geht die Entwicklung mehr und mehr hin zur Ausbildung im Simulator. Nur noch die absolut notwendigen Ausbildungsinhalte, die nicht simuliert geflogen werden können oder dürfen, werden noch im realen Flugbetrieb vermittelt. Bis Ende 2012 möchte die Bundeswehr die Heeresfliegerverbände auf die neu beschafften Muster NH-90 und Tiger umstellen. So wurde im September 2010 die Ausbildung auf der Bell UH-1D vollständig eingestellt, die verbliebenen Maschinen an den Heeresflugplatz Faßberg abgegeben, wo sie bis zur Einführung des NH-90 weiter geflogen wurden. Die Bölkow Bo-105 wurde zum Ende des Jahres 2016 komplett aus dem Dienst der Bundeswehr genommen. Künftig sollen Übung und Training vermehrt teilweise oder vollständig simuliert werden. Dazu werden auf dem Heeresflugplatz Celle durch das Ausbildungs- und Übungszentrum Luftbeweglichkeit Simulationseinrichtungen geschaffen, in welchen infanteristische und fliegerische Zusammenarbeit dargestellt werden können. Weiterhin soll es möglich werden, dass die real durchzuführenden Anteile in die Simulation eingebunden werden. Dadurch soll erreicht werden, dass bei geringeren Kosten und Aufwand eine größere Anzahl Soldaten regelmäßiger trainieren und üben kann. Der Flugplatz wird dabei als Basis für die fliegerischen Anteile genutzt, jedoch findet ein wesentlicher Anteil der fliegerischen Vorhaben simuliert und daher für die umgebende Wohnbevölkerung nicht wahrnehmbar statt. Kritik Wie bei vielen anderen militärischen Flugplätzen sind am Heeresflugplatz Celle die umliegenden Ortschaften im Laufe der Zeit immer näher an den 1933 abseits größerer Wohnbebauung und unter anderen Vorzeichen entstandenen Fliegerhorst herangewachsen. Diese Entwicklung führte zu einem Konflikt zwischen den fliegerischen Nutzern des Geländes und den vom Fluglärm betroffenen Anwohnern. Entwicklung der Fluglärmkritik Erste Fluglärmbeschwerden sind bereits seit Übernahme des Flugplatzes durch deutsche Heeresflieger zu verzeichnen. Einen vorläufigen Höhepunkt erfuhr der Widerstand aus der Bevölkerung, als in den 1960ern Überlegungen bekannt wurden, den Fliegerhorst mit einer zweiten, in Nordwest-Südost-Richtung verlaufenden Start- und Landebahn auszustatten sowie ein Jagdgeschwader zu stationieren. Anwohner, vornehmlich aus Wietzenbruch, gründeten die „Schutzgemeinschaft gegen Gefahren und Lärm des Flugbetriebes vom Flugplatz Wietzenbruch e. V.“ Der Verein reichte eine Petition beim Deutschen Bundestag ein mit dem Ziel, den Ausbau und die Stationierung zu verhindern. Dabei wurde vor allem auf den zu erwarteten Anstieg des Fluglärms verwiesen. Die Planungen waren zwischenzeitlich bereits aufgegeben worden. Nachdem das Bundesministerium der Verteidigung bestätigte, dass in Celle künftig ausschließlich Hubschrauber stationiert werden sollen, löste sich die Gemeinschaft wieder auf. Der Fluglärm blieb über die folgenden Jahre dennoch weiterhin in den örtlichen Medien präsent. Nach der deutschen Wiedervereinigung blieb für viele Jahre nur das Heeresfliegerregiment 16 mit Bölkow Bo-105 als einziger fliegerischer Verband in Celle stationiert. Die Auflösung dieses Regiments im Jahr 2003, der Einzug des Ausbildungszentrums für Hubschrauberpiloten und die damit einhergehende signifikante Steigerung der Flugbewegungen nach über zehn Jahren relativ ruhigem Flugbetrieb, rückte den Flugplatz weiter in das Zentrum kritischer Betrachtungen. Die erneute Stationierung des Hubschraubertyps Bell UH-1D vom Frühjahr 2005 bis zum Sommer 2010 rief zusätzliche Proteste aus der umliegenden Bevölkerung hervor, da das Rotorgeräusch dieses Drehflüglers (im Volksmund auch „Teppichklopfer“ genannt) im Vergleich zur Bölkow Bo-105 als besonders laut wahrgenommen wird. Vor allem Anwohner, die in den „ruhigen“ Jahren Immobilien gebaut oder gekauft hatten, sind von der neuen, unerwarteten Intensität des Flugverkehrs überrascht worden. Heutige Situation In den angrenzenden Stadtteilen Wietzenbruch direkt nördlich und Heese nordöstlich des Flugplatzes sowie Westercelle und Altencelle im An- und Abflugsektor der Piste 26 werden seit Ende der 1980er-Jahre Neubaugebiete ausgewiesen. Zeitgleich werden zunehmend Gesetze zum Schutz der Bevölkerung vor Fluglärm erlassen. Bauherren und Kaufinteressenten werden zwar über entsprechende Hinweise vor dem Erwerb und in den Grundbüchern auf die Existenz des nahegelegenen Militärflugplatzes hingewiesen, unterschätzen vielfach jedoch die tatsächliche Lärmimmission eines aktiven Fliegerhorstes. Insbesondere wenn Nachtflugausbildung stattfindet, wird der Fluglärm als stark störend empfunden. Regelmäßig wird in Ratssitzungen der Stadt Celle sowie umliegender Gemeinden der durch den Flugplatz bedingte Lärm thematisiert. Der Niedersächsische Landtag beschäftigte sich bei seiner Sitzung vom 28. August 2009 aufgrund einer Kleinen Anfrage aus der Fraktion der GRÜNEN ebenfalls mit dem Fluglärm am Standort Celle. Seitens der Gegner des Flugplatzes werden die aktuellen Lärmschutzgesetze, das Recht auf Gesundheit sowie die tatsächlichen und vermeintlichen Gefahren durch den Flugbetrieb (beispielsweise mögliche Abstürze von Luftfahrzeugen in bebautes Gebiet) angeführt. Die Befürworter argumentieren, dass der Flugplatz bereits seit 1934 in Betrieb ist und die jetzigen Gegner im Wissen um seine Existenz und unter Mitnahme von Preisminderungen beim Grundstück- oder Hauskauf sowie einer niedrigeren Grundsteuer freiwillig in die vom Fluglärm betroffenen Gebiete gezogen seien. Weiterhin führen sie die wirtschaftliche Kraft des Fliegerhorstes sowie der dort Beschäftigten an. Die Kritiker mutmaßen jedoch, dass aufgrund des Ausbildungsbetriebes tatsächlich nur wenige Beschäftigte mit ihren Angehörigen in Celle und Umgebung wohnen. Statistische Daten zu Pendlern und Wohnbevölkerung liegen nicht vor, offizielle Fluglärmmessungen wurden bisher nicht vorgenommen. Reaktion der Bundeswehr Die Einheiten vor Ort versuchen der Kritik mit Selbstbeschränkungen zu begegnen. So werden Platzrunden ausschließlich im Süden über weitgehend unbewohntem Gebiet geflogen, Übungsanflüge über Westercelle, so weit wie möglich, vermieden, die Mittagspause überwiegend flugfrei gehalten und in den An- und Abflugverfahren für den Platz der Überflug dicht besiedelter Gebiete verboten. Dies entlastet zwar weite Teile der umliegenden Ortschaften, führt jedoch zu einer Kanalisierung des Flugverkehrs über den noch zulässigen Strecken und geht zu Lasten der Bewohner auf diesen angepassten Flugrouten. Literatur Weblinks Einzelnachweise Celle Celle Verkehr (Celle) Celle Celle Erbaut in den 1930er Jahren Celle Celle Celle
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https://de.wikipedia.org/wiki/Geb%C3%A4ude%20der%20Jugoslawischen%20Gesandtschaft%20in%20Berlin
Gebäude der Jugoslawischen Gesandtschaft in Berlin
Das Gebäude der Jugoslawischen Gesandtschaft in Berlin wurde von 1938 bis 1940 für die diplomatische Vertretung des Königreichs Jugoslawien im Deutschen Reich errichtet. Das von Werner March entworfene Gebäude befindet sich in der Rauchstraße 17–18 im Botschaftsviertel des Berliner Stadtteils Tiergarten und steht unter Denkmalschutz. Auf dem Grundstück befanden sich zwei historische Vorbebauungen. Die Villa Kabrun wurde 1865–1867 vom Architektenbüro Ende & Böckmann im Auftrag des Fabrikanten und Rittergutsbesitzers August Kabrun (1807–1877) und seiner Ehefrau Flora Luise Henriette Nicolovius (1811–1879), einer Großnichte von Johann Wolfgang Goethe, geschaffen. Kabruns Enkel, Ulrich Graf Brockdorff-Rantzau, wurde der erste Außenminister der Weimarer Republik. Die Töchter Kabruns, Cäcilie von Brockdorff und ihre Schwester Cornelia von Stralendorff, verkauften die Villa an den Kaufmann Martin Levy, der dort bis 1911 wohnte. Als Kind wohnte dort ebenfalls der spätere Bankier Arthur Salomonsohn, der über seine Mutter Ernestine Levy, mit Martin Levy verwandt war. Die Erben, darunter der Professor für Nationalökonomie Hermann Levy, traten das Grundstück 1925 an den Chemiker und Industriellen Paul Mendelssohn Bartholdy ab, der darauf die Villa Mendelssohn Bartholdy errichten ließ. 1938 wurde die als jüdisch verfolgte Familie Mendelssohn Bartholdy von den Reichsbehörden per Zwangsverkauf enteignet und musste emigrieren. Auf dem Grundstück wurde ein neues Gebäude für die Königlich Jugoslawische Gesandtschaft errichtet, weil Albert Speers Pläne für eine Welthauptstadt Germania am alten Sitz der Gesandtschaft den Totalabriss zugunsten des neuen Hauptsitzes des Oberkommandos des Heeres (OKH) vorsahen. Die jugoslawische Gesandtschaft bezog das Gebäude im Oktober 1940, nutzte es aber nur für sechs Monate. Mit dem Angriff der Wehrmacht auf Jugoslawien im April 1941 wurde der jugoslawische Staat zerschlagen und für eine diplomatische Vertretung bestand kein Bedarf mehr. Nach einer Zwischennutzung durch Alfred Rosenberg als Reichsminister für die besetzten Ostgebiete begann ab 1942 durch Werner March der Umbau zu einem Gästehaus des Großdeutschen Reiches. Nach Ende des Zweiten Weltkriegs 1945 nutzte die Volksrepublik Jugoslawien das Gebäude als Sitz ihrer Militärmission. 1953 richtete die Alliierte Kommandantur dort das Oberste Rückerstattungsgericht für Berlin (ORG) ein. Das ORG war letzte Instanz für Klagen auf Restitution von Vermögenswerten an rassisch und politisch Verfolgte. Auch die Familie Mendelssohn Bartholdy klagte auf Rückerstattung ihres Vermögens, darunter das Grundstück des ORG, das so über den rechtmäßigen Eigentümer des selbst benutzten Hauses entscheiden musste, und der Klage stattgab. Das ORG bestand bis zum Ende des Viermächtestatus durch die Wiedervereinigung 1990. Seit 1999 nutzt die Deutsche Gesellschaft für Auswärtige Politik (DGAP) das Haus. Vorgeschichte und Lage Lage des Grundstücks Das Gebäude der Jugoslawischen Gesandtschaft befindet sich am westlichen Ende der Rauchstraße auf einem leicht trapezförmigen Eckgrundstück, das im Norden von der Rauchstraße, im Westen von der Drakestraße und im Süden von der Corneliusstraße begrenzt wird. Die Corneliusstraße ist nach dem Historienmaler Peter von Cornelius benannt, die Rauchstraße nach dem Bildhauer Christian Daniel Rauch und die Drakestraße nach dessen Schüler Friedrich Drake. Letzterer schuf die Viktoria-Figur auf der nicht weit vom Grundstück entfernten Siegessäule. Das Villenviertel im Tiergarten und die Villa Kabrun (1865–1924) Das Gebiet des heutigen Botschaftsviertels liegt außerhalb der einstigen Berliner Zoll- und Akzisemauer und wurde erst 1861 nach Berlin eingemeindet. Seit 1884 trug der neue Bezirk den Namen Tiergarten. Das Grundstück auf der Nordseite des Landwehrgrabens (ab der Eröffnung des Kanals 1850 der heutige Landwehrkanal) zwischen der heutigen Klingelhöferstraße und Lichtensteinallee trug ab 1835 den Namen Albrechtshof nach der Grundeigentümerin, einer Witwe Albrecht. Die nördliche Uferstraße am Landwehrkanal hieß entsprechend ab 1849 Albrechtshof-Ufer, bevor sie 1867 den heute noch gültigen Namen Corneliusstraße bekam. Nach der Parzellierung des Albrechtshofes erwarb der Rentier August Kabrun 1865 das Grundstück Rauchstraße 17–18 / Ecke Drakestraße vom Geheimen- und Regierungsbaurat Friedrich Hitzig. Die Grundstücksgröße war mit 139,85 Quadratruten angegeben; der Kaufpreis betrug 14.250 Taler. 1865–1867 ließ der neue Eigentümer auf dem Grundstück durch das Architekturbüro Ende & Böckmann die Villa Kabrun errichten. Die beiden Büroinhaber, Hermann Ende und Wilhelm Böckmann, errichteten von 1860 an eine Reihe von Villen im Berliner Stadtbezirk Tiergarten, vor allem im Diplomatenviertel. Die Villa Kabrun war unterkellert, hatte ein Erdgeschoss und ein Obergeschoss. 1873 kaufte der Kaufmann Martin Levy die Villa von Kabrun, und bewohnte das Haus von da an selbst. Villa Mendelssohn Bartholdy (1925–1933) 1925/26 übernahm der 46-jährige Paul Mendelssohn Bartholdy d. J. das Eckgrundstück Rauchstraße 17 von den Erben Levys, Hermann Levy und seiner Schwester Julie Reissert, in Erbpacht. Er war der Sohn des Chemikers und Agfa-Gründers Paul Mendelssohn Bartholdy d. Ä. sowie der Enkel des Komponisten Felix Mendelssohn Bartholdy. Paul Mendelssohn Bartholdy d. J. war wie sein Vater promovierter Chemiker und langjähriger Direktor der Agfa. 1925 ging die Agfa durch Fusion in der I.G. Farben auf. Agfa bildete zusammen mit dem Camerawerk München und einer Fabrik für Fotopapier in Leverkusen (beide ehemals Bayer AG) die Sparte III (Fotochemie) der I. G. Farben, die ihre Zentrale in Berlin SO 36 (Kreuzberg) hatte und von Mendelssohn Bartholdy als I. G.-Farben-Direktor geleitet wurde. Im Berliner Adressbuch von 1926 sind Baustellen in der Rauchstraße 17–18 verzeichnet. Der Abschnitt der Drakestraße zwischen Corneliusstraße und Rauchstraße (die westliche Grenze des Grundstücks der späteren Gesandtschaft) trug noch keine Hausnummer, aber auch dort befand sich 1926 eine Baustelle. 1927 wurde die neuerrichtete Villa Mendelssohn Bartholdy von Paul Mendelssohn Bartholdy d. J. zusammen mit seiner Frau Johanna, einer britischen Staatsbürgerin, bezogen. Das Ehepaar war zu diesem Zeitpunkt noch kinderlos. Unter der Adresse war neben „Dr. P. Mendelssohn Bartholdy“ als Eigentümer und Haushaltsvorstand nur ein Portier namens Zander gemeldet – als weiterer Haushaltsvorstand und somit möglicherweise dort mit seiner Familie wohnhaft. Enteignung und Emigration (1933–1938) Paul Mendelssohn Bartholdy wurde als prominenter Angehöriger der jüdischstämmigen Familie Mendelssohn und als sogenannter „Geldjude“ von den Nationalsozialisten verfolgt. Seine weit verzweigte Familie konnte als ein Musterbeispiel der erfolgreichen Assimilation gelten. Die meisten Familienzweige waren spätestens Mitte des 19. Jahrhunderts zum evangelischen Glauben konvertiert, hatten Erfolg, erarbeiteten sich Reichtum und eine hohe gesellschaftliche Stellung. So wurde Pauls ältester Bruder Otto 1907 geadelt. Im Oktober 1937 wurde das Grundstück Mendelssohn Bartholdys mit einer Sicherungshypothek in Höhe von 60.000 RM aus „Reichsfluchtsteuer für das Deutsche Reich“ belastet. Die Reichsfluchtsteuer betrug 25 % des steuerpflichtigen Vermögens und war bei Aufgabe des inländischen Wohnsitzes fällig. Die Familie wurde 1938 auf Basis des Reichsgesetzes über die Neugestaltung Deutscher Städte zum Verkauf der Villa nebst Grundstück gezwungen. Das rund 1000 m² große Grundstück Rauchstraße Nr. 17 mit dem herrschaftlichen Haus ging für einen Kaufpreis von 170.000 RM an das Deutsche Reich über. Wie bei Zwangsverkäufen im Rahmen der „Arisierung“ üblich, entsprach der Kaufpreis von 170 RM pro Quadratmeter Bauland in zentraler Lage nur einem Bruchteil des Wertes. Die Sicherungshypothek wurde im August 1938 gegen Verrechnung mit dem Kaufpreis gelöscht. Zudem musste Paul Mendelssohn Bartholdy als Zwangsabgabe die sogenannte Helldorff-Spende entrichten. Die Villa Mendelssohn Bartholdy wurde abgerissen. Die anderen Teile des Endgrundstücks (Rauchstraße 18 und Drakestraße 4) wurden 1940 enteignet und fielen ebenfalls dem Deutschen Reich zu. Baugeschichte und Architektur Germania und das Botschaftsviertel Im Rahmen des Bebauungsplans des nationalsozialistischen Chefarchitekten Albert Speer als Generalbauinspektor für die Reichshauptstadt (GBI) für die Errichtung der Welthauptstadt Germania wurde das heute als Botschaftsviertel bekannte Gebiet am südlichen Tiergarten zum Diplomatenviertel erklärt. Es sollten 12 Botschaftsgebäude errichtet werden, um im Regierungsviertel nahe dem Brandenburger Tor durch den Wegzug der Botschaften Platz für die Ausführung der Pläne von Speer zu schaffen, die alle bis dahin bekannten städtebaulichen Maßstäbe sprengen sollten. Für die Verwirklichung seiner Pläne wurden 1938–1939 Wohngebäude in Berlin abgerissen, die dabei umzusetzenden Mieter erhielten Ersatzwohnungen, die auf Speers Betreiben durch die Räumung und Deportation von Juden frei wurden. Um Platz für die „Königlich Jugoslawische Gesandtschaft“ zu schaffen, wurden drei Grundstücke enteignet und zusammengelegt: Rauchstraße 17 und 18 sowie Drakestraße 4. Vor dem Umzug befand sich die Jugoslawische Gesandtschaft zusammen mit der Gesandtschaftskanzlei in der Großadmiral-Prinz-Heinrich-Straße 17, der heutigen Hitzigallee, an der nordwestlichen Ecke mit der Sigismundstraße etwa 800 m westlich des Potsdamer Platzes. Damit war die Gesandtschaft dem Plan für die „Nord-Süd-Achse“ im Weg, der hier auf der westlichen Seite der geplanten 120 m breiten Prachtstraße am Kreuzungspunkt mit dem südlichen Tiergartenrand ein neues Gebäude für das Oberkommando des Heeres (OKH) vorsah. Das geplante zweiflüglige OKH-Gebäude hat im Entwurf der Generalbauinspektion in der letzten Fassung von 1942 eine Länge von etwa 360 m in Nord-Süd-Richtung und eine Breite von etwa 280 m in Ost-West-Richtung, wurde aber nie erbaut. Heute befindet sich am ehemaligen Standort der Jugoslawischen Gesandtschaft vor dem Umzug der 1988–1998 errichtete Neubau der Gemäldegalerie am Kulturforum Berlin. Planungs- und Baugeschichte Werner March, der Architekt des Gesandtschaftsgebäudes, ist vor allem für den Entwurf des Berliner Olympiastadions und weiterer Gebäude innerhalb des für die Olympischen Sommerspiele 1936 errichteten Reichssportfeldes bekannt, für dessen Gesamtplanung er ebenfalls verantwortlich war. March entwarf das Gebäude 1938 mit einem winkelförmigen Grundriss in einem strengen und geschlossenen Baustil, der jedoch im Vergleich zu den neoklassizistischen Botschaftsbauten der Umgebung (zum Beispiel der Spanischen oder Italienischen Botschaft) fast zurückhaltend wirkt. Ausgeführt wurde der Bau in den Jahren 1938–1940 unter der Bauleitung von Willy Kreuer, der im Büro March angestellt war. Die Bauzeit war ursprünglich auf 8 Monate bemessen, doch am 31. August 1939, am Vorabend des Zweiten Weltkriegs, wurden durch das GBI alle Ausführungsarbeiten zur Neugestaltung Berlins abgebrochen. Nach dem Sieg über Frankreich im Sommer 1940 wurden begrenzte Bauarbeiten wiederaufgenommen. Am 7. Oktober 1940 wurde das Gebäude durch die Jugoslawische Gesandtschaft bezogen, am 29. November 1940 fand die offizielle Übergabe und Einweihung statt, zu der sich der Außenminister Joachim von Ribbentrop durch einen Staatssekretär vertreten ließ. Die Planungs- und Bauzeit hatte sich damit von 8 auf 23½ Monate verlängert, wofür March ein fast verdoppeltes Honorar erhielt. Architektur – äußere Gestaltung An der nordwestlichen Grundstücksecke (Kreuzung von Rauch- und Drakestraße) liegt ein zweigeschossiger, flächig mit scharriertem Thüringer Travertin verkleideter Kopfbau, in dessen Mittelachse sich das Hauptportal zur Rauchstraße öffnet. Daran schließen sich, den Straßen folgend, zwei Flügel an, die auf diese Weise ein L bilden. Zusammen mit dem ebenfalls travertinverkleideten Teil an der Drakestraße ergänzt sich der Baukörper zum zweigeschossigen Residenztrakt. Er enthielt – neben den offiziellen Empfangsräumen im Erdgeschoss – im Obergeschoss die repräsentativen Wohnräume für den Botschafter. Die Gebäudefront des Residenztraktes zur Drakestraße ist etwa 47 m breit und ragt damit am südlichen Ende mit einer Ecke um etwa 4 m über die Baufluchtlinie der Corneliusstraße hinaus, wofür 1938 eine Sondergenehmigung erteilt wurde. An der inneren Seite des L öffnet sich der Residenztrakt zum Garten. Der an der Rauchstraße gelegene Kanzleitrakt ist von der Bauflucht um 4 m zurückgesetzt. Dieser Gebäudeteil, in dem die Büroräume für den administrativen Betrieb liegen, ist verputzt, wobei Gesimse und Fensterlaibung wie am Residenztrakt in Travertin ausgeführt sind. Der Kanzleitrakt verfügt über geringere Geschosshöhen als der Residenztrakt, so dass er bei gleicher Traufhöhe dreigeschossig ist. Die verputzte Gebäudefront des Kanzleitraktes zur Rauchstraße ist etwa 23 m breit, zusammen mit dem Kopfteil des Residenztraktes ist damit die gesamte Gebäudefront zur Rauchstraße 44 m breit. An der östlichen Gebäudeflanke des Kanzleitraktes befindet sich eine um etwa 3 m von der Fassade zurückgesetzte Garage für ein einzelnes Auto, die seitlich direkt an das Nachbargrundstück anschließt. Sowohl Residenz- als auch Kanzleitrakt haben einen etwa 1 m hohen Sockel aus scharriertem Kirchheimer Muschelkalk, der fugenlos und ohne Bossen ausgeführt ist, und oben zur Fassade mit einem schmalen Sockelgesims abschließt. Das Ziegeldach ist in einer mediterran wirkenden Mönch-Nonnen-Deckung ausgeführt. Über dem Hauptportal befand sich ein vom Bildhauer Arno Breker geschaffenes Relief mit dem jugoslawischen Wappen, das jedoch im Zuge der Umnutzungen des Gebäudes entfernt wurde. Noch erhalten ist hingegen die Gestaltung des repräsentativen Balkons vor dem Festsaal mit einer weiteren Breker-Plastik, die über den Balkonfenstern einen Frauenkopf zeigt, sowie mit der schmiedeeisernen Balkonbrüstung des Bildhauers Ludwig Gies. Gies schuf 15 Jahre später den Bundesadler an der Stirnseite des Bundestages, der zum Symbol der Bonner Republik wurde. Der zurückspringende Teil des Kanzleitrakts enthält einen weiteren Eingang, über dem sich ein durch die jugoslawische Künstlerin Vilma Lehrmann geschaffenes, „in der Fläche stehendes Steinwappen“ aus Gauinger Travertin befand, das nicht erhalten ist. Auch die Portalgewände sind aus diesem Naturwerkstein ausgeführt. Der Garten hinter den beiden Gebäudeflügeln reicht bis zur Corneliusstraße und ermöglicht den freien Blick über den Landwehrkanal. Die Außen- und Gartenanlagen um das Gebäude wurden ab August 1939 durch den Gartenplaner Georg Potente in Zusammenarbeit mit dem leitenden Architekten Werner March und dem Planungsbüro Kühn & Solbrig (Berlin-Wannsee) entworfen und bis September 1942 ausgeführt. Potente hatte seinen Ruf vor allem seiner Tätigkeit als Garteninspektor von Sanssouci zu verdanken, wo er von 1902 bis 1938 arbeitete. Potente entwickelte auch beim Neubau der Wasserstraßendirektion in Potsdam (1940–1942), einem weiteren March-Entwurf, die Außen- und Gartenanlagen. Architektur – innere Gestaltung Nach Betreten des Residenztraktes durch das Hauptportal in der Rauchstraße 17 erreicht der Besucher über fünf Treppenstufen im Windfang die Ebene des Erdgeschosses und gelangt nach Öffnen einer verglasten Innentür in die Vorhalle (1). Die Vorhalle ist in Blickrichtung des Besuchers (in Richtung Residenztrakt) etwa 5 m tief und doppelt so breit, wobei die Windfangtür in der Flucht der Türen auf der Gartenseite des Residenztraktes, und damit asymmetrisch im Raum liegt. Auf der anderen Seite der Vorhalle linkerhand des Besuchers befindet sich das Treppenhaus zum 1. Obergeschoss des Residenztraktes, daneben Zugänge zu zwei größeren Sanitärräumen für Besucher und der Übergang zum Kanzleitrakt. Der Fußboden der Vorhalle ist mit schwarzem Marmor gefliest; auch die Wände sind mit dunklem Marmor verkleidet. Rechterhand von der Windfangtür befindet sich eine marmorverkleidete versteckte Tür, die zu einer schmalen Kammer für den Hausdiener führte. Der Raum erhielt seine Belichtung von außen durch ein verglastes Oberlicht, welches Puhl & Wagner nach einem Entwurf des seit 1933 verfolgten Malers und Glasbildners Charles Crodel ausführte. In das bleigefasste Glas des Oberlichts sind die 12 Tierkreiszeichen in einem reduzierten Art-déco-Stil eingeschliffen. Heute ist das Hausdach über dem Oberlicht geschlossen, und die Verglasung ist nur durch Kunstlicht hinterleuchtet. Geradeaus in der Flucht der Eingangstüren liegt der Zugang zur langgestreckten Galerie (2), nach deren Betreten der Besucher rechterhand eine Tür zum Speisesaal (3) und linkerhand eine Tür zum Arbeitszimmer des Gesandten (10) passiert. Der Fußboden der Galerie ist ebenfalls mit Marmor gefliest, der Raum wirkt aber im Vergleich zur gerade verlassenen düsteren Vorhalle durch die hellen gekalkten Wände und die hohen Fenster zum Garten hell und freundlich. Der Speisesaal hat eine Länge von 14 m und ist mit Tafelparkett ausgestattet. Zur Nordseite schließt die Anrichteküche (12) an, die mit dem Speisesaal durch zwei schmale Türen verbunden ist. In der Anrichteküche geht eine Treppe in das Souterrain zur eigentlichen, großen Küche, die mit der Anrichte auch durch drei parallele Servieraufzüge verbunden ist. Südlich des Speisesaals liegt der Kleine Salon (4), auch Rauchzimmer genannt, dessen Wände mit Stoff bespannt waren. Die Empfangshalle (5) kann sowohl vom Kleinen Salon als auch von der Galerie betreten werden und nimmt mit etwa 12 m die ganze Breite des Residenztraktes ein. Der Boden der Empfangshalle ist mit hellem Marmor gefliest, im Blick des Besuchers liegt beim Betreten ein mächtiger Marmorkamin an der Südseite des Raums. Rechterhand öffnen sich drei bodentiefe Fenster auf den französischen Balkon zur Westseite, der mit der Brekerplastik und der ornamentalen Brüstung von der Drakestraße aus prächtig wirkt, aber ob seiner geringen Tiefe nicht genutzt werden kann. Rechts vom Kamin führt eine Tür zum Großen Salon (6), der in etwa die gleichen Maße wie der Speisesaal hat, und wie dieser mit Tafelparkett ausgestattet ist. Das Musikzimmer (7) kann entweder vom Großen Salon aus oder direkt von der Empfangshalle durch eine Tür links vom Kamin betreten werden. An den Wänden und der Decke des Musikzimmers befinden sich Stuckornamente, die in ihrer reduzierten Form Notenschlüssel und abstrahierte Musikinstrumente aufnehmen. Auf der Südseite des Musikzimmers öffnet sich die Tür zum unbeheizten Wintergarten (8), dessen Wände und Boden in Muschelkalk ausgeführt sind. Die komplette linke Front des Raums zum Garten ist verglast und kann im Stück in den Boden versenkt werden. Besucher des Kanzleitrakts betraten diesen durch das Kanzleiportal Drakestraße 18. Der Kanzleitrakt ist durch einen zentralen Korridor erschlossen, von dem eine Zimmerzeile zur Rauchstraße und eine Zimmerzeile zum Garten zugänglich ist. Das Wartezimmer für den Gesandten (9) und das Arbeitszimmers für seinen Stellvertreter, den Legationsrat (a) sind großzügig ausgeführt, die übrigen Räume des Kanzleitrakts sind eher klein. Auch hier zeigt sich jedoch die Hierarchie an Ausstattungsdetails, so ist das Arbeitszimmer eines Attachés (l) parkettiert, während der Fußboden der Räume für Stenografen, Sekretärinnen, Kasse und Poststelle (b–d und e–k) mit Linoleum belegt ist. Das Arbeitszimmer des Gesandten (10) ist hingegen mit Tafelparkett ausgestattet, die Wände sind mit Rüster getäfelt. Nutzungsgeschichte Erstbezug bis Kriegsende (1940–1945) 1940 zog die Jugoslawische Gesandtschaft, geleitet von dem späteren Literaturnobelpreisträger Ivo Andrić, in das neue Gebäude um. Andrić befand sich seit 1920 im diplomatischen Dienst des zwei Jahre zuvor gegründeten Königreichs der Serben, Kroaten und Slowenen (ab 1929: Königreich Jugoslawien) und hatte 1939 den Höhepunkt einer beachtlichen Karriere erreicht: Anfang April wurde er zum Minister ohne Geschäftsbereich ernannt, reiste nach Berlin und übergab am 19. April 1939 sein Akkreditierungsschreiben an Adolf Hitler. Andrić bat zu Beginn des Frühjahrs 1941 um seine Abberufung als Botschafter Jugoslawiens im Deutschen Reich, nahm aber am 25. März 1941 in Wien noch an der Unterzeichnungszeremonie des erzwungenen Beitritts Jugoslawiens zum Dreimächtepakt der Achse Deutschland-Italien-Japan teil. Zwei Tage später führten jugoslawische Kräfte, die dem deutschen Kriegsgegner Großbritannien nahestanden, einen Staatsstreich durch. Daraufhin änderte die deutsche Führung kurzfristig ihre Pläne für den Kriegseintritt gegen Griechenland an der Seite Italiens (Unternehmen „Marita“) und erweiterte den Operationsplan um den Angriff auf Jugoslawien. Am 2. April 1941 warnte Oberst Vladimir Vauhnik (seit 1937 Militärattaché an der Jugoslawischen Gesandtschaft in Berlin) seine Vorgesetzten in Belgrad vor dem für den 6. April geplanten Angriff unter genauer Nennung der beteiligten 32 Divisionen. Angeblich soll er diese Information von Oberst Hans Oster von der Abwehr erhalten haben, der für den Abwehrchef Canaris Verbindung zum nationalkonservativen Widerstand hielt. Am 6. April 1941 griff die Wehrmacht Jugoslawien ohne Kriegserklärung an, beginnend mit der Bombardierung Belgrads. Nach dem 7. April boten die Deutschen dem Botschafter Andrić an, unter Wahrung seiner diplomatischen Immunität in die neutrale Schweiz abzureisen. Dieser zog sich aber auf eigenen Wunsch nach Belgrad zurück, das nun unter deutscher Besetzung stand. Der Militärattaché Vauhnik wurde unter Missachtung seiner diplomatischen Immunität von der Gestapo für vier Monate inhaftiert. Nach der bedingungslosen Kapitulation Jugoslawiens am 17. April 1941 wurde der Staat durch Annexionen Deutschlands, Italiens und Bulgariens zerschlagen, nur das faschistische Kroatien und das Militärverwaltungsgebiet Serbien als Marionettenstaat existierten weiter. Da es nun keinen Bedarf mehr für eine große diplomatische Vertretung Jugoslawiens im Deutschen Reich gab, übernahmen Reichs- und Parteiämter das Gebäude. Bis 1942 war die Rauchstraße Nr. 17–18 Amtssitz von Alfred Rosenberg, NS-Chefideologe und seit Juli 1941 offiziell Reichsminister für die besetzten Ostgebiete. Ab 1942 wurde es zu einem Gästehaus des Großdeutschen Reiches umgebaut. Albert Speer, der Baumeister des Botschaftsviertels, und Alfred Rosenberg, der erste Hausherr nach der Räumung durch die jugoslawische Gesandtschaft, sollten sich nach Kriegsende als Angeklagte vor dem Nürnberger Prozess gegen die Hauptkriegsverbrecher wiedersehen. Rosenberg wurde zum Tode verurteilt und 1946 hingerichtet, Speer wurde zu 20 Jahren Haft verurteilt und kam 1966 frei. Nachkriegszeit (1945–1953) Nach Kriegsende im Mai 1945 hatten nur zwei Gebäude in der gesamten Rauchstraße die Luftangriffe durch westalliierte Bomber sowie die Eroberung Berlins durch die Rote Armee einigermaßen unbeschädigt überstanden, das Gebäude der Jugoslawischen Gesandtschaft war eins davon. Das Gebäude wurde zur Nutzung an die Föderative Volksrepublik Jugoslawien übergeben, die es bis 1953 als Sitz ihrer Militärmission nutzte. Das Oberste Rückerstattungsgericht für Berlin (1953–1990) 1953 richtete die Alliierte Kommandantur das Oberste Rückerstattungsgericht für Berlin (ORG) ein, das seinen Sitz von da an im Gebäude der ehemaligen Jugoslawischen Gesandtschaft hatte. Die Alliierte Kommandantur war die oberste Institution der Vier Siegermächte in Berlin. 1953 gehörten der Alliierten Kommandantur nach dem Ausscheiden der Sowjetunion allerdings nur noch die drei Mächte USA, Großbritannien und Frankreich an. Das ORG für Berlin war letzte Instanz für Ansprüche von Verfolgten des NS-Regimes auf Rückerstattung von Vermögenswerten und wurde am 28. Oktober 1953 im ehemaligen Gesandtschaftsgebäude in Anwesenheit von Walther Schreiber, dem Regierenden Bürgermeister Berlins, und der drei westalliierten Stadtkommandanten eröffnet. Im früheren Speisesaal befand sich nun der Sitzungssaal des Gerichtes, in dem eine Simultandolmetsch-Anlage installiert wurde, da als Verhandlungssprache neben deutsch auch englisch und französisch zugelassen war. Die Richterbank befand sich an der Südseite des Saales, der dahinter befindliche Kleine Salon diente als Beratungszimmer. Großer Salon und Musikzimmer wurden vom Gericht als Büroräume genutzt. Das frühere Arbeitszimmer des Gesandten war nun das Zimmer des Gerichtspräsidenten. Wegen der Sonderstellung durch den Viermächtestatus Berlins blieb das ORG für Berlin als separate Institution von der 1955 erfolgten Zusammenfassung der ORG in den anderen drei Besatzungszonen ausgespart. Paul Mendelssohn Bartholdy klagte auf Rückerstattung des durch Enteignung und Zwangsverkauf verlorenen Vermögens. Zu den rückgeforderten Vermögensgegenständen gehörte auch das Grundstück Rauchstraße 17, auf dem sich nun das ORG befand, das so über den rechtmäßigen Eigentümer des selbst benutzten Hauses entscheiden musste. 1964 verurteilte das Gericht den damaligen Eigentümer Volksrepublik Jugoslawien zur Einräumung eines Miteigentumsanteils an das einzige Kind des 1956 verstorbenen Paul Mendelssohn Bartholdy. Der Anteil berechnete sich aus dem hypothetischen Wert des Teilgrundstückes Rauchstraße 17 zum Zeitpunkt des Zwangsverkaufs abzüglich des 1938 gezahlten Preises und wurde mittels einer Sicherungshypothek in Höhe von 84.250 DM zugunsten der Erbin umgesetzt. Die Sicherungshypothek wurde 1967 nach Zahlung des Betrages durch die Bundesrepublik Deutschland an die Erbin gelöscht. 1975 kaufte das Land Berlin das Grundstück für 2.500.000 DM von der Sozialistischen Föderativen Republik Jugoslawien und gliederte es in das Vermögen des Senators für Justiz ein. Im Sommer 1988 waren noch drei Wiedergutmachungsverfahren beim Obersten Rückerstattungsgericht anhängig, bevor es schließlich 1990 seine Arbeit einstellte. Seit der Wiedervereinigung ist der Bundesgerichtshof für diese Fragen der Wiedergutmachung zuständig. Heutige Nutzung durch die DGAP (seit 1995) Das Land Berlin verkaufte Grundstück und Haus 1995 an die 1955 gegründete Deutsche Gesellschaft für Auswärtige Politik, die es seit ihrem Einzug 1999 als Hauptsitz nutzt. Im Kanzleiflügel befinden sich die Verwaltung der DGAP und die Redaktion der Zeitschrift Internationale Politik (ehemals Europa-Archiv). Im Residenzflügel befindet sich das Forschungsinstitut nebst Bibliothek und Dokumentationsstelle der DGAP. Die Bibliothek steht allen interessierten Nutzern offen. Daneben finden sich im Gebäude Konferenz- und Seminarräume sowie eine Ausstellungsfläche im Foyer. Die Veranstaltungsräume im Erdgeschoss des Residenzflügels sind heute nach Personen aus der Geschichte der DGAP benannt oder verweisen auf Förderer der DGAP. Einzige Ausnahme ist der ehemalige Speisesaal, der nach dem Widerstandskämpfer Hans von Dohnanyi benannt ist. Die Empfangshalle heißt heute nach dem CDU-Außenpolitiker und ehemaligen Präsidenten der DGAP Kurt-Birrenbach-Saal. Auch das Musikzimmer ist nach einem ehemaligen DGAP-Präsidenten benannt und heißt heute Baron-Alfred-von-Oppenheim-Saal. Das Gesandtenzimmer ist nach Otto Wolff benannt, der 45 Jahre lang den Ost-Ausschuss der Deutschen Wirtschaft leitete und Ehrenpräsident der DGAP war. Die Benennung der Galerie mit „Alfred Herrhausen Saal“ erklärt sich eher aus der Förderung der DGAP durch die Alfred Herrhausen Gesellschaft als aus der Rolle Herrhausens in der DGAP-Geschichte, ähnlich ist es mit dem Großen Salon, der heute „Robert Bosch Saal“ heißt, und auf die Verbindung der DGAP mit der Robert Bosch Stiftung weist. In den Räumen der DGAG finden regelmäßig Konferenzen, Arbeitsgespräche und Vorträge von Außen- und Sicherheitspolitikern, Diplomaten, sowie Experten aus Forschung und Wirtschaft statt. Schwerpunkte der Veranstaltungen sind die aktuellen Themen der deutschen und europäischen Außenpolitik. Seit 2003 zählten dazu das Verhältnis Deutschlands zu den Ländern Mittel- und Osteuropas, insbesondere zu Polen, sowie zu Russland und dessen Anrainerstaaten. Auch das traditionelle Thema des deutsch-französischen Verhältnisses war regelmäßig Gegenstand von Veranstaltungen. Ein weiteres zentrales Thema war die Sicherheitspolitik, insbesondere die Bedrohung durch Terror und nukleare Proliferation, die neue Rolle der NATO sowie die Transformation der Bundeswehr. Außerhalb Europas stand Israel und der Nahe Osten sowie die transatlantische Beziehung zu den USA im Mittelpunkt. Bei vielen Veranstaltungen sprachen hochrangige Vertreter der jeweiligen Länder, oftmals die Außen- oder Verteidigungsminister. Auch Bundespräsident Köhler und Bundeskanzlerin Merkel nahmen an Veranstaltungen teil oder hielten Grundsatzreden. Ein Höhepunkt war die Feier des 80. Geburtstags von Hans-Dietrich Genscher im März 2007, zu der fast alle Außenminister, die an der Aushandlung des Zwei-plus-Vier-Vertrages beteiligt waren, zu einem Kamingespräch im „Kurt Birrenbach Saal“ zusammenkamen: Schewardnadse (UdSSR), Dumas (Frankreich), Meckel und de Maizière (beide DDR), Skubiszewski (Polen) und Dienstbier (Tschechoslowakei). Literatur Familie Mendelssohn Bartholdy, Agfa und die Arisierung Thomas Lackmann: Das Glück der Mendelssohns. Geschichte einer deutschen Familie. 2. Auflage. Aufbau-Verlag, Berlin 2005, ISBN 3-351-02600-5. Arthur Prinz und Avraham Barkai: Juden im deutschen Wirtschaftsleben: Soziale und wirtschaftliche Struktur im Wandel 1850–1914. Mohr Siebeck, Tübingen 1984, ISBN 3-16-744825-3. Neil Rosenstein: The Unbroken Chain: Biographical Sketches and Genealogy of Illustrious Jewish Families from the 15th-20th Century. 2. Ausgabe. Computer Center for Jewish Genealogy, New York 1990, ISBN 0-9610578-4-X. Welthauptstadt Germania, Albert Speer und das Botschaftsviertel Susanne Willems: Der entsiedelte Jude – Albert Speers Wohnungsmarktpolitik für den Berliner Hauptstadtbau. Edition Hentrich, Berlin 2002, ISBN 3-89468-259-0. Alexander Kropp: Die politische Bedeutung der NS-Repräsentationsarchitektur – die Neugestaltungspläne Albert Speers für den Umbau Berlins zur „Welthauptstadt Germania“ 1936–1942/43. Ars Una, Neuried 2005, ISBN 3-89391-135-9. Hans J. Reichhardt, Wolfgang Schäche: Von Berlin nach Germania: über die Zerstörungen der Reichshauptstadt durch Albert Speers Neugestaltungsplanungen. Katalog zu einer Ausstellung des Landesarchivs Berlin, 7. November 1984 bis 30. April 1985. Landesarchiv, Berlin 1985. Wolfgang Schäche: Architektur und Städtebau in Berlin zwischen 1933 und 1945 – Planen und Bauen unter der Ägide der Stadtverwaltung. Gebrüder Mann, Berlin 1992, ISBN 3-7861-1178-2. Wolfgang Schäche: Fremde Botschaften. Transit Buchverlag, Berlin 1984, ISBN 3-88747-022-2. (2 Bände erschienen zur Bauausstellung Berlin. Band 1: Das Gebäude der ehemaligen Italienischen Botschaft in Berlin-Tiergarten. Band 2: Das Gebäude der ehemaligen Japanischen Botschaft in Berlin-Tiergarten. Beide Bände sind zweisprachig und enthalten einen allgemeinen Teil, der sich mit den Germania-Planungen und dem Botschaftsviertel befasst. Text und Abbildungen dieses allgemeinen Teils ist bei beiden Bänden bis auf die Sprache der Übersetzung – italienisch bzw. englisch – identisch.) NS-Architektur, Werner March und das Gesandtschaftsgebäude Matthias Donath: Architektur in Berlin 1933–1945. herausgegeben vom Landesdenkmalamt Berlin. Lukas Verlag, Berlin 2007, ISBN 3-936872-26-0. Sabine Konopka: Wohnen am Tiergarten – die Bauten an der Rauchstrasse. Herausgegeben von Groth + Graalfs im Rahmen der Internationalen Bauausstellung Berlin 1987. Konopka, Berlin 1985, ISBN 3-924812-08-X. Wolfgang Schäche: Das „Diplomatenviertel“ in Berlin-Tiergarten. Gutachten für das Landesdenkmalamt, Berlin 1985. (Zur Feststellung des Status als denkmalgeschütztes Gebäude.) Thomas Schmidt: Werner March, Architekt des Olympia-Stadions: 1894–1976. Birkhäuser Verlag, Basel, Berlin, Boston 1992, ISBN 3-7643-2455-4. Jakob Straub (Fotografie) und Andreas Fecht (Text): Schatten der Macht – Architektur des Nationalsozialismus in Berlin. Jovis, Berlin 2006, ISBN 3-936314-64-0. Jürgen Tomisch: Denkmale in Berlin – Bezirk Mitte – Ortsteile Moabit, Hansaviertel und Tiergarten. Michael Imhof Verlag, Petersberg 2005, ISBN 3-86568-035-6. (Erschienen in der Reihe Denkmaltopographie Bundesrepublik Deutschland.) Erich Voß: Neue Gesandtschaftsbauten in Berlin. In: Die Kunst im Deutschen Reich. Teil B: Die Baukunst. Vol. 4, 1940. Helmut Weihsmann: Bauen unterm Hakenkreuz – Architektur des Untergangs. Promedia, Wien 1998, ISBN 3-85371-113-8. Nutzung während des Zweiten Weltkriegs: Jugoslawische Gesandtschaft, Ostministerium, Gästehaus Radovan Popovic: Ivo Andrić – sein Leben. Aus dem Serbokroatischen übersetzt von Brigitte Simić. Zadužbina Ive Andrića, Belgrad 1988. Vladimir Vauhnik: Memoiren eines Militärattachés – Ein Kampf gegen das Fingerspitzengefühl Hitlers. Edicion Palabra eslovena, Buenos Aires 1967. Christine Blum-Minkel: Alfred Rosenberg als Reichsminister für die besetzten Ostgebiete. Universität Hamburg, 1995. (Magisterarbeit, Zentralbibliothek Philosophie, Geschichte und Klassische Philologie der Staats- und Universitätsbibliothek Hamburg) Ernst Piper: Alfred Rosenberg – Hitlers Chefideologe. Pantheon, München 2007, ISBN 3-570-55021-4. Alfred Rosenberg: Letzte Aufzeichnungen – Nürnberg 1945/46. Jomsburg-Verlag, Uelzen 1996, ISBN 3-931637-01-8. Nachkriegsnutzung: Militärmission, ORG, DGAP Volker Kähne: Gerichtsgebäude in Berlin – eine rechts- und baugeschichtliche Betrachtung. Haude & Spener, Berlin 1988, ISBN 3-7759-0318-6. Friedrich Scholz: Berlin und seine Justiz. Walter de Gruyter, 1982, ISBN 3-11-008679-4. Jahresbericht der Deutschen Gesellschaft für Auswärtige Politik e. V. Deutsche Gesellschaft für Auswärtige Politik, Berlin 1999, . Weblinks Geschichte des Hauses auf der Website der heutigen Nutzerin, der DGAP Skizzen und Bauzeichnungen der Jugoslawischen Gesandtschaft angefertigt 1938–1940 von Werner March (Architekturmuseum der TU Berlin) Zeichnungen der Außen- und Gartengestaltung angefertigt 1946–1947 von Herta Hammerbacher (Architekturmuseum der TU Berlin) Einzelnachweise Botschaft in Berlin Deutsch-jugoslawische Beziehungen Architektur im Nationalsozialismus Bauwerk des Neoklassizismus in Berlin Baudenkmal in Berlin Berlin-Tiergarten Erbaut in den 1940er Jahren Botschaftsbau Berlin
3838633
https://de.wikipedia.org/wiki/Forschungsanstalt%20Geisenheim
Forschungsanstalt Geisenheim
Die Forschungsanstalt für Garten- und Weinbau in Geisenheim/Rheingau wurde 1872 von Freiherr Heinrich Eduard von Lade als damals Königliche Lehranstalt für Obst- und Weinbau zu Geisenheim gegründet. Aufgaben der Forschungsanstalt waren anfangs die Forschung – vor allem in den Bereichen Weinbau und Pomologie (griechisch: Lehre des Obstbaus) – sowie die Organisation eines Studiums im Garten- und Weinbau in Geisenheim. 1972 wurden Forschung und Ausbildung institutionell getrennt. Die Forschungsanstalt nahm weiterhin Aufgaben der Forschung in den Bereichen Garten- und Weinbau sowie Getränketechnologie wahr, während die Hochschule RheinMain in enger Kooperation mit der Forschungsanstalt den Fachbereich Geisenheim mit seinen zehn Studiengängen und ‑richtungen unterhielt. Finanziert wurde die Forschungsanstalt Geisenheim neben der Einwerbung von Drittmitteln bis 2011 durch die Länder Hessen und Rheinland-Pfalz, die in einem 1987 geschlossenen Staatsvertrag Betrieb und Finanzierung der Forschungsanstalt regelten. Nach Kündigung des Staatsvertrags durch Rheinland-Pfalz im Juni 2010 übernahm das Land Hessen ab 2011 die alleinige Finanzierung. Zum 1. Januar 2013 erfolgte die Zusammenlegung der Forschungsanstalt Geisenheim mit dem Fachbereich Geisenheim der Hochschule RheinMain und die Gründung der Hochschule Geisenheim. Geschichtlicher Überblick 1872 wurde dank der Bemühungen Eduard von Lades per Dekret die Königlich Preußische Lehranstalt für Obst- und Weinbau gegründet. Eduard von Lade wurde 1817 in Geisenheim als Sohn eines vermögenden Weinhändlers geboren. Mit Export-, Bank- und auch Waffengeschäften im In- und Ausland erwarb er ein beträchtliches Vermögen und konnte sich bereits mit 44 Jahren 1861 in Geisenheim zur Ruhe setzen. Er ließ dort das Monrepos, einen luxuriösen Landsitz im klassizistischen Stil samt ausgedehnten Parkanlagen, in der Nähe des Rheinufers errichten. Hier widmete er sich fortan seinen privaten Interessen, zu deren wichtigsten der Obstbau und die Züchtung neuer Obstsorten gehörten. Dem preußischen König Wilhelm I. sowie Reichskanzler Otto von Bismarck soll er mehrfach Kisten mit ausgewählten Äpfeln und Birnen samt der Bitte, in der für den Obstbau bevorzugten Gegend Geisenheims eine „pomologische Hochschule“ gründen zu dürfen, gesendet haben. Nach einigen Jahren war er damit dann 1872 erfolgreich. In unmittelbarer Nähe zum Monrepos wurde Gelände erworben und Gebäudeanlagen, teils mit Geldern aus den Reparationszahlungen aus dem Deutsch-Französischen Krieg 1870/71, errichtet. Den Park schuf Heinrich Siesmayer. Direktor war seit 1879 Rudolf Goethe. Schnell entwickelte sich Geisenheim zu einem Zentrum für angewandte Forschung im Weinbau, im Obstbau und auch der Gartenkunst. Der Botaniker, Biologe, Phytopathologe, Züchter und Dozent Hermann Müller war erster Leiter der pflanzenphysiologischen Versuchsstation in Geisenheim. Hier züchtete er Ende des 19. Jahrhunderts auch die neue Weinrebsorte Müller-Thurgau (heute teilweise Rivaner genannt), allerdings nicht, wie oft falsch zu lesen ist, als Kreuzung aus Riesling und Silvaner. Nach einigen Jahren wurde der Lehr- und Studienbetrieb aufgenommen und bereits 1894 gründete sich in Geisenheim die Vereinigung Ehemaliger Geisenheimer, eine der ältesten Alumniverbindungen Deutschlands. Die beiden Weltkriege wirkten sich unterschiedlich stark auf den Forschungs- und Lehrbetrieb der Forschungsanstalt aus. Konnte man nach dem Ersten Weltkrieg auf dem unbeschädigten Anstaltsgelände noch relativ schnell am Arbeitsbetrieb der Vorkriegsjahre anknüpfen, bedeutete der Zweite Weltkrieg eine deutliche Zäsur im Wirken der Forschungsanstalt. Bereits 1941 wurde der Lehr- und auch weitestgehend der Forschungsbetrieb eingestellt. Bei Bombenangriffen kamen Mitarbeiter der Forschungsanstalt ums Leben und Gebäude und Versuchsflächen wurden teils stark zerstört. Nach dem Krieg wurde die Arbeit wiederaufgenommen, nun als Behörde des neu gegründeten Bundeslandes Hessen. In den 1950er bis 1970er Jahren war Geisenheim wieder eines der wichtigsten Forschungs- und Ausbildungszentren für Gartenbau in Deutschland. Einmalig in Deutschland war auch das Studium des Weinbaus in Geisenheim – bis heute kann in Deutschland Weinbau (Önologie und Kellerwirtschaft) nur in Geisenheim am dortigen Fachbereich der Fachhochschule Wiesbaden studiert werden. Ein weiterer wichtiger Einschnitt war die Trennung von Forschung und Lehre. 1971 wurde die Fachhochschule Wiesbaden gegründet und die Forschungsanstalt gab die Studiengänge Gartenbau, Weinbau und Landespflege an die neu gegründete Fachhochschule mit ihrem „grünen“ Studienort Geisenheim ab. Die Forschungsanstalt Geisenheim nimmt seither nur noch Forschungsaufgaben wahr, ihre Wissenschaftler sind aber teils weiterhin als Dozenten an der Fachhochschule im Lehrbetrieb aktiv. 1997 beging die Forschungsanstalt Geisenheim ihr 125-jähriges Jubiläum. Seit dem Ende der 1980er Jahre wurden die Baulichkeiten (Gewächshäuser, Laborgebäude, Hörsäle) modernisiert bzw. komplett neu errichtet; ein Prozess, der erst in den nächsten Jahren abgeschlossen sein wird. Mit dem Beginn des 21. Jahrhunderts wurden die starren Organisationsstrukturen der Forschungsanstalt Geisenheim, die eine dem hessischen Ministerium für Wissenschaft und Kunst direkt nachgeordnete Forschungseinrichtung ist, langsam aufgelöst. Mittlerweile wird an fünf Instituten mit insgesamt 13 Fachgebieten in wissenschaftlichen Projekten interdisziplinär zusammengearbeitet, so beispielsweise zu Themen der grünen Biotechnologie (Hypersensitivitätsfragen, Resistenzzüchtung), zu weinbaulichen Fragen, zu zukunftsorientierten Technologien und zu Fragen der Inneren Qualität und Wertgebenden Inhaltsstoffen im Wein-, Obst-, Gemüse- und Zierpflanzenbau. Zum 1. Januar 2013 wurde die Forschungsanstalt Geisenheim mit dem Fachbereich Geisenheim der Hochschule RheinMain zusammengelegt und bildet seit diesem Zeitpunkt die neue Hochschule Geisenheim. Die Hochschule Geisenheim ist die 13. Hochschule in Hessen und die erste Hochschule des „neuen Typs“ in Deutschland, wie sie der Wissenschaftsrat in einem Grundlagenpapier von 2010 gefordert hat. Damit sind erstmals seit 1972 wieder Lehre und Forschung in Geisenheim in einer Institution vereint. Verwaltungsstruktur Die Forschungsanstalt war eine dem Hessischen Ministerium für Wissenschaft und Kunst direkt nachgeordnete Forschungseinrichtung. Sie wird von einem Direktor geleitet, der wiederum von einem Direktorium bei seiner Arbeit unterstützt wurde. Ein Verwaltungsrat unterstützt den Direktor bei der Kommunikation mit den zuständigen Ministerien und Dienststellen. Ein Kuratorium beriet die Forschungsanstalt bei grundlegenden Dingen wie zum Beispiel dem Haushaltsplan oder dem Forschungsprogramm. Seit 2007 gibt es zusätzlich einen Wissenschaftlichen Beirat. Aufgrund der Mitte 2010 erfolgten Kündigung des Staatsvertrags durch Rheinland-Pfalz wurde es ab 2011 zu Veränderungen der Rechtsform und der Verwaltungsstruktur der Forschungsanstalt geben. Direktor und Direktorium Direktor der Forschungsanstalt war ab 1. April 2009 Hans Reiner Schultz. Er ist Nachfolger Klaus Schallers, der seit 1988 der Forschungsanstalt vorstand. Das dem Direktor zur Seite stehende Direktorium besteht aus den Leitern der fünf Institute (Weinbau und Rebenzüchtung, Oenologie und Getränkeforschung, Gartenbau und Landschaftsbau, Biologie sowie Betriebswirtschaft und Technik). Ebenfalls zum Direktorium gehören ein Vertreter des wissenschaftlichen Personals sowie – mit beratender Stimme – der jeweilige Präsident der Hochschule RheinMain und der Verwaltungsleiter der Forschungsanstalt. Das Direktorium befasst sich mit Themen wie Personal-, Investitions- und Haushaltsfragen sowie der Koordinierung von Forschungsvorhaben und -entwicklung. Verwaltungsrat Der Verwaltungsrat beriet den jeweiligen Hessischen Minister für Wissenschaft und Kunst in allen grundsätzlichen Angelegenheiten der Forschungsanstalt. Hier werden auch für die Forschungsanstalt wichtige Entscheidungen getroffen wie zum Beispiel die Genehmigung von Entwürfen des Haushaltsvoranschlages, des Investitions- und des Forschungsprogrammes der Forschungsanstalt. Er bestand aus dem Hessischen Minister für Wissenschaft und Kunst als Vorsitzenden und dem Landwirtschaftsminister als Stellvertreter. Ferner gehören ihm der Weinbauminister von Rheinland-Pfalz und der Bundesminister für Landwirtschaft (bzw. der Stellvertreter) an. Mit beratender Stimme gehörten dem Verwaltungsrat maximal drei auswärtige Wissenschaftler an, die von der Deutschen Forschungsgemeinschaft vorgeschlagen und – nach Anhörung des Direktoriums – vom Verwaltungsrat bestellt werden. Außerdem hat der Direktor der Forschungsanstalt beratende Stimme. Kuratorium Das Kuratorium der Forschungsanstalt hatte die Aufgabe, die Entwicklung und den perspektivischen Ausbau der Forschungsanstalt zu initiieren und zu fördern. Dazu kann das Kuratorium Empfehlungen abgeben und beratend tätig werden, insbesondere bei den Themengebieten Haushalt, Investitionsprogramme, Forschungsprogramme, Satzung der Forschungsanstalt. Das Kuratorium setzte sich aus Vertretern der: zuständigen Landes- (Hessen, Rheinland-Pfalz) und Bundesministerien, zuständigen Ausschüsse auf Landes- und Kommunalebene, Fachverbände des Gartenbaus und der Landschaftsarchitektur, Fachverbände des Weinbaus und der Getränketechnologie, Universitäten Mainz und Gießen sowie der Hochschule RheinMain, Gesellschaft zur Förderung der Forschungsanstalt Geisenheim (GFFG), Vereinigung Ehemaliger Geisenheimer – Geisenheim Alumni Association e. V. sowie dem Vorsitzende des Personalrats der Forschungsanstalt und dem Direktor der Forschungsanstalt zusammen. Zur gezielten Sacharbeit kann das Kuratorium Fachausschüsse benennen. Wissenschaftlicher Beirat Der Wissenschaftliche Beirat wurde 2007 gegründet. Er bestand aus acht international renommierten Wissenschaftlern und Experten des Wein- und Gartenbaus, die aus Deutschland, Frankreich, Italien und der Schweiz kommen. Ein Vertreter des Hessischen Ministeriums für Wissenschaft und Kunst gehört ebenfalls dem Gremium an. Hauptaufgabe des Wissenschaftlichen Beirats war die Beratung der Forschungsanstalt in allen Forschungsbelangen. So überprüft das Gremium aktuelle Forschungsprogramme auf deren Inhalte und generell die Ausführbarkeit von Forschungsvorhaben. Dabei arbeitet der Beirat eng mit dem Verwaltungsrat der Forschungsanstalt Geisenheim zusammen. Forschungseinrichtungen Neben dem administrativen Teil besteht die Forschungsanstalt aus 5 Instituten mit insgesamt 13 Fachgebieten, die sich unterschiedlichsten Bereichen der Forschung im Garten- und Weinbau widmen: Institut für Weinbau und Rebenzüchtung Fachgebiet Rebenzüchtung und Rebenveredlung Fachgebiet Weinbau Fachgebiet Kellerwirtschaft Institut für Oenologie und Getränkeforschung Fachgebiet Weinanalytik und Getränkeforschung Fachgebiet Mikrobiologie und Biochemie Institut für Gartenbau Fachgebiet Gemüsebau Fachgebiet Obstbau Fachgebiet Zierpflanzenbau Institut für Biologie Fachgebiet Botanik Fachgebiet Bodenkunde und Pflanzenernährung Fachgebiet Phytomedizin Institut für Betriebswirtschaft und Technik Fachgebiet Betriebswirtschaft und Marktforschung Fachgebiet Technik Aktuelle Forschungsprojekte Die Forschung lässt sich in drei übergeordnete Themenbereiche mit jeweils enger definierten Projekten unterteilen: Innere Qualität und Markt ausgewählter wein- und gartenbaulicher Produkte Zukunftsorientierte Technologien Umweltstress und nachhaltige Pflanzenproduktion Jedes Fachgebiet hatte überdies noch eigene, in der Regel mehrjährige, Forschungsprojekte. Diese werden zum Teil auch interdisziplinär mit anderen Fachgebieten und externen Partnern bearbeitet (Detaillierte Beschreibungen von Forschungsschwerpunkten und -projekte sind auf der Homepage der Forschungsanstalt unter dem jeweiligen Fachgebiet zu finden): Das Fachgebiet Weinbau arbeitete an einer Vielzahl aktueller Projekte. Eines der Forschungsprojekte in Zusammenarbeit mit deutschen, ungarischen und griechischen Partnern beschäftigt sich mit dem Komplex Umweltstress bei der Weinrebe und bei den Weintrauben. Stresssituationen wie Wassermangel, ansteigende UV-B-Strahlung oder bodennahe Ozonbelastung lassen nachhaltige Auswirkungen auf die Inhaltsstoffbildung und die Aromaausprägung bei den Trauben vermuten. Umweltparameter werden mittels modernster ökophysiologischer Messtechnik dokumentiert und Auswirkungen auf Photosynthese, Transpiration und wertgebender Inhaltsstoffbildungen untersucht. Weitere Forschungsbereiche sind die Klärung komplexer Fragen zur Inhaltsstoffbildung in der Traube oder die Erstellung von Modellen zur Ertragsbildung im Weinbau. Angewandte Forschung im Weinbau beschäftigt sich mit Fragen der praxisorientierten Weiterentwicklung umweltorientierter Bewirtschaftungssysteme im Weinbau („ökologischer Weinbau“) sowie der technologischen und ökologischen Effizienzsteigerung im Steillagenweinbau. Das Fachgebiet Rebenzüchtung und Rebenveredlung widmete sich den eher klassischen Forschungsbereichen Kreuzungszüchtung und Klonselektion sowie Fragen zur Standortanpassung von Unterlagsreben in Deutschland. Bei letzterem Forschungsprojekt werden über 50 Versuchsanlagen in den deutschen Weinanbaugebieten betrieben wo neben deutschen Unterlagssorten auch ausländische Unterlagen eingesetzt und mit diesen verglichen werden. Im biotechnologischen Forschungsbereich arbeitet das Fachgebiet mittels RAPD-PCR an der Verfeinerung von Methoden zur Unterscheidung von Rebsorten („Genetischer Fingerabdruck“). Forschungsarbeiten im Bereich „Somatische Embryogenese“ dienen der Trennung von Chimären und der Entwicklung neuer Klone aus alten Rebsorten. Das Fachgebiet Kellerwirtschaft arbeitete mit dem Fachgebiet Weinbau zusammen, mit dem es auch räumlich verbunden ist. Forschungsthemen sind zum Beispiel die Optimierung von önologischen Verfahren zur Steigerung der Weinqualität wie der Einfluss von Mostvorklärung auf die Weinqualität oder die Veränderung der primären Aromastoffe während der Traubenreife, der Traubenverarbeitung und der Weinlagerung. Ein weiterer großer Forschungsbereich ist die Rotweinbereitung. Eine führende Rolle hatte das Fachgebiet Kellerwirtschaft auch bei der Forschung im Bereich alternativer Weinflaschenverschlüsse wie Kunststoff, Schraub- oder Glasverschlüsse. Das „Geisenheimer Prüfsiegel“ als Qualitätssiegel für Korkhandelsfirmen ist ein Ergebnis jahrelanger Forschung und internationaler Akzeptanz der Arbeit im Fachgebiet. Das Fachgebiet Weinanalytik und Getränkeforschung widmete sich in seiner Forschungstätigkeit sowohl dem Bereich Weinbau wie auch der Getränketechnologie und weist mit dem Getränketechnologischen Zentrum eine modern eingerichtete Forschungseinrichtung auf. Auch hier wurde, wie an anderen Fachgebieten, interdisziplinär am Thema wertgebende Inhaltsstoffe und sekundäre Pflanzenstoffe (oft auch als bioaktive Stoffe bezeichnet) gearbeitet. Beispielhaft hierfür kann die Farbstabilität von rotem Apfelsaft als innovativem Produkt genannt werden. Ein weiteres Themenfeld sind Getränkefehler bei Weinen und Säften wie die so genannten Weinkrankheiten oder Trübungen und Trubdepots bei Fruchtsäften. Im Fachgebiet Mikrobiologie und Biochemie wurde ab der Gründung des Fachgebiets 1894 als „Geisenheimer Reinhefestation“ traditionell an und mit Hefen geforscht. Weitere Forschungsschwerpunkte sind beispielsweise Untersuchungen über gärungsbeeinflussende Faktoren sowie qualitätsfördernde und qualitätsmindernde Faktoren und Stoffe oder die Untersuchung von Stress-Reaktionen von Mikroorganismen (Stress-Response), der Aromenentwicklung durch Steuerung der Mikroflora sowie die Ursachen und Prävention von Korktönen. Für einen Teil der Forschungstätigkeit im gentechnischen Bereich steht dem Fachgebiet ein S1-Labor zur Verfügung. Das Fachgebiet beteiligt sich auch federführend für die Forschungsanstalt an einem aktuellen interdisziplinären EU-Projekt zur Herstellung von ökologisch produzierten Weinen. Primär geht es hier um die Überprüfung der Umsetzbarkeit der erzielten beziehungsweise zu erzielenden Forschungsergebnisse in die alltägliche Praxis der Weinherstellung in diesem Anbaubereich. Am Institut für Gartenbau arbeitete das Fachgebiet Gemüsebau an zwei großen Forschungskomplexen: Spargel und Wasser. Beim Spargelanbau wird an Fragestellungen zur Dynamik des Nährstoff- und Wasserhaushaltes, Ursachen von Ertragsminderungen sowie Ursachen für äußere und innere Qualitätsmängel geforscht. Ergebnisse aller Teilbereiche der Spargelforschung fließen in eine Modellierung des Spargelwachstums ein. Beim Forschungskomplex Wasser ging es vor allem um die Themenbereiche Wasserhaushalt, Bewässerungssteuerung und den gezielten Einsatz der Ressource Wasser. Forschungsgebiete waren der Wasserbedarf sowie die Auswirkungen auf die Pflanzenqualität im Gewächshaus und im Freiland. Untersucht werden die Auswirkungen unterschiedlicher Bewässerungsniveaus auf Ertrag, Qualität und wertgebende Inhaltsstoffe oder die Wechselwirkungen zwischen Wasserhaushalt und Qualität. Das Fachgebiet Obstbau befasste sich traditionell mit der Weiterentwicklung von Steinobst durch konventionelle Kombinationszüchtung. Neben der Züchtung neuer Ertragssorten steht mittlerweile auch die Forschungsarbeit in der Scharkaresistenzzüchtung bei Prunus domestica-Varietäten und der Feuerbrandresistenzzüchtung bei Kernobstvarietäten und -unterlagen im Vordergrund. Die konventionellen Züchtungsmethoden werden mittlerweile unterstützt durch Methoden der Molekulargenetik. So wird im Rahmen eines Forschungsprojekts an der Identifizierung des Gens beziehungsweise des Genkomplexes für das Columnarwachstum (extremer Säulenwuchs) von Apfelsorten geforscht. Als Grundlage dienen bereits kommerziell genutzte Apfelsorten der CATS-Gruppe. Im Rahmen des Themenschwerpunktes „Innere Qualität“ werden in Kooperation mit anderen Fachgebieten pflanzliche Sekundärstoffe im Steinobst und Schwarzer Johannisbeeren erforscht. Unter den zweiten Themenbereich der Forschung, „Umweltstress und nachhaltige Pflanzenproduktion“, fällt die Forschungsarbeit an dem Wasser- und Stickstoffmanagement bei Roter Johannisbeeren (Einfluss auf das vegetative Wachstum, den Ertrag und die Qualität der Früchte sowie der vorzeitigen Alterung) sowie der Einfluss von Strahlung und Temperatur auf die Vitalität von Schwarzen Johannisbeeren. Weitere Forschungsarbeit leistet das Fachgebiet bei den Bundesleistungsversuchen „Schorfresistente Apfelsorten“, „Neue Birnenunterlagen“ und dem EU-Forschungsprojekt COST 836: „Euroberry Research: From Genomics to Sustainable Production, Quality and Health“. Auf drei Forschungsschwerpunkte konzentrierte sich die Arbeit des Fachgebiets Zierpflanzenbau: Bei der Inneren Qualität von Zierpflanzen geht es vor allem um die Entwicklung von Haltbarkeitsprognosen für Schnittblumen durch Stresstests und Messungen von Parametern des Wasser- und Kohlenhydrathaushaltes wie beispielsweise die Wasserstress-Toleranz verschiedener Rosen-Genotypen. Auch die Quantifizierung haltbarkeitsrelevanter Produktionsfaktoren wie Genotyp, Standweite, Klimabedingungen sowie Ernährung und Nacherntebehandlung werden untersucht. Im Forschungsbereich „Urbane Pflanzenkultur“ wird die Sauerstoffversorgung im Wurzelbereich unterschiedlicher Begrünungssysteme (Erdsubstrat, Seramis, Blähton) untersucht. Ein weiteres Thema dieses Forschungsschwerpunktes ist der Ersatz von Torf durch Rohstoffe aus dem Recyclingbereich (Spanplatten, Sägemehl) oder durch nachwachsende Rohstoffe (Öllein, Hanf). Dritter Schwerpunkt ist das Umpflanzverhalten von Ziergehölzen und die Einflüsse kulturtechnischer Maßnahmen aus den Bereichen Bewässerung, Düngung, Ernte auf diese. Interdisziplinär arbeitete das Institut für Biologie der Forschungsanstalt Geisenheim. Das Fachgebiet Botanik beschäftigt sich mit Untersuchungen zur Reblausresistenz, den zellulären Mechanismen und der Molekularbiologie der Hypersensitivitätsreaktionen in diesem Bereich. Die Entwicklung von Transformationssystemen für die Züchtung resistenter Sorten ist dabei das Forschungsziel. Weitere Forschungsgebiete sind die Analyse von Komponenten der zellspezifischen Regenerations- und Transformationskompetenz in vitro kultivierter Pflanzengewebe oder die molekularbiologische Analytik zur Sorten- und Klon-Typisierung im Rahmen der Züchtung gartenbaulicher Kulturpflanzen und der Weinrebe. Für die Arbeiten im molekularbiologischen Bereich steht ebenfalls ein S1-Labor und -Gewächshausbereich zur Verfügung. Mit Hilfe der Flow Cytometry wird im pflanzlichen Bereich an Ploidiegrad- und Zellzyklusanalysen zur Charakterisierung von konventionellem und in vitro-Züchtungsmaterial gearbeitet. Wissenschaftler des Fachgebiets sind an mehreren EU-Forschungsprojekten (teils führend) beteiligt so beispielsweise am Projekt COST 843: „Quality Enhancement of Plant Production Through Tissue Culture“. Das Fachgebiet Bodenkunde und Pflanzenernährung arbeitete hauptsächlich im Bereich Weinbau. Hier wird zum Beispiel an der Ermittlung des Einflusses der Wasser- und Stickstoffversorgung und weinbaulicher Maßnahmen auf die Aromenbildung der Reben geforscht. Im Fachgebiet wurde im Gartenbau seit fast 50 Jahren kontinuierlich im Bereich AZERCA (Azaleen, Ericen und Camelien) geforscht. Dieser Forschungsschwerpunkt wurde allerdings in den letzten Jahren zugunsten anderer Forschungsprojekte deutlich reduziert. Vielfältig sind die Forschungsbereiche im Fachgebiet Phytomedizin. Allgemein wird in garten- und weinbaulichen Forschungsprojekten an folgenden Themen gearbeitet: Optimierung der Rhizo- und Phyllosphärenmikroflora, Entwicklung umweltfreundlicher Pflanzenschutzmaßnahmen, Prognose von Krankheits- und Schädlingsaufkommen sowie der Risikominimierung bei geschlossenen Bewässerungssystemen. Auch im Fachgebiet Betriebswirtschaft und Marktforschung erstrecken sich die Forschungsthemen sowohl auf den garten- und auf den weinbaulichen Bereich. Forschungsthemen sind hier beispielsweise Untersuchungen zum Verbraucherverhalten, zur Marktentwicklung und zu Marktstrukturen, Unternehmens- und Erfolgsanalysen oder die Analyse von Marketinginstrumenten in den jeweiligen Branchen. Gleichermaßen war die Forschung im Fachgebiet Technik gehandhabt. Forschungsthemen waren beispielsweise die verfahrenstechnischen Entwicklungen für die Pflanzenbewässerung und -düngung unter Glas oder die Verbesserung der Bewirtschaftung von Weinbau-Steillagen. Lehre und Studium in Geisenheim Der Lehrbetrieb an der Forschungsanstalt (1872–1971) Bereits im Gründungsstatut der Forschungsanstalt wurde der Lehrbetrieb geregelt. Im Gründungsjahr 1872 konnten sechs Studenten, die so genannten „Eleven“ begrüßt werden. Angeboten wurde ein „Höherer Lehrgang“ mit vier bis sechs Semester für Gymnasiasten und Realschüler sowie ein „Praktischer Lehrgang“ über zwei Semester für Schüler der praktischen Gärtnerei. Von Anfang an angeboten wurden auch Kurzlehrgänge für Hospitanten, das heißt Fortbildungskurse für im Beruf Stehende wie zum Beispiel Lehrer, Baumwärter und andere. Der Lehrplan des „Höheren Lehrganges“ war sehr umfangreich. Er umfasste als Grundlage die mathematisch-naturwissenschaftlichen Fächer, dazu Hauptfächer wie zum Beispiel Allgemeiner Pflanzenbau, Obstkultur, Obsttreiberei, Weinbau, Rebkultur, Traubenkenntnis, Gemüsebau, Landschaftsgärtnerei oder Planzeichnen. Als Nebenfächer werden Gärtnerische Buchführung, Bienenzucht und Seidenbau genannt. Die für Forschungszwecke gebauten und genutzten Anlagen wurden selbstverständlich auch für den Lehrbetrieb genutzt. Zur Verfügung standen hier unter anderem Baum- und Rebschulen, Muttergärten, Weinberge, ein Obstpark, die Formschule, Treibhäuser sowie Bibliothek und Geräte- und Modellsammlung. Dazu kamen einige Jahre später u. a. eine Pflanzenphysiologische Versuchsanstalt (Wirkungsstätte von Müller-Thurgau, ein Schüler von Julius Sachs), ein Oenochemisches Laboratorium, eine Meteorologische Versuchsstation II. Ordnung, eine Obstverwertungsstation sowie ein Weintreibhaus hinzu. In den letzten Jahrzehnten des 19. Jahrhunderts hatte die Forschungsanstalt im Durchschnitt 50 Hörer, davon 20 im höheren zweijährigen Lehrbetrieb. Bis zum Ersten Weltkrieg wurde der Lehrbetrieb mehrmals umstrukturiert und ausgebaut. 1912 wurden folgende Lehrgänge angeboten: Weinbau, Obstbau, Obst- und Gartenbau und Gartenkunst. Die Anzahl der „Eleven“ betrug zu dieser Zeit bereits 90 Studenten. Bereits 1894 gründete sich die „Vereinigung Ehemaliger Geisenheimer“ (VEG) die damit eine der ältesten Alumnivereinigungen in Deutschland ist. Schon zu Anfang des 20. Jahrhunderts wurden die ersten Fachkongresse durch die VEG durchgeführt. Die Vereinigung Ehemaliger Geisenheimer – Geisenheim Alumni Association zählt derzeit mehr als 2.000 Mitglieder weltweit und bringt sich seit ihrer Gründung intensiv in die Forschungs- und Lehrgeschichte Geisenheims mit ein. Im Ersten Weltkrieg kam der Lehrbetrieb zum Erliegen und wurde 1919 mit 14 Eleven wieder aufgenommen. Im Zuge weiterer Umstrukturierungen wurden 1920 aus den „Eleven“ „Hörer“ mit dem Abschluss „Staatlich geprüfter Techniker“. Zum 50-jährigen Jubiläum der Forschungsanstalt 1922 konnte man wieder auf einen geordneten Lehrbetrieb schauen und auf insgesamt 2.765 Hörer (Studenten) und 10.625 „Kursisten“ aus der Praxis (Teilnehmer der zweijährigen Praktischen Lehrgänge) zurückblicken. Weitere Entwicklungen des Lehrbetriebes in Geisenheim zeigten die Anpassungsfähigkeit aber auch den Bedarf aus der Garten- und Weinbaupraxis. Eine zweite staatliche Fachprüfung führte Absolventen des höheren Geisenheimer Lehrbetriebes zum Titel „Staatlich diplomierter Garten-, Obst- oder Weinbauinspektor“. Ein in den 1920er Jahren eingeführtes fünftes Semester sorgte für die Lehrbefähigung und die Ausbildung von Fachlehrer im Garten-, Obst- und Weinbau. In der Zeit des Nationalsozialismus wurde die Forschung in Geisenheim weit stärker gewichtet als die Lehre. Auch die Forschungsanstalt Geisenheim sollte ihren (Forschungs-)Beitrag zur autarken Nahrungsmittelversorgung des Reiches leisten. 1934 erfolgte die Umbenennung der Forschungsanstalt in „Versuchs- und Forschungsanstalt“, verschiedene Lehrangebote wurden eingestellt oder liefen aus. Es gab zudem Bestrebungen des damaligen Leiters der Forschungsanstalt, Carl Friedrich Rudloff (1899–1962), Forschung und Lehre dauerhaft zu trennen und die Lehre in Geisenheim auszulagern. Dies wurde von Ehemaligen allerdings entschieden abgelehnt. Ab 1943 war endgültig klar, dass die „Höhere Gartenbauschule“ in Geisenheim weiter bestehen bleiben sollte. Mitte 1941 kam der Lehrbetrieb in Geisenheim allerdings kriegsbedingt zum Erliegen. Aus dem Zweiten Weltkrieg ging die Forschungsanstalt mit nicht unerheblichen Zerstörungen in die Nachkriegszeit. Auch kamen Mitarbeiter der Forschungsanstalt ums Leben. Auf den Versuchsflächen musste bereits während des Krieges Gemüse zur Ernährung der Bevölkerung angebaut werden. 1946 kam die Forschungsanstalt zum Land Hessen. Der Lehrbetrieb wurde langsam wieder aufgenommen: Am 1. April 1946 fingen 80 Hörer mit ihrem Studium an. Studienrichtungen waren: Weinbau und Kellerwirtschaft, Obstbau und Gemüsebau, Zierpflanzenbau und Gemüsebau sowie Gartengestaltung. Die Zahl der Hörer stieg in der Nachkriegszeit wieder schnell an, von 1951 bis 1957 wurden sogar Aufnahmeprüfungen für Hörer durchgeführt. Von 1946 bis 1961 verließen 858 Absolventen die Forschungsanstalt, davon gehörten 28 % der Fachrichtung Weinbau an, 23 % der Fachrichtung Obst- und Gemüsebau, 20 % der Fachrichtung Zierpflanzenbau und Gemüsebau sowie 29 % der Fachrichtung Gartengestaltung. 1960 wurde das sechssemestrige Studium in Geisenheim eingeführt, Geisenheim wurde somit zur Ingenieurschule. Damit einhergehend wurde nach 90 Jahren die Technikerausbildung abgeschafft. 1968 wurde eine neue Fachrichtung in Geisenheim eingeführt, die „Getränketechnologie“. Nach längerer Diskussion im Vorfeld wurde Ende der 1960er Jahre die Gründung der Fachhochschulen vorbereitet, die eine Überführung der Ingenieurschulen in den Hochschulbereich ermöglichte. Die Ingenieurschule Geisenheim sollte zur neu zu gründenden Fachhochschule Wiesbaden kommen; die Einrichtung von zwei Fachbereichen, Weinbau und Getränketechnologie sowie Gartenbau und Landespflege, waren vorgesehen. Am 1. August 1971 war die Neugründung letztendlich vollzogen und der Lehrbetrieb in Geisenheim ging auf die Fachhochschule Wiesbaden über. Studium an der Fachhochschule Wiesbaden – Studienort Geisenheim (ab 1971) 1970 hatte die Ingenieurschule in Geisenheim bereits 430 Studierende und war bundesweit ein renommierter Studienort für die Berufsbereiche Garten- und Weinbau sowie Gartenarchitektur. Mit Verabschiedung des Fachhochschulgesetzes am 9. Juli 1970 und dessen Inkrafttreten am 1. August 1971 wurde die Fachhochschule Wiesbaden gegründet. Die Ingenieurschule Geisenheim ging dabei in den neu gegründeten Fachbereichen Gartenbau und Landespflege sowie Weinbau und Getränketechnologie der FH Wiesbaden auf. In den beiden Fachbereichen wurden nun die Studiengänge Gartenbau, Weinbau, Landespflege sowie Getränketechnologie angeboten, der neu vergebene Abschluss lautete Diplom-Ingenieur (FH). Durch die Gründung der Fachhochschule Wiesbaden wurde in Geisenheim nach fast 100 Jahren Forschung und Lehre institutionell getrennt. Allerdings arbeiteten von Anfang an beide Institutionen eng zusammen. So wurden in der Lehre neben reinen Fachhochschulprofessoren auch Wissenschaftler der Forschungsanstalt integriert. Die leitenden Wissenschaftler der Fachgebiete sind bis heute zu 50 % Professoren der Fachhochschule mit entsprechender Lehrverpflichtung in ihrem jeweiligen Fachgebiet. Auch die weiteren Wissenschaftler der Forschungsanstalt sind mehr oder weniger in die Lehre eingebunden. In den nächsten Jahrzehnten stieg die Zahl der Studierenden in Geisenheim kontinuierlich an. Die Studien- und Prüfungsordnungen wurden mehrfach den aktuellen Erfordernissen angepasst. Große Veränderungen folgten dann erst wieder zum Ende des 20. Jahrhunderts als, beginnend durch die Bologna-Erklärung 1999, auch in Geisenheim über die Einführung der konsekutiv gestuften Studiengänge Bachelor und Master nachgedacht wurde. Ab 2003 wurden die ersten Diplom-Studiengänge in Bachelor-Studiengänge umgewandelt sowie, darauf aufbauend, die ersten Master-Studiengänge akkreditiert. Mit der letzten Umstellung des Diplom-Studiengangs Weinbau und Getränketechnologie auf einen Bachelor-Studiengang wurde der Umstellungsprozess zum Wintersemester 2007/2008 abgeschlossen. 2009 wurde dieser neuen Studienstruktur auch namentlich Rechnung getragen und die Fachhochschule Wiesbaden in Hochschule RheinMain umbenannt. Seit dem 1. Januar 2013 besteht die unabhängige Hochschule Geisenheim University. Der Fachbereich Geisenheim (ab 2005) Seit März 2005 sind die beiden Fachbereiche Weinbau und Getränketechnologie sowie Gartenbau und Landschaftsarchitektur fusioniert und bilden zusammen mit weiterem Lehrpersonal der FH Wiesbaden (EDV, Mathematik, Physik, Chemie) den Fachbereich Geisenheim. Einhergehend mit dieser Konzentrierung ist die stufenweise Umstellung des Studienangebotes von Diplomabschlüssen zu Bachelor- und Masterabschlüssen im Wintersemester 2007/2008 abgeschlossen. Internationale Kooperation Seit der Tätigkeit von Hermann Müller Ende des 19. Jahrhunderts besteht eine traditionell enge Verbindung und Kooperation mit der Eidgenössischen Forschungsanstalt für Obst-, Wein- und Gartenbau in Wädenswil (Schweiz). Ebenfalls in der Schweiz, in Changins, befindet sich die École d’ingénieurs de Changins; beide Anstalten sind heute mit dem Agroscope verpartnert. Ein weiterer wichtiger Partner in Europa ist die Bundesanstalt für Wein- und Obstbau in Klosterneuburg (Österreich). Mit den traditionellen Weinanbauländern Frankreich, Italien kooperiert die Forschungsanstalt insbesondere bei den Forschungsgebieten Weinbau und Kellerwirtschaft. Hier sind das Istituto Sperimentale di Viticoltura in Conegliano (Italien), die „Fondazione Edmund Mach“ -Istituto Agrario di San Michele all' Adige (Italien) und die Universitäten in Montpellier und Bordeaux (Frankreich) zu nennen. Forschungspartner in Ungarn sind die dortigen Forschungsanstalten Kecskemét und Eger. In Griechenland arbeitet die Universität Thessaloniki mit der Forschungsanstalt in Fragen der Weinbauforschung zusammen. Internationale Forschungspartner sind die zum Beispiel das Rajamangala Institute of Technology (Thailand), die Charles Sturt University in Wagga-Wagga (Australien), die CCS Haryana Agricultural University, Hisar (Indien), die Weinbauversuchsstation in Nijtvoorby sowie die Universität Stellenbosch (Südafrika) und die Cornell University, New York (USA). Neben Universitäten und Forschungseinrichtungen fanden auch mit staatlichen und nichtstaatlichen Vereinigungen und Institutionen eine Zusammenarbeit bei Projekten des Garten- und Weinbaus in unterschiedlichster Form statt. Institutionen der Forschungsanstalt Geisenheim Weingut der Forschungsanstalt Geisenheim Die Forschungsanstalt unterhält ein eigenes Weingut mit 23 ha Ertragsrebfläche, das seit 1995 dem Verband Deutscher Prädikatsweingüter (VDP) angehört und dessen Produkte regelmäßig nationale und internationale Auszeichnungen verliehen bekommen. Aufgrund der Versuchsarbeit in den Fachgebieten Weinbau und Kellerwirtschaft wird hier ein typisches Sortiment an Weinen, Sekten und Bränden angeboten. Schwerpunkt bildet natürlich der Riesling, vertreten sind allerdings auch Rebsorten aus Versuchsanlagen wie beispielsweise Gamaret, Zweigelt, Frühburgunder oder Auxerrois. Angebaut wurde in Geisenheimer und Rüdesheimer Lagen wie zum Beispiel Geisenheimer Fuchsberg, Geisenheimer Kläuserweg, Geisenheimer Rothenberg oder Geisenheimer Mäuerchen sowie Rüdesheimer Magdalenenkreuz und Rüdesheimer Klosterberg. Park der Forschungsanstalt Der Park der Forschungsanstalt Geisenheim war in zwei Teile gegliedert. Es gibt die insgesamt 3 ha großen Parkanlagen rund um die Hauptgebäude der Forschungsanstalt sowie die 3,6 ha großen Parkanlage rund um die Villa Monrepos. Vor allem erstere weisen eine Vielzahl seltener Bäume und Sträucher auf, darunter ein Milchorangenbaum (Maclura pomifera) sowie ein Exemplar des Taschentuchbaums (Davidia involucrata var. vilmoriniana). Weitere Raritäten sind der Zoeschener Ahorn (Acer × zoeschense), der Davids-Ahorn (Acer davidii), die Engelmanns-Buche (Fagus engelmannii), Lotus-Pflaume (Diospyros lotus), ein männliches und ein weibliches Exemplar des Ginkgos (Ginkgo biloba), die Geschlitztblättrige Walnuss (Juglans regia ‘Laciniata’), die Orangenkirsche (Idesia polycarpa), die Geschlitztblättrige Kastanie (Aesculus hippocastanum 'Laciniata'), der Geweihbaum (Gymnocladus dioica), der Guttaperchabaum (Eucommia ulmoides) und die Weihrauchzedern-Art Calocedrus decurrens. Viele der gepflanzten Bäume sind über 100 Jahre alt. Die Parkanlagen rund um das Monrepos wurden von den Gebrüder Siesmayer, die unter anderem auch den Palmengarten Frankfurt gestalteten, geplant. Sie waren zur Zeit ihrer Entstehung und bis weit in das 20. Jahrhundert hinein vor allem für ihre Formobstgehölze und Blumenrabatten berühmt. Hauptbibliothek 1872 wurde mit der Gründung der Forschungsanstalt Geisenheim auch eine Bibliothek eingerichtet. Die Hauptbibliothek weist zusammen mit den 17 Fachbibliotheken der Fachgebiete einen Gesamtbestand von insgesamt zirka 120.000 Bänden auf. 1969 wurde die Bibliothek der Gesellschaft für Geschichte des Weines e. V. in den Bestand der Hauptbibliothek integriert, 1990 wurde die Hauptbibliothek der Forschungsanstalt Geisenheim in das „Handbuch der historischen Buchbestände in Deutschland“ aufgenommen. In der Hauptbibliothek finden sich auch die Jahresberichte der Forschungsanstalt Geisenheim. Persönlichkeiten der Forschungsanstalt Verschiedene international bekannte Wissenschaftler haben an der Forschungsanstalt gearbeitet, beispielsweise Hermann Müller-Thurgau (1850–1927), der Leiter der Pflanzenphysiologischen Station der Forschungsanstalt. Er war Gründer der Eidgenössischen Forschungsanstalt für Obst-, Wein- und Gartenbau in Wädenswil/Schweiz und züchtete in Geisenheim 1882 die Müller-Thurgau-Rebe, die erfolgreichste Reb-Neuzüchtung weltweit. Heinrich Birk war als erfolgreicher Rebzüchter bekannter Rebsorten wie zum Beispiel Ehrenfelser vor und nach dem Zweiten Weltkrieg in Geisenheim tätig. Sein Nachfolger, Helmut Becker (1927–1990), leitete von 1964 bis 1990 das Institut für Rebenzüchtung an der Forschungsanstalt Geisenheim. Er war Dozent für Rebzüchtung und Rebveredlung und besaß eine weltweite Reputation. Gerhard Troost (1906–1999) studierte 1929 Weinbau in Geisenheim und war danach langjähriger Mitarbeiter und Professor an der Forschungsanstalt in Geisenheim. Er baute das Institut für Kellerwirtschaft und Getränketechnologie auf und führte in Geisenheim den Studiengang Getränketechnologie ein. Troost war Autor der wissenschaftlichen Standardwerke Technologie des Weines, das mittlerweile in sechster Auflage erscheint, und Sekt, Schaumwein, Perlwein. Julius Koch (1912–1991) wurde 1949 zum Leiter und ab 1951 zum Institutsvorstand und Professor des Instituts für Gemüse- und Früchteverwertung der Forschungsanstalt berufen, dem er bis 1959 vorstand. Er organisierte den Wiederaufbau des Instituts und erwarb sich große Verdienste um die Ausbildung des Nachwuchses und der Schulung von Betriebsleitern in eigenen Lehrgängen. Er vermittelte den Fruchtsaftherstellern die neuesten Technologien der Wein- und Fruchtsaftbereitung. Sein Ziel war die Steigerung der Qualität der Säfte und Stabilisierung der Getränke, das er vorwiegend durch den Einsatz physikalischer Methoden wie Warmfüllung, KZE-Verfahren und steriles Arbeiten beim Abfüllen erreichte. Julius Koch wurde international bekannt und war in verschiedenen Kommissionen tätig. Gerd Däumel (1913–2011) wurde 1954 zum Institutsvorstand und 1960 zum Professor des Instituts für Garten- und Landschaftsgestaltung der Forschungsanstalt berufen, dem er bis 1978 vorstand. Eine wichtige Aufgabe in der Anfangszeit war neben dem Aufbau von Forschung und Lehre die Wiederherstellung und Neuplanung der die im Krieg völlig zerstörten Parkanlagen von Monrepos. Thema seiner Dissertation war die Geschichte der Landespflege („Über die Landesverschönerung“). So war es naheliegend, dass er zum 100-jährigen Jubiläum der Forschungsanstalt eine Arbeit mit dem Titel Geisenheim 1872–1972, Hundert Jahre Gartenbau und Landschaftspflege vorlegte. Dieter Hennebo (1923–2007) gilt als Nestor des Lehrgebietes „Geschichte der Gartenkunst“ und der Gartendenkmalpflege in Deutschland. Seine ersten beruflichen Schritte auf diesem Gebiet unternahm er ab 1957 als Wissenschaftlicher Assistent an der Forschungsanstalt Geisenheim. Julius Wortmann (1856–1925) gründete 1894 die erste Hefereinzuchtstation an der Lehr- und Forschungsanstalt. Karl Kroemer (1871–1956) leitete die Pflanzenphysiologische Versuchsstation von 1903 bis 1935. Bereits 1904 gründete er an seiner Versuchsstation eine wissenschaftliche Abteilung für Rebenveredlung und widmete sich einer wissenschaftlich fundierten Rebensortenkunde. Friedrich Schmitthenner (1876–1945) war ebenfalls Assistent an der Forschungsanstalt Geisenheim. Als Mitarbeiter von Karl Kroemer wurde er von den Bad Kreuznacher Seitz-Werken zur Entwicklung der Filtertechnik für Lebensmittel von der damaligen Preußischen Rebenveredlungsstation in Geisenheim abgeworben. Schmitthenner war auf dem Gebiete der Weinchemie bahnbrechend tätig; sein besonderes Verdienst ist die Entwicklung des ersten vorkonfektionierten Filters der EK (Entkeimungsfilterschicht). Durch die damit mögliche Kaltsterilfüllung wurde die Wein-Kellerwirtschaft und die Süßmostbereitung weltweit auf eine neue Grundlage gestellt. Hugo Schanderl (1901–1975), gleichfalls Mitarbeiter von Karl Kroemer, wurde dessen Nachfolger. Er brachte die Taxonomie der Apikulatushefen auf den neuesten Stand der Systematik. Praktischen Nutzen zogen die Schüler der Lehranstalt durch seine Forschungen zur Spontangärung und Gärungsstörungen bei Wein und Sekt. Norbert Becker (1937–2012), deutscher Agrarwissenschaftler auf dem Gebiet der Rebenzüchtung und weinbaulichen Standortkunde. Peter-Jürgen Paschold (1946–2013), der „Spargelpapst“ Karl Wucherpfennig (1925–2017) Leiter des Institut für Obst- und Gemüseverwertung. Er wurde 2009 für seine Verdienste um die deutsche Wein- und Fruchtsaftforschung mit dem Verdienstkreuz 1. Klasse des Verdienstordens der Bundesrepublik Deutschland ausgezeichnet. Vom 1. April 1903 ab wurde ein erweitertes Kuratorium für die Königliche Lehranstalt für Wein-, Obst- und Gartenbau in Geisenheim am Rhein geschaffen, zu dessen Vorsitzenden der Agrarfunktionär und Pomologe Traugott Mueller berufen wurde. Züchtungen der Forschungsanstalt Aus der Züchtungsarbeit einzelner Fachgebiete heraus waren einige für den Obst- und Weinbau wichtige Sorten entstanden. Die mit Abstand bekannteste Geisenheimer Züchtung ist die weiße Rebsorte Müller-Thurgau, auch Rivaner genannt. Sie entstand bereits in den 1880er Jahren. Weitere anbaurelevante Geisenheimer Rebzüchtungen sind unter anderem Ehrenfelser, Saphira, Reichensteiner und Ehrenbreitsteiner. Ebenfalls von Bedeutung ist die in Geisenheim entstandene Unterlagsrebe „Börner“, die als einzige Rebunterlage resistent gegen Reblausbefall ist. Im Obstbau ist die Walnuss-Sorte „Wunder von Monrepos“ ebenso im Anbau etabliert wie die Pflaumensorten der „TOP-Gruppe“. Eine weitere Neuzüchtung ist die 1994 entstandene Mirabellensorte Aprimira. Auch in der Gemüsezüchtung wurde erfolgreiche Züchtungsarbeit betrieben. Die Tomaten-Sorte „Geisenheimer Frühtomate“ gelangte zwischen 1902 und 1904 in den Handel. Sie zeichnete sich insbesondere durch Frühtreife und hohen Fruchtertrag aus. Literatur Hessische Forschungsanstalt für Wein-, Obst- und Gartenbau Geisenheim/Rhein (Hg.): Geisenheim 1872–1972. 100 Jahre Forschung und Lehre für Wein-, Obst- und Gartenbau. Ulmer, Stuttgart 1972. ISBN 3-8001-3023-8. Gesellschaft zur Förderung der Forschungsanstalt Geisenheim (Hg.): 125 Jahre Forschungsanstalt Geisenheim – Festschrift zum 125jährigen Jubiläum. Geisenheim 1997. Paul Claus; Förderkreis Kulturdenkmäler Geisenheim (Hg.): Geisenheimer Erinnerungen (1817–1972). Eduard von Lade und die Lehr- und Forschungsanstalt. Beiträge zur Kultur und Geschichte der Stadt Geisenheim. Bd. 8. Geisenheim 2005. Weblinks Hochschule Geisenheim Forschungsprojekte: hefefinder.de – Forschungsprojekt des Fachgebiets Mikrobiologie zu Hefen vitisvinum.info – Lexikon von Weinbaubegriffen in 5 Sprachen Einzelnachweise Forschungseinrichtung in Hessen Landwirtschaftliches Forschungsinstitut Landwirtschaftsbehörde (Deutschland) Weingut (Rheingau) Gartenbauorganisation (Deutschland) Önologie Lebensmitteltechnologie Hefebank Organisation (Geisenheim) Ressortforschungseinrichtung Gegründet 1872 Aufgelöst 2013 Weinkultur (Deutschland) Ehemaliges Unternehmen (Rheingau-Taunus-Kreis) Landwirtschaft (Hessen)
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https://de.wikipedia.org/wiki/Mungo%20Man
Mungo Man
Als Mungo Man, in der wissenschaftlichen Literatur Lake Mungo 3 (LM3) oder Willandra Lake Human 3 (WLH3), werden die fossilen Überreste eines frühen Bewohners des australischen Kontinents bezeichnet, die auf ein Alter von etwa 40.000 Jahren datiert wurden. Das Fossil wurde 1974 am ausgetrockneten Lake Mungo, einem Teil des UNESCO-Weltkulturerbes Willandra-Seenregion in New South Wales, entdeckt und stammt dieser Datierung zufolge aus dem Jungpaläolithikum. Es gilt als der bisher älteste Überrest eines anatomisch modernen Menschen (Homo sapiens), den man in Australien gefunden hat. Entdeckung und Aufbewahrung Mungo Man wurde von dem Geologen Jim Bowler am 26. Februar 1974 entdeckt. Vorangegangene starke Regenfälle hatten dessen Gebeine bloßgelegt. In den folgenden Tagen legte Bowler zusammen mit dem Archäologen Alan Thorne (1939–2012), beide Mitglieder der Australian National University, den Fund frei. Das Skelett lag am Rande des Lake Mungo, einem von einer Reihe ausgetrockneter Seen im heutigen Mungo National Park. Fünf Jahre zuvor hatte Bowler etwa 500 Meter westlich des Fundorts mit Mungo Lady ein weiteres, allerdings eingeäschertes Skelett gefunden. Die Willandra-Seenregion wird seit 1981 unter anderem wegen der archäologischen Funde, zu denen Mungo Man gehört, als UNESCO-Weltkulturerbe geführt. Nach seinem Tod war Mungo Man auf dem Rücken liegend, Kopf nach rechts gedreht, die Beine leicht nach rechts abgewinkelt und mit im Schoß verschränkten Händen etwa 80 bis 100 cm tief in den Sand gelegt worden. Zum Zeitpunkt der Ausgrabung war diese Bedeckung bis auf wenige Zentimeter verweht. Der Ort lag südöstlich und windabgewandt einer Sanddüne. In der Grabeinfüllung wurde rotes Ocker-Granulat gefunden, neben dem Kopf lag Holzkohle als Rest eines Feuers. Es handelt sich damit um das früheste Vorkommen eines anspruchsvollen und künstlerischen Beerdigungsrituals in Australien; dieser Aspekt der Entdeckung galt als besonders bedeutsam, da er darauf hinweist, dass kulturelle Traditionen in Australien bereits länger existierten als zuvor angenommen. Darüber hinaus gilt der Fund von Ocker als bemerkenswert, weil Ocker nicht in der Umgebung des Lake Mungo vorkommt, sondern aus größerer Entfernung herangebracht worden sein muss; dies weise auf ein Netzwerk von Handelsbeziehungen hin. Seit seiner Ausgrabung wurde Mungo Man in einem Raum der Australian National University aufbewahrt; lediglich zeitweise wurden Knochen für Untersuchungen in andere Labore gebracht. Treuhänder der Gebeine waren neben Thorne die drei Stämme der Aborigines, die traditionelle Eigner des Landes um die Willandra Lakes sind: Paakantji, Mutthi Mutthi und Ngyiampaa. Die Aborigines forderten, dass die Gebeine ihres Vorfahren ungestört „in seinem traditionellen Land und nicht in einem Safe oder Büro in Canberra“ ruhen sollten. Da der Mungo National Park erst seit 1979 unter dem National Parks and Wildlife Act of 1974 geschützt ist, brauchten Relikte wie Mungo Man, die vor 1979 entfernt wurden, nicht den traditionellen Eignern übergeben zu werden. Erst seit 1992 hat die Australian Archaeological Association in einem Code of Ethics bestimmt, dass das Erbe der indigenen Bevölkerung den Nachkommen der indigenen Bevölkerung gehöre. Bowler sagte mittlerweile in einem Interview, dass er mit dem, was er nun über die Kultur der Aborigines wisse, heutzutage anders handeln würde. Heutzutage würde er die traditionellen Eigner herausfinden und mit ihnen zusammenarbeiten. Am 17. November 2017 wurden die sterblichen Überreste des Mungo Man an ihren Fundort am Lake Mungo zurückgebracht und dort beigesetzt. Beschreibung des Fossils Das Skelett ist relativ schlecht erhalten. Beim Hirnschädel fehlen die rechte Seite und die Schädelbasis; auch der Gesichtsschädel ist nicht vollständig, aber der Unterkiefer ist gut erhalten. Abgesehen von der Elle des rechten Unterarms weisen alle Knochen Schäden an den Gelenk-Oberflächen auf. Ferner fehlen Teile des Beckens. Aufgrund einer Arthrose der Lendenwirbel, am rechten Ellenbogen und dem rechten Handgelenk sowie schweren Abnutzungserscheinungen an den Zähnen, die das Zahnmark freilegen, ist es wahrscheinlich, dass Mungo Man bei seinem Tod etwa 50 Jahre alt war. Neue Studien bestimmen Mungo Mans Größe anhand der Länge seiner Röhrenknochen auf außergewöhnliche 196 cm. Geschlecht Da entscheidende Teile des Beckens und des Schädels fehlen, wurde in der Erstbeschreibung des Mungo Man durch Bowler und Thorne der Kiefer herangezogen, um das Geschlecht zu bestimmen. Es zeigte sich, dass die Abmessungen des Kiefers gerade noch in den Bereich des männlichen Körperbaus fallen. Allerdings ist diese Bestimmungsmethode umstritten, da sie auf Vermessungen der Kiefer heutiger Aborigines basiert, die im Vergleich zu prähistorischen Funden ausgesprochen grazil sind; zudem gilt diese Methode selbst zur Geschlechtsbestimmung heutiger Aborigines nicht als zuverlässig. Diskussionen löste auch der Oberschenkelknochen aus: Der Mittelschaft sei so dick, dass er am ehesten einem Mann zugeordnet werden könne, allerdings einem robusten und nicht einem grazilen Mann. Arthritische Veränderungen am rechten Ellenbogen werden als Folgeerscheinung von Speerwürfen bei der Jagd interpretiert, was gleichfalls auf einen Mann hindeutet. Die Art der Abnutzungserscheinungen an den Zähnen wiederum wird als typisch weiblich angesehen, da diese üblicherweise vom Herstellen von Garnen herrühren. Als weiteres Indiz für das männliche Geschlecht wurde von Thorne gewertet, dass die Hände des Mungo Man vor dem Schambein verschränkt wurden, wohl um den Penis zu schützen. Dagegen wird eingewendet, dass es wohl zwar die bevorzugte Begräbnisstellung für Männer der Aborigines heutzutage ist, es aber keine Hinweise gebe, wonach diese Stellung in der Vergangenheit auf ein Geschlecht beschränkt gewesen sei. Der Paläanthropologe Peter Brown stellte eigene Untersuchungen an und verglich eine Reihe von verfügbaren Messungen an Schädel und Kiefer zum einen mit Aborigines aus dem Holozän und zum anderen mit Überresten robuster Menschen aus dem Pleistozän aus den Grabungsstellen in Kow Swamp, Coobool Creek und Nacurrie. Im Vergleich mit den Werten heutiger Aborigines ist Mungo Man demnach als männlich einzuordnen, verglichen mit den Werten aus dem Pleistozän als weiblich. Brown merkte zudem an, dass die Morphologie oberhalb des Auges ausgesprochen weiblich sei, da die Überaugenwulste fehlen. Insgesamt fasst er zusammen, dass der Mungo Man, sollte es sich um einen Mann handeln, um einen – abgesehen vom Oberschenkelknochen – sehr grazilen und kleinen Mann handeln würde. Sollte Mungo Man eine Frau sein, so wäre sie recht robust und groß gewesen. Die morphologischen Werte würden beide Möglichkeiten unterstützen. Die Frage, ob Mann oder Frau beziehungsweise grazil oder robust, spielte im Verlauf späterer Diskussionen zur Besiedlung Australiens eine Rolle: Thorne behauptete, dass Mungo Man einer anderen Population als die Menschen von Kow Swamp angehörte. Daraus leitete er ab, die Aborigines seien direkte Nachfahren zweier verschiedener Einwanderungswellen: Die robusteren Menschen von Kow Swamp seien direkte Nachfahren des Homo erectus aus Java, der Java-Menschen, während die grazilen Menschen vom Lake Mungo vom grazileren Homo erectus aus China, dem Peking-Menschen, abstammen. Thorne stellte damit die Out-of-Africa-Theorie der menschlichen Evolution in Frage, der zufolge alle modernen Menschen von gemeinsamen afrikanischen Vorfahren abstammen, die Afrika erst während der letzten 200.000 Jahre verlassen hatten; die auf Java und bei Peking nachgewiesenen Populationen von Homo erectus hatten Afrika hingegen bereits vor mehr als einer Million Jahren verlassen. Schon die ersten Studien zur mitochondrialen Eva (1987) und zum Adam des Y-Chromosoms (2000), die auch genetisches Material heutiger Aborigines einbezogen, widersprachen Thornes Hypothese zur Verwandtschaft der Aborigines mit den Java- und Peking-Menschen und bestätigten die Out-of-Africa-Theorie. Andere Wissenschaftler weisen zudem darauf hin, dass man diese wenigen Fossilien nicht notwendigerweise verschiedenen ethnischen Gruppen zuschreiben müsse, sondern dass es sich zum einen um männliche, robuste und zum anderen um weibliche, grazile Gebeine handeln könne, da bei Aborigines ein ausgeprägter Sexualdimorphismus vorhanden sei. Datierung Erste Schätzungen über das Alter von Mungo Man publizierte 1976 das Team von Paläoanthropologen der Australian National University, das das Fossil ausgegraben hatte. Sie schätzten, dass Mungo Man vor 28.000 bis 32.000 Jahren lebte. Sie testeten dabei nicht direkt die Überreste von Mungo Man, sondern entwickelten ihre Schätzung aus stratigrafischen Vergleichen mit der Mungo Lady. Im Jahr 1987 wurde eine Elektronenspinresonanz-Datierung an einem der Knochenfragmente von Mungo Mans Skelett vorgenommen, was zu einer Schätzung von 31.000 ± 7000 Jahren führte, allerdings gilt diese Methode der Datierung nur bei Zähnen und nicht bei Knochen als zuverlässig. Zu einer Kontroverse führte eine neuere Schätzung von 62.000 ± 6000 Jahren, die ein Team der Australian National University um Thorne 1999 veröffentlichte. Dieser Wert wurde ermittelt durch Kombination von Daten einer Uran-Thorium-Datierung, einer Elektronenspinresonanz-Datierung und einer optisch stimulierten Lumineszenz-Datierung der Gebeine sowie von Bodenproben, die 300 Meter entfernt von der Grabstelle entnommen wurden. Thorne schloss aus diesen Daten, dass der australische Kontinent schon vor etwa 70.000 Jahren besiedelt gewesen sein musste. Diese Veröffentlichung im angesehenen Journal of Human Evolution veranlasste Bowler zwei Ausgaben später dazu, im selben Journal darauf hinzuweisen, dass die Bank am tiefsten Punkt der archäologischen Ausgrabungen am Lake Mungo bislang auf ein Alter von 43.000 Jahren bestimmt worden war, weswegen Mungo Man nicht älter sein könne, und sagt, dass Thornes Schlussfolgerungen „die bereits fragwürdigen Grenzen der Glaubwürdigkeit dieser Veröffentlichung noch weiter streckt“. Richard Gillespie, ein Spezialist für die Datierung von Fossilien, beschreibt ebenfalls in dieser Ausgabe welche Probleme mit der Uran-Thorium-Datierung am Zahnschmelz einhergehen, und hält das Fossil Mungo Man ebenfalls für deutlich jünger als 60.000 Jahre. 2003 erreichte eine Gruppe von Wissenschaftlern aus verschiedenen australischen Universitäten unter der Führung von Bowler einen neuen Konsens, nach dem Mungo Man etwa 40.000 Jahre alt sei. Dieses Alter entspricht weitgehend den stratigraphischen Hinweisen. Zur Bestimmung wurden dabei verschiedene Methoden der Datierung von Wissenschaftlern verschiedener Universitäten verwendet, unter anderem optisch stimulierte Lumineszenz am Quarz und Gammaspektroskopie von Proben, die neu gegrabenen Furchen nahe der Ausgrabungsstelle entnommen worden waren. Eine Bestätigung ergab sich 2005 aus einer Datierung der Grabfüllung: Beim Auffinden des Skeletts hatten die Ausgräber Sandblöcke mit Kunstharz getränkt und geborgen. Diese Blöcke waren dreißig Jahre in einem Universitätsdepot verwahrt geblieben und konnten nun untersucht werden. Vom Licht zwischenzeitlich erreichte Sandkörner waren wegen ihrer stark abweichenden Werte zu identifizieren. Aus dem inneren eines Blocks fanden sich aber Körner, die seit der Einfüllung in das Grab nicht dem Licht ausgesetzt waren. Sie erbrachten eine Altersangabe von 41.000 ± 4000 Jahre und bestätigten damit die zuvor erkannte Datierung. Das Alter von ca. 40.000 Jahren macht ihn zusammen mit Mungo Lady zu einem der ältesten anatomisch modernen Menschen (siehe Liste homininer Fossilien), dessen Überreste außerhalb Afrikas gefunden wurden. Mitochondriale DNA-Studie Ein wissenschaftliches Team der Australian National University unter Gregory Adcock analysierte 2001 die mitochondriale DNA (mtDNA) der Knochenfragmente des Mungo-Man-Skeletts. Die mtDNA wurde mit Proben einer Reihe verschiedener anderer alter australischer Skelette, einer mtDNA-Sequenz eines Neandertalers sowie heute lebender australischer Aborigines und anderer moderner Menschen verglichen. Die Resultate zeigten, dass der Mungo Man – obwohl er sich anatomisch im Normalbereich eines modernen Menschen befindet – von einem anderen direkten weiblichen Vorfahren abstammt als der mitochondrialen Eva, der gemeinsamen Vorfahrin in der weiblichen Linie aller heute lebenden Menschen. Ein Segment seiner mtDNA ist allerdings bei vielen modernen Menschen als Einfügung im Chromosom 11 der DNA vorhanden, diese Insertion wäre dann bei einem noch älteren, gemeinsamen Vorfahren erfolgt. Neuere Untersuchungen von 2016 (s. u.) legen allerdings nahe, dass dieses Segment genau aus Verunreinigungen mit moderner DNA stammt. Adcock interpretierte die Ergebnisse der mtDNA-Studie des Mungo Man in Bezug auf die Out-of-Africa-Theorie folgendermaßen: „Unsere Daten stellen eine ernsthafte Herausforderung für die Interpretation gegenwärtiger menschlicher mtDNA-Variationen als Indiz für die neue Out-of-Africa-Theorie dar. Eine separate mtDNA-Linie in einem Individuum, dessen Morphologie sich innerhalb des gegenwärtigen Bereichs befindet und der in Australien lebte, bedeutet, dass anatomisch moderne Menschen unter denen waren, die ersetzt wurden, und dass Teile dieser Ersetzung in Australien geschahen.“ Adcock unterstützt damit Thornes Hypothese, wonach Australien von zwei Einwanderungswellen besiedelt wurde: Demnach ist Mungo Man Nachfahre der ersten Welle von Siedlern, die aus Asien stammt. Danach erschien eine zweite Einwanderungswelle, aus Afrika kommend, und deren mitochondriale DNA habe sich auch bei den Aborigines durchgesetzt. Verschiedene Artikel griffen die Ergebnisse auf und kritisierten die Befunde. So sei es unwahrscheinlich, dass Ancient DNA (aDNA) in den Überresten des Mungo Man gefunden werden konnte, da Erfahrungen mit der Analyse von Neandertaler-DNA gezeigt hätten, wie schwierig es sei, derart alte DNA zu rekonstruieren, obwohl deren Gebeine in der kalten Umgebung Europas bessere klimatische Bedingungen als in Australien zum Überdauern gehabt hätten. Deswegen sei die Wahrscheinlichkeit, dass DNA aus den Gebeinen Mungo Mans entnommen werden konnte, als sehr gering einzuschätzen. Stattdessen wird vermutet, dass es sich um Verunreinigungen gehandelt haben könnte, da sich Adcocks Arbeitsgruppe nicht an die Standards zur Verarbeitung von aDNA gehalten habe. Schließlich gebe es unterschiedliche mathematische Modelle, mit denen ein mtDNA-Stammbaum berechnet werden könne; wenn eine größere Anzahl von Proben von Afrikanern und Aborigines eingeschlossen werde, dann sei Mungo Man Teil des Stammbaums aus der Zeit nach der mitochondrialen Eva heute lebender Menschen. Außerdem seien die Resultate der mtDNA-Studie mit der Out-of-Africa-Theorie vereinbar, wenn die Typen der mitochondrialen Eva und von Mungo Man beide aus Afrika kamen und dabei eine Linie ausstarb, während die andere bis heute bestehen blieb. Die Aborigines, vertreten durch das Willandra Lakes World Heritage Area Aboriginal Elders Committee, erlaubten 2014 eine erneute DNA-Analyse der Überreste. Der 2016 erschienene Bericht bestätigte die Vorbehalte vieler Wissenschaftler: Die Knochen waren von mindestens fünf europäischen DNA-Gebern modern kontaminiert. Es war nicht möglich gewesen, aus dem Untersuchungsmaterial selbst mitochondriale DNA-Sequenzen zu gewinnen. Es gelang allerdings, von einem Skelett der Willandra Lake–Funde mtDNA zu extrahieren. Sie gehöre zur Haplogruppe S2 und bezeuge eine Aborigin-Abstammung. Eine weitere Analyse ließ eine Zugehörigkeit zur Haplogruppe S2a1a präzisieren mit drei bekannten, lebenden Nachfahren. Es handelt sich dabei um den Fund WLH4, der von Wilfred Shawcross (University of Auckland) 1974 geborgen wurde. Das hervorragend erhaltene und sorgfältig ausgegrabene Skelett ist im Unterschied zu den anderen Willandra-Lakes-Funden nur wenig mineralisiert. Es ist bis heute undatiert, gilt aber wegen seiner geringen Calcination als beträchtlich jünger als die übrigen Willandra-Lake-Funde; es wird ein Pre-Kontact Alter bzw. eine Datierung in die Zeit nahe dem ersten europäischen Kontakt angenommen. Heupink et al. geben ein spät-holozänes Alter an ("∼3,000–500 y B.P."). Wiederbestattung Von 1974 an war Lake Mungo 3 in der Australian National University verwahrt. Die Aborigines-Völker Mutthi Mutthi, Ngyiampaa und Paakantyi/Barkandji als traditionelle Eigentümer der Willandra Lakes setzten 2015 die Übergabe der Überreste an die Aborigines-Gemeinschaften durch. Zunächst blieben sie noch in einer speziellen Einrichtung der Universität. Innerhalb der Aborigines gab es zwei Strömungen: Die Einen wollten ein würdiges Gebäude am Lake Mungo, in dem die Überreste sowohl verwahrt werden, als auch der Wissenschaft zur Verfügung stehen könnten, soweit die Aborigines es gestatten. Die Anderen wünschten sich eine Wiederbestattung am ursprünglichen Ort. Nachdem es aber weder eine Einigung über das Verfahren noch eine Vereinbarung mit der Regierung gegeben hatte, wurden die Gebeine am 17. November 2017 in einem teils aus fossilem Holz hergestellten Sarg in der Erde bestattet. Zum 50. Jahrestag der Entdeckung von Mungo Lady bedauerte Jim Bowler die anonyme Bestattung von Mungo Man und Mungo Lady auf dem Gelände des Besucherzentrums. Er fordert die australische Regierung als Trägerin des UNESCO Welterbeplatzes auf, „die Überreste von der Lagerstätte an einen zentralen Ehrenplatz zu bringen“. Weniger zu tun würde einem ohnehin schon übel behandelten Kulturerbe weitere Schande zufügen. Literatur P. Brown (2000): In: Australasian science (PDF; 2,9 MB) (englisch) D. W. Cameron et al. (2004): Bones, stones, and molecules: „out of Africa“ and human origins, Seite 254 ff., ISBN 0-12-156933-0 (englisch) S. Colley (2002): Uncovering Australia: archaeology, indigenous people and the public, Seite 162 ff., ISBN 1-86508-209-0 (englisch) C. Tuniz et al. (2009): The Bone Readers: Atoms, Genes and the Politics of Australia's Deep Past, ISBN 1-74114-728-X (englisch) Weblinks . Im Original publiziert auf convictcreations.com. Belege Archäologischer Fund (Jungpaläolithikum) Archäologie (Australien) Geschichte der Aborigines Hominines Fossil Vorgeschichte Australiens Willandra-Seenregion
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https://de.wikipedia.org/wiki/Besteigung%20aller%20Achttausender
Besteigung aller Achttausender
Die Besteigung aller Achttausender, also der weltweit vierzehn Berge mit einer Höhe von über 8000 Metern, gilt als besondere Herausforderung im Höhenbergsteigen. Erst 44 Menschen ist dies gelungen (Stand: 2021). Siebzehn davon schafften es ohne die Zuhilfenahme von Flaschensauerstoff, was als noch außergewöhnlichere Leistung gilt. Der Erste, der alle Achttausender bestiegen hat, ist Reinhold Messner aus Südtirol. Er begann 1970 und schloss die Serie am 16. Oktober 1986 ab. Im Frühjahr 2010 reihten sich mit Oh Eun-sun aus Südkorea und Edurne Pasaban erstmals zwei Frauen in die Liste ein, gefolgt von Gerlinde Kaltenbrunner im August 2011. Die Leistung der Südkoreanerin ist allerdings umstritten; u. a. wird einer ihrer Gipfelerfolge in der Fachwelt in Frage gestellt. Die Norwegerin Kristin Harila hat alle 14 Achttausender innerhalb von nur 92 Tagen bestiegen und hält damit den aktuellen Geschwindigkeitsrekord. Mehrere weitere Bergsteiger haben behauptet, alle Achttausender bestiegen zu haben, jedoch werden nicht alle ihrer Besteigungen anerkannt. Wegen des teilweise massiven Einsatzes von Helfern und Hilfsmitteln wird eine Debatte über die Vergleichbarkeit bergsteigerischer Leistungen geführt. Die Achttausender Auf der Erde gibt es 14 Achttausender. Im Einzelnen sind das Mount Everest (8848 m), K2 (8611 m), Kangchendzönga (8586 m), Lhotse (8516 m), Makalu (8485 m), Cho Oyu (8188 m), Dhaulagiri (8167 m), Manaslu (8163 m), Nanga Parbat (8125 m), Annapurna (8091 m), Hidden Peak (auch Gasherbrum I genannt, 8080 m), Broad Peak (8051 m), Gasherbrum II (8034 m) und Shishapangma (8027 m). Zehn dieser Berge befinden sich im Himalaya, die übrigen vier im angrenzenden Karakorum. Sie verteilen sich auf die Länder Indien, Nepal, Pakistan und die Volksrepublik China mit dessen autonomen Provinzen Tibet (Himalaya) und Xinjiang (Karakorum). Eine Reihe von Nebengipfeln liegt ebenfalls in einer Höhe von 8000 Metern oder mehr. Für die Besteigungsserie werden jedoch nur die Hauptgipfel gewertet, zumal kein allgemein verbindliches Kriterium existiert, wann eine Erhebung als Nebengipfel zu klassifizieren ist (vgl. hierzu den Artikel Berggipfel). Für die Besteigung aller Achttausender wird auch die Kurzschreibweise 14×8000 oder 14×8000er verwendet. Geschichte 1950er und 1960er Jahre – Erstbesteigungen der Achttausender Als erster Achttausender wurde am 3. Juni 1950 die Annapurna durch Maurice Herzog und Louis Lachenal im Rahmen einer französischen Expedition bestiegen. Drei Jahre später, am 29. Mai 1953, standen mit Sir Edmund Hillary und dem Sherpa Tenzing Norgay zum ersten Mal Menschen auf dem höchstgelegenen Punkt der Erde, dem Hauptgipfel des Mount Everest. Als letzter Achttausender wurde der niedrigste der vierzehn bestiegen, der Shishapangma: Am 2. Mai 1964 erreichten zehn Bergsteiger einer chinesischen Expedition seinen Gipfel. Zwei Bergsteiger, beide Österreicher, haben jeweils zwei Achttausender erstbestiegen: Hermann Buhl und Kurt Diemberger. Buhl hatte am 3. Juli 1953 als Erster auf dem Nanga Parbat gestanden. Gemeinsam mit Diemberger und zwei weiteren gelang ihm vier Jahre später, am 9. Juni 1957, die Erstbesteigung des Broad Peak. Diemberger war außerdem Teilnehmer der sechsköpfigen Gruppe, die am 13. Mai 1960 erstmals den Gipfel des Dhaulagiri erreichte. 1970er Jahre – erste Achttausender-Sammler Nachdem alle Achttausender erstbestiegen waren, strebten Höhenbergsteiger ab den 1970er-Jahren gezielt die Besteigung mehrerer Achttausender an. Oft setzten sie sich dabei zusätzlich das Ziel, nicht den Routen der Erstbesteiger zu folgen, sondern andere, schwierigere Anstiegswege zu wählen. Nach der Erstbegehung der Rupalwand des Nanga Parbat 1970 und den Gipfelerfolgen auf dem Manaslu 1972 und dem Hidden Peak 1975 war Reinhold Messner der erste Mensch, der drei dieser Berge bestiegen hatte, den letztgenannten in einer Zweierseilschaft mit dem Österreicher Peter Habeler. Diese letzte Besteigung war ein Novum, denn bis dahin waren die Achttausender nur im Expeditionsstil bestiegen worden, also mit Lagerkette, Trägern und Fixseilen. Das Team Messner-Habeler erregte noch größeres Aufsehen, als die beiden 1978 gemeinsam den Mount Everest bestiegen – als Erste ohne zusätzlichen Sauerstoff, was von vielen lange Zeit für unmöglich gehalten worden war. Im gleichen Jahr war Diemberger am Mount Everest und am Makalu erfolgreich. Damit konnten Messner und Diemberger jeweils vier der höchsten Gipfel in ihrem Tourenbuch verzeichnen; Messner fügte im Jahr darauf noch den K2 hinzu. Vom Ziel, alle vierzehn Achttausender zu besteigen, wurde – zumindest öffentlich – noch nicht gesprochen. Gleichzeitig wurden die Schwierigkeiten geringer, in Nepal, Pakistan und China die für eine Höhenexpedition notwendigen behördlichen Erlaubnisse zu erhalten. Infolgedessen wurden Expeditionen zu den Achttausendern nun auch kommerziell organisiert. Zu den ersten zählte eine von Max Eiselin öffentlich ausgeschriebene Dhaulagiri-Expedition 1980, innerhalb derer unter anderem der Schweizer Marcel Rüedi seinen ersten Achttausender bestieg. 1980er Jahre – Wettlauf der Männer 1981 bestieg Messner seinen sechsten Achttausender und 1982 gleich drei weitere, was bis dahin binnen eines Jahres noch niemand geschafft hatte. Beim Aufstieg zum letzten, dem Broad Peak, begegnete er den beiden Polen Jerzy Kukuczka und Wojciech Kurtyka. Für Kukuczka war der Berg bereits der vierte Achttausender. Im Juni 1983 unterboten Rüedi und sein Schweizer Landsmann Erhard Loretan Messners Geschwindigkeitsrekord aus dem Vorjahr, indem sie gemeinsam drei Achttausender innerhalb von nur fünfzehn Tagen bewältigten: Gasherbrum II, Hidden Peak und Broad Peak. Einen Monat später erstieg Kukuczka ebenfalls Gasherbrum II und Hidden Peak. Noch im selben Jahr machte Messner seine Absicht öffentlich, alle Achttausender zu besteigen. Er hatte im Mai mit dem Cho Oyu bereits den zehnten erklommen. Sein dichtester Verfolger war Kukuczka mit nun sechs Achttausendern; Rüedi und Loretan hatten je vier vorzuweisen. Während Messner und Kukuczka 1984 keinen Gipfelerfolg auf einem der fehlenden Achttausender verzeichnen konnten, bestiegen die beiden Schweizer in diesem Jahr jeweils zwei und zogen so mit Kukuczka gleich. Im Januar 1985 kletterte Kukuczka auf den Dhaulagiri und weniger als einen Monat später auf den Cho Oyu. Zwei Winterbesteigungen binnen so kurzer Zeit waren nicht nur eine viel beachtete Leistung, der Pole verkürzte Messners Vorsprung damit auch auf nur noch zwei Gipfel. Die Frage, wer zuerst alle vierzehn Achttausender bestiegen haben würde, erregte inzwischen auch die Aufmerksamkeit der internationalen Presse. Vor Ende der Saison 1985 schaffte Kukuczka seinen neunten Achttausender, Rüedi und Loretan jeweils die Nummern 7 und 8, Messner erhöhte auf zwölf. 1986 bestieg Kukuczka seinen zehnten und elften Achttausender, während Rüedi und Loretan jeweils ihren neunten erreichten, bevor Messner im September zu seinem vorletzten, dem Makalu, aufbrach. Am Berg war zur gleichen Zeit Rüedi, zusammen mit dem Polen Krzysztof Wielicki. Wielicki gelangte zuerst zum Gipfel, für ihn war es der fünfte Achttausender. Auch Rüedi stand auf dem Gipfel, starb aber beim Abstieg von seinem zehnten Achttausender und wurde später von Messner tot aufgefunden. Am 16. Oktober 1986 erreichte Messner den Gipfel des Lhotse und hatte damit die Achttausender-Reihe als Erster komplettiert. Kukuczka stand zu diesem Zeitpunkt bei elf Gipfeln und sollte bis zum Ende des Jahres mit dem Manaslu noch den zwölften schaffen; Loretan erlitt derweil den ersten Fehlschlag seiner Bergsteigerkarriere, als er an seinem zehnten Achttausender scheiterte. Im Jahr darauf bestieg Kukuczka seine letzten beiden und sicherte sich damit Platz 2. Erst acht Jahre später (1995) vervollständigte Erhard Loretan als Dritter seine Liste. 2007 waren weitere Achttausender-Sammler unterwegs: Der Italiener Silvio Mondinelli reihte sich an diesem Tag als 13. in die Liste der Bergsteiger ein, die alle Achttausender bestiegen haben. Für den Ecuadorianer Ivan Vallejo und für Ralf Dujmovits änderte sich dagegen vorerst nichts, da beide schon zuvor auf dem Broad Peak gestanden hatten. Vallejo hatte noch einen, Dujmovits noch zwei Gipfel vor sich. Beide schlossen die Besteigungsserie ab, Dujmovits am 20. Mai 2009 als erster Deutscher. 2006 bis 2010 – Die ersten Frauen Als aussichtsreichste Anwärterinnen galten Ende der Saison 2006 die Österreicherin Gerlinde Kaltenbrunner, die Italienerin Nives Meroi und die Spanierin Edurne Pasaban. Anders als bei den Männern gab es keine klare Favoritin mit einem deutlichen Vorsprung: Meroi und Kaltenbrunner hatten beide 1998 erstmals auf einem Achttausender gestanden und inzwischen jeweils neun Achttausender bestiegen. Pasaban, die 2001 debütiert hatte, hatte nur einen Gipfel Rückstand. Im Mai 2007 stand Meroi auf den Gipfel des Mount Everest. Knapp zwei Monate später gingen Kaltenbrunner und Pasaban gemeinsam zum Gipfel des Broad Peak. In der Presse wurde dies als der große Wettlauf der Frauen inszeniert, allerdings haben alle 3 Anwärterinnen widersprochen. Meroi war der Ansicht, dass dies von der Presse hochstilisiert wurde zu einem irrwitzigen Kräftemessen, das die Männer schon veranstaltet hätten. „Sie haben ein männliches Prinzip auf die Frauen umgelegt und das ist wirklich schade“. Die drei waren nicht die ersten weiblichen Achttausender-Anwärterinnen: Wanda Rutkiewicz hatte von 1975 bis 1990 sechs Achttausender bestiegen und wollte 1991/1992 binnen Jahresfrist alle verbleibenden acht in großer Höhe durchsteigen, ohne dazwischen ins Flachland abzusteigen. Sie schaffte 1991 im Alleingang zwei; im Mai 1992 wurde sie beim Aufstieg zum Kangchendzönga zuletzt gesehen und gilt seither als verschollen. 2008 hatten zwei weitere Frauen so viele Achttausender bestiegen, dass sie nun auch zu den möglichen Kandidatinnen für den Titel der ersten 14×8000er-Frau gezählt wurden: die Südkoreanerinnen Oh Eun-sun und Go Mi-sun. Erstere hatte schon 1997, also vor den drei Europäerinnen, auf einem Achttausender gestanden. Dann war sie am Makalu, am Broad Peak und am K2 gescheitert, und es hatte sieben Jahre gedauert, bis sie mit dem Mount Everest einen zweiten Achttausender bewältigte. 2006 hatte sie ihren dritten geschafft, 2007 zwei weitere. Fortan setzte sie in großem Umfang Hilfsmittel ein, um möglichst viele Achttausender pro Saison besteigen zu können, flog beispielsweise mit Hubschraubern ins Basislager und nutzte große Teams, um sich Ausrüstung tragen und Wege vorspuren zu lassen. So „sammelte“ sie allein im Jahr 2008 vier Achttausender und verkürzte damit den Vorsprung von Kaltenbrunner, Meroi und Pasaban, die Ende der Saison mit jeweils elf Achttausendern gleichauf lagen. Sie sprach offen davon, alle Achttausender besteigen zu wollen, und nannte das Vorhaben „Projekt 14“. Go Mi-sun hatte 2006 am Cho Oyu debütiert, 2007 und 2008 gelangen ihr jeweils drei Achttausender; ihre Methoden entsprachen denen Ohs. 2009 schaffte sie allein im Frühjahr drei Achttausender, im Sommer wollte sie drei weitere folgen lassen. Beim Abstieg vom Nanga Parbat, ihrem elften Achttausender, stürzte sie zu Tode. Meroi bestieg ab 2009 vorerst keine Achttausender mehr, weil ihr Ehemann und Seilpartner schwer erkrankte. Oh Eun-sun setzte 2009 ihre Besteigungen in schnellem Rhythmus fort und verzeichnete abermals vier Achttausender in einem Jahr in ihrem Tourenbuch. Im Spätjahr unternahm sie sogar noch zwei Versuche am einzigen verbleibenden Gipfel, der Annapurna, brach aber beide ab. Dennoch lag sie mittlerweile mit dreizehn der vierzehn Berge in Führung vor Kaltenbrunner und Pasaban mit je 12. Ihre außergewöhnlichen Leistungen hatten allerdings Skepsis ausgelöst. So wurde insbesondere ihre Besteigung des Kangchendzönga am 6. Mai 2009 in Frage gestellt. Verschiedene Chronisten und Organisationen verweigern die Anerkennung dieses Gipfelerfolgs (für weitere Details siehe Streit um die Besteigung des Kangchendzönga). Die Himalaya-Chronistin Elizabeth Hawley, maßgebliche Instanz für die Anerkennung von Besteigungen in Nepal, listet die Besteigung in ihrer Himalayan Database als „umstritten“. Am 17. April 2010 bestieg Pasaban ihren vorletzten Achttausender, die Annapurna, und holte dadurch ihre Konkurrentin Oh Eun-sun nochmals ein. Aber bereits zehn Tage später war Oh Eun-sun auf dem gleichen Gipfel und gilt damit als erste Frau, der die Besteigung aller Achttausender gelang. Pasaban wurde knapp drei Wochen später mit der Besteigung des Shishapangma zweite. Kaltenbrunner vervollständigte die Serie am 23. August 2011 als erste Frau ohne Verwendung von Flaschensauerstoff. Meroi erreichte 2017 den Gipfel der Annapurna, ihr 14. Achttausender; sie hatte alle Gipfel im Alpinstil ohne Verwendung von Sauerstoffflaschen und ohne große Expedition bestiegen. 2023 hat die Norwegerin Kristin Harila und der Nepalese Tenjen in 92 Tagen alle 14 höchsten Berge bestiegen. Bewertung und Würdigung Anerkennung der Gipfelerfolge Es gibt keine offizielle Stelle, die für die Anerkennung eines Gipfelerfolges auf einem Achttausender zuständig wäre. Wer für sich reklamiert, einen dieser Berge bestiegen zu haben, muss die Fachwelt davon überzeugen. Heute werden die Besteigungen häufig durch Foto- oder Videomaterial dokumentiert, aber auch Zeugenaussagen und detaillierte Besteigungsberichte werden nach wie vor als Nachweis verwendet. So löste die vage Anstiegsbeschreibung im Fall der vermeintlichen Besteigung des Lhotse 1997 durch die Italiener Sergio Martini und Fausto de Stefani Zweifel aus. Ein nachfolgender Bergsteiger, Park Young-seok, konnte klären, dass die Fußspuren der beiden mindestens 150 Höhenmeter unterhalb des Gipfels endeten. Die Besteigung wurde letztlich nicht anerkannt. De Stefani wird daher mit nur dreizehn Achttausendern in den Statistiken geführt; Martini wiederholte den Lhotse drei Jahre später und vervollständigte damit seine Achttausender-Liste. Für die Besteigung eines Achttausenders in Nepal wurde die Einschätzung der US-amerikanischen Journalistin und Chronistin Elizabeth Hawley allgemein anerkannt. Hawley erfasste seit Beginn der 1960er-Jahre jede Expedition zu den Sieben- und Achttausendern Nepals. Diese Datensammlung bildet die Grundlage der Himalayan Database. Sie traf sich mit den Teilnehmern vor und nach einer Besteigung und befragte sie zu den gewählten Aufstiegsrouten, zur Lage der Höhencamps, zum Zeitrahmen und Ähnlichem. Sollte Hawley danach zu dem Urteil kommen, dass ein Bergsteiger den Gipfel nicht erreicht hat, hätte die Besteigung international keine Anerkennung gefunden. Für Achttausender-Besteigungen außerhalb Nepals gibt es keine mit Hawley vergleichbare Instanz. 2022 legte der Achttausender-Chronist Eberhard Jurgalski eine alternative Liste zu den Gipfelerfolgen vor. Auf Basis der Auswertung von Gipfelfotos kommt er zu dem Schluss, dass bisher viel weniger Bergsteiger die genauen Gipfel der 14 Achttausender erreicht haben könnten. Erst Edmund Viesturs hätte von 1989 bis 2005 alle 14 Gipfel bestiegen. Bewertung der Konkurrenzsituationen Ob die Besteigungsserie einen sportlichen Wettbewerb darstellt, wird von den Medien und den Beteiligten unterschiedlich bewertet. Die grundsätzliche Frage, ob Bergsteigen ein Sport ist, der sich zu Rivalitäten, Wettkämpfen und Leistungsvergleichen eignet, wird bereits seit dem 19. Jahrhundert diskutiert. Vor dem Ersten Weltkrieg wetteiferten deutsche und österreichische Bergsteiger darum, wer als Erster auf alle Viertausender-Gipfel der Alpen steigen würde. Sie bekannten sich – nicht ohne dafür kritisiert zu werden – offen dazu, einen Wettstreit auszutragen. Im Unterschied dazu wird die Frage, ob es einen Wettlauf um die Position des bzw. der Ersten auf allen Achttausendern gegeben hat, von den Beteiligten uneinheitlich beantwortet. Obwohl Reinhold Messner 1983 angekündigt hatte, alle Achttausender besteigen zu wollen, hat er nach eigenen Angaben darin nie einen Wettbewerb gesehen. In späteren Interviews sagte er mehrfach, es sei ihm nicht darum gegangen, einen Rekord aufzustellen, indem er als Erster alle Achttausender bestieg. Nach seiner Darstellung waren es die Besteigungen selbst, die ihn interessierten. Von einem Wettrennen mit Kukuczka, Rüedi oder Loretan sei er schon deswegen nicht ausgegangen, weil er gegenüber den anderen einen so großen Vorsprung gehabt habe, dass er de facto uneinholbar gewesen sei. Darüber hinaus sei Bergsteigen kein Wettkampfsport und dürfe nicht zur Rekordjagd missbraucht werden. Ein Wettlauf sei „von den Medien aufgebauscht“ worden. Tatsächlich hatte Messner Ende 1983 nur noch vier Gipfel vor sich und genauso viele Vorsprung auf Kukuczka und noch zwei mehr auf Rüedi und Loretan. In der Saison nach Messners Ankündigung bestiegen er und Kukuczka jeweils Achttausender, auf denen sie bereits gestanden hatten. Wäre es ihnen darum gegangen, so schnell wie möglich die Achttausenderliste zu vervollständigen, hätten sie sich stattdessen an die verbleibenden Gipfel machen müssen. Ein Wendepunkt kann in Kukuczkas Doppelerfolg auf Dhaulagiri und Cho Oyu Anfang 1985 gesehen werden. Der Pole halbierte innerhalb von knapp vier Wochen Messners Vorsprung auf nur noch zwei Gipfel, die Aufmerksamkeit der internationalen Presse wuchs und mit ihr der Druck auf die Bergsteiger. Der Startschuss für das „Pferderennen“, wie Kurt Diemberger die inoffizielle Konkurrenz zwischen Messner und Kukuczka bezeichnete, war gefallen. Die Medien konzentrierten sich auf die magische Zahl 14 und lancierten so das „Rennen der Bergkönige“. Elizabeth Hawley verglich die Dramatik der Schlussphase dieses Rennens mit der eines Weltcup-Finales. Nach ihrer Einschätzung sah Messner die Situation nicht als ein Wettrennen an, sondern als eine persönliche Herausforderung. Für andere, etwa Kukuczka, soll es ein Wettkampf gewesen sein. Dieser hat selbst nie gesagt, dass er einen Rekord angestrebt hatte. Auch bezüglich Messner kann man zu einem anderen Urteil kommen. So stellen mehrere deutsche Tageszeitungen darauf ab, dass sich Messner 1986 mit dem Hubschrauber vom Makalu- zum Lhotse-Basislager fliegen ließ. Sie sehen den Grund darin, dass er Zeit sparen wollte, um das Rennen gegen seinen Widersacher Kukuczka zu gewinnen. Offener bekannte sich Erhard Loretan zur Lage: „Ich würde lügen, wenn ich behauptete, der Wettlauf auf die vierzehn Achttausender habe mich nie interessiert,“ schreibt er in seinem autobiografischen Werk Den Bergen verfallen und fügt hinzu: „Mein Gehirn widerstand dem Countdown nicht, der mir überall vorgeleiert wurde.“ Im Anschluss beschreibt er, dass er eine Rivalität zum Franzosen Benoît Chamoux empfand; die beiden kämpften um Position Drei in der Liste der 14×8000-Besteiger. Bei den Olympischen Winterspielen 1988 in Calgary wollte das IOC Messner und Kukuczka jeweils Olympische Orden in Silber verleihen. Messner lehnte die Auszeichnung jedoch mit der Begründung ab, dass er so eine Neuauflage eines Wettbewerbs verhindern wolle. Kukuczka, der einen entscheidenden Unterschied zwischen der Ehrenmedaille des Olympischen Ordens und einer Olympiamedaille sah, nahm die Auszeichnung dagegen an. Als sich die ersten Frauen zweieinhalb Jahrzehnte nach den Männern anschickten, alle vierzehn höchsten Berge der Erde zu besteigen, wurde abermals ein Wettlauf von den Medien heraufbeschworen: Die Welt und Die Zeit titelten in ihren Online-Ausgaben jeweils vom „Wettlauf der Gipfelstürmerinnen“, die Frankfurter Allgemeine Zeitung von der „Achttausender-Jagd im Himalaja“, vom „Kampf um die Achttausender“ und vom „Duell über den Wolken“. Im Spiegel waren Schlagzeilen wie „Wettlauf in der Todeszone“ oder „Showdown im Himalaja“ zu lesen. Die beteiligten Bergsteigerinnen reagierten unterschiedlich auf die sich entwickelnde Wettkampfsituation. Oh Eun-sun hat nie bestritten, dass es sich um einen Wettlauf handelte, noch dass sie den Titel der ersten 14×8000er-Frau wollte. Sie wird in diesem Zusammenhang mit dem Satz zitiert: „Ich habe eben einen Job zu erledigen.“ Noch klarer formulierte sie ihr Ziel 2009: „Ich habe die Motivation, die erste Frau zu sein, die alle 14 Achttausender besteigt.“ Auch Edurne Pasaban bekannte sich offen zu diesem Ziel. Sie sah sich jedoch von den spanischen Medien wegen der Konkurrenzsituation stark unter Druck gesetzt und begab sich zwischenzeitlich in psychologische Behandlung. Ganz anders positionierte sich Gerlinde Kaltenbrunner. Sie hat in Interviews immer wieder betont, dass sie keinen Wert darauf lege, die Erste zu sein. Hätte sie Ambitionen auf diesen Titel tatsächlich gehabt, hätte sie sich für die einfacheren Normalwege entschieden, so Kaltenbrunner; Konkurrenzdruck würde sie blockieren. Außerdem warnte sie vor den Risiken einer Rekordjagd: „Das Höhenbergsteigen ist viel zu gefährlich, um darin einen Wettstreit sehen zu wollen.“ Nives Meroi sagte bezüglich der Titeljagd: „Es gab eine Zeit, da habe ich diesen verrückten Zirkus tatsächlich mitgemacht,“ und zeigte sich froh darüber, ab einem gewissen Punkt aus dem Rennen gewesen zu sein. Umstrittene Methoden Der Einsatz verschiedener Hilfsmittel zur Besteigung der Achttausender ist umstritten. Dazu zählt vor allem der Gebrauch von Flaschensauerstoff als Aufstiegshilfe, aber auch die Unterstützung durch Hochträger und das besonders umfassende Sichern der Route mit vielen hundert Metern Fixseil. Die individuellen bergsteigerischen Leistungen treffen je nach Ausmaß der Verwendung dieser Hilfsmittel auf verschiedenartige Anerkennung. Eine besonders puristische Form des Bergsteigens ist der sogenannte Alpinstil. Hierbei werden die Gipfel solo oder in kleinen Seilschaften bestiegen, die Bergsteiger verzichten auf vorpräparierte Routen und tragen Ausrüstung und Verpflegung selbst. Als klassische Vertreter dieses Stils werden Messner, Kukuczka und Loretan aus der ersten Generation der Achttausender-Stürmer genannt. Sie waren auf schweren oder gar neuen Routen unterwegs, oft im Alleingang oder in Kleinstgruppen, häufig im Winter; Zusatzsauerstoff nutzte nur Kukuczka einmal, und zwar zeitweise bei der Erstbegehung des Südpfeilers des Everest. Wegen der hohen Anforderungen und Gefahren dieses Stils haben aber auch sie nur einzelne Besteigungen in reinem Alpinstil durchgeführt. Meist kam eine abgewandelte Form zum Einsatz, weil beispielsweise der Tiefschnee auf den Normalrouten schon durch andere Bergsteiger vorgespurt war. Da sie jedoch nach Möglichkeit auf Fremdhilfe und Flaschensauerstoff verzichteten, werden ihre Leistungen als sportlich vorbildlich gelobt. Demgegenüber erleichtert der Expeditionsstil durch einen hohen Aufwand an Personal und Material den Aufstieg. Als Beispiel für Bergsteigen im Expeditionsstil werden die Touren von Oh Eun-sun angeführt. Sie wurde mit dem Hubschrauber ins Basislager geflogen, ließ sich Wege vorspuren, war mit großen Gruppen von Trägern unterwegs und nutzte an mindestens zwei Gipfeln zusätzlichen Sauerstoff. Ähnliche Kritik gab es bei der Rekord-Besteigung von Kristin Harila, die 2023 alle Achttausender in 92 Tagen bestieg. Ihr Rekord kam mit Hilfsmitteln wie Helikoptern, Flaschensauerstoff und Fixseilen zustande. Zudem kam es während der Besteigung des K2 zu dem tödlichen Unfall des pakistanischen Hochträgers Mohammad Hassan, der in einem anderen Team als jenem von Harila arbeitete. Zahlreiche Bergsteiger gingen an dem stundenlang sterbenden Hassan vorbei. Harila gab an, sie und ihr Team hätten über eine Stunde versucht ihm zu helfen. Sie gingen weiter, nachdem andere versichert hätten, sich um Hassan zu kümmern. Hassan war schlecht ausgerüstet und mangelhaft ausgebildet. Sein Tod löste große Empörung aus und wurde als exemplarisch für die negativen Folgen der Kommerzialisierung des Bergsteigens angesehen. Wird Höhenbergsteigen als Leistungssport begriffen, werden der Expeditionsstil und der massive Einsatz von Hilfsmitteln oft heftig kritisiert; dementsprechend wird auch die Leistung, alle Achttausender bestiegen zu haben, unterschiedlich bewertet. Gerlinde Kaltenbrunner lehnt Zusatzsauerstoff kategorisch ab. Messners Seilpartner Hans Kammerlander sprach Oh Eun-sun jegliche sportliche Leistung ab und verglich ihre Methoden mit dem Einsatz eines Mopeds für ein Radrennen. Wolfgang Wabel, Ressortleiter für Spitzensport beim Deutschen Alpenverein, klassifizierte den Sauerstoff-Einsatz gar als Doping. Das Magazin des Vereins urteilte dementsprechend, Oh Eun-sun habe sich „eher auf dem Niveau kommerziell geführter Bergreisen [bewegt], als sportliche Exzellenz zu beweisen.“ Verschiedene Bergsteiger treten diesen Vorwürfen entgegen. In einem Interview mit der Zeitschrift profil im September 2010 wunderte sich Reinhold Messner über die Kritik am Sauerstoff-Einsatz. Nachdem er und Peter Habeler erstmals ohne zusätzlichen Sauerstoff auf den Mount Everest gestiegen seien, seien sie „von den Medien in Grund und Boden verdammt“ und „als ehrgeizig und verantwortungslos beschimpft“ worden. Dass sich das heute umdrehe und Sauerstoff sogar als Doping bezeichnet werde, finde er lustig, so Messner. Außerdem wies er darauf hin, dass auch Kaltenbrunner und Pasaban Hubschrauber verwendet hatten. Die deutsche Höhenbergsteigerin Gaby Hupfauer bewundert zwar Gerlinde Kaltenbrunners puristischen Stil, drückt sich aber gegen eine kategorische Ablehnung von Hilfsmitteln aus: „[…] es muss jeder selber entscheiden, wie er am Berg unterwegs ist.“ Eine vermittelnde Haltung nimmt die Schweizerin Evelyne Binsack ein: Sie sprach sich in einem Interview mit dem Tages-Anzeiger dafür aus, beide Stile anzuerkennen. Um unterschiedliche Leistungen berücksichtigen zu können, schlägt sie vor, „zwei verschiedene Kategorien [zu] schaffen, ‚mit künstlichem Sauerstoff‘ auf der einen und ‚ohne künstlichen Sauerstoff‘ auf der anderen Seite.“ Bergsteiger Bergsteiger, die alle Achttausender bestiegen haben Bislang haben 41 Bergsteiger alle Achttausender bestiegen. Erläuterung der Tabellenspalten: Nr. insg.: Reihenfolge, in der die Achttausender-Besteigungen abgeschlossen wurden. Nr. ohne O2: Separate Rangfolge für Bergsteiger, die alle Besteigungen ohne Zusatzsauerstoff durchgeführt haben Besteigungsserie: Datum der ersten und der letzten Besteigung und der Zeitraum zwischen diesen Daten, gemessen in Jahren (a), Monaten (M) und Tagen (d). Wurden einzelne Berge mehrfach bestiegen, ist die erste Besteigung maßgeblich. Alter: Lebensalter des Bergsteigers am Tag des letzten Gipfelerfolgs (in Jahren, aber die Sortierung der Spalte ist taggenau). In den nächsten Spalten werden die Besteigungsumstände angegeben: Wie oft wurde Zusatzsauerstoff verwendet (O2), wie oft Erstbegehungen (neue Route) und wie oft Besteigungen im Winter durchgeführt wurden. Wh. (Wiederholung): Summe der Wiederholungen von Besteigungen eines oder mehrerer der Achttausender. Chronologie: Ausklappbare Felder mit Angaben zu den einzelnen Besteigungen. Besteigungen mit Zusatzsauerstoff sind mit (O2) gekennzeichnet, Erstbegehungen neuer Routen mit (R), Besteigungen im kalendarischen Winter mit (W) und Besteigungen im meteorologischen Winter (1. Dezember bis 28./29. Februar) mit (w). Wiederholungen sind mit (×2), (×3) usw. gekennzeichnet. Besondere Leistungen wie der Verzicht auf Flaschensauerstoff, Erstbegehungen, Winterbesteigungen und Wiederholungen werden hier nur bis zur Vollendung der Besteigungsserie berücksichtigt. {| class="wikitable sortable" |- ! rowspan="2"| Nr.insg. ! rowspan="2"| Nr.ohne O2 ! rowspan="2"| Name ! rowspan="2"| m/w ! rowspan="2"| Nationalität ! colspan="3"| Besteigungsserie ! rowspan="2"| Alter ! rowspan="2"| O2 ! rowspan="2"| neue Routen(R) ! rowspan="2"| im Winter(W/w) ! rowspan="2"| Wh.(×2) ! rowspan="2" class="unsortable"| Chronologie |- ! erster ! letzter ! Zeitraum |- | 1 | 1 |data-sort-value="Messner, Reinhold" | Reinhold Messner | style="text-align:center;" data-sort-value="m" | | | 27.06.1970 | 16.10.1986 | | style="text-align:center;" data-sort-value="42 a 029 d" | 42 | |style="text-align:center;" | 7 | |style="text-align:center;" | 4 |class="mw-collapsible mw-collapsed" | (27.06.1970)  Nanga Parbat (R) (×2) (25.04.1972)  Manaslu (R) (10.08.1975)  Hidden Peak (R) (×2) (08.05.1978)  Mount Everest (R am 20.08.1980) (×2) (12.07.1979)  K2 (28.05.1981)  Shishapangma (06.05.1982)  Kangchendzönga (R) (24.07.1982)  Gasherbrum II (×2) (02.08.1982)  Broad Peak (05.05.1983)  Cho Oyu (R) (24.04.1985)  Annapurna (R) (15.05.1985)  Dhaulagiri (26.09.1986)  Makalu (16.10.1986)  Lhotse |- | 2 | data-sort-value="zzz" | |data-sort-value="Kukuczka, Jerzy" | Jerzy Kukuczka | style="text-align:center;" data-sort-value="m" | | | 04.10.1979 | 18.09.1987 | 7 a 11 M 14 d | style="text-align:center;" data-sort-value="39 a 178 d" | 39 |style="text-align:center;" | 1 |style="text-align:center;" | 9 |style="text-align:center;" | 4 |style="text-align:center;" | 1 |class="mw-collapsible mw-collapsed" | (04.10.1979)  Lhotse (19.05.1980)  Mount Everest (O2) (R) (15.10.1981)  Makalu (R) (30.07.1982)  Broad Peak (R am 14.07.1984) (×2) (01.07.1983)  Gasherbrum II (R) (23.07.1983)  Hidden Peak (R) (21.01.1985)  Dhaulagiri (W) (15.02.1985)  Cho Oyu (W) (13.07.1985)  Nanga Parbat (R) (11.01.1986)  Kangchendzönga (W) (08.07.1986)  K2(R) (10.11.1986)  Manaslu (R) (03.02.1987)  Annapurna (W) (18.09.1987)  Shishapangma (R) |- | 3 | 2 |data-sort-value="Loretan, Erhard" | Erhard Loretan | style="text-align:center;" data-sort-value="m" | | | 10.06.1982 | 05.10.1995 | 13 a 3 M 25 d | style="text-align:center;" data-sort-value="36 a 160 d" | 36 | |style="text-align:center;" | 2 |style="text-align:center;" | 1 | |class="mw-collapsible mw-collapsed" | (10.06.1982)  Nanga Parbat (16.06.1983)  Gasherbrum II (23.06.1983)  Hidden Peak (30.06.1983)  Broad Peak (30.04.1984)  Manaslu (24.10.1984)  Annapurna (R) (06.07.1985)  K2 (08.12.1985)  Dhaulagiri (w) (30.08.1986)  Mount Everest (21.09.1990)  Cho Oyu (R) (02.10.1991)  Makalu (01.10.1994)  Lhotse (29.04.1995)  Shishapangma (05.10.1995)  Kangchendzönga |- | 4 | data-sort-value="zzz" | |data-sort-value="Carsolio, Carlos" | Carlos Carsolio | style="text-align:center;" data-sort-value="m" | | | 13.07.1985 | 12.05.1996 | 10 a 9 M 29 d | style="text-align:center;" data-sort-value="33 a 221 d" | 33 |style="text-align:center;" | 1 |style="text-align:center;" | 3 | | |class="mw-collapsible mw-collapsed" | (13.07.1985)  Nanga Parbat (R) (18.07.1987)  Shishapangma (12.10.1988)  Makalu (O2) (13.10.1989)  Mount Everest (12.05.1992)  Kangchendzönga (13.06.1993)  K2 (26.04.1994)  Cho Oyu (13.05.1994)  Lhotse (09.07.1994)  Broad Peak (R) (29.04.1995)  Annapurna (15.05.1995)  Dhaulagiri (04.07.1995)  Gasherbrum II (R) (15.07.1995)  Hidden Peak (12.05.1996)  Manaslu |- | 5 | data-sort-value="zzz" | |data-sort-value="Wielicki, Krzysztof" | Krzysztof Wielicki | style="text-align:center;" data-sort-value="m" | | | 17.02.1980 | 01.09.1996 | 16 a 6 M 15 d | style="text-align:center;" data-sort-value="46 a 240 d" | 46 |style="text-align:center;" | 1 |style="text-align:center;" | 3 |style="text-align:center;" | 3 |style="text-align:center;" | 1 |class="mw-collapsible mw-collapsed" | (17.02.1980)  Mount Everest (O2) (W) (14.07.1984)  Broad Peak (20.10.1984)  Manaslu (R) (×2) (11.01.1986)  Kangchendzönga (W) (24.09.1986)  Makalu (31.12.1988)  Lhotse (W) (24.04.1990)  Dhaulagiri (21.10.1991)  Annapurna (18.09.1993)  Cho Oyu (R) (07.10.1993)  Shishapangma (R) (04.07.1995)  Gasherbrum II (15.07.1995)  Hidden Peak (10.08.1996)  K2 (01.09.1996)  Nanga Parbat |- | 6 | 3 |data-sort-value="Oiarzabal, Juanito" | Juanito Oiarzabal | style="text-align:center;" data-sort-value="m" | | | 15.05.1985 | 29.04.1999 | 13 a 11 M 14 d | style="text-align:center;" data-sort-value="43 a 021 d" | 43 | | | |12 |class="mw-collapsible mw-collapsed" | (15.05.1985)  Cho Oyu (16.08.1987)  Gasherbrum II (12.07.1992)  Nanga Parbat (07.10.1993)  Mount Everest (24.06.1994)  K2 (08.05.1995)  Makalu (02.10.1995)  Lhotse (12.07.1995)  Broad Peak (05.06.1996)  Kangchendzönga (09.07.1997)  Hidden Peak (08.10.1997)  Manaslu (22.04.1998)  Dhaulagiri (10.10.1998)  Shishapangma (29.04.1999)  Annapurna |- | 7 | data-sort-value="zzz" | |data-sort-value="Martini, Sergio" | Sergio Martini | style="text-align:center;" data-sort-value="m" | | | 04.08.1983 | 19.05.2000 | 15 a 9 M 22 d | style="text-align:center;" data-sort-value="50 a 295 d" | 50 |style="text-align:center;" | 2 | | | |class="mw-collapsible mw-collapsed" | (04.08.1983)  K2 (01.10.1985)  Makalu (15.08.1986)  Nanga Parbat (21.09.1986)  Annapurna (08.08.1987)  Gasherbrum II (05.09.1988)  Shishapangma (17.09.1988)  Cho Oyu (11.05.1989)  Dhaulagiri (29.07.1993)  Broad Peak (03.08.1994)  Hidden Peak (14.10.1995)  Kangchendzönga (O2) (27.09.1996)  Manaslu (26.05.1999)  Mount Everest (O2) (19.05.2000)  Lhotse |- | 8 | data-sort-value="zzz" | | Park Young-seok | style="text-align:center;" data-sort-value="m" | | | 16.05.1993 | 22.07.2001 | 8 a 2 M 6 d | style="text-align:center;" data-sort-value="37 a 262 d" | 37 |style="text-align:center;" | 5 | |style="text-align:center;" | 1 |style="text-align:center;" | 1 |class="mw-collapsible mw-collapsed" | (16.05.1993)  Mount Everest (O2) (??.??.1994)  Cho Oyu (×2) (03.05.1996)  Annapurna (27.04.1997)  Dhaulagiri (09.07.1997)  Hidden Peak (17.07.1997)  Gasherbrum II (21.07.1998)  Nanga Parbat (06.12.1998)  Manaslu (w) (12.05.1999)  Kangchendzönga (O2) (15.05.2000)  Makalu (O2) (30.07.2000)  Broad Peak (02.10.2000)  Shishapangma (29.04.2001)  Lhotse (O2) (22.07.2001)  K2 (O2) |- | 9 | data-sort-value="zzz" | | Um Hong-gil | style="text-align:center;" data-sort-value="m" | | | 26.09.1988 | 21.09.2001 | 12 a 11 M 26 d | style="text-align:center;" data-sort-value="41 a 007 d" | 41 |style="text-align:center;" | 3 | | | |class="mw-collapsible mw-collapsed" | (26.09.1988)  Mount Everest (O2) (10.09.1993)  Cho Oyu (08.05.1995)  Makalu (12.07.1995)  Broad Peak (02.10.1995)  Lhotse (01.05.1996)  Dhaulagiri (27.09.1996)  Manaslu (09.07.1997)  Hidden Peak (16.07.1997)  Gasherbrum II (29.04.1999)  Annapurna (12.07.1999)  Nanga Parbat (19.05.2000)  Kangchendzönga (O2) (31.07.2000)  K2 (O2) (21.09.2001)  Shishapangma |- | 10 | 4 |data-sort-value="Iñurrategi, Alberto" | Alberto Iñurrategi | style="text-align:center;" data-sort-value="m" | | | 30.09.1991 | 16.05.2002 | 10 a 7 M 16 d | style="text-align:center;" data-sort-value="33 a 194 d" | 33 | | | | |class="mw-collapsible mw-collapsed" | (30.09.1991)  Makalu (25.09.1992)  Mount Everest (24.06.1994)  K2 (11.09.1995)  Cho Oyu (27.09.1995)  Lhotse (06.05.1996)  Kangchendzönga (11.10.1996)  Shishapangma (13.07.1997)  Broad Peak (23.05.1998)  Dhaulagiri (29.07.1999)  Nanga Parbat (25.04.2000)  Manaslu (28.07.2000)  Gasherbrum II (08.07.2001)  Hidden Peak (16.05.2002)  Annapurna |- | 11 | data-sort-value="zzz" | | Han Wang-yong | style="text-align:center;" data-sort-value="m" | | | 28.09.1994 | 15.07.2003 | 8 a 9 M 17 d | style="text-align:center;" data-sort-value="36 a 303 d" | 36 |style="text-align:center;" | 3 | | | |class="mw-collapsible mw-collapsed" | (28.09.1994)  Cho Oyu (14.10.1995)  Mount Everest (O2) (27.04.1997)  Dhaulagiri (13.07.1997)  Hidden Peak (18.10.1997)  Lhotse (03.05.1998)  Annapurna (21.07.1998)  Nanga Parbat (12.05.2000)  Manaslu (O2) (31.07.2000)  K2 (14.05.2001)  Makalu (21.09.2001)  Shishapangma (13.05.2002)  Kangchendzönga (O2) (26.06.2003)  Gasherbrum II (15.07.2003)  Broad Peak |- | 12 | 5 |data-sort-value="Viesturs, Ed" | Ed Viesturs | style="text-align:center;" data-sort-value="m" | | | 18.05.1989 | 12.05.2005 | 15 a 11 M 24 d | style="text-align:center;" data-sort-value="45 a 324 d" | 45 | | | |style="text-align:center;" | 6 |class="mw-collapsible mw-collapsed" | (18.05.1989)  Kangchendzönga (08.05.1990)  Mount Everest (×6) (16.08.1992)  K2 (16.05.1994)  Lhotse (06.10.1994)  Cho Oyu (×2) (18.05.1995)  Makalu (04.07.1995)  Gasherbrum II (15.07.1995)  Hidden Peak (22.04.1999)  Manaslu (04.05.1999)  Dhaulagiri (30.04.2001)  Shishapangma (23.06.2003)  Nanga Parbat (15.07.2003)  Broad Peak (12.05.2005)  Annapurna |- | 13 | 6 |data-sort-value="Mondinelli, Silvio" | Silvio Mondinelli | style="text-align:center;" data-sort-value="m" | | | 13.10.1993 | 12.07.2007 | 13 a 8 M 29 d | style="text-align:center;" data-sort-value="49 a 018 d" | 49 | | | | |class="mw-collapsible mw-collapsed" | (13.10.1993)  Manaslu (15.10.1997)  Cho Oyu (23.05.2001)  Mount Everest (22.07.2001)  Gasherbrum II (03.08.2001)  Hidden Peak (12.10.2001)  Dhaulagiri (16.05.2002)  Makalu (20.05.2003)  Kangchendzönga (26.07.2004)  K2 (20.07.2005)  Nanga Parbat (09.05.2006)  Shishapangma (19.06.2006)  Lhotse (12.10.2006)  Annapurna (12.07.2007)  Broad Peak |- | 14 | 7 |data-sort-value="Vallejo, Iván" | Iván Vallejo | style="text-align:center;" data-sort-value="m" | | | 19.09.1997 | 01.05.2008 | 10 a 7 M 12 d | style="text-align:center;" data-sort-value="48 a 144 d" | 48 | | | |style="text-align:center;" | 1 |class="mw-collapsible mw-collapsed" | (19.09.1997)  Manaslu (05.07.1998)  Broad Peak (27.05.1999)  Mount Everest (×2) (31.07.2000)  K2 (04.10.2002)  Cho Oyu (26.05.2003)  Lhotse (19.07.2003)  Gasherbrum II (26.07.2003)  Hidden Peak (16.05.2004)  Makalu (10.10.2004)  Shishapangma (20.07.2005)  Nanga Parbat (22.05.2006)  Kangchendzönga (24.05.2007)  Annapurna (01.05.2008)  Dhaulagiri |- | 15 | 8 |data-sort-value="Urubko, Denis" | Denis Urubko | style="text-align:center;" data-sort-value="m" | | | 24.05.2000 | 11.05.2009 | 8 a 11 M 17 d | style="text-align:center;" data-sort-value="35 a 292 d" | 35 | |style="text-align:center;" | 3 |style="text-align:center;" | 1 |style="text-align:center;" | 3 |class="mw-collapsible mw-collapsed" | (24.05.2000)  Mount Everest (23.05.2001)  Lhotse (13.08.2001)  Hidden Peak (18.08.2001)  Gasherbrum II (13.05.2002)  Kangchendzönga (25.10.2002)  Shishapangma (17.06.2003)  Nanga Parbat (18.07.2003)  Broad Peak (R am 25.07.2005) (×2) (30.05.2004)  Annapurna (25.04.2006)  Manaslu (R am 08.05.2006) (×2) (02.05.2007)  Dhaulagiri (02.10.2007)  K2 (12.05.2008)  Makalu (W am 09.02.2009) (×2) (11.05.2009)  Cho Oyu (R) |- | 16 | data-sort-value="zzz" | |data-sort-value="Dujmovits, Ralf" | Ralf Dujmovits | style="text-align:center;" data-sort-value="m" | | | 11.05.1990 | 20.05.2009 | 19 a 0 M 9 d | style="text-align:center;" data-sort-value="47 a 166 d" | 47 |style="text-align:center;" | 1 | | |style="text-align:center;" | 3 |class="mw-collapsible mw-collapsed" | (11.05.1990)  Dhaulagiri (04.10.1992)  Mount Everest (O2) (23.07.1994)  K2 (09.05.1995)  Cho Oyu (×2) (24.05.1997)  Shishapangma (×2) (16.07.1999)  Broad Peak (×2) (22.07.2000)  Gasherbrum II (30.06.2001)  Nanga Parbat (28.05.2004)  Annapurna (25.07.2004)  Hidden Peak (14.05.2006)  Kangchendzönga (19.05.2007)  Manaslu (11.05.2008)  Makalu (20.05.2009)  Lhotse |- | 17 | 9 |data-sort-value="Gustafsson, Veikka" | Veikka Gustafsson | style="text-align:center;" data-sort-value="m" | | | 10.05.1993 | 26.07.2009 | 16 a 2 M 16 d | style="text-align:center;" data-sort-value="41 a 193 d" | 41 | | | |style="text-align:center;" | 3 |class="mw-collapsible mw-collapsed" | (10.05.1993)  Mount Everest (×3) (09.10.1993)  Dhaulagiri (×2) (23.07.1994)  K2 (06.05.1995)  Lhotse (18.05.1995)  Makalu (22.04.1999)  Manaslu (30.04.2001)  Shishapangma (30.06.2001)  Nanga Parbat (22.04.2005)  Cho Oyu (12.05.2005)  Annapurna (14.05.2006)  Kangchendzönga (08.07.2008)  Gasherbrum II (31.07.2008)  Broad Peak (26.07.2009)  Hidden Peak |- | 18 | data-sort-value="zzz" | |data-sort-value="Lock, Andrew" | Andrew Lock | style="text-align:center;" data-sort-value="m" | | | 30.07.1993 | 02.10.2009 | 16 a 2 M 2 d | style="text-align:center;" data-sort-value="47 a 280 d" | 47 |style="text-align:center;" | 1 | | |style="text-align:center;" | 2 |class="mw-collapsible mw-collapsed" | (30.07.1993)  K2 (25.05.1997)  Dhaulagiri (07.08.1997)  Broad Peak (21.07.1998)  Nanga Parbat (09.07.1999)  Gasherbrum II (17.07.1999)  Hidden Peak (24.05.2000)  Mount Everest (O2) (×2) (21.04.2002)  Manaslu (16.05.2002)  Lhotse (25.09.2004)  Cho Oyu (×2) (14.05.2006)  Kangchendzönga (24.05.2007)  Annapurna (21.05.2008)  Makalu (02.10.2009)  Shishapangma |- | 19 | 10 |data-sort-value="Garcia, João" | João Garcia | style="text-align:center;" data-sort-value="m" | | | 24.09.1993 | 17.04.2010 | 16 a 6 M 25 d | style="text-align:center;" data-sort-value="42 a 280 d" | 42 | | | | |class="mw-collapsible mw-collapsed" | (24.09.1993)  Cho Oyu (24.09.1994)  Dhaulagiri (18.05.1999)  Mount Everest (04.07.2001)  Gasherbrum II (26.07.2004)  Hidden Peak (21.05.2005)  Lhotse (22.05.2006)  Kangchendzönga (31.10.2006)  Shishapangma (20.07.2007)  K2 (19.05.2008)  Makalu (17.07.2008)  Broad Peak (28.04.2009)  Manaslu (10.07.2009)  Nanga Parbat (17.04.2010)  Annapurna |- | 20 | data-sort-value="zzz" | |data-sort-value="Pustelnik, Piotr" | Piotr Pustelnik | style="text-align:center;" data-sort-value="m" | | | 19.07.1990 | 27.04.2010 | 19 a 9 M 8 d | style="text-align:center;" data-sort-value="58 a 319 d" | 58 |style="text-align:center;" | 7 | | |style="text-align:center;" | 1 |class="mw-collapsible mw-collapsed" | (19.07.1990)  Gasherbrum II(×2) (12.07.1992)  Nanga Parbat (24.09.1993)  Cho Oyu (06.10.1993)  Shishapangma (26.09.1994)  Dhaulagiri (12.05.1995)  Mount Everest (O2) (14.08.1996)  K2 (O2) (15.07.1997)  Hidden Peak (15.05.2000)  Lhotse (O2) (15.05.2001)  Kangchendzönga (O2) (16.05.2002)  Makalu (O2) (17.05.2003)  Manaslu (O2) (08.07.2006)  Broad Peak (27.04.2010)  Annapurna (O2) |- | 21 | data-sort-value="zzz" | | Oh Eun-sun (umstritten) | style="text-align:center;" data-sort-value="w" | | | 17.07.1997 | 27.04.2010 | 12 a 9 M 10 d | style="text-align:center;" data-sort-value="44 a 047 d" | 44 |style="text-align:center;" | 2 | | | |class="mw-collapsible mw-collapsed" | (17.07.1997)  Gasherbrum II (20.05.2004)  Mount Everest (O2) (03.10.2006)  Shishapangma (08.05.2007)  Cho Oyu (20.07.2007)  K2 (O2) (13.05.2008)  Makalu (26.05.2008)  Lhotse (31.07.2008)  Broad Peak (12.10.2008)  Manaslu (06.05.2009)  Kangchendzönga (21.05.2009)  Dhaulagiri (10.07.2009)  Nanga Parbat (03.08.2009)  Hidden Peak (27.04.2010)  Annapurna |- | 22 | data-sort-value="zzz" | |data-sort-value="Pasaban, Edurne" | Edurne Pasaban | style="text-align:center;" data-sort-value="w" | | | 23.05.2001 | 17.05.2010 | 8 a 11 M 24 d | style="text-align:center;" data-sort-value="36 a 289 d" | 36 |style="text-align:center;" | 2 | | | |class="mw-collapsible mw-collapsed" | (23.05.2001)  Mount Everest (O2) (16.05.2002)  Makalu (05.10.2002)  Cho Oyu (26.05.2003)  Lhotse (19.07.2003)  Gasherbrum II (26.07.2003)  Hidden Peak (26.07.2004)  K2 (20.07.2005)  Nanga Parbat (12.07.2007)  Broad Peak (01.05.2008)  Dhaulagiri (05.10.2008)  Manaslu (18.05.2009)  Kangchendzönga (O2) (17.04.2010)  Annapurna (17.05.2010)  Shishapangma |- | 23 | 11 |data-sort-value="Blanc, Abele" | Abele Blanc | style="text-align:center;" data-sort-value="m" | | | 30.09.1992 | 26.04.2011 | 18 a 6 M 26 d | style="text-align:center;" data-sort-value="56 a 236 d" | 56 |style="text-align:center;" | 1 | | |style="text-align:center;" | 1 |class="mw-collapsible mw-collapsed" | (30.09.1992)  Mount Everest (×2) (29.07.1993)  Broad Peak (14.10.1995)  Kangchendzönga (O2) (13.10.1996)  Manaslu (27.05.1997)  Lhotse (14.05.1998)  Shishapangma (21.05.1998)  Cho Oyu (03.07.1999)  Hidden Peak (10.07.1999)  Gasherbrum II (15.05.2000)  Makalu (29.07.2000)  K2 (30.06.2001)  Nanga Parbat (12.10.2001)  Dhaulagiri (26.04.2011)  Annapurna |- | 24 | data-sort-value="zzz" | |data-sort-value="Sherpa, Mingma" | Mingma Sherpa | style="text-align:center;" data-sort-value="m" | | | 12.05.2000 | 20.05.2011 | 11 a 0 M 8 d | style="text-align:center;" data-sort-value="32 a 338 d" | 32 |style="text-align:center;" | 5 | | |style="text-align:center;" | 2 |class="mw-collapsible mw-collapsed" | (12.05.2000)  Manaslu (??.??.2000)  Cho Oyu (×3) (14.05.2001)  Makalu (22.09.2001)  Shishapangma (16.05.2002)  Lhotse (O2) (??.??.2003)  Gasherbrum II (??.??.2003)  Broad Peak (16.05.2004)  Mount Everest (O2) (27.07.2004)  K2 (O2) (01.05.2009)  Dhaulagiri (O2) (17.04.2010)  Annapurna (10.07.2010)  Nanga Parbat (05.08.2010)  Hidden Peak (20.05.2011)  Kangchendzönga (O2) |- | 25 | 12 |data-sort-value="Kaltenbrunner, Gerlinde" | Gerlinde Kaltenbrunner | style="text-align:center;" data-sort-value="w" | | | 06.05.1998 | 23.08.2011 | 13 a 3 M 17 d | style="text-align:center;" data-sort-value="40 a 253 d" | 40 | | | | |class="mw-collapsible mw-collapsed" | (06.05.1998)  Cho Oyu (14.05.2001)  Makalu (10.05.2002)  Manaslu (20.05.2003)  Nanga Parbat (28.05.2004)  Annapurna (25.07.2004)  Hidden Peak (07.05.2005)  Shishapangma (21.07.2005)  Gasherbrum II (14.05.2006)  Kangchendzönga (12.07.2007)  Broad Peak (01.05.2008)  Dhaulagiri (20.05.2009)  Lhotse (24.05.2010)  Mount Everest (23.08.2011)  K2 |- |rowspan="2" | 26 | data-sort-value="zzz" | |data-sort-value="Piwzow, Wassili" | Wassili Piwzow | style="text-align:center;" data-sort-value="m" | | | 13.08.2001 | 23.08.2011 | 10 a 0 M 10 d | style="text-align:center;" data-sort-value="36 a 007 d" | 36 |style="text-align:center;" | 1 | | | |class="mw-collapsible mw-collapsed" | (13.08.2001)  Hidden Peak (??.??.2001)  Gasherbrum II (13.05.2002)  Kangchendzönga (25.10.2002)  Shishapangma (17.06.2003)  Nanga Parbat (18.07.2003)  Broad Peak (??.05.2004)  Makalu (??.05.2005)  Cho Oyu (02.05.2006)  Dhaulagiri (19.05.2006)  Annapurna (30.04.2007)  Mount Everest (O2) (03.10.2008)  Manaslu (16.05.2010)  Lhotse (23.08.2011)  K2 |- | 13 |data-sort-value="Schumajew, Maksut" | Maksut Schumajew | style="text-align:center;" data-sort-value="m" | | | 13.08.2001 | 23.08.2011 | 10 a 0 M 10 d | style="text-align:center;" data-sort-value="34 a 234 d" | 34 | | | | |class="mw-collapsible mw-collapsed" | (13.08.2001)  Hidden Peak (??.??.2001)  Gasherbrum II (13.05.2002)  Kangchendzönga (25.10.2002)  Shishapangma (17.06.2003)  Nanga Parbat (18.07.2003)  Broad Peak (??.05.2004)  Makalu (??.05.2005)  Cho Oyu (02.05.2006)  Dhaulagiri (19.05.2006)  Annapurna (30.04.2007)  Mount Everest (14.05.2008)  Manaslu (16.05.2010)  Lhotse (23.08.2011)  K2 |- | 28 | data-sort-value="zzz" | | Kim Jae-soo | style="text-align:center;" data-sort-value="m" | | | 06.10.1990 | 23.09.2011 | 20 a 11 M 17 d | style="text-align:center;" data-sort-value="50 a 234 d" | 50 |style="text-align:center;" | 5 | | |style="text-align:center;" | 3 |class="mw-collapsible mw-collapsed" | (06.10.1990)  Mount Everest (O2) (×2) (08.10.1991)  Shishapangma (×2) (16.05.2002)  Lhotse (O2) (×2) (??.??.2007)  Broad Peak (01.08.2008)  K2 (O2) (13.10.2008)  Manaslu (01.05.2009)  Makalu (O2) (18.05.2009)  Kangchendzönga (O2) (09.06.2009)  Dhaulagiri (10.07.2009)  Nanga Parbat (??.??.2010)  Gasherbrum II (05.08.2010)  Hidden Peak (26.04.2011)  Annapurna (23.09.2011) Cho Oyu |- | 29 | 14 |data-sort-value="Panzeri, Mario" | Mario Panzeri | style="text-align:center;" data-sort-value="m" | | | 27.09.1988 | 18.05.2012 | 23 a 7 M 21 d | style="text-align:center;" data-sort-value="48 a 008 d" | 48 |style="text-align:center;" | | | |style="text-align:center;" | |class="mw-collapsible mw-collapsed" | (27.09.1988) Cho Oyu (28.09.1992) Mount Everest (29.07.1996) K2 (28.05.1997) Lhotse (12.05.2005) Annapurna (24.05.2006) Makalu (??.??.2006) Gasherbrum II (21.06.2008) Nanga Parbat (??.??.2008) Broad Peak (19.05.2009) Manaslu (17.05.2010) Shishapangma (20.05.2011) Kangchendzönga (13.07.2011) Hidden Peak (18.05.2012) Dhaulagiri |- | 30 | data-sort-value="zzz" | |data-sort-value="Takeuchi, Hirotaka" | Hirotaka Takeuchi | style="text-align:center;" data-sort-value="m" | | | 22.05.1995 | 26.05.2012 | 17 a 0 M 4 d | style="text-align:center;" data-sort-value="41 a 139 d" | 41 |style="text-align:center;" | 3 | | | |class="mw-collapsible mw-collapsed" | (22.05.1995) Makalu (O2) (17.05.1996) Mount Everest (O2) (14.08.1996) K2 (O2) (30.06.2001) Nanga Parbat (28.05.2004) Annapurna (25.07.2004) Hidden Peak (07.05.2005) Shishapangma (14.05.2006) Kangchendzönga (19.05.2007) Manaslu (08.07.2008) Gasherbrum II (31.07.2008) Broad Peak (20.05.2009) Lhotse (30.09.2011) Cho Oyu (26.05.2012) Dhaulagiri |- | 31 | data-sort-value="zzz" | | Chhang Dawa | style="text-align:center;" data-sort-value="m" | | | 2000 | 30.04.2013 | ? | style="text-align:center;" data-sort-value="30 a 270 d" | 30 |style="text-align:center;" | ? | | | | n.n. |- | 32 | 15 |data-sort-value="Chang-ho, Kim" | Kim Chang-ho | style="text-align:center;" data-sort-value="m" | | | 14.06.2005 | 20.05.2013 | 7 a 11 M 6 d |style="text-align:center;" | |style="text-align:center;" | | |style="text-align:center;" | |style="text-align:center;" | | n.n. |- | 33 | |data-sort-value="Jaroš, Radek" | Radek Jaroš | style="text-align:center;" data-sort-value="m" | | | 19.05.1998 | 26.07.2014 | 16 a 2 M 7 d |style="text-align:center;" data-sort-value="50 a 88 d" | 50 | | | | |class="mw-collapsible mw-collapsed" | (19.05.1998)  Mount Everest (14.05.2002)  Kangchendzönga (18.07.2003)  Broad Peak (10.04.2004)  Cho Oyu (09.10.2004)  Shishapangma (28.06.2005)  Nanga Parbat (01.05.2008)  Dhaulagiri (21.05.2008)  Makalu (29.04.2008)  Manaslu (17.07.2010)  Gasherbrum II (28.07.2010)  Hidden Peak (19.05.2011)  Lhotse (06.05.2012)  Annapurna (26.07.2014)  K2 |- |rowspan="2" |34 | 16 |data-sort-value="Meroi, Nives" | Nives Meroi |style="text-align:center;" data-sort-value="w" | | | 1998 | 11.05.2017 | 19 a |style="text-align:center;" data-sort-value="54 a 236 d" | 55 | | | | |class="mw-collapsible mw-collapsed" | (00.00.1998)  Nanga Parbat (00.00.1999)  Shishapangma (00.00.1999)  Cho Oyu (00.00.2003)  Hidden Peak (00.00.2003)  Gasherbrum II (00.00.2003)  Broad Peak (00.00.2004)  Lhotse (00.00.2006)  Dhaulagiri (00.00.2006)  K2 (00.00.2007)  Mount Everest (00.00.2008)  Manaslu (17.05.2014)  Kangchendzönga (12.05.2016)  Makalu (11.05.2017)  Annapurna |- | 17 |data-sort-value="Benet, Romano" | Romano Benet | style="text-align:center;" data-sort-value="m" | | | 1998 | 11.05.2017 | 19 a |style="text-align:center;" data-sort-value="55 a 21 d" | 55 | | | | |class="mw-collapsible mw-collapsed" | (00.00.1998)  Nanga Parbat (00.00.1999)  Shishapangma (00.00.1999)  Cho Oyu (00.00.2003)  Hidden Peak (00.00.2003)  Gasherbrum II (00.00.2003)  Broad Peak (00.00.2004)  Lhotse (00.00.2006)  Dhaulagiri (00.00.2006)  K2 (00.00.2007)  Mount Everest (00.00.2008)  Manaslu (19.05.2014)  Kangchendzönga (12.05.2016)  Makalu (11.05.2017)  Annapurna |- |- | 36 | |data-sort-value="Hámor, Peter" | Peter Hámor | style="text-align:center;" data-sort-value="m" | | | 19.05.1998 | 15.05.2017 | 18 a 11 M 27 d |style="text-align:center;" data-sort-value="53 a" | 53 |style="text-align:center;" | ? |style="text-align:center;" | 1 | |style="text-align:center;" | 1 |class="mw-collapsible mw-collapsed" | (19.05.1998)  Mount Everest(O2) (24.04.2006)  Cho Oyu (21.05.2006)  Annapurna (R)(×2) (08.07.2006)  Broad Peak (15.07.2007)  Nanga Parbat (25.06.2008)  Hidden Peak (06.07.2008)  Gasherbrum II (21.05.2011)  Makalu (17.05.2012)  Kangchendzönga (01.08.2012)  K2 (21.05.2013)  Lhotse (30.04.2014)  Shishapangma (10.05.2016)  Manaslu (15.05.2017)  Dhaulagiri |- | 37 | |data-sort-value="Latorre, Ferran" | Ferran Latorre | style="text-align:center;" data-sort-value="m" | | | 19.04.1999 | 27.05.2017 | 18 a 1 M 8 d |style="text-align:center;" data-sort-value="46 a" | 46 |style="text-align:center;" | 1 | | | |class="mw-collapsible mw-collapsed" | (29.04.1999)  Annapurna (04.10.2005)  Shishapangma (12.07.2007)  Broad Peak (01.05.2008)  Dhaulagiri (05.10.2008)  Manaslu (18.05.2009)  Kangchendzönga (31.07.2012)  Gasherbrum II (22.05.2013)  Lhotse (26.09.2013)  Cho Oyu (26.07.2014)  K2 (24.07.2015)  Hidden Peak (23.05.2016)  Makalu (25.07.2016)  Nanga Parbat (27.05.2017)  Mount Everest (O2) |- | 38 | 18 |data-sort-value="Cadiach, Oscar" | Òscar Cadiach | style="text-align:center;" data-sort-value="m" | | | 07.08.1985 | 27.07.2017 | 31 a 11 M 20 d |style="text-align:center;" data-sort-value="64 a" | 64 | | | |style="text-align:center;" | 2 |class="mw-collapsible mw-collapsed" | (07.08.1984)  Nanga Parbat (28.08.1985)  Mount Everest (04.10.1993)  Shishapangma (29.09.1996)  Cho Oyu (19.05.1998)  Makalu (07.07.1999)  Gasherbrum II (23.05.2001)  Lhotse (04.10.2011)  Manaslu (06.05.2012)  Annapurna (25.05.2012)  Dhaulagiri (31.07.2012)  K2 (20.05.2013)  Kangchendzönga (29.07.2013)  Hidden Peak (27.07.2017)  Broad Peak |- | 39 | |data-sort-value="Sherpa, Sanu" | Sanu Sherpa | style="text-align:center;" data-sort-value="m" | | | 2006 | 03.10.2019 | 13 a |style="text-align:center;" data-sort-value="44 a" | 44 | | | |style="text-align:center;" | 21 |class="mw-collapsible mw-collapsed" | (00.00.2006)  Cho Oyu (×2) (00.00.2010)  Manaslu (×3) (00.00.2007)  Mount Everest (×6) (00.00.2008)  Lhotse (×2) (00.00.2011)  Shishapangma (×2) (00.00.2012)  K2 (×2) (00.00.2013)  Gasherbrum I (×2) (00.00.2014)  Kangchendzönga (×2) (00.00.2014)  Broad Peak (×2) (00.00.2016)  Annapurna (×2) (00.00.2017)  Nanga Parbat (×3) (00.00.2019)  Makalu (×2) (00.08.2019)  Gasherbrum II (×2) (03.10.2019)  Dhaulagiri (×3) |- | 40 | |data-sort-value="Purja, Nirmal" | Nirmal Purja | style="text-align:center;" data-sort-value="m" | | | 18.05.2014 | 29.10.2019 | 5 a 5 M 21 d |style="text-align:center;" data-sort-value="36 a" | 36 | | |style="text-align:center;" | 1 |style="text-align:center;" | 14 |class="mw-collapsible mw-collapsed" | (18.05.2014)  Dhaulagiri (×3) (13.05.2016)  Mount Everest (×6) (27.05.2017)  Lhotse (×3) (01.06.2017)  Makalu (×2) (23.04.2019)  Annapurna (15.05.2019)  Kangchendzönga (×2) (03.07.2019)  Nanga Parbat (15.07.2019)  Hidden Peak (= Gasherbrum I) (18.07.2019)  Gasherbrum II (24.07.2019)  K2 (w) (×3) (26.07.2019)  Broad Peak (23.09.2019)  Cho Oyu (27.09.2019)  Manaslu (×2) (29.10.2019)  Shishapangma |- | 41 | | data-sort-value="Harila, Kristin" | Kristin Harila | style="text-align:center;" data-sort-value="w" | | | 23.05.2021 | 03.05.2023 | 1 a 11 M 10 d | style="text-align:center;" data-sort-value="37 a" | 37 | | | style="text-align:center;" | | style="text-align:center;" | 10 | class="mw-collapsible mw-collapsed" | (23.05.2021)  Mount Everest (×3) (23.05.2021)  Lhotse (×3) (28.04.2022)  Annapurna(×2) (08.05.2022)  Dhaulagiri (×2) (14.05.2022)  Kangchendzönga (×2) (27.05.2022)  Makalu (×2) (01.07.2022)  Nanga Parbat (×2) (22.07.2022)  K2 (28.07.2022)  Broad Peak (08.08.2022)  Gasherbrum II (11.08.2022)  Hidden Peak (22.09.2022)  Manaslu (×2) (26.04.2023)  Shishapangma (03.05.2023)  Cho Oyu |- |} Statistik Bis Juli 2008 gab es insgesamt 10.229 erfolgreiche Besteigungen der 14 Achttausender des Himalaya und Karakorum. Die ersten dokumentierten Todesfälle bei einem 8000er-Besteigungsversuch waren das Verschwinden Albert Mummerys und seiner beiden Träger am Nanga Parbat 1895. Bis Juli 2008 kamen bei Versuchen und Besteigungen insgesamt 711 Menschen ums Leben, 151 davon nach gelungener Besteigung. Den Rekord für die schnellste erstmalige Besteigung aller Achttausender hält die Norwegerin Kristin Harila mit einer Zeit von einem Jahr, elf Monaten und zehn Tagen. Sie hält auch den Rekord für die schnellste Zeit, in der alle Achttausender hintereinander – allerdings nicht erstmalig – bestiegen wurden. Dieser beträgt 92 Tage. Jerzy Kukuczka leistete während seiner Besteigungen die meisten Erstbegehungen und die meisten Winteraufstiege. Am längsten brauchte Oscar Cadiach mit knapp 32 Jahren, am zweitlängsten der Italiener Mario Panzeri mit über 23 Jahren. Oscar Cadiach war mit 64 weiters der älteste, Piotr Pustelnik war 58 der zweitälteste der 14-Achttausender-Absolventen. Der Jüngste war Chhang Dawa im Alter von 30 Jahren und neun Monaten. In einer „Nationenwertung“ liegt Italien mit sieben Bergsteigern auf allen Achttausendern vor Südkorea mit sechs. Danach folgt Spanien mit 5 Bergsteigern. Jeweils drei kamen aus Polen und Kasachstan. Bis zur Vollendung der Besteigungsserie hat der US-Amerikaner Ed Viesturs die meisten Gipfel wiederholt: Er absolvierte sechs zusätzliche Achttausender, bevor er die Serie komplettierte. Berücksichtigt man auch Besteigungen nach Abschluss der 14er-Reihe, hat von den hier gelisteten Bergsteigern der Spanier Juanito Oiarzabal die meisten Wiederholungen vorzuweisen: Er stand bereits insgesamt 26 Mal auf dem Gipfel eines Achttausenders. Oiarzabal hat sich zum Ziel gesetzt, alle Achttausender zweimal zu besteigen. Lediglich der Nepalese Phurba Tashi hat gleich viele Achttausender-Besteigungen absolviert – allerdings hat er nur vier verschiedene Achttausender bestiegen. (Stand: Mai 2011) Nives Meroi und Romano Benet sind das einzige Ehepaar, das zusammen auf allen 14 8000ern gestanden ist – überdies ohne Hilfe durch Sherpas oder Flaschensauerstoff. Sie waren bei der Vollendung jeweils 55 Jahre alt und 28 Jahre verheiratet. Nives lernte mit 19 Romano kennen und sie wurden vorerst Seilpartner. Bergsteiger, die 13 Achttausender bestiegen haben Einige Bergsteiger haben bisher 13 der 14 Achttausender bestiegen. Darunter behaupten mehrere, den jeweils fehlenden Gipfel schon bestiegen zu haben. Aus unterschiedlichen Gründen wird dies jedoch nicht anerkannt. Bergsteiger, die 12 Achttausender bestiegen haben Siehe auch Seven Summits Seven Second Summits Explorers Grand Slam Literatur Allgemein Autobiografien von Bergsteigern Artikel (Auswahl) Weblinks 8000ers.com – Umfangreiche Website des deutschen Chronisten Eberhard Jurgalski mit Informationen und Statistiken zu den Besteigungen der Achttausender (englisch) ExplorersWeb – Website mit Nachrichten zu Achttausender-Besteigungen (englisch) Einzelnachweise Achttausender Alpinismusgeschichte Himalaya
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https://de.wikipedia.org/wiki/Lewis%20Nicola
Lewis Nicola
Lewis Nicola (* 1717 in Dublin, Irland; † 9. August 1807 in Alexandria, Virginia) war ein Offizier, Unternehmer, Schriftsteller und Mitglied der American Philosophical Society. Nicola schlug zunächst eine Karriere in der britischen Armee ein, wanderte aber im Jahr 1760 nach Pennsylvania aus. Dort ging er verschiedenen unternehmerischen Tätigkeiten nach, gründete eine eigene Zeitschrift und engagierte sich in der American Philosophical Society, zu deren Kurator er mehrfach berufen wurde. Kurz nach Ausbruch des Amerikanischen Unabhängigkeitskrieges (1775–1783) trat Nicola in die Kontinentalarmee ein. Im Juni 1777 schuf der amerikanische Kongress auf seinen Vorschlag hin die aus älteren Soldaten bestehende Armeeeinheit Invalid Corps, deren Leitung er übernahm und bis zum Ende des Krieges innehatte. Breitere Bekanntheit erlangte Nicola durch einen Brief aus dem Jahr 1782, in dem er George Washington, dem damaligen Oberbefehlshaber der amerikanischen Armee, empfahl, sich als König an die Spitze der dreizehn Gründerstaaten der USA zu stellen. Leben Frühe Jahre und Eintritt in die Armee Lewis Nicola wurde 1717 als Sohn eines britischen Offiziers in Dublin geboren. Im Jahr 1740 trat er in die britische Armee ein, heiratete Christiana Doyle und war zunächst in verschiedenen irischen Städten stationiert. Nach einem kurzen Aufenthalt im Flandern im Jahr 1745 kehrte er nach Irland zurück und wurde dort im September 1755 in den Rang eines Majors befördert. Das erste Jahrzehnt in Philadelphia Acht Monate nach dem Tod seiner ersten Frau heiratete er im April 1760 Jane Bishop und wanderte mit ihr – offenbar weil er in der britischen Armee keine Chancen auf weitere Beförderung sah – nach Amerika aus. Kurz nach seiner Ankunft in Philadelphia eröffnete er einen Laden für Kurzwaren, bemerkte aber schon bald, dass ihn die Tätigkeit als Kaufmann nicht ausfüllte. Im September 1767 eröffnete er eine Ausleihbibliothek. Für einen Jahresbeitrag von drei Dollar und eine Kaution von drei Pfund Sterling erhielten Nicolas Kunden Zugriff auf einen Bestand von zwei- bis dreihundert Bänden unterschiedlichster Literatur. Nicolas Bibliothek war sechs Tage in der Woche geöffnet und erfreute sich offenbar einer regen Nutzung. Schon vier Jahre nach ihrer Gründung war ihr Bestand auf mehr als tausend Bände angewachsen. Durch seinen Kontakt mit dem Mediziner John Morgan wurde er in die American Society for Promoting Useful Knowledge aufgenommen. Diese Gesellschaft war 1766 im Zuge des durch den Stamp Act erwachenden amerikanischen Nationalbewusstseins gegründet worden und hatte sich der Förderung neuer landwirtschaftlicher Methoden und der Verbesserung heimischer Erzeugnisse verschrieben. Sie stand in Konkurrenz mit der 1743 von Benjamin Franklin und John Bartram gegründeten American Philosophical Society, deren Aktivitäten zwischenzeitlich eingeschlafen waren und die nun – als eine Antwort auf die neu entstandene Gesellschaft – von einigen ihrer verbliebenen Mitglieder wiederbelebt wurde. 1769 einigten sich die beiden rivalisierenden Gesellschaften auf einen Zusammenschluss, an dessen Zustandekommen Nicola als Mitglied des Vereinigungskomitees direkt beteiligt war. Auch in den Folgejahren nahm er eine aktive Rolle in der Gesellschaft ein, veröffentlichte Beiträge in der Zeitschrift Transactions of the American Philosophical Society und wurde mehrmals nacheinander zu einem von drei Kuratoren gewählt. Im Januar 1769 gab Nicola seinen Laden für Kurzwaren auf und betätigte sich als Autor und Herausgeber der von ihm gegründeten monatlich erscheinenden Zeitschrift American Magazine, or General Repository. Das American Magazine enthielt eine bunte Mischung aus wissenschaftlichen Beiträgen, Gedichten und Nachrichten aus aller Welt. Gleichzeitig nutzte Nicola das Blatt zur Veröffentlichung der wichtigsten Beiträge der American Philosophical Society sowie ihrer Versammlungsprotokolle, die er der Zeitschrift in einem Anhang beifügte. Nach neun Ausgaben musste Nicola das American Magazine im September 1769 allerdings wieder einstellen. Wiedereintritt in die Armee und schriftstellerische Tätigkeit Nur wenige Monate nach dem Ausbruch des Unabhängigkeitskrieges berief der Pennsylvania Council of Safety (dt. Sicherheitsrat des Staates Pennsylvania) Nicola in ein Komitee zur Inspektion der amerikanischen Verteidigungslinie am Delaware. Nicolas endgültige Rückkehr zum Militär war zu diesem Zeitpunkt allerdings keinesfalls absehbar. Zunächst versuchte er sich nämlich in anderer Weise finanziell über Wasser zu halten. Im Januar 1776 eröffnete er in Philadelphia ein Lokal, in dem er Porter verkaufte. Kurze Zeit später gründete Nicola eine Schule, in der er neben Schreiben, Lesen, Rechnen und doppelter Buchführung auch die Anlage militärischer Befestigungsanlagen unterrichtete. Auch diese Beschäftigung scheint nicht besonders einträglich gewesen zu sein, denn bereits im Februar 1776 trat Nicola auf eigenen Wunsch in die Kontinentalarmee ein. Als barrack master war Nicola zunächst für die Unterkünfte der Soldaten in Philadelphia zuständig, im Dezember 1776 wurde er aber bereits zum Stadtkommandanten von Philadelphia berufen. Trotz vielfältiger Aufgaben fand Nicola Zeit zum Schreiben. In der Abhandlung Treatise of Military Exercise, Calculated for the Use of Americans (Philadelphia 1776) gab er die Erfahrungen aus seiner Zeit als britischer Offizier weiter und mit Louis André de la Mamie de Clairacs L’ingenieur de Campagne, or, Field Engineer (Philadelphia 1776) und Thomas Auguste Le Roy de Grandmaisons Treatise on Military Service of Light Horse and Light Infantry (Philadelphia 1777) übersetzte er zwei militärtheoretische Schriften aus dem Französischen ins Englische. Nicola als Gründer und Befehlshaber des Invalid Corps Das Invalid Corps unter Nicola in den ersten Kriegsjahren Im Juni 1777 schuf der amerikanische Kontinentalkongress auf Vorschlag Nicolas mit dem Invalid Corps eine aus älteren ehemaligen Soldaten bestehende neue Armeeeinheit, die zunächst knapp 1.000, in acht Kompanien aufgeteilte Soldaten umfasste. Diese unter Nicolas Kommando stehende Truppe war zunächst in Philadelphia stationiert, musste die Stadt aber nach dem Vorrücken der britischen Armee unter General William Howe im Herbst 1777 verlassen. Am 25. September 1777 erreichte das Invalid Corps Fort Mifflin. Angesichts einer großen Zahl von Krankheitsfällen, aus Mangel an Proviant und nicht zuletzt, um so wenige Soldaten wie möglich in die Hände der Briten fallen zu lassen, beschlossen Nicola und seine Offiziere, nach Trenton in New Jersey weiterzuziehen. Dort angekommen, griff Nicolas Truppe zum ersten Mal aktiv in den Krieg ein, indem sie die Waren eines bei Bordentown auf dem Delaware liegenden Schiffes vor dem Zugriff der Briten sicherte. Anschließend bezog das Invalid Corps sein Winterquartier bei Easton und Bethlehem in Pennsylvania, wo es – wie der Rest der Kontinentalarmee – unter dem harten Winter von 1777/78 zu leiden hatte. Nach einem kurzen Aufenthalt im Lager von Valley Forge im Frühjahr 1778 kehrte das Invalid Corps unter Nicola nach Philadelphia zurück, wo es am 19. Juni, kurz nach der Evakuierung der Stadt durch die Briten, ankam. Die Jahre bis 1782 In den nächsten Kriegsjahren war Nicolas Invalid Corps überwiegend in Philadelphia und Boston stationiert. Nicola nutzte die Zeit unter anderem damit, eine Reihe von Verbesserungsvorschlägen an den Kongress zu senden (darunter: A Scheme for a Partisan Corps sowie Judicious remarks on a proposed Reformation in the Army), sowie Informationen von britischen und hessischen Deserteuren zu sammeln und weiterzuleiten. Darüber hinaus verstärkte er seine Truppe durch die Anwerbung weiterer Soldaten aus der Region um Philadelphia. Die prekäre finanzielle Situation, der sich Nicola in den Jahren vor Beginn der amerikanischen Revolution ausgesetzt sah, setzte sich auch während des Krieges fort. Im Jahr 1779 bat Nicola um eine Erhöhung seines Solds und begründete dies damit, dass das ihm zur Verfügung stehende Geld nicht ausreiche, um sich wie ein Offizier zu kleiden. Im August 1781 beklagte sich Nicola gegenüber George Washington, dass die schlechte Bezahlung ihn und seine Offiziere nur notdürftig ernähre. Als der Pennsylvania Supreme Executive Council als ausführende Gewalt des Staates Pennsylvania schließlich das Amt des Stadtkommandanten von Philadelphia auflöste, bat Nicola Robert Morris, den damaligen Leiter des amerikanischen Finanzwesens, um die Zahlung einer Ausgleichssumme. Morris antwortete ausweichend, er wolle sich der Sache annehmen, könne aber angesichts der schlechten Staatsfinanzen keine Versprechungen machen. Briefwechsel mit Washington: der Newburgh letter Am 22. Mai 1782 schrieb Nicola den heute unter dem Namen Newburgh letter bekannten Brief an George Washington, benannt nach dessen damaligem Armeequartier in Newburgh, New York. Zu diesem Zeitpunkt lag die Schlacht von Yorktown gerade sechs Monate zurück. In ihr hatten die verbündeten französischen und amerikanischen Truppen einen klaren Sieg gegen die britische Armee unter General Cornwallis errungen und mehr als 8.000 Soldaten gefangen genommen. George Washington war unterdessen nicht davon überzeugt, dass der Sieg bei Yorktown auch zugleich das Ende des Unabhängigkeitskrieges bedeutete. Er argumentierte, dass den Briten selbst nach der Gefangennahme von Cornwallis’ Armee noch starke Kräfte auf amerikanischem Boden zur Verfügung stünden und es deshalb notwendig sei, die Kontinentalarmee so lange kampfbereit zu halten, bis ein offizieller Friedensschluss zustande komme. Doch mit solchen Vorschlägen belebte Washington die Sorgen früherer Kritiker aus den Reihen des Kontinentalkongresses neu, bei denen der Begriff „stehendes Heer“ Erinnerungen an die römischen Legionen Julius Cäsars und die New Model Army Oliver Cromwells weckte und das Schreckgespenst einer Militärdiktatur in die Köpfe rief. Schon in früheren Jahren hatte George Washington sich dem Vorwurf ausgesetzt gesehen, er verlängere den Krieg künstlich, um seine quasi-monarchische Führung als Befehlshaber der Armee aufrechtzuerhalten. Und seine allseits bekannte Geringschätzung der Miliztruppen spielte seinen Kritikern weitere Argumente in die Hände. Sie argumentierten, Milizen seien republikanisch und damit ungefährlich, wohingegen eine stehende Armee monarchisch sei und ein potentielles Sicherheitsrisiko darstelle. Im ersten Teil seines Briefes geht Nicola auf die Finanznöte des Kontinentalkongresses ein. Nicht nur für Nicola, sondern auch für viele andere Soldaten der Kontinentalarmee hatten diese Finanzprobleme schmerzliche Auswirkungen: die meisten von ihnen warteten auf ausstehenden Sold und viele waren schon seit Monaten – einige seit Jahren – ohne Bezahlung. Der Grund hierfür lag in den Konföderationsartikeln von 1781, die es dem Kontinentalkongress zwar erlaubten, in Kriegszeiten eine Armee aufzustellen, nicht aber, eigene Steuern zu erheben. Das Recht zur Einziehung von Steuern war den einzelnen Mitgliedsstaaten vorbehalten und diese waren entweder unfähig oder unwillig, für die Kosten der Konföderation aufzukommen. Aus Sicht Nicolas manifestierte sich in diesem Missstand die Schwäche von Republiken, woraus er schloss, In Anspielung auf die Person Washingtons schrieb Nicola weiter, es sei wohl unstrittig, dass Da die beiden Begriffe „Tyrannie“ und „Monarchie“ in den Köpfen vieler Menschen so nahe beieinander lägen, müsse zunächst ein anderer Begriff für das Oberhaupt des neu zu gründenden Staates gefunden werden, Washington wusste sehr wohl um die Ängste derjenigen, die befürchteten, er könne sich zu einem „amerikanischen Cromwell“ aufschwingen. In seinem Antwortschreiben vom selben Tag gab er Nicola eine betont deutliche Antwort: „Kein Vorfall im Verlauf des Krieges hat in mir schmerzlichere Gefühle ausgelöst, als Ihre Nachricht, dass solche Ideen in der Armee kursieren, wie Sie sie geäußert haben“. Er könne nicht fassen, so Washington weiter, „welcher Teil meines Verhaltens Anlass für eine Bitte gegeben haben könnte, die mir wie das größte Unheil erscheint, das mein Land treffen kann“ und „Sie hätten keinen Menschen finden können, dem ihre Pläne widerwärtiger sind“. Die zu den Akten genommene Kopie seines Antwortschreibens an Nicola ließ Washington von zweien seiner Aides-de-camp, David Humphreys und Jonathan Trumbull als exakte Abschrift beglaubigen – eine Vorsichtsmaßnahme, von der er ansonsten nur selten Gebrauch machte. Nicola reagierte zerknirscht auf die harsche Zurückweisung seines Oberbefehlshabers. Am 23. Mai antwortete er Washington, er sei „außerordentlich unglücklich, dass die Freiheit, die ich [mir] genommen habe, Ihrer Exzellenz in solch großem Maße widerwärtig ist […] Nichts hat mich jemals mehr getroffen als Eure Rüge.“ Im Weiteren bat er Washington, jeden Fehler, dessen er sich möglicherweise schuldig gemacht habe, „mehr als Schwäche der Urteilskraft, denn als Verderbtheit des Herzens“ zu bewerten. Antworten Washingtons auf diesen und zwei weitere Entschuldigungsbriefe Nicolas vom 24. und 28. Mai 1782 sind nicht überliefert. Allerdings fanden Nicola und Washington in ihrem Verhältnis zueinander bald wieder zur Normalität zurück. Die Auflösung des Invalid Corps und Nicolas Beförderung zum Brigadegeneral Im Dezember 1782 beklagte sich Nicola bei Washington darüber, dass General Benjamin Lincoln die Auflösung des Invalid Corps empfohlen habe, da es sich in einem schlechten Zustand befinde und mehr Kosten als Nutzen verursache. Nicola dagegen argumentierte, abgesehen von Kampfeinsätzen und langen Märschen, habe kein anderes Regiment mehr Dienst geleistet. Gegen die Empfehlung Washingtons wurde die Auflösung des Invalid Corps im Mai 1783 dann aber doch vom Kontinentalkongress angeordnet. Zwischen Juni und August machte sich Nicola zurück auf den Weg nach Philadelphia. Dort wurde er zwei Monate nach dem offiziellen Friedensschluss durch den Frieden von Paris als Beauftragter für die Abwicklung aller sein Regiment betreffender Angelegenheiten eingestellt. Am 27. November 1793 wurde er in den Rang eines Brigadegenerals erhoben. Anfang Juni 1784 stellte der Kongress ihn schließlich für die Dauer von viereinhalb Monaten zur Ausfertigung von Zertifikaten für seine ehemaligen Regimentsangehörigen an. Nicolas Leben nach dem Krieg und letzte Jahre Während seiner Zeit in Philadelphia schloss Nicola sich der Pennsylvania Society of the Cincinnati an, einem bis heute bestehenden und auf dem Erbprinzip beruhenden Zusammenschluss von Offizieren aus dem Unabhängigkeitskrieg und deren Nachkommen. Mitte der 1780er Jahre versuchte er erfolglos, eine Postkutschenverbindung zwischen Philadelphia und Reading, Pennsylvania, einzurichten. Danach plante er zwischenzeitlich, ein Gasthaus zu betreiben. Aus finanziellen Gründen übernahm er schließlich im Dezember 1788 die Leitung des Arbeitshauses von Philadelphia. Im Jahr 1793 wurde Nicola zum Inspektor der Philadelphia city militia brigade ernannt – eine Position, die er bis zum August 1798 ausfüllte. Während der Whiskey-Rebellion von 1794 kehrte er schließlich in seine vormalige Stellung als barrack master und Stadtkommandant Philadelphias zurück. Wie in der Zeit vor dem Krieg engagierte Nicola sich auch in seinen späteren Jahren in der American Philosophical Society, zu deren Kurator er abermals berufen wurde. Darüber hinaus betätigte er sich schriftstellerisch. Beeinflusst von den Schriften des kirchenkritischen Theologen Joseph Priestley veröffentlichte er im Jahr 1791 ein Pamphlet mit dem Titel The Divinity of Jesus Christ Considered, From Scripture evidences, in dem er zu dem Ergebnis kam, Jesu Christi Göttlichkeit sei nicht aus der Bibel abzuleiten. Nach dem zufälligen Besuch eines Ladens, in dem unter anderem Zelte verkauft wurden, schickte Nicola im September 1794 einen Brief an Präsident Washington, in dem er ihm einen Vorschlag für eine neue Zeltkonstruktion unterbreitete. Im Jahr 1798 zog er sich von allen öffentlichen Ämtern zurück und siedelte nach Alexandria, Virginia, über, um in der Nähe einer seiner Töchter zu leben. Bei seinem Tod im August 1807 wurde der Wert seines persönlichen Besitzes, ausgenommen seiner Uhr, seines Siegels, seines Bettes und seiner Bettwäsche auf fünfundvierzig Dollar geschätzt. Sich dessen bewusst, dass sein Vermögen wohl kaum für ein Begräbnis ausreichen würde, hatte er zuvor verfügt, der fehlende Betrag sei durch die Pennsylvania Society of Cincinnati beizusteuern. Rezeption Nicola ist heute vor allem durch seinen an George Washington gerichteten Brief vom Mai 1782, den Newburgh letter, bekannt. Von Biografen Washingtons und in allgemeinen Werken zur Amerikanischen Revolution wird er dabei zumeist als Randfigur der Geschichte eingeführt, um die strikt republikanische Haltung Washingtons zu untermalen. Der amerikanische Historiker John Richard Alden etwa sieht in Washingtons harscher Ablehnung der Ideen Nicolas den „Tod der monarchischen Idee in den Vereinigten Staaten und den vollständigen Triumph des repräsentativen Regierungssystems“. Allen Boudreau und Alexander Bleimann bewerten Washingtons Reaktion als einen der wichtigsten Meilensteine auf dem Weg zur Republik seit der Unabhängigkeitserklärung im Jahr 1776. Einzig Robert F. Haggard, einer von zwei modernen Biografen Nicolas und Assistant Editor des seit 1968 laufenden Publikationsprojektes The Papers of George Washington an der University of Virginia, zieht die gängige Interpretation des Vorganges aus dem Frühjahr 1782 in Zweifel. Er bestreitet, dass aus den Quellen hervorgehe, Nicola habe Washington direkt die Krone angetragen, bleibt mit dieser Auslegung aber bisher allein. Literatur Quellen Brief Lewis Nicolas an George Washington vom 22. Mai 1787, in: George Washington Papers at the Library of Congress, 1741–1799, Series 4, General Correspondence, 1697–1799 (Graustufenscans), Transkription in der englischsprachigen Ausgabe von Wikisource. Darstellungen Whitfield J. Bell: Colonel Lewis Nicola: Advocate of Monarchy, 1782, Philadelphia 1983. Robert F. Haggard: The Nicola Affair: Lewis Nicola, George Washington, and American Military Discontent during the Revolutionary War, in: Proceedings of the American philosophical society 146, 2 (2002), online abrufbar als PDF-Dokument. Einzelnachweise Brigadegeneral (Kontinentalarmee) Major (British Army) Person der Amerikanischen Revolution Mitglied der American Philosophical Society Brite Ire US-Amerikaner Geboren 1717 Gestorben 1807 Mann
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https://de.wikipedia.org/wiki/Pal%C3%A4stinakrieg
Palästinakrieg
Der Palästinakrieg oder Israelische Unabhängigkeitskrieg () ist der erste arabisch-israelische Krieg, der in den Jahren 1947–1949 auf dem ehemaligen Mandatsgebiet Palästina bzw. aus zionistischer Sicht in Eretz Israel ausgetragen wurde. Auf Arabisch wird er auch als an-Nakba () bezeichnet. Der Krieg begann ohne formale Kriegserklärung nach der Verabschiedung des UN-Teilungsplanes für Palästina am 29. November 1947 mit den ersten lokalen Kämpfen zwischen arabischen Milizen (u. a. der Armee des heiligen Krieges) und jüdischen Militärorganisationen (u. a. der Hagana). Nach der Unabhängigkeitserklärung des Staates Israel am 14. Mai 1948 rückten am 15. Mai, kurz nach 0 Uhr, reguläre Armeeeinheiten einer Allianz, die von den arabischen Staaten Ägypten, Syrien, Libanon, Jordanien und Irak gebildet worden war, in das ehemalige britische Mandatsgebiet ein und griffen Israel an. Das Ziel der arabischen Allianz, die den UN-Teilungsplan nicht akzeptierte und das Existenzrecht Israels bestritt, war die Beseitigung des entstehenden jüdischen Staates. Jordanien verfolgte außerdem das Ziel, das Westjordanland zu annektieren. Wichtiges Nebenziel der ägyptischen und syrischen Machthaber war hingegen, einen Machtzugewinn Jordaniens zu verhindern. Der Krieg endete mit einem eindeutigen militärischen Sieg Israels. Dieses schloss 1949 unter Vermittlung der UN Waffenstillstandsverträge mit seinen arabischen Kriegsgegnern ab. Nur der Irak zog seine Truppen ohne Vertrag zurück. In diesen Abkommen wurden Waffenstillstandslinien geschaffen, die etwa 75 Prozent des vormaligen Mandatsgebiets Israel überließen und das israelische Territorium im Vergleich mit dem UN-Teilungsplan um ein Drittel vergrößerten. Ein Streifen an der Südküste, der sich von Gaza bis zur ägyptischen Grenze erstreckte (Gazastreifen), kam unter ägyptische Verwaltung. Das östliche Palästina ging als Westjordanland an Jordanien. Jerusalem wurde zwischen Israel (Westjerusalem) und Jordanien (Ostjerusalem) aufgeteilt. Viele Staaten erkannten die Teilung Jerusalems offiziell nicht an. Die jüdische Nationalbewegung konnte ihren Staat erfolgreich etablieren. Mit der diplomatischen Anerkennung Israels am 29. Januar 1949 zeigte die britische Regierung, dass sie die veränderte politische Lage in ihrem ehemaligen Mandatsgebiet anerkannte. Die militärische und politische Niederlage der arabischen Seite und die einander widersprechenden Ziele der arabischen feudalen Regime verhinderten die Entstehung eines arabischen Staates in Palästina, wie ihn der Teilungsplan der UN vorgesehen hatte. Rund 750.000 palästinensische Araber flüchteten oder wurden vertrieben. Etwa ebenso viele Juden wurden während und nach dem Unabhängigkeitskrieg aus arabischen Staaten vertrieben und ließen sich überwiegend in Israel nieder. In den arabischen Staaten führte die Niederlage zur Schwächung der herrschenden Regime, was sich mittelbar in Putschen und Revolutionen äußerte. Vorgeschichte Jüdische Immigration Zur Zeit des Ersten Weltkrieges, als die britische Armee Palästina mit Hilfe arabischer Truppen des Scherifen Hussein im Kampf gegen das Osmanische Reich eroberte, waren rund 90 % der Einwohner der seinerzeit dünn besiedelten Region Araber. In der Balfour-Deklaration vom 2. November 1917 versprach die britische Regierung den Führern der zionistischen Weltorganisation die Schaffung einer nationalen Heimstätte des jüdischen Volkes in Palästina. Das (vornehmlich auf die Hussein-McMahon-Korrespondenz zurückgeführte) Versprechen an den Scherifen Hussein, die arabischen Provinzen zu einem arabischen Königreich zusammenzuschließen, wurde mit dem Sykes-Picot-Abkommen zunichtegemacht bzw. gebrochen. Die britische Regierung übernahm die Kontrolle über Palästina als Mandatsgebiet mit der Absicht, eine Pufferzone zum Suezkanal zu schaffen, auch wenn zahlreiche Politiker und Offiziere vom strategischen Wert Palästinas nicht überzeugt waren. Im Januar 1919 wurde das Faisal-Weizmann-Abkommen zwischen dem zionistischen Funktionär Chaim Weizmann und dem damaligen König Faisal I. von Syrien geschlossen, in dem die Araber den jüdischen nationalen Bestrebungen und der jüdischen Einwanderung nach Palästina zustimmten. Nach der „Machtergreifung“ im Januar 1933 im Deutschen Reich durch Adolf Hitler nahm die Zahl jüdischer Einwanderer sprunghaft zu. Die antisemitische Repressions- und spätere Vernichtungspolitik von Hitler und seinem NS-Regime veranlasste viele deutsche Juden zur Flucht nach Palästina – insbesondere da viele andere Länder ihnen Einwanderung bzw. Asyl verwehrten. Die Erfahrung der Verfolgung und der Shoa veranlasste dann ab 1945 viele überlebende europäische Juden zur Übersiedlung nach Palästina. 1936 waren rund 30 % der Menschen in Palästina jüdische Einwanderer. Zu Beginn des Jahres 1948 standen sich insgesamt 600.000 Einwanderer und rund 1,2 Millionen arabische Palästinenser gegenüber. Zum Zeitpunkt der Staatsgründung umfasste der Jischuw, die jüdische Bevölkerung in Palästina, etwa 700.000 Menschen. Bei der arabischen Bevölkerung Palästinas löste die jüdische Einwanderung Ablehnung aus. Jüdische Landkäufe führten oft zur Verdrängung der ärmeren arabischen Landbevölkerung, die ihr Land meist von ländlichen oder städtischen Großgrundbesitzern gepachtet hatte. Die Großgrundbesitzer entschieden dabei über die Köpfe ihrer Klienten hinweg. Das erklärte Ziel des Zionismus, die Gründung eines jüdischen Staates, weckte Ängste vor Vertreibung und politischer Unterdrückung und stand dem Nationalismus der eigenen Bevölkerung diametral entgegen. Versuche der zionistischen Bewegung, einen Kompromiss zu schließen, scheiterten. So antwortete Musa al-'Alami, ein palästinensischer Notabler mit guten Verbindungen zur Mandatsverwaltung, auf den Hinweis David Ben-Gurions, dass die arabische Bevölkerung von der Einwanderung gebildeter Juden ökonomisch enorm profitieren würde, folgendermaßen: „Ich würde es vorziehen, dass das Land weitere hundert Jahre verarmt und öde bleibt, bis wir fähig sind, es selbst zu entwickeln.“ Arabischer Aufstand Zur Vertretung der arabischen Bevölkerung in Palästina wertete die britische Administration das Amt des Muftis von Jerusalem, das in osmanischer Zeit auf die Stadt beschränkt gewesen war und den islamischen Richtern unterstanden hatte, zu dem eines Großmuftis von Jerusalem und der palästinensischen Region auf und übertrug ihm den Vorsitz des Obersten Scharia-Rats. Durch die Verwaltung der Einnahmen aus religiösen Stiftungen und auch direkte britische Zahlungen erreichte der Mufti eine politisch beherrschende Stellung in der palästinensischen Gesellschaft. 1921 ernannte der britische Hochkonsul für Palästina Herbert Samuel gegen die Proteste der jüdischen Einwanderer Mohammed Amin al-Husseini zum Großmufti. Dieser marginalisierte alle anderen politischen Bewegungen in der arabischen Bevölkerung mithilfe des Muftiamts und einer von seinem Cousin geleiteten politischen Partei. Ebenso dominierte der Mufti das Arabische Hochkomitee, welches eine Vertretungsrolle gegenüber den britischen Behörden einnahm. Seine Herrschaft stützte sich neben Familienkreisen auf die traditionellen, städtischen Notablen der palästinensischen Araber. Husseinis Ziel war ein unabhängiger arabischer Staat Palästina unter seiner Führung. Um dieses Ziel zu erreichen, mobilisierte er seine Anhänger durch nationalistische und muslimisch-religiöse Symbole und Rhetorik. Es kam in der Mandatszeit der Briten mehrmals zu anti-jüdischen und anti-britischen Ausschreitungen von arabischer Seite. Auf einem Höhepunkt dieser Ausschreitungen im Jahr 1929 wurden 67 jüdische Zivilisten bei einem Massaker in Hebron ermordet. Die überlebenden Juden mussten die Stadt verlassen. Mitte der dreißiger Jahre versuchten zahlreiche palästinensische Organisationen – allen voran die Gesellschaft junger muslimischer Männer und die radikal-nationalistische Unabhängigkeitspartei (arabisch Hizb al-Istiqlal) –, die Unzufriedenheit der arabischen Bevölkerung mit der jüdischen Einwanderung in einen bewaffneten Aufstand umzumünzen. Diese Organisationen waren mit der Politik des Muftis unzufrieden, der bisher auf eine einvernehmliche Lösung mit den Briten gehofft hatte. Eine Führungsfigur dieser Bewegungen, der muslimische Prediger Izz ad-Din al-Qassam, wurde 1935 beim Versuch, einen bewaffneten Aufstand in Haifa zu starten, von britischen Soldaten getötet. An seiner Beerdigung nahmen Tausende von Personen teil, und Qassam wurde in der Bevölkerung als Märtyrer betrachtet. Im April 1936 wurde von arabischer Seite ein Generalstreik ausgerufen. 1937 begannen bewaffnete Aufstände gegen die britische Mandatsmacht. Die Briten verloren zeitweise die Kontrolle über Teile Jerusalems, Nablus’ und Hebrons. Insgesamt dauerte es rund 18 Monate, bis die Revolte von den Briten, unter Einsatz von zehntausenden Soldaten, niedergeschlagen war. Dabei wurden 5000 Aufständische getötet, 10.000 verwundet und bis 1939 wurden 5679 inhaftiert. Eine nicht näher bekannte Anzahl wurde ausgewiesen oder floh ins Exil. Insgesamt verlor die palästinensisch-arabische Bevölkerung rund 10 % ihrer erwachsenen männlichen Mitglieder. Der Aufstand war damit gescheitert und hatte empfindliche Folgen für die Position der arabischen Bevölkerung im Mandatsgebiet. Die palästinensische Wirtschaftskraft nahm wegen des Streiks rapide ab. Zur Finanzierung des Aufstands wurde oft unter Gewaltanwendung bei Landsleuten Geld eingetrieben und zum Teil auch veruntreut. Zur Bezahlung der Abgaben an die Aufständischen mussten viele arabische Grundbesitzer Land an jüdische Einwanderer verkaufen. Der jüdischen Bevölkerung ermöglichte der Streik die Durchsetzung des Baus eines modernen Hafens in Tel Aviv, somit war sie fortan unabhängig vom mehrheitlich arabisch kontrollierten Hafen in Jaffa. Außerdem bewaffnete die Mandatsmacht zur Bekämpfung der Rebellen rund 6000 jüdische Einwohner als paramilitärische Hilfspolizei („Notrim“), was den Grundstein für den Aufbau der israelischen Militärpolizei legte. Politisch endete der Aufstand in einer vollkommenen Sackgasse. Al-Husseini floh nach Beirut, da er sich im Verlauf des Aufstands zu dessen Führungsfigur aufgeschwungen hatte, und suchte Kontakt mit Vertretern des nationalsozialistischen Deutschlands. Dies führte zu einer offenen Kollaboration des Muftis mit dem Dritten Reich. Damit war er von den Geschehnissen in Palästina entfernt, behauptete aber dennoch seine politische Oberhoheit, indem er jeden potenziellen politischen Gegner als Verräter brandmarkte, was oft einem Todesurteil gleichkam. 1946 wurde das Arabische Hochkomitee mit Unterstützung der arabischen Liga unter Führung Husseinis rekonstituiert, auch wenn Husseini nicht nach Palästina zurückkehren konnte. Zweiter Weltkrieg Bei Ausbruch des Zweiten Weltkriegs versuchte die britische Regierung die palästinensischen Araber durch Zugeständnisse stärker an sich zu binden. Das britische Weißbuch von 1939, das den Aufbau eines vereinigten jüdisch-arabischen Staates binnen zehn Jahren anstrebte und eine Kontrolle der Einwanderung versprach, wurde sowohl von jüdischer Seite als auch von der palästinensischen Führung bekämpft. Als Reaktion auf die einschränkenden Vorschriften des Weißbuchs, wonach für einen fünfjährigen Zeitraum die Einwanderung von maximal 75.000 Juden nach Palästina gestattet war, erfolgte während des Zweiten Weltkriegs eine verstärkte illegale Einwanderung. Insgesamt scheiterten die britischen Bemühungen, durch Zugeständnisse die arabische öffentliche Meinung für sich zu gewinnen. In einer Meinungsumfrage im Mandatsgebiet vom Februar 1941 gaben 88 % der palästinensischen Araber an, sie hofften auf einen Sieg der Achsenmächte, und große Teile der arabischen politischen Führung, allen voran Husseini, kollaborierten offen mit NS-Deutschland durch öffentliche Propaganda zur Aushebung muslimischer Truppen der Waffen-SS. Infolgedessen stützte sich die britische Regierung bei der Aushebung von Militärverbänden in Palästina für den Fall einer deutschen Invasion auf den Jischuw und schuf mit dem Palmach sowie der Jüdischen Brigade die Keimzelle des späteren israelischen Militärs. Insgesamt dienten rund 26.000 jüdische Bewohner des Mandatsgebietes während des Weltkriegs in den britischen Streitkräften, während dies hingegen auf nur 12.000 arabische Bürger zutraf. Bürgerkrieg im Mandatsgebiet Die britische Regierung versuchte mehrmals, beide Konfliktparteien auf diplomatischem Wege zu einer Einigung zu bewegen. Die britische Peel-Kommission (11. November 1936 bis 7. Juli 1937) sowie ein anglo-amerikanisches Komitee (13. November 1945 bis 13. Mai 1946) arbeiteten Teilungspläne für das Mandatsgebiet aus. Diese wurden aber von beiden Parteien abgelehnt. Infolgedessen wandte sich die britische Regierung an die Vereinten Nationen, um mit einer bindenden Resolution eine Lösung zu erzwingen. Am 30. November 1947, einen Tag nach der Proklamation des UN-Teilungsplans für Palästina in der Resolution 181, begann der zionistisch-arabische Bürgerkrieg. Die israelische Seite hatte dem Teilungsplan zugestimmt. Die palästinensischen Araber sowie die arabischen Staaten wandten sich jedoch gegen die jüdische Staatsgründung und hatten bereits im Vorfeld des Konflikts mit Krieg gedroht. Eine Vertreterin des arabischen Hochkomitees für Palästina fasste die Erwartungen der arabischen Seite wie folgt zusammen: Auf der arabischen Seite stand die Armee des heiligen Krieges, die innerhalb der arabischen Bevölkerung unter der Federführung des Großmuftis al-Husseini von einem seiner Verwandten aufgestellt worden war. Sie wurde erst nach Ausbruch der Feindseligkeiten aufgestellt und umfasste mehrere tausend Mann. Aus der Vorkriegszeit verfügte der Mufti noch über eine Miliz, die Futuwa. Es gelang ihm, sie kurz vor Ausbruch des Krieges mit der konkurrierenden Miliz, der Najada, zu vereinigen. Beide Organisationen kamen zusammen auf 11.000 bis 12.000 Mitglieder. Rund ein Zehntel davon hatte in den Polizeieinheiten der Mandatsverwaltung gedient und verfügte somit über begrenzte militärische Erfahrung. Den arabischen Paramilitärs fehlte jedoch eine zentrale Führung. Auch formierten sich viele Milizeinheiten erst nach Kriegsausbruch mehr oder weniger spontan in den arabischen Siedlungen. Über den Grad ihrer Bewaffnung ist aufgrund des Mangels einer zentralen Erfassung, Registrierung und Führung wenig bekannt. Sie speiste sich vor allem aus dem privaten Waffenbesitz der Palästinenser. Anfang Dezember rief das Arabische Hochkomitee einen dreitägigen Generalstreik aus. Ab Januar 1948 sickerten Einheiten der Arabischen Befreiungsarmee aus Syrien nach Palästina ein. Diese umfasste rund 4000 Mann und wurde von der Arabischen Liga geführt, bewaffnet und finanziert. Die Liga konnte vor dem vollständigen britischen Rückzug keine Invasion durchführen, plante jedoch eine solche am Tag nach Abschluss des Rückzugs. Großmufti al-Husseini wollte eine Intervention anderer arabischer Streitkräfte verhindern, denn er befürchtete, dadurch selbst an Macht einzubüßen. Als Führer der Arabischen Befreiungsarmee hatte die Arabische Liga einen erklärten Gegner des Muftis, den syrischen Ex-Wehrmachtsangehörigen Fausi al-Kawukdschi, bestimmt. Neben dem Ziel, die Gründung eines jüdischen Staates zu verhindern, diente die Aufstellung der Befreiungsarmee auch der Einschränkung des politischen Einflusses des Großmuftis. Al-Husseini forderte von den arabischen Staaten Waffenlieferungen und finanzielle Unterstützung, was von der Arabischen Liga aber nur in vernachlässigenswerten Mengen erfolgte. Die Palästinenser sowie Syrien und Ägypten rekrutierten eine Handvoll deutscher und bosniakischer Weltkriegsveteranen als Söldner. Diese fielen aufgrund ihrer geringen Zahl jedoch nicht nennenswert ins Gewicht. Der Jischuw hatte unter der Ägide der Jewish Agency ein schlagkräftiges Netz von Paramilitärs und Milizen aufgebaut. Ihre Dachorganisation, die Hagana, umfasste drei Unterorganisationen, die sich nach ihrem militärischen Bereitschaftsgrad unterschieden. Als Eliteeinheit diente der Palmach. Er umfasste 2100 de facto Berufssoldaten und 1000 Reservisten, die ähnlich intensiv ausgebildet worden waren. Die Feldtruppen (hebr. Ḥel Sadeh) umfassten 2000 Aktive, die, von einem Pool aus 10.000 Zivilisten im Alter von 18 bis 25 Jahren unterstützt, in ihrer Freizeit ausgebildet wurden und für den Kriegsfall trainierten. Komplettiert wurde diese Aufstellung durch sogenannte Wachtruppen (hebr. Ḥel Mischmār). Diese umfassten auf ihrem Höhepunkt rund 20.000 Milizionäre, die vor allem zur Verteidigung ihrer Siedlungen und Wohnorte vorgesehen und ausgebildet waren. Sie bestanden aus Männern über 25 Jahren und Frauen. Die Aktivitäten der verschiedenen Verbände der Hagana wurden von einem im Geheimen operierenden Generalstab geleitet. Diesem gehörten rund 400 in Vollzeit angestellte Mitarbeiter an. Neben der Hagana gab es noch zwei weitere paramilitärische Gruppierungen, Irgun und Lechi. Sie waren viel kleiner. Erstere umfasste rund 2000 bis 4000 Mitglieder, Letztere kam nur auf 500 bis 800. In die erste Etappe des Krieges fiel die Aufrüstung der jüdischen Paramilitärs. Die Hagana als größte dieser Organisationen verfügte 1947 über 10.000 Gewehre, 1900 Maschinenpistolen und insgesamt rund 630 Maschinengewehre. Panzer, gepanzerte Fahrzeuge, Panzerabwehrkanonen, Flakartillerie sowie moderne Kommunikationsausrüstung waren gar nicht vorhanden. Die Luftwaffe bestand aus elf Zivilmaschinen. Die Hagana konnte aufgrund dieser Mängel nur jedes dritte Mitglied bewaffnen. Die anderen paramilitärischen Verbände waren sogar noch schlechter mit Waffen ausgerüstet. Die Führung der jüdischen Gemeinde unter Ben-Gurion war sich wohl bewusst, dass sie damit nicht für einen Krieg gerüstet war. Da die USA, Großbritannien und Frankreich das Waffenembargo an die potenziellen Konfliktparteien einhielten, versorgten sich die jüdischen Paramilitärs mit Zustimmung der Sowjetunion aus Beständen des sich formierenden Ostblocks. Im Dezember 1947 wurde der erste Vertrag abgeschlossen, wonach die Tschechoslowakei 10.000 Gewehre, 4500 schwere Maschinengewehre sowie drei Millionen Schuss Munition an Israel liefern sollte. Aufgrund mangelnder Kooperation und Organisation der arabischen Milizen fiel es der Hagana leicht, den neuerlichen Aufstand der palästinensischen Araber niederzuschlagen. Bis zum April 1948 blieb die Hagana vornehmlich defensiv und beschränkte sich auf Vergeltungsaktionen gegen Siedlungen, aus denen Guerillaangriffe durchgeführt worden waren. Nach der erfolgreichen Aufrüstung der Hagana begann mit der Operation Nachschon die planmäßige Offensive gegen die arabischen Guerillakämpfer. Ziel war es, eine Route in das von arabischen Verbänden besetzte Jerusalem freizukämpfen, was am 4. April gelang. Drei Tage zuvor hatte ein Nachrichtenoffizier mit Kawukdschi ausgehandelt, dass die Arabische Befreiungsarmee den Truppen des Großmuftis nicht zu Hilfe eilen würde. Wenige Tage später wurde ihr Befehlshaber Abd al-Qadir al-Husaini, ein Neffe des Großmuftis, getötet. Damit verloren dessen Truppen ihren fähigsten und bekanntesten Befehlshaber und lösten sich nach und nach auf. Infolge des Zusammenbruchs der bewaffneten palästinensischen Kräfte konnten jüdische Truppen weite Teile des Landes unter ihre Kontrolle bringen; die ersten Palästinenser flohen aus ihren Wohnorten. Die Hagana konnte zwar die arabischen Paramilitärs nicht komplett aufreiben, jedoch mit Haifa und Jaffa die zwei wichtigsten urbanen Zentren der palästinensischen Araber erobern. Während des Bürgerkriegs wurden von beiden Seiten keine Gefangenen gemacht, da keine Mittel für die Bewachung bereitstanden: Wer sich ergab, wurde einfach erschossen. Auf beiden Seiten kam es zu Übergriffen und mitunter gezielter Tötung von Zivilisten. Das von Kämpfern der Irgun und Lechi begangene Massaker von Deir Yasin trug zur Panik und Flucht der palästinensischen Bevölkerung bei. Die Führung der Hagana versuchte diese Panik noch durch psychologische Kriegsführung in strategisch wichtigen Regionen mit arabischer Bevölkerung zu verstärken, um vor dem erwarteten Einmarsch arabischer Armeen ein sicheres Hinterland zu haben. So berichtete Generalmajor Yigal Allon: Der Angriff der Arabischen Befreiungsarmee endete in einem Debakel, nachdem die Truppen bei Mischmar haEmek am 4. April entscheidend geschlagen worden und die drusischen Verbündeten desertiert waren. Damit scheiterte der Versuch der arabischen Staaten, die palästinensischen Guerillakämpfer durch regulär ausgerüstete Freiwillige zu unterstützen. Unabhängigkeitserklärung Israels und Invasion der arabischen Armeen Am 14. Mai 1948 erklärte Ben-Gurion die Unabhängigkeit Israels, als das britische Mandat offiziell endete. Die USA erkannten den neuen Staat noch am selben Tag an. Die Sowjetunion folgte am 17. Mai. Die arabischen Staaten hatten sich bereits am 30. April bei einem Gipfeltreffen der Staatschefs darauf geeinigt, im Falle des britischen Rückzugs mit regulären Kräften in den Krieg einzugreifen. Offensiven der arabischen Staaten Jordanische Offensive Jordanien verfügte mit der Arabischen Legion unter dem Befehl von Glubb Pascha über ein nach britischen Standards aufgebautes Militär mit rund 9000 Soldaten, denen noch 1200 irreguläre Hilfskräfte zur Seite standen. Nachdem sich am 13. Mai 1948 Truppen der Arabischen Legion an einem Massaker in der jüdischen Siedlung Kfar Etzion auf dem Weg von Jerusalem nach Hebron beteiligt hatten, wobei 129 Menschen erschossen wurden und insgesamt 157 Menschen starben, rückten am 15. Mai die Hauptelemente der Legion über die Allenby-Brücke in Palästina ein. Der König war persönlich anwesend. Tage zuvor waren bereits kleinere Einheiten auf palästinensisches Territorium eingesickert. Das Ziel Abdullahs war nicht die Zerstörung des neuentstandenen jüdischen Staates, sondern die Besetzung eines möglichst großen Teils der nach der Teilungsresolution den Palästinensern zustehenden Gebiete. Jerusalem sollte dabei nicht angegriffen werden. Auf Drängen von arabischen Notablen Jerusalems änderte Abdullah schon am 17. Mai seine Meinung und befahl den Angriff auf den jüdischen Teil der Stadt. Der Legion gelang es, in Häuserkämpfen das belagerte Jüdische Viertel der Jerusalemer Altstadt zu erobern. Die Legion erlaubte nach Kapitulationsverhandlungen den Abzug der jüdischen Zivilbevölkerung und nahm die verbliebenen Verteidiger gefangen. Das Viertel wurde im Anschluss vollständig zerstört inklusive jüdischer Sakralbauten, unter anderem der Hurva-Synagoge. Die Zivilisten und Kriegsgefangenen wurden von der Legion mit Gewalt gegen Übergriffe von Palästinensern verteidigt. Darüber hinaus übernahmen Truppen der Legion die Stellungen um Latrun mit der stark befestigten Polizeistation von Einheiten der Arabischen Befreiungsarmee. Von Latrun aus konnten sie die Straße von Tel Aviv nach Jerusalem kontrollieren. Das israelische Westjerusalem war infolgedessen von Versorgung und Nachschub abgeschnitten. Somit waren rund 100.000 jüdische Einwohner Jerusalems und damit ein erheblicher Anteil des Jischuw von feindlichen Kräften eingeschlossen und besonders wegen der knappen Munitionsvorräte vom Zusammenbruch der Verteidigung bedroht. So befahl Ben-Gurion gegen den Willen des örtlichen Befehlshabers Jigael Jadin, der die militärische Lage besser einschätzen konnte, bis zum 9. Juni dreimal einen Sturmangriff israelischer Truppen gegen Latrun. Alle Angriffe scheiterten verlustreich. Die arabische Legion konnte die Stellungen halten. Zur Umgehung von Latrun und Bab el Wad wurde zugleich südlich davon im unwegsamen Gelände des Judäischen Berglands, das nicht von Arabern kontrolliert wurde, von Pioniereinheiten die Burma Road gebaut und am 10. Juni fertiggestellt. Diese Ausweichstraße nach Jerusalem wurde durch eine Wasserpipeline ergänzt. Damit konnten die Israelis die zivile wie militärische Versorgung Westjerusalems wiederherstellen. Die restliche Zeit des Krieges blieben die jordanischen Einheiten strikt defensiv. König Abdullah hatte seine begrenzten Ziele erreicht. Außerdem litt die Legion unter einer massiven Munitionsknappheit, da die westlichen Staaten ein Embargo über den Nahen Osten verhängt hatten. Im August 1948 besaß die Legion nur noch Artilleriemunition für rund fünf Kampftage. Irakische Offensive Bereits vor Kriegsausbruch waren irakische Militäreinheiten auf dem Gebiet von Transjordanien stationiert. Am 15. Mai setzte eine Brigade mit einem Panzerbataillon unabhängig von der Arabischen Legion über den Jordan; sie griff erfolglos den Kibbuz Gescher an und setzte dann wieder auf jordanisches Territorium über, um sich neu zu formieren. Kurz darauf übernahm die Einheit die Kontrolle über das arabisch bewohnte Dreieck zwischen Tulkarm, Nablus und Dschenin. Dieses Gebiet war vorher nur von einigen wenigen Einheiten der Arabischen Befreiungsarmee behauptet worden. Es war strategisch wichtig, denn es war das ideale Sprungbrett, um zum Mittelmeer vorzustoßen und somit den Staat Israel in zwei Teile zu trennen. Die irakischen Truppen wurden laufend verstärkt, sodass sie auf ihrem Höhepunkt rund 15.000 bis 18.000 Mann umfassten. Ein israelischer Angriff der Golani- sowie Carmelibrigade auf Dschenin scheiterte nach schweren Kämpfen am 28. Mai. Daraufhin blieben die irakischen Truppen passiv, da keine weiteren Befehle aus Bagdad eintrafen. Ägyptische Offensive Die ägyptische Regierung sandte eine rund 10.000 Mann starke Expeditionsstreitkraft in die Kämpfe um Palästina. Sie bestand aus fünf Infanteriebataillonen und einem Panzerbataillon, ausgerüstet mit britischen Fahrzeugen vom Typ Light Tank Mk VI und Matilda. Darüber hinaus kamen 24 teils schwere Geschütze, ein Maschinengewehrbataillon sowie noch einige Einheiten Kampfunterstützungstruppen. Die regulären Einheiten wurden dabei zusätzlich von rund 2000 Freiwilligen unterstützt, vorwiegend Mitgliedern der Muslimbruderschaft, die bereits vor Kriegsausbruch in das Mandatsgebiet eingesickert waren. Der Befehlshaber der ägyptischen Expeditionstruppen Generalmajor Ahmed Ali al-Mwawi plante zwei Hauptstoßrichtungen. Der kleinere Teil sollte durch die Negevwüste über Be’er Scheva auf Jerusalem vorrücken. Dieser Vorstoß erreichte am 23. Mai Ramat Rachel am südlichen Stadtrand von Jerusalem und wurde erst dort von israelischen Truppen zum Stehen gebracht. Der größere Teil der ägyptischen Streitkräfte unter dem Kommando von Al-Mwawi sollte entlang der Küste auf Tel Aviv vorrücken und traf unterwegs auf entschlossenen Widerstand in den jüdischen Siedlungen. Zwar konnten die Kämpfer in Nirim und Kefar Darom dem Vormarsch der Ägypter nicht standhalten, aber bei Jad Mordechai, auf der Küstenstraße gleich hinter dem heutigen Gazastreifen gelegen, wurden die angreifenden Truppen fünf Tage lang, vom 24. bis 29. Mai aufgehalten, bevor sich die Verteidiger schließlich zurückzogen. In dieser Zeit konnten die israelischen Kräfte wesentlich verstärkt werden. Auch einige weitere jüdische Siedlungen konnten erobert werden. Der Kibbuz Nitzanim zwischen Aschkelon und Aschdod, der heftigen Widerstand leistete, wurde umgangen und die ägyptischen Truppen setzten ihren Vormarsch weiter fort. In Höhe von Aschkelon gelang sogar ein Vorstoß nach Osten, der einen Korridor als Verbindung zu den Truppen südlich von Jerusalem herstellte. Dadurch wurden zwei israelische Brigaden im Negev abgeschnitten. Der Vormarsch von Al-Mwawis Einheiten wurde schließlich nördlich von Aschdod an einer gesprengten Brücke von Teilen der Giv’ati-Brigade aufgehalten. Zufällig war diese Frontlinie des weitesten Vordringens auf Tel Aviv identisch mit der Demarkationslinie des UN-Teilungsplanes, hinter der das dem jüdischen Staat zugesprochene Territorium beginnen sollte. Die ägyptischen Kräfte waren zu diesem Zeitpunkt auf rund 2500 Mann zusammengeschrumpft. Dies sowie der erstmalige Einsatz von aus der Tschechoslowakei importierten Avia S-199-Jagdflugzeugen, einem modifizierten Nachbau der deutschen Messerschmitt Bf 109, sowie von zwei leichten Geschützen durch die Israelis konsolidierten den Frontverlauf. Al-Mwawi, der eine zu exponierte Stellung seiner Truppen befürchtete, übergab das Kommando bei Aschdod an Brigadegeneral Muhammad Nagib. Er selbst leitete persönlich die Operation zur Ausräumung der umgangenen Siedlung Nitzanim und anderer verbliebener israelischer Widerstandsnester im Rücken der ägyptischen Front und konnte sie um den 7. Juni erfolgreich abschließen. Syrische Offensive Syrien hatte schon vor dem offiziellen Ausbruch des Krieges die Arabische Befreiungsarmee mit Soldaten und Kriegsmaterial unterstützt. Am 14. Mai rückten die ersten syrischen Truppen südlich des See Genezareth in das ehemalige Mandatsgebiet ein. Der ursprüngliche Plan war eine begrenzte Offensive, um einen möglichst großen Teil Galiläas zu besetzen und abzutrennen. Das öffentlich nicht eingestandene Hauptziel der Regierung war dabei nicht die Unterstützung der pan-arabischen Kriegsziele, sondern die Erlangung eines territorialen Faustpfandes gegen eine mögliche jordanische Expansion auf palästinensischem Territorium. Die Regierung unter Quwwatli hatte die Streitkräfte in der Vorkriegszeit bewusst zahlen- und ausrüstungsmäßig klein gehalten, um einem Putsch vorzubeugen. Infolgedessen schätzte die politische Führung die Chance eines entscheidenden Beitrags zu einem möglichen Sieg als sehr gering ein. Die Syrer errichteten schon vor dem Krieg ein Nachschubdepot nahe einer Brücke nördlich des Sees, um den Israelis einen Hauptangriff nördlich des Sees vorzutäuschen. Die Täuschung gelang und Israel konzentrierte seine mobilen Einheiten nördlich des Sees. Die syrische Expeditionsarmee südlich des Sees umfasste eine Infanteriebrigade, ein Bataillon Panzerwagen und eine Kompanie Panzer des Typs Renault R-35 und Renault R-37. Am 18. Mai eroberten die syrischen Truppen das Dorf Zemach südlich des Sees. Sie versuchten in den folgenden Tagen, die beiden Kibbuzim Degania Aleph und Bet zu erobern. Die zahlenmäßig unterlegenen israelischen Truppen konnten jedoch, verstärkt durch eine Batterie 65-mm-Haubitzen, die Angriffe abwehren. Die Syrer zogen sich daraufhin wieder auf Zemach zurück. Am 22. Mai zerstörte ein israelisches Kommandounternehmen das nördliche Nachschublager. Dadurch wurde die nördliche Offensive, welche die syrische Armee nach dem Rückzug im Süden starten wollte, verzögert. Am 6. Juni rückte eine zweite Brigade, wieder unterstützt durch Panzer, nördlich des Sees vor. Ihr gelang es am 10. Juni, die Siedlung Mishmar haYarden zu erobern. Der weitere Vormarsch nach Westen scheiterte aber an israelischem Widerstand. Die Syrer hatten somit ihre ursprünglichen Ziele nicht erreicht, aber zwei Brückenköpfe im Westjordanland errichten können. Erste Waffenruhe Bereits am 22. Mai forderte der UN-Sicherheitsrat eine zweitägige Waffenruhe sämtlicher Kriegsparteien. Die israelische Seite signalisierte Zustimmung, die arabischen Staaten lehnten jedoch ab, da sie sich einen Sieg erhofften. Am 25. Mai beauftragte der Sicherheitsrat Graf Folke Bernadotte und Ralph Bunche als Vermittler zwischen den verfeindeten Parteien. Vier Tage später forderte der Sicherheitsrat erneut einen, diesmal vierwöchigen Waffenstillstand. Darüber hinaus wurde ein Waffenembargo über beide Seiten verhängt, ebenso ein Einreiseverbot für Menschen, die sich den Kampfhandlungen anschließen wollten. Die Waffenstillstandsforderung wurde von arabischer Seite wiederum abgelehnt. Das Hauptmotiv der arabischen Staatsführer fasste der libanesische Premierminister Riad as-Solh folgendermaßen zusammen: „Jeder arabische Führer, der den Waffenstillstand bedingungslos akzeptiert hätte, […] hätte dies im gegenwärtigen Zustand der öffentlichen Meinung unter Gefahr seines Lebens getan.“ Die arabischen Regierungen gaben nur Berichte über erfolgreiche Kampfhandlungen an ihre Medien weiter, so dass die Bevölkerung zu großen Teilen der Überzeugung war, der Krieg verlaufe für die beteiligten arabischen Nationen vorteilhaft. Der innenpolitische Druck auf die arabischen Regime wurde noch dadurch verstärkt, dass die muslimischen religiösen Führer, allen voran die al-Azhar-Universität, die Auseinandersetzung mit Israel durch Fatawa als Dschihad propagierten und so die völlige Vernichtung des jüdischen Staates als heiligen Krieg und muslimische Glaubenspflicht forderten. Dies taten sie nicht nur vor dem offiziellen Kriegseintritt der arabischen Staaten, sondern hielten diese Forderung auch nach dem Krieg aufrecht. Auf israelischer Seite sprach sich das höhere Offizierskorps einhellig für einen Waffenstillstand aus, um die Armee weiter aufzurüsten und eine Atempause zu gewinnen. Bernadotte und Bunche gelang es schließlich, beide Seiten zu einem Waffenstillstand zu bewegen, welcher ab dem 11. Juni 1948 einzuhalten war. Die arabischen Regierungen waren sich darüber klar geworden, dass ihre Armeen ebenso eine Ruhepause benötigten wie die israelischen Streitkräfte. Außerdem nutzten sie das Eingreifen der Großmächte im Rahmen der UN, um sich selbst vor ihrer Öffentlichkeit von der Verantwortung für den Kriegsverlauf freizusprechen. Die israelische Armee nutzte die auf vier Wochen anberaumte Waffenruhe, um ihre Streitmacht zu verstärken. Vom 14. Mai bis zum 9. Juni stieg die Zahl der aktiven Soldaten von 35.000 auf 65.000 an. Darunter befanden sich zahlreiche Veteranen aus dem Zweiten Weltkrieg, vor allem aus den USA, der Tschechoslowakei, Großbritannien und Kanada. Außerdem gelang es den Israelis, große Mengen an Waffen und militärischem Gerät an der ineffizienten Embargoaufsicht der UN vorbeizuschmuggeln. Dieses Material stammte von illegalem, informellem Handel mit Privatpersonen wie auch dem Ostblock, der das Embargo missachtete. Die Hagana und später die israelischen Streitkräfte konnten dabei auf Netzwerke von Funktionären und Lobbyisten der Jewish Agency aus der Vorkriegszeit zurückgreifen. Die Waffen wurden meist demontiert über den Seeweg eingeführt. Die sowjetische Regierung genehmigte den Waffenverkauf. Die Käufe im anglo-amerikanischen Raum mussten illegal abgewickelt werden. Infolgedessen überwogen die Einkäufe aus dem Ostblock. Insgesamt erreichten rund 25.000 Gewehre, 5000 Maschinengewehre und 50 Millionen Schuss Munition Israel (siehe Operation Balak). Die Luftwaffe wurde durch Avia S-199 aus der Tschechoslowakei und drei Boeing-B-17-Bomber verstärkt. Ebenso wurden Artillerie und gepanzerte Fahrzeuge illegal eingeführt. Durch die Schaffung der 8. (gepanzerten) Brigade und der 9. Brigade erhöhte die israelische Armee ihre Stärke auf insgesamt sieben Brigaden. Die arabische Seite war vor dem Krieg vor allem von britischen und französischen Waffen- und Munitionslieferungen abhängig gewesen, die mit dem Embargo schlagartig entfielen. Da sie keine Verkäufer fanden, um das Embargo erfolgreich zu umgehen, konnten die arabischen Staaten ihre Armeen nur personell wiederverstärken. Mit Ausnahme einiger weniger sudanesischer Soldaten gelang es ihnen auch nicht, bisher nicht am Konflikt beteiligte Ausländer für ihr Militär zu gewinnen. Der Waffenstillstand erwies sich insgesamt als brüchig, da beide Seiten ihn mitunter brachen, um einen taktischen Vorteil für die Wiederaufnahme der Feindseligkeiten zu gewinnen. So beschossen arabische Soldaten israelische Konvois zu isolierten Siedlungen, und die israelischen Truppen nutzten die Zeit für nadelstichartige Angriffe. Am 6. Juli entschieden sich die Staaten der arabischen Liga in Kairo für eine Nichtverlängerung des Waffenstillstands. Jordanien, das seine territorialen Ambitionen bereits verwirklicht hatte, drängte als einziges Land auf eine Verlängerung. Der jordanische Abgesandte stimmte wegen der Haltung der anderen Staaten aber dann trotzdem für die Wiederaufnahme des Krieges. Der Krieg der zehn Tage Ägyptische Front Im Süden planten die israelischen Streitkräfte eine Offensive, um die ägyptische Territorialbrücke zwischen dem Negev und dem Rest Israels zu durchbrechen. Die Ägypter kamen aber am 8. Juli den Israelis zuvor und starteten ihrerseits einen Präventivschlag, um die israelische Offensive zu verhindern und die Territorialbrücke zwischen Madschdal und Beit Dschibril zu festigen und so den Druck auf die israelischen Truppen im Negev weiter voranzutreiben. Die Kämpfe kulminierten um den Kibbuz Negba, der von nur rund 100 israelischen Soldaten verteidigt wurde. Der Kibbuz konnte gehalten werden, trotz des Einsatzes von rund 4000 Artillerie- und Mörsergranaten von ägyptischer Seite. Die Kämpfe erschöpften sich schließlich bis zum neuerlichen Waffenstillstand am 18. Juli in Einzelaktionen, bei denen keine Seite einen entscheidenden Vorteil erzielen konnte. Die ägyptische Armee war ausgezehrt und litt immer mehr unter Munitionsmangel. Ihr Befehlshaber Al-Mwawi sah sie nach den zehn Tagen nicht mehr fähig zur Offensive und beschrieb die militärische Situation gegenüber seinen Vorgesetzten in Kairo als düster. Der ägyptische General forderte vom Oberkommando in Kairo die Erlaubnis, seine Truppen auf günstigere Verteidigungslinien zurückzunehmen. Dies wurde jedoch aus politischen Gründen abgelehnt. Nördliche Front In Galiläa operierte immer noch die Arabische Befreiungsarmee, während die syrische Armee immer noch den Brückenkopf bei Mischmar Ha'Yarden hielt. Den israelischen Verbänden gelang es im Rahmen der Operation Dekel, die vom 8. bis 18. Juli von der 7. Panzerbrigade, einem Bataillon der Carmeli-Brigade sowie Teilen der Golani-Brigade durchgeführt wurde, die verbliebenen Einheiten der Befreiungsarmee in die Flucht zu schlagen. Al-Kawukdschi selbst hatte versucht, seine Einheiten durch die Rekrutierung von Männern aus den umliegenden Dörfern zu verstärken, traf jedoch auf wenig Resonanz. Die israelische Seite dagegen konnte viele drusische Dörfer zur Kooperation bewegen, deren Einwohner ihre Waffen behalten durften. Innerhalb der arabischen Stadtbevölkerung hatte die Arabische Befreiungsarmee wenig Rückhalt, da sie oft Übergriffe auf die Städter zu verantworten hatte. Christliche Araber waren diesen im verstärkten Maße ausgesetzt. Am 16. Juli rückten israelische Truppen kampflos in Nazareth ein, dessen Notablen vorher kapituliert hatten. Al-Kawukdschi verlegte sein Hauptquartier im Zuge der Operationen in den Südlibanon, seine Armee spielte im weiteren Verlauf keine Rolle mehr. Die Versuche der israelischen Armee, den syrischen Brückenkopf zu beseitigen, scheiterten am syrischen Widerstand. Die libanesische Regierung hatte zwar gegenüber der arabischen Liga einen Kriegseintritt zugesichert, der Offizier, der den bevorstehenden Angriff leiten sollte, weigerte sich jedoch, die Befehle zu befolgen. Es blieb bei kleineren Aufklärungsoperationen ohne signifikante Kampfhandlungen. Die Regierung entschied angesichts der mangelnden Leistungsfähigkeit der Streitkräfte und des Unwillens der maronitischen Bevölkerungsgruppe, statt gegen Israel in den Krieg zu ziehen, die eigene Armee in der Defensive zu halten. Jordanische Front König Abdullah hatte vor dem Ablauf des Waffenstillstands die israelische Regierung in einer Geheimbotschaft benachrichtigt, dass er den Krieg beenden wolle. Dies tat er im Gegensatz zu seinen Verlautbarungen vor der Arabischen Liga, den Krieg weiterzuführen. Die israelische Seite hielt dies für eine Finte und erwartete eine Offensive seitens der Arabischen Legion gegen Tel Aviv. Als Sprungbrett machte die israelische Militäraufklärung den Raum zwischen Lydda und Ramla aus, wo sie fälschlicherweise 1500 Soldaten der Legion vermutete. Die israelische Armee stellte mit drei Brigaden (Harel, Yiftah, 8. gepanzerte Brigade) ihre Elitestreitkräfte für diese Aufgabe ab. In Wahrheit ging Glubb längst davon aus, dass die Ebene zwischen den beiden Städten nicht gehalten werden konnte. Infolgedessen befanden sich dort nur 150 Legionäre, unterstützt von lokalen Milizen. Glubb sah es als sein Hauptziel an, das bereits besetzte, hügelige Judäische Bergland der West Bank zu verteidigen. König Abdullah wies Glubb ausdrücklich an, defensiv zu bleiben und sozusagen nur einen Scheinkrieg zu führen. Diese Strategie wurde neben politischen Überlegungen auch vom sich verschlimmernden Munitionsmangel der Legion diktiert. Die israelische Seite plante ihrerseits einen Vorstoß gegen Lydda und Ramla, der über Latrun und Ramallah führen sollte. Das Ziel war die Eröffnung einer zweiten Route, neben der Burma-Road nach Jerusalem. Diese als Operation Dani bezeichnete Offensive startete am 10. Juli. Am selben Tag eroberten israelische Kräfte Lydda, Ramla zwei Tage später. Damit gelangte der bisher von den Arabern kontrollierte Internationale Flughafen Tel Aviv unter israelische Kontrolle. Die Fronten versteiften sich, als Glubb seine Reserven in den Kampf schickte. Der israelische Angriff auf Latrun scheiterte am 16. Juli. Die Israelis gaben infolgedessen das Ziel der Eroberung Latruns und Ramallahs auf. Die Arabische Legion wurde durch die Offensive jedoch ernsthaft in ihrer Kampffähigkeit eingeschränkt. Ein Viertel der Legion waren seit dem Einmarsch gefallen, und die Munitionskrise verschärfte sich mit jedem Kampftag. Infolge der israelischen Eroberungen, die mit einem weiteren Exodus von Palästinensern einhergingen, kam es zu Demonstrationen gegen König Abdullah in Amman. Glubb Pascha wurde gegenüber anderen Regierungen der arabischen Liga aus Propagandazwecken als britischer Spion verunglimpft. Abdullah selbst erhob zwar keine Spionagevorwürfe, versuchte jedoch Glubb als Person die Schuld am Fall von Lydda aufzubürden. Zweite Waffenruhe Am 15. Juli verlangten die Großmächte einstimmig im UN-Sicherheitsrat eine erneute Waffenruhe. Diese wurde in der UN-Resolution vom 18. Juli 1948 proklamiert und blieb bis zum 15. Oktober in Kraft. Die arabischen Staatschefs waren einerseits aufgrund der prekären militärischen Lage einem Waffenstillstand zugeneigt: Die britische Regierung beurteilte die Lage Jordaniens als so gefährdet, dass sie Waffen und anderes Kriegsmaterial von ihren Basen am Suez-Kanal nach Amman bringen ließ, um im Falle eines israelischen Vorstoßes in das jordanische Staatsgebiet die Armee von König Abdullah zu unterstützen. Die arabische öffentliche Meinung hingegen betrachtete den Druck des Sicherheitsrats als eine Zurücksetzung der arabischen Seite. Die libanesische Tageszeitung Al-Hayat etwa kommentierte die Resolution folgendermaßen: „Keine Gerechtigkeit, keine Logik, kein Recht, keine Gleichheit, kein Verständnis, sondern blinde Unterwerfung unter alles Zionistische.“ Die arabischen Regierungen hatten diese Kriegswilligkeit im bisherigen Verlauf des Krieges indirekt befördert. Sie betrieben gegenüber ihren Medien und ihrer Bevölkerung eine bewusste Desinformationspolitik, welche die militärische Situation realitätswidrig in einem sehr guten Licht erscheinen ließ. Die israelische Seite hoffte durch den Waffenstillstand eine Atempause für eine weitere Aufrüstung zu gewinnen. Gleichzeitig fürchtete die israelische Regierung den Unmut der Großmächte, denn sie war davon überzeugt, dass die zukünftige Existenz des Staates vom Wohlwollen beziehungsweise der Neutralität der Großmächte abhängen würde. Während der Waffenruhe fanden keine nennenswerten Kampfhandlungen zwischen den israelischen Streitkräften und den regulären arabischen Armeen statt. Auf israelisch kontrolliertem Territorium kam es jedoch vereinzelt zu bewaffneten Angriffen von Palästinensern auf Soldaten und Zivilisten südlich von Haifa. Die Dörfer, aus denen die Angriffe gestartet wurden, lehnten eine Kapitulation gegenüber den Israelis ab. Infolgedessen bombardierten die israelischen Streitkräfte mehrere Dörfer und sprengten zahlreiche Häuser. Die Mehrheit der Bewohner floh auf arabisch kontrolliertes Gebiet. Einige Hundert wurden vertrieben. Beide Seiten nutzten die Kampfpause, um ihre Streitkräfte zu verstärken. Die ägyptische Armee erhielt Unterstützung durch drei Bataillone der saudischen Armee. Die jordanische Armee schaffte es, die Verluste der Arabischen Legion durch neue Rekruten zu ersetzen. Die irakischen Expeditionstruppen wurden durch zusätzliche Einheiten aus ihrem Heimatland verstärkt. Ebenso nutzten die Einheiten vor Ort die Zeit zum Bau von Feldbefestigungen. Die israelischen Streitkräfte konnten durch den Zustrom von Freiwilligen aus dem Ausland und die Rekrutierung von kürzlich angekommenen Einwanderern ihre Stärke um 20.000 Mann auf 85.000 Soldaten erhöhen, und es gelang ihnen, sich durch Umgehung des Embargos Waffen aus dem Ausland zu beschaffen. Jigael Jadin kam im Oktober 1948 zu dem Schluss, dass nun die typische Infanterieeinheit über mehr Feuerkraft als ihr arabisches Gegenstück verfüge. Die israelische Artillerie war von fünf Geschützen auf rund 150 angewachsen. So gelang es den Israelis, den Waffenstillstand effektiver zu nutzen als ihre arabischen Gegenspieler. Nach Ablauf des Waffenstillstands ermordeten israelische Terroristen der Lechi den UN-Chefvermittler Folke Bernadotte. Die vier Mörder wurden nie gefasst. Die israelische Regierung reagierte mit der Auflösung der Lechi. Allerdings wurden ihre paramilitärisch-organisierten Mitglieder nicht gefangen gesetzt, sondern in die israelischen Streitkräfte integriert. Israelische Offensiven bis Kriegsende Zerschlagung der ägyptischen Streitkräfte Der ägyptische Oberbefehlshaber al-Mwawi betrachtete die Lage des Expeditionskorps als sehr prekär. Seine Einheiten waren in die Defensive gezwungen und Mwawi befürchtete, sie könnten bei einem israelischen Durchbruch durch den Streifen, der den Negev vom israelischen Kernland abriegelte, oder bei einem Durchbruch zur Küste abgeschnitten werden. Die israelische Führung war sich zwar dessen bewusst, sah aber ihre eigene Lage als ebenso bedroht. Die Ägypter hielten noch immer große Teile Palästinas und bedrohten das israelische Kernland von Tel Aviv bis Jerusalem. Ben-Gurion fürchtete, dass sich die jetzigen Stellungen als Grenzen des neugegründeten Staates erweisen würden. Ebenso sah er eine Verlängerung des Waffenstillstands als Gefahr, da der Großteil der israelischen materiellen und menschlichen Kräfte in die Kriegsführung gebunden war, während die arabischen Staaten – gemessen an ihrer Gesamtgröße – nur einen geringen Militarisierungsgrad aufwiesen. Ben-Gurion und das Kabinett beschlossen am 6. Oktober den Angriff auf das ägyptische Expeditionskorps mit dem Ziel, die ägyptische Armee in die Flucht zu schlagen und somit eine erste arabische Kriegspartei aus dem Konflikt zu werfen. Dabei setzte Ben-Gurion der Armeeführung einen sehr knappen Zeitrahmen von sieben Tagen, da er nicht damit rechnete, einen neuen Waffenstillstand länger verhindern zu können. Das israelische Oberkommando war sich anfangs über die Durchführung der Offensive uneins. Generalstabschef Yadin sah Frontalangriffe auf Gaza und Madschdal vor. Der Oberkommandierende der Südfront Jigal Allon sprach sich für eine Anwendung der indirekten Methode aus. Ihm schwebte vor, die Straßen- und Kommunikationsverbindungen zwischen den ägyptischen Einheiten aufzubrechen und sie nach und nach zu zerstören. Beim schließlich erzielten Kompromiss konnte Allon die meisten seiner Ideen durchsetzen. Zwei israelische Brigaden sollten von Norden her angreifen. Die Negev-Brigade und eine weitere Brigade sollten aus der eigentlich eingeschlossenen Enklave im Negev von Süden gegen die Ägypter vorgehen. Zu diesem Zweck ließ das israelische Oberkommando eine ganze Brigade über den Land- und Luftweg, von den Ägyptern unbemerkt, in den Negev einsickern. Obwohl sich das ägyptische Oberkommando im Klaren war, dass ein israelischer Angriff bevorstand, gelang es der israelischen Luftwaffe bereits am ersten Tag der Operation, dem 15. Oktober, das Flugfeld in El-Arisch auszuschalten, womit sie sich die Luftherrschaft für die Dauer der Operation sicherte. Vor den Luftangriffen hatten ägyptische Streitkräfte einen israelischen Konvoi beschossen, dessen Auftrag lautete, sich einer solchen Attacke auszusetzen, um einen Anlass zum Angriff zu liefern. Tags darauf begannen die Bodenoperationen der israelischen Armee, und gleich am ersten Tag gelang es ihr, die Blockade der Küstenstraße zwischen Gaza und Madschdal zu durchbrechen. Die nördlichen Elemente des ägyptischen Expeditionskorps konnten sich aber vor der Einkesselung retten. Dabei legten ägyptische Pioniere eine kilometerlange Straße aus Drahtnetzen durch die Sanddünen an der Küste, um einen geordneten Rückzug möglich zu machen. Der schmale Verbindungsstreifen zwischen den östlichen und westlichen Flügeln der ägyptischen Streitkräfte wurde ebenso schnell durchbrochen, und die Israelis konnten 4000 ägyptische Soldaten im Kessel von Faludschah einschließen. Der östliche Flügel des Expeditionskorps brach unter israelischem Druck nach wenigen Tagen zusammen und zog sich ungeordnet zurück. Al-Mwawi versuchte, seine Truppen entlang einer neuen Linie auf Höhe von Gaza und Be’er Scheva zu konsolidieren. Bezüglich des westlichen Flügels gelang ihm das auch. Mwawi und sein Stab entgingen dabei selbst nur knapp der Einkesselung durch israelische Truppen. Der östliche Flügel konnte jedoch Be'er Scheva nicht gegen die israelischen Kräfte aus dem Negev halten. Als am 22. Oktober ein neuer UN-Waffenstillstand in Kraft trat, funkte Mwawi nach Kairo, dass nun Ägypten selbst bedroht und jede Aussicht auf Erfolg in Palästina dahin sei. Das ägyptische Oberkommando versuchte zunächst, diese Tatsache vor den Verbündeten zu verschleiern, bat aber trotzdem Jordanien und den Irak erfolglos um Hilfe. Der israelische Militärgeheimdienst Aman hatte im Laufe der Operation den ägyptischen Code entschlüsselt, und so war die politische Führung Israels über den Zusammenbruch ihrer Gegner voll im Bilde. Die israelischen Streitkräfte stießen schließlich auf ägyptisches Territorium vor und nahmen das Flugfeld von al-Arisch ein. Die Stadt selbst wurde nicht angegriffen. Infolge des ägyptischen Zusammenbruchs schaltete sich die britische Regierung (Premierminister: Clement Attlee) ein und drohte Israel mit einer militärischen Intervention, falls sich die israelische Armee nicht aus dem Sinai zurückziehe. Um der Drohung Nachdruck zu verleihen, patrouillierten Kampfflugzeuge der Royal Air Force über dem Sinai und der Negevwüste. Die israelische Regierung ordnete infolgedessen den Rückzug an. Am 6. Januar 1949 verließen die letzten israelischen Soldaten ägyptischen Boden. Offensive in Galiläa Die israelische Regierung hielt aus strategischen wie auch historischen Gründen Galiläa für unverzichtbar für einen lebensfähigen jüdischen Staat. Das Gebiet war aufgrund der hohen arabischen Bevölkerungsdichte unter Kontrolle der Arabischen Befreiungsarmee. Im Oktober gelang es den israelischen Streitkräften, die verbliebenen Truppen der Arabischen Befreiungsarmee und der syrischen Streitkräfte aus dem Gebiet zu vertreiben. Um einen territorialen Puffer zu schaffen und um Nachschubbasen der Arabischen Befreiungsarmee zu zerstören, besetzte Israel einen Teil des Südlibanons. Die libanesische Armee leistete keinen Widerstand. Zugang zum Roten Meer Im März 1949 fand die letzte größere Operation der israelischen Streitkräfte statt. Motorisierte Einheiten drangen zum Golf von Akaba vor und nahmen die Gegend um das heutige Eilat ein. Damit sicherte sich die israelische Regierung einen Zugang zum Roten Meer und verhinderte eine Landbrücke zwischen Ägypten und Jordanien. Waffenstillstandsabkommen Nachdem das ägyptische Militär in die Defensive gedrängt worden war, befand es sich in einer extrem verwundbaren Situation. Die eingeschlossene Brigade in Faludschah würde über kurz oder lang vernichtet werden. Die restlichen Einheiten des Expeditionskorps erwarteten im Gaza-Streifen eine erneute israelische Offensive. Die militärische und politische Führung rechnete mit dem totalen Zusammenbruch der Armee im Fall eines erneuten israelischen Angriffs. Die politische Führung fürchtete einen Staatsstreich in diesem Fall. Infolgedessen erklärte sie sich zu Verhandlungen bereit. Die Israelis sahen in einem Waffenstillstand mit Ägypten, dem mächtigsten arabischen Staat, die Chance, dass dann auch die anderen arabischen Staaten folgen würden. Die Gespräche fanden auf Rhodos statt und wurden von Bernadottes Nachfolger Bunche als Vermittler geleitet. Ägypten wollte anfänglich neben der Rettung der eigenen Armee die Souveränität über den Negev. Dadurch würde die Landbrücke nach Jordanien gewahrt bleiben. Israel forderte einen vollständigen Rückzug der ägyptischen Streitkräfte aus dem Gazastreifen. Bunche versuchte den diplomatischen Einfluss der USA zu nutzen, um die israelischen Forderungen abzuschwächen. Die israelische Regierung nutzte jedoch ihren diplomatischen Einfluss in Washington, um dies zu verhindern. Die USA mischten sich infolgedessen nicht in die Gespräche ein. Am 24. Februar 1949 wurde ein Kompromiss geschlossen, der beide Seiten zufriedenstellte. Der geordnete Abzug der Brigade von Faludschah und das Verbleiben ägyptischer Streitkräfte auf ehemaligem Mandatsgebiet im Gazastreifen waren Zugeständnisse an Ägypten. Die Ägypter gaben ihre Ansprüche auf den Negev auf. Um ein erneutes Aufflammen der Feindseligkeiten zu verhindern, wurde eine demilitarisierte Zone um Al-Auja geschaffen. Sie umfasste auf israelischer und ägyptischer Seite die Haupteinfallsstraßen zwischen Israel und dem Sinai. Nachdem Ägypten offiziell aus dem Krieg ausgeschieden war, folgten die anderen arabischen Staaten nach und nach. Die libanesische Regierung schied gegen einen Abzug der israelischen Truppen aus dem Südlibanon am 23. März 1949 aus dem Krieg aus. Ebenso verpflichtete sich die Regierung dazu, syrische Truppen nicht im Südlibanon zu stationieren. Damit hatte sich Israel eine kleine Pufferzone an seiner Nordgrenze geschaffen. Die jordanische Regierung akzeptierte die Präsenz der Israelis am Golf von Akaba und unterzeichnete am 3. April 1949. Syrien unterzeichnete am 20. Juli. Die syrische Regierung forderte territoriale Zugeständnisse, insbesondere die Kontrolle des Oberlaufs des Jordans. Israel wollte dem im Hinblick auf die Wasserversorgung des Landes nicht zustimmen. Die beiden Staaten einigten sich schließlich auf die durch den Krieg geschaffenen Grenzen und eine demilitarisierte Zone entlang des Jordans. Den Waffenstillstandsabkommen folgten keine dauerhaften Friedensregelungen, denn keine arabische Regierung schloss einen Friedensvertrag mit Israel oder akzeptierte Israel als souveränen Staat. Irak und Saudi-Arabien verzichteten sogar auf ein Waffenstillstandsabkommen. Offizielle Gespräche wurden von den arabischen Regierungen aus Angst vor weiterem Gesichtsverlust vor der eigenen Bevölkerung nicht durchgeführt. In inoffiziellen Gesprächen erklärte sich König Faruq dazu bereit, für die Preisgabe der Negevwüste Frieden zu schließen. Syrische Unterhändler stellten ein Friedensabkommen für die Rückkehr von 300.000 Flüchtlingen und Gebietsabtretungen am See Genezareth in Aussicht. Angesichts der schwindenden Handlungsfähigkeit der arabischen Regierungen durch innenpolitischen Druck schätzte die israelische Regierung die Offerten als unrealistisch ein und zeigte sich nicht interessiert. Zwischen Jordanien und Israel kam es entlang der Grenze immer wieder zu kleineren Gefechten und gegenseitigen Überfällen. Sie gingen so weit, dass Israel 1954 eine eigene Einheit für Kommandoaktionen in der West Bank gründete. Die ersten spürbaren Auswirkungen auf Zivilisten in Israel erfolgten von ägyptischer Seite, als Gamal Abdel Nasser Guerillagruppen von seinem Territorium gegen Israel operieren ließ und sie finanzierte. Von 1949 bis 1956 wurden 486 israelische Zivilisten durch irreguläre Kräfte und Terrorismus getötet. 1956 erfolgte der israelisch-britisch-französische Militärangriff in der Suezkrise. Ägypten schloss nach drei weiteren Kriegen mit Israel schließlich den Friedensvertrag 1979, Jordanien folgte 1994. Mit Syrien, dem Irak, Saudi-Arabien oder dem Libanon liegen bis heute keine Friedensabkommen vor. Folgen Kriegsopfer Nach offiziellen israelischen Angaben wurden während der Kampfhandlungen 5700 bis 5800 Menschen der Jischuw getötet. Davon waren rund 25 % Zivilisten. Dies entsprach rund einem Prozent der damaligen jüdischen Gesamtbevölkerung. Die Zahl der Verwundeten wurde auf rund 12.000 beziffert. Die Zahl arabischer Todesopfer ist umstritten. Al-Husseini gab nach dem Krieg rund 12.000 Todesopfer an. Eine zentrale Dokumentation hat nicht stattgefunden. Die offiziellen Statistiken aus Ägypten liegen bei 1400 Toten und 3731 Kriegsversehrten. Diese Zahlen werden jedoch in der historischen Literatur angezweifelt. Die jordanischen, irakischen und syrischen Streitkräfte verzeichneten jeweils mehrere hundert Kriegstote. Die libanesische Armee hatte einige Dutzend Gefallene zu beklagen. Die britischen Truppen hatten 1947 und 1948 174 Gefallene und 419 Verwundete zu beklagen. Flucht und Vertreibung von Arabern Rund 750.000 bis 800.000 palästinensische Araber, mehr als jeder zweite arabische Bewohner, wurden zu Flüchtlingen, die meisten bereits während des Bürgerkrieges vor dem Eingriff der arabischen Staaten in den Konflikt. Rund 65 % davon verblieben innerhalb der Grenzen des Mandatsgebiets. Insgesamt 39 % der Flüchtlinge verblieben in der jordanisch kontrollierten West Bank. In den von Ägypten besetzten Gaza-Streifen flohen 26 % der Gesamtzahl. 14 % überquerten die Grenze in den Libanon. Jeweils 10 % verblieben in Syrien oder Transjordanien. Das Arabische Hochkomitee wie auch die arabische Liga versuchten die Massenflucht zu stoppen, fanden jedoch in der Bevölkerung kein Gehör. In mehreren Fällen wurden Zivilisten von irregulären oder regulären arabischen Truppen aufgefordert, ihre Wohnorte zu verlassen. Diese Aufforderungen entsprachen der Intention, Zivilisten aus dem Gefechtsraum zu verbringen oder die Aufstellungen der eigenen Truppen zu begünstigen. In mehreren Fällen sollte auch verhindert werden, dass die Zivilisten als Bürger in Israel verblieben. Eine Minderheit wurde von israelischen Truppen vertrieben. Die Mehrheit flüchtete aus Angst vor den Kampfhandlungen wie auch aus Angst vor den israelischen Streitkräften. Dabei setzten sich erst die vermögenden Eliten, dann die Mittelklasse und später die ärmeren Gesellschaftsschichten ab. Israelische Kräfte waren an Vertreibungen und vereinzelten Massakern beteiligt. Außerdem verhinderten sie in vielen Gebieten mit Waffengewalt die Wiederkehr von bereits geflüchteten Arabern. Dies geschah häufig, wenn geflüchtete Bauern versuchten, ihre Ernte einzuholen. Darüber hinaus setzten sie kurz vor der Intervention der arabischen Armeen bewusst Flüchtlingsströme in Bewegung, um die Anmarschrouten nach Palästina zu blockieren. Eine konsistente Politik der Vertreibung wurde jedoch aus außenpolitischen Erwägungen und auch moralischen Skrupeln nicht verlautbart. Infolgedessen verblieben arabische Minderheiten vor allem um Jaffa und Haifa. Diese machten um die Jahrtausendwende rund ein Fünftel der israelischen Bevölkerung aus. Der Zusammenbruch der palästinensischen Gesellschaft ging als Nakba (Katastrophe) in den arabischen Sprachgebrauch ein. Das Erlebnis von Flucht und Vertreibung sowie der Wille zur Rückkehr in die alte Heimat wurden zum zentralen Element der palästinensischen Identität. Die arabischen Streitkräfte, sowohl reguläre Armeen wie paramilitärische Kräfte, vertrieben in mehreren Fällen die Bewohner jüdischer Siedlungen. Ebenso erging es den jüdischen Einwohnern Ostjerusalems. Da die arabischen Streitkräfte aber nicht in dicht besiedeltes Gebiet des Jischuw vordringen konnten, blieb die Zahl von Flüchtlingen innerhalb der jüdischen Gemeinde marginal – infolgedessen auch das Maß an Zerstörung von Eigentum. Ebenso betrieben die Hagana und arabische Milizen, später die israelische Armee und arabische Truppen, auf lokale Initiative hin kleinere Gefechte und Heckenschützeneinsätze, um landwirtschaftliche Produktionsflächen zu kontrollieren. Dabei wurde von beiden Seiten mitunter auf unbewaffnete Zivilisten geschossen. Flucht und Vertreibung von Juden aus den islamischen Ländern Während des Krieges und auch nach dem Krieg kam es in der islamischen Welt zu einer Welle von Pogromen gegenüber den dort lebenden jüdischen Minderheiten. Zu gewalttätigen Ausschreitungen kam es unter anderem in Aden, Aleppo, Peschawar, Isfahan, Bahrain, Kairo, Beirut, Tripolis und Oujda. Dem folgte eine Welle von staatlicher Repression in Ägypten und dem Irak. Die Bürgerrechte der jüdischen Einwohner wurden Schritt für Schritt beschnitten, es kam zu Massenverhaftungen tausender Menschen aufgrund ihrer Religionszugehörigkeit. Infolgedessen flohen während des Krieges und nachher rund 500.000 bis 600.000 Juden aus muslimischen Ländern nach Israel. Allein 260.000 von ihnen erreichten Israel zwischen 1948 und 1951 und machten 56 % der gesamten Einwanderung des neu gegründeten Staates Israel aus. 600.000 Juden aus arabischen und muslimischen Ländern konnten Israel noch bis 1972 erreichen. Die meisten erreichten den jungen Staat völlig mittellos, da ihre Heimatländer ihnen die Emigration verboten und bei Abwanderung ihren Besitz konfiszierten. Die israelische Luftwaffe evakuierte bis 1950 43.000 Juden aus dem Jemen. Die massive Einwanderung der sogenannten Mizrachim sorgte in Israel für soziale Spannungen mit den aus Europa eingewanderten Aschkenasim, die in der Regel besser ausgebildet und vermögender waren. Darüber hinaus kam es auch zu Flüchtlingsbewegungen von Juden aus den arabischsprachigen Ländern nach Europa und in die Vereinigten Staaten. Vom Anfang des Krieges 1948 zwischen Israel und den arabischen Staaten bis zu den frühen 1970er Jahren wurden 800.000 bis zu einer Million Juden aus ihren Heimatgebieten in den arabischen Staaten vertrieben oder mussten flüchten. Weiteres Schicksal der arabischen und jüdischen Flüchtlinge Israel lehnte eine Rückkehr der arabischen Flüchtlinge nach Kriegsende kategorisch ab. Während die Israelis jedoch versuchten, die jüdischen Neuankömmlinge als Bürger zu integrieren, verweigerten arabische Staaten teilweise die Integration palästinensischer Araber in ihre Gesellschaften. Diese blieben jahrzehntelang, mitunter bis heute in Flüchtlingslagern als Staatenlose verwahrt. Dadurch wurden sie in einigen Ländern, ähnlich wie andere staatenlose Araber (Bedun) von Eigentumsrechten, wirtschaftlichen Möglichkeiten, Bildungsangeboten und medizinischer Versorgung ausgeschlossen. Der geringe Schutzstatus erwies sich nach dem Zweiten Golfkrieg als prekär, als 1991 rund 450.000 Palästinenser allein aus Kuwait erneut vertrieben wurden. Dabei sind grundlegende Standards, wie die Allgemeine Erklärung der Menschenrechte nicht anerkannt und massiv verletzt worden. Der einzige arabische Staat, der bis dato palästinensischen Flüchtlingen die volle Staatsbürgerschaft anbot, war Jordanien. 2010 lebten noch rund 1,4 von 4,76 Millionen von der UNRWA erfassten palästinensischen Araber in Lagern. Im Gegensatz dazu akzeptierte der israelische Staat die verbliebenen Araber als Bürger mit juristischen und politischen Rechten. Destabilisierung der arabischen Regierungen Die arabische Öffentlichkeit hatte den Krieg extrem emotionalisiert aufgegriffen. Alle arabischen Staatsführer äußerten sich in internen Gesprächen über ihre Befürchtung, durch den Druck der Straße den Krieg nicht beenden zu können, selbst als die militärische Lage schon aussichtslos war. Infolgedessen institutionalisierten alle arabischen Regime eine strikte Pressezensur. Aufgrund derer wurden in den staatlich gelenkten Medien Rückschläge verschwiegen und die militärische Lage wissentlich falsch wiedergegeben. Dies führte in der Bevölkerung zu nur noch größerer Unzufriedenheit mit den eigenen politischen Führern, nachdem Nachrichten über das Ausmaß der Niederlage abrupt doch ins Land drangen. Die ägyptische Regierung wies das Militär an, keine verwundeten Soldaten ins Nildelta zu verbringen, da sie Mundpropaganda in der Hauptstadt Kairo fürchteten. Der ägyptische Ministerpräsident Mahmud an-Nukraschi Pascha wurde im Dezember 1948 von einem Mitglied der Muslimbruderschaft ermordet. Die Unzufriedenheit des ägyptischen Militärs kulminierte in dem von Nasser und Nagib, beide Veteranen des Palästinakriegs, angeführten Militärputsch 1952. In Transjordanien kam es zu Demonstrationen mehrerer Tausend Menschen in Amman, welche nur durch die Intervention des Königs zerstreut werden konnten. König Abdullah selbst wurde 1951 von palästinensischen Terroristen ermordet, die haschemitische Dynastie konnte ihre Herrschaft über Transjordanien trotzdem sichern. Die syrische Regierung verlor durch die Niederlage im Krieg massiv an Legitimität. Im Militär machte sich Unmut über die politische Führung breit, die Absetzung der zivilen Regierung unter Schukri al-Quwatli durch den Putschisten Husni al-Za'im 1949 leitete eine Phase der politischen Instabilität ein. Der libanesische Premierminister Riad as-Solh fiel 1949 einem Attentat zum Opfer. Als letzter amtierender Regierungschef der Kriegszeit wurde der Iraker Nuri as-Said 1958 im Laufe der „Revolution des 14. Juli“ ermordet. Damit waren die arabischen Regime der Postkolonialzeit bis auf das haschemitische Königreich Jordanien nach dem Krieg gestürzt worden. Laut Edward Said folgten auf die Niederlage von 1948 eine zunehmende Militarisierung und die Entwicklung eines intoleranten politischen Klimas innerhalb der arabischen Gesellschaften. Dies habe zur Vernachlässigung ziviler Institutionen, offenem politischen Diskurs und der Verfolgung von religiösen, politischen und ethnischen Minderheiten geführt. Neben der Destabilisierung der alten Regime entwickelte sich in der arabischen öffentlichen Meinung die Auffassung, die USA hätten in dem Konflikt parteiisch auf Seite Israels gestanden. Ebenso wurde der Ruf Großbritanniens als Groß- und Ordnungsmacht in der Region in Frage gestellt. Israelische Staatlichkeit Der Erfolg der israelischen Streitkräfte führte zur Sicherung der israelischen Staatlichkeit. Israel konnte sich ein Territorium sichern, das größer war als dasjenige, welches der UN-Teilungsplan vorgesehen hatte (Galiläa und den Negev). Ostjerusalem mit der Altstadt und der Klagemauer verblieben unter jordanischer Kontrolle. Die arabischen Staaten, die vor dem Krieg den Teilungsplan und die Gründung eines jüdischen Staates ablehnten, mussten die geschaffenen Fakten hinnehmen, auch wenn sie Israel nicht offiziell als Staat anerkannten. Jordanien verbot nach dem Krieg Juden den Zugang zur Klagemauer, einem zentralen Heiligtum der jüdischen Religion. Der entstandene israelische Staat hatte die Kontrolle über 77 % des ehemaligen Mandatgebietes, im Vergleich zu 55 %, die ihm nach dem Teilungsplan zugesprochen worden waren. Große Teile der landwirtschaftlichen Nutzfläche des ehemaligen Mandatsgebiets wurden durch die Enteignung geflüchteter Araber in jüdischen Besitz übertragen. Historiografie Die kollektive Erinnerung der beiden Seiten an den Krieg geht sehr stark auseinander. Auf israelischer Seite bildete sich eine offizielle Geschichte aus Augenzeugenberichten heraus, deren Augenmerk anfangs sehr auf der Schlachtengeschichte lag. Die Entstehung des Flüchtlingsproblems lastete sie vor allem der arabischen Seite an und ging von einem Befehl zur Flucht durch die arabischen Regierungen aus. 1987 leitete Simha Flapan, Historiker und Politiker der Mapampartei, eine neue Sicht ein. Ihm folgten zahlreiche, sogenannte Neue israelische Historiker, die durch die Öffnung der israelischen Archive andere Schlüsse zogen als ihre Vorgänger, sich jedoch auch untereinander widersprachen. Bis zu dieser Debatte bestand in Israel ein Konsens, dass die Massenflucht vor allem auf Befehl der arabischen Führer stattgefunden habe, die israelische Armee durchgängig zahlenmäßig unterlegen gewesen und die fehlenden Friedensschlüsse allein auf den Radikalismus der arabischen Kriegsparteien zurückzuführen seien. Die Neubewertung historischer Fakten führte in Israel zu heftigen, öffentlichen Diskussionen um die Richtigkeit der nationalen Narrative des Staates. Den Neuen Historikern wurde dabei von allen Teilen des Parteienspektrums häufig das politische Motiv unterstellt, Israel delegitimieren zu wollen. Historiker der älteren Generation wie Anita Shapira und Efraim Karsh unterstellten ihren Kollegen gleichfalls politische Voreingenommenheit und fachliche Mängel. Manche Neue Historiker wie Ilan Pappé distanzierten sich auch öffentlich vom Zionismus, während andere wie Benny Morris ihre Loyalität zum israelischen Staat öffentlich bekräftigten. Trotz der Debatte setzten sich die neuen wissenschaftlichen Erkenntnisse durch. Im Jahr 1999 wurden Schulbücher für den Geschichtsunterricht eingeführt, welche die Nakba als Erlebnis der palästinensischen Bevölkerung und eine aktive Rolle des israelischen Staates und Militärs bei Vertreibungen während des Krieges thematisierten. Der spätere israelische Premierminister Ariel Scharon sprach sich im Rahmen einer Wahlkampfrede 2001 dafür aus, die Thesen der Neuen Historiker aus den Schulbüchern zu verbannen. Ob die israelische Regierung oder die israelischen Streitkräfte eine planmäßige „ethnische Säuberung“ durchgeführt haben, ist umstritten. Der israelische Historiker Benny Morris ging von einem offiziell nicht bestätigten Plan zur Vertreibung von Zivilisten, die die Gegenseite aktiv unterstützten, aus. Efraim Karsh sieht die Hauptverantwortlichkeit in der aggressiven Politik der palästinensischen Araber, räumt jedoch auch eine aktive Rolle der Israelis ein. Sein Kollege Ilan Pappé geht sogar von einer bereits vor der Mandatszeit angestrebten, planmäßigen Vertreibung aus. Auf arabischer Seite ist der Zugang zu offiziellen Archiven zu großen Teilen immer noch gesperrt, eine historisch-wissenschaftliche Aufarbeitung der eigenen Quellen hat bisher nicht stattgefunden. Die offizielle Geschichtsschreibung der arabischen Staaten diente, falls vorhanden, eher der Schuldzuweisung an andere arabische Staaten als der wissenschaftlichen Untersuchung. Darüber hinaus existiert eine Anzahl von Publikationen unterhalb wissenschaftlicher Standards, die vor allem persönliche Erlebnisse und die kollektive Erinnerung widerspiegeln. Die Geschichtsschreibung palästinensischer Autoren widmete sich seit den fünfziger Jahren häufig der Erhaltung der Oral History sowie der Dokumentierung der Ausmaße von Vertreibung und Verlust. Bereits Mitte der fünfziger Jahre unternahm Aref al-Aref den Versuch einer vollständigen Aufstellung zerstörter arabischer Siedlungen. 1959 focht Walid Khalidi als Wissenschaftler palästinensischer Abstammung erstmals die offizielle staatliche Version in der Öffentlichkeit an. Außerdem vertrat er die Meinung, man müsse aufgrund der divergierenden Kriegsziele der Palästinenser und der arabischen Staaten von zwei Kriegen sprechen. Die palästinensische Historiografie und die gesellschaftlichen Narrative wurden von westlichen Wissenschaftlern darin kritisiert, dass sie ihrer Seite den Status eines passiven Opfers zuschrieben. Eine wissenschaftliche Ausarbeitung zur Rolle der britischen Streitkräfte im Bürgerkrieg fehlt bisher weitgehend. Mediale Aufarbeitung Im Jahr 1958 veröffentlichte Leon Uris den historischen Roman Exodus, der die Geschichte des gleichnamigen Flüchtlingsschiffes und des Krieges beschreibt. Der Roman wurde 1960 verfilmt. 1966 wurde der Hollywoodfilm Der Schatten des Giganten fertig gestellt, der die fiktionalisierte Geschichte von David Marcus, einem Ex-US-Offizier in den israelischen Streitkräften, thematisiert. 1972 erfolgte eine journalistische Aufarbeitung mit dem Titel O Jerusalem von Larry Collins und Dominique Lapierre. Das Buch wurde 2006 in einer französisch-britischen Koproduktion verfilmt. Der Jugendroman Zeit für die Hora, der sich mit der Immigration und der Zeit nach der Staatsgründung befasst, erhielt 1989 den Deutschen Jugendliteraturpreis. Das israelische Fernsehen veröffentlichte 1981 eine Dokumentation über den Bürgerkrieg im Mandatsgebiet namens Amud Ha-Esh (deutsch: „Säule des Feuers“) sowie 1998 eine Dokumentationsserie über den Krieg gegen die arabischen Armeen namens Teḳumah (תְּקוּמָה/deutsch: „Wiederauferstehung“). Siehe auch Arabisch-Israelische Kriege Geschichte der jüdischen Streitkräfte in Palästina Literatur Rosemarie Esber: Under the Cover of War. The Zionist Expulsion of the Palestinians. Arabicus 2008, ISBN 978-0-9815131-3-3. Simha Flapan: Die Geburt Israels. Mythos und Wirklichkeit. Melzer Semit-Edition, Neu-Isenburg 2005, ISBN 3-937389-55-5 (Originaltitel: The birth of Israel). Yoav Gelber: Palestine 1948. War, Escape and the Emergence of the Palestinian Refugee Problem. Sussex Academic Press 2006, ISBN 1-84519-075-0. Efraim Karsh: The Arab Israeli Conflict. The Palestine War 1948. Osprey, Oxford 2002, ISBN 1-84176-372-1 (Essential Histories 28). Nur Masalha: Expulsion of the Palestinians. Institute for Palestine Studies, 1992, ISBN 0-88728-242-3. Benny Morris: 1948. A History of the First Arab-Israeli War. Yale University Press, New Haven CT u. a. 2008, ISBN 978-0-300-12696-9. Ilan Pappe: The Ethnic Cleansing of Palestine. Oneworld Publications, Oxford 2006, ISBN 1-85168-467-0. Eugene L. Rogan, Avi Shlaim (Hrsg.): The War for Palestine. Rewriting the History of 1948. Cambridge University Press, Cambridge 2001, ISBN 0-521-79476-5 (Cambridge Middle East Studies 15). David Tal: War in Palestine 1948. Strategy and Diplomacy. Routledge, London u. a. 2004, ISBN 0-7146-5275-X (Cass Studies in Israeli History, Politics and Society 26). Weblinks Präsentation über den Krieg auf hagalil.com Artikel über den Krieg in der Jewish Virtual Library Beschreibung aus offizieller jordanischer Perspektive (englisch) Zur militärisch-politischen Lage nach der Unabhängigkeitserklärung. Original-Artikel der Palestine Post (englisch) Einzelnachweise Krieg (20. Jahrhundert) Nahostkonflikt Geschichte Palästinas Israelische Geschichte (20. Jahrhundert) Israelische Militärgeschichte Ägyptische Militärgeschichte Militär (Königreich Ägypten) Syrische Militärgeschichte Libanesische Geschichte (20. Jahrhundert) Geschichte Jordaniens Geschichte Saudi-Arabiens Geschichte des Irak (20. Jahrhundert) Krieg (Asien) Krieg (Israel) Syrische Geschichte (20. Jahrhundert) Ägyptisch-israelische Beziehungen Konflikt 1947 Konflikt 1948 Konflikt 1949
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https://de.wikipedia.org/wiki/Filbinger-Aff%C3%A4re
Filbinger-Affäre
Die Filbinger-Affäre oder der Fall Filbinger im Jahr 1978 war eine Kontroverse um das Verhalten Hans Filbingers (1913–2007) in der Zeit des Nationalsozialismus und seinen Umgang damit als Ministerpräsident Baden-Württembergs. Sie begann im Februar 1978 mit Filbingers Unterlassungsklage gegen den Dramatiker Rolf Hochhuth, der ihn öffentlich als „furchtbaren Juristen“ bezeichnet hatte. Im weiteren Verlauf wurden vier Todesurteile entdeckt, die Filbinger als Militärrichter der Kriegsmarine 1943 und 1945 beantragt oder gefällt hatte. Er bestritt zuvor drei davon und gab dann an, sie vergessen zu haben, hielt aber an ihrer Rechtmäßigkeit fest. Angesichts der wachsenden öffentlichen Kritik verlor er den Rückhalt der CDU, der er seit 1951 angehörte. Daraufhin trat er am 7. August 1978 als Ministerpräsident zurück. Seine bis zu seinem Tod am 1. April 2007 fortgesetzten Rehabilitierungsversuche und eine umstrittene Trauerrede Günther Oettingers für ihn hielten die Erinnerung an die Affäre wach. Sie beeinflusste die Vergangenheitsbewältigung in der Bundesrepublik Deutschland und die Rehabilitierung der Opfer der NS-Militärjustiz. Filbingers Verhalten in der NS-Zeit gilt heute als Beispiel für das Versagen vieler Täter und Mitläufer unter damaligen Juristen. Vorgeschichte Militärrichter im und nach dem Zweiten Weltkrieg Filbinger war während seiner Juristenausbildung 1937 NSDAP-Mitglied und 1940 freiwillig Soldat in der deutschen Kriegsmarine geworden. Im März 1943 wurde er in die Marinejustiz berufen. Er wirkte nacheinander an fünf Militärgerichten in Norddeutschland und Norwegen und nahm an mindestens 234 Strafverfahren teil. In 169 Fällen war er als Vorsitzender Richter direkt für Urteil und Strafverfügung verantwortlich, in 63 Fällen indirekt als Ankläger oder Untersuchungsführer. Nach Kriegsende wurde er als Kriegsgefangener der Briten in Oslo bis Februar 1946 zur Lageraufsicht weiter als Marinerichter eingesetzt. Dieses Kapitel seiner Biografie wurde erstmals 1972 zum Medienthema, aber erst 1978 bundesweit öffentlich debattiert. Bis dahin unbeachtete Akten von 41 Verfahren, an denen Filbinger beteiligt war, wurden bis zum 13. Juni 1978 im Bundesarchiv, Zweigstelle Kornelimünster, aufgefunden, aber von ihm nicht zur Einsicht freigegeben. Filbingers Prozess gegen den Spiegel 1972 Die Zeitschrift Der Spiegel berichtete am 10. April 1972 von Kurt Olaf Petzold, der sich als Gefangener in einem britischen Kriegsgefangenenlager Hakenkreuze von seiner Kleidung gerissen und einen Umzugsbefehl mit den Worten verweigert hatte: „Ihr habt jetzt ausgeschissen. Ihr Nazihunde, Ihr seid schuld an diesem Krieg. Ich werde bei den Engländern schon sagen, was Ihr für Nazihunde seid, dann kommt meine Zeit.“ Marinerichter Filbinger verurteilte ihn dafür am 1. Juni 1945 zu sechs Monaten Gefängnis und begründete dies mit einem „hohen Maß von Gesinnungsverfall“. Petzold habe „zersetzend und aufwiegelnd für die Manneszucht gewirkt“. Der Begriff „Manneszucht“ stammte aus preußischer Militärtradition und bestimmte im Nationalsozialismus Soldatenausbildung und Militärrecht. Mit einer „Gefahr für die Manneszucht“ hatten Wehrmachtsrichter, besonders oft die der Marine, in der letzten Kriegsphase tausende Todesstrafen für meist geringfügige Dienst- oder Disziplinvergehen begründet. Im Interview mit dem Spiegel erklärte Petzold 1972, Filbinger habe vor seinem Prozess „unseren geliebten Führer“ gerühmt, der „das Vaterland wieder hochgebracht hat“. Filbinger klagte auf Unterlassung dieser Aussagen. Er erinnere sich nicht mehr an den Fall, habe sich aber als „religiöse Persönlichkeit“ „vielfach aktiv gegen dieses Regime betätigt“. Er sei 1933 wegen antinazistischer Gesinnung von der Studienstiftung des deutschen Volkes ausgeschlossen worden und später Mitglied eines bekannten regimefeindlichen Freiburger Kreises gewesen. Zudem habe er als unbeteiligter Marinerichter für den wegen „Wehrkraftzersetzung“ zum Tod verurteilten Priester Karl Heinz Möbius im Frühjahr 1945 ein Wiederaufnahmeverfahren erreicht, in dem Möbius freigesprochen worden sei. Für den Oberleutnant Guido Forstmeier habe er durch Verzögern der Verhandlung ein drohendes Todesurteil abgewendet. Akten zu diesen Fällen legte Filbinger nicht vor; sie wurden auch im späteren Verlauf nicht aufgefunden. Doch beide Genannten bezeugten mehrfach schriftlich, dass Filbinger ihr Leben gerettet habe. Adolf Harms, Kollege Filbingers als Marinerichter und seit 1944 am gleichen Militärgericht tätig, bezeugte, dieser habe zum NS-Regime „eine ausgesprochen negative Einstellung“ gehabt. Das Gericht gab Filbingers Klage am 3. August 1972 statt, weil es die von Petzold zitierten Aussagen für unwahrscheinlich hielt und eine Verwechslung vermutete. Filbingers Gedenkrede 1974 Zum Gedenken an das Attentat vom 20. Juli 1944 hielt Filbinger als Bundesratspräsident im Berliner Reichstagsgebäude am 19. Juli 1974 eine Rede über den Widerstand gegen den Nationalsozialismus. Er beschrieb zunächst Hintergründe des Attentats und Gewissensnot der Teilnehmer. Dann erklärte er, er habe in der NS-Zeit zum Freiburger Freundeskreis um den katholischen Schriftsteller Reinhold Schneider gehört, der Kontakte zu Widerstandsgruppen gehabt habe, und habe „aus der Gesinnung, die diesen Kreis beseelte, gehandelt, unter Inkaufnahme der damit gegebenen Risiken“. Dennoch empfinde er sein damaliges Handeln angesichts des Notwendigen als „schwerwiegende Unterlassung“. Dies sehe er im Stuttgarter Schuldbekenntnis vom Oktober 1945 treffend ausgedrückt, dessen Kernsatz er zitierte. Dann beschrieb er den Kirchenkampf der katholischen Bischöfe und der Bekennenden Kirche, der sich seit 1933 zu einer „Totalfront des Widerstandes“ entwickelt und „dem nationalsozialistischen System selbst“ gegolten habe. Schon im Vorfeld hatten manche Angehörige hingerichteter Widerständler gegen Filbingers Rederecht protestiert. Bei der Rede ertönten Zwischenrufe wie „Nazi“, „Heuchler“, „NS-Richter“, bis die Rufer aus dem Saal gewiesen wurden. Die Wochenzeitung Die Zeit kommentierte die Vorfälle mit Bezug auf den 1972 bekannt gewordenen Fall Petzold: „…wer nach Kriegsende einen Soldaten im Gefangenenlager wegen ‚Auflehnung gegen Zucht und Ordnung‘ und wegen ‚Gesinnungsverfalls‘ zu sechs Monaten Gefängnis verurteilt, der hat mit denen, die sich gegen die Ordnung jener Zeit aufgelehnt haben, wenig gemein.“ Der Zeithistoriker Peter Reichel verglich die Reden und zeigte die Unterschiede von Filbingers Gedenkrede mit der Rede Gustav Heinemanns von 1969 auf. Das Auftreten und die Rede Filbingers habe „ein ganz anderes Bild“ geboten. Heinemann habe im Gegensatz zu ihm den kommunistischen Widerstand anerkannt, auf die undemokratische, deutschnationale Tradition der Attentäter des 20. Juli hingewiesen, die deutsche Teilung auch als Folge ihres Zu-Spät-Kommens und Scheiterns beschrieben und zuletzt eigene Versäumnisse in der NS-Zeit biografisch konkret benannt. Verlauf Filbingers Prozess gegen Rolf Hochhuth und die Zeit 1978 In einem Vorabdruck seines Romans Eine Liebe in Deutschland vom 17. Februar 1978 bezeichnete Rolf Hochhuth Filbinger als „Hitlers Marinerichter, der sogar noch in britischer Gefangenschaft nach Hitlers Tod einen deutschen Matrosen mit Nazi-Gesetzen verfolgt hat“. Er sei „ein so furchtbarer Jurist gewesen, daß man vermuten muß – denn die Marinerichter waren schlauer als die von Heer und Luftwaffe, sie vernichteten bei Kriegsende die Akten – er ist auf freiem Fuß nur dank des Schweigens derer, die ihn kannten.“ Auf Filbingers erneute Unterlassungsklage hin untersagte das Landgericht Stuttgart am 23. Mai 1978 durch eine einstweilige Verfügung die Behauptung, er sei nur wegen Strafvereitelung einer Haftstrafe entgangen. Hochhuth hatte diesen Teil seiner Aussagen zuvor zurückgenommen: Sie seien absurd gewesen, da kein Richter der NS-Zeit in der Bundesrepublik je für Unrechtsurteile bestraft worden sei. Die übrigen Aussagen erlaubte das Gericht als freie und zum Teil faktengestützte Meinungsäußerung. Damit schien die Affäre zunächst abgeschlossen zu sein. Filbinger wollte jedoch auch Die Zeit gerichtlich verpflichten, Hochhuths gesamte Äußerungen zu ihm nicht mehr abzudrucken. Im Zuge dieses Prozesses gewährte das Bundesarchiv in Kornelimünster den Anwälten beider Seiten Einsicht in die Akten der Marinegerichte, an denen Filbinger tätig gewesen war. Dabei fand Hochhuth im April 1978 den Fall Walter Gröger, den der Chefredakteur der Zeit Theo Sommer Filbinger am 4. Mai vorlegte. Sommers Anwalt Heinrich Senfft präsentierte ihn in seinem Plädoyer am 9. Mai, nahm auf das Urteil von 1972 Bezug und fragte, wer Filbinger angesichts seiner angeblichen antinazistischen Gesinnung und seines Einsatzes für zum Tod Verurteilte gezwungen habe, diesmal das Todesurteil zu beantragen und seine Vollstreckung anzuordnen. Erich Schwinge erwiderte mit einem Rechtsgutachten, der Fall Gröger könne Filbinger weder rechtlich noch moralisch angelastet werden. Schwinge war führender Militärstrafrechtler der NS-Zeit gewesen, hatte mit seinem Gesetzeskommentar zum 1940 verschärften Militärstrafgesetzbuch unter anderem die Todesstrafe für „Wehrkraftzersetzung“ zur Generalprävention gefordert und als Wehrmachtsrichter selbst Todesurteile verhängt. Seit 1949 verteidigte er ehemalige Wehrmachts- und SS-Angehörige in etwa 150 Prozessen und beeinflusste die bundesdeutsche Rechtsprechung noch bis 1995 mit seiner These, die NS-Militärjustiz habe gegen den Nationalsozialismus rechtsstaatliche Prinzipien vertreten. Am 13. Juli 1978 bestätigte das Gericht die vorherige Verfügung und ließ die Aussagen „furchtbarer Jurist“, „Hitlers Marinerichter“ und „Filbinger verfolgte einen deutschen Matrosen noch in britischer Gefangenschaft mit Nazigesetzen“ als freie Meinungsäußerungen zu. Sein Urteil gegen Petzold und Urteilsantrag gegen Gröger passe nicht „zu einem Richter, der seine Gegnerschaft zum NS-Regime hervorhebt“. Zwar habe er in beiden Verfahren „im Rahmen des damals geltenden Rechts“ gehandelt, müsse sich aber heutige Anfragen an sein Verhalten gefallen lassen. Der Fall Walter Gröger Am 12. Mai 1978 veröffentlichte die Zeit Details zum Verfahren des zweiundzwanzigjährigen Matrosen Walter Gröger. Dieser hatte sich 1943 vier Wochen lang in Oslo bei einer norwegischen Freundin, Marie Lindgren, versteckt und erwogen, mit ihr in das neutrale Schweden zu fliehen. Sie erzählte einem befreundeten Polizeibeamten davon, der Gröger am 6. Dezember 1943 festnehmen ließ. Er wurde wegen vollendeter „Fahnenflucht im Felde“ am 14. März 1944 zu acht Jahren Zuchthaus und Verlust der Wehrwürdigkeit verurteilt. Sein Fluchtplan wurde nicht als versuchte Fahnenflucht ins Ausland gewertet, weil er seine Uniform wiedergeholt und damit Rückkehrabsicht zur Truppe signalisiert habe. Der Gerichtsherr, Generaladmiral Otto Schniewind, hob das Urteil am 1. Juni 1944 auf, „weil auf Todesstrafe hätte erkannt werden sollen“. Er begründete dies mit Grögers Vorstrafen, einer „Führerrichtlinie“ zu Fahnenflucht vom 14. April 1940 und einem Erlass des Oberbefehlshabers der Marine (ObdM), Karl Dönitz, vom 27. April 1943. Die Führerrichtlinie verlangte die Todesstrafe für Fluchtversuche ins Ausland und erheblich vorbestrafte Täter, nannte aber auch mildernde Umstände, bei denen eine Zuchthausstrafe ausreiche: „jugendliche Unüberlegtheit, falsche dienstliche Behandlung, schwierige häusliche Verhältnisse oder andere nicht unehrenhafte Beweggründe“. Der Dönitz-Erlass dagegen verlangte bei jeder Fahnenflucht, die ein „Versagen treuloser Schwächlinge“ sei, die Todesstrafe. Filbinger wurde am 15. Januar 1945 anstelle des bisherigen Anklägers nach dessen Voruntersuchung mit dem Fall beauftragt. In der Hauptverhandlung am Folgetag wertete das Gericht negativ, dass Gröger ein Eisernes Kreuz und eine Ostmedaille als sein Eigentum ausgegeben hatte. Nun wurde sein Fluchtplan als Fluchtversuch ins Ausland ausgelegt. Dem Gerichtsherren folgend, beantragte Filbinger auf der Basis der „Führerrichtlinie“ wegen charakterlicher Schwächen und Vorstrafen im soldatischen Führungszeugnis die Todesstrafe für Gröger. Verteidiger Werner Schön bat für ihn um Gnade: Das Gericht habe eingeräumt, dass nach geltendem Militärgesetz kein Fluchtversuch ins Ausland vorgelegen habe. Er warf Ankläger und Richter damit kaum verdeckt Rechtsbeugung vor. Marineoberstabsrichter Adolf Harms verurteilte Gröger am 22. Januar 1945 zum Tod als „einzig angemessene Sühne“. Als die Urteilsbestätigung aus Berlin zunächst ausblieb, stellte Filbinger mehrere schriftliche und fernmündliche Nachfragen und trieb damit Grögers Hinrichtung ungewöhnlich zielstrebig voran. Am 27. Februar 1945 bestätigte das Oberkommando der Marine (OKM) in Berlin das Todesurteil und lehnte das Gnadengesuch ab. Am 15. März traf der Schriftsatz dazu am Oslofjord ein. Am selben Tag ordnete Filbinger die Vollstreckung an und verkürzte damit die übliche Dreitagesfrist bis zur Hinrichtung. Er setzte sich selbst zum leitenden Offizier dafür ein, wie es für Anklagevertreter üblich war. Am 16. März um 14:05 Uhr verkündete er dem Verurteilten die Anordnung des Gerichtsherrn und ließ Gröger den Empfang unterzeichnen. Um 16:02 Uhr ließ er ihn erschießen. Dabei war er anwesend und gab wohl als leitender Offizier den Feuerbefehl. Entgegen seiner Dienstpflicht hatte Filbinger Grögers Anwalt den Hinrichtungstermin nicht mitgeteilt. Dieser hätte seinem Mandanten beistehen dürfen und äußerte noch Jahrzehnte später sein Befremden über Filbingers Versäumnis. Grögers Angehörige erhielten keine Nachricht von seiner Hinrichtung. Seine Mutter Anna Gröger erfuhr 1954 davon, die genauen Umstände jedoch erst 1978 durch Hochhuth, ebenso Marie Lindgren. Nach zwei Ablehnungsbescheiden bewilligte der niedersächsische CDU-Sozialminister Hermann Schnipkoweit Anna Gröger am 24. September 1979 eine Versorgungsrente als NS-Opferangehörige, indem er das Todesurteil für ihren Sohn nun als „den Umständen nach ein offensichtliches Unrecht“ einstufte. Filbingers Stellungnahmen In Kenntnis der bevorstehenden Veröffentlichung erklärte Filbinger am 4. Mai 1978, Fahnenflucht sei 1945 weltweit mit Todesstrafe bedroht und an allen Fronten „mit besonderem Nachdruck verfolgt“ worden. Deshalb habe der Flottenchef für Gröger die Todesstrafe verlangt und damit von vornherein keine abweichenden Urteile akzeptiert. Der Ankläger habe diese daher beantragen müssen und Grögers Verfahren als Sitzungsvertreter nicht beeinflussen können. Er habe sich der Marinerichtertätigkeit „mit allen Mitteln“ zu entziehen versucht und sich dazu als U-Boot-Soldat angeboten, wissend, „dass dieser Dienst als Himmelfahrtskommando galt“. In der ganzen NS-Zeit habe er seine „antinazistische Gesinnung“ auch „sichtbar gelebt“ und darum seit seiner Studentenzeit beruflich „erhebliche Nachteile“ erfahren. Wie in der bundesdeutschen Justiz bis dahin üblich, setzte Filbinger also das Wehrmachtsstrafrecht formal mit dem Militärrecht der angegriffenen Staaten gleich, deutete die letzte Phase des verlorenen Angriffskriegs als „Vaterlandsverteidigung“ und legitimierte so die exzessive Anwendung des NS-Kriegsrechts und damit die Fortsetzung von Kriegsverbrechen und Völkermord. Er behauptete fehlenden Handlungsspielraum der beteiligten Juristen, so auch für sich, und erklärte sich zugleich zu einem NS-Gegner und NS-Verfolgten, der für seine antinazistische Überzeugung sein Leben riskiert habe. Am 10. Mai 1978 und öfter behauptete Filbinger: „Es gibt kein einziges Todesurteil, das ich in der Eigenschaft als Richter gesprochen hätte.“ Auch habe er außer bei Gröger „bei keinem anderen Verfahren, das zum Todesurteil geführt hat, mitgewirkt“. Am 15. Mai 1978 zitierte der Spiegel ihn wie folgt: „Was damals Rechtens war, kann heute nicht Unrecht sein!“ Nachdem Gerd Bucerius den Satz in der Zeit vom 9. Juni 1978 aufgriff und auf „Hitlers Gesetze“ bezog, stellte Filbinger in der Folgeausgabe vom 16. Juni 1978 klar: Er habe den Satz so nicht gesagt, sondern die Spiegel-Journalisten hätten seine Reaktion auf ihren Vorwurf, er habe im Fall Gröger Recht gebeugt, so ausgelegt. Am 1. September 1978 erklärte er im Rheinischen Merkur: „Meine Äußerung bezog sich nicht auf die verabscheuungswürdigen NS-Gesetze, sondern auf die seit 1872 im Militärstrafgesetzbuch angedrohte Todesstrafe für Fahnenflucht im Felde.“ Als Ankläger Grögers hatte er sich auf die Führerrichtlinie von 1940 bezogen, die einen Ermessensspielraum zuließ. Daher wurde er vielfach so verstanden, „dass damals ‚Recht‘ gesprochen worden sei“ und in einem Unrechtsstaat gefällte formal korrekte Urteile auch in einem Rechtsstaat weiter gälten. Diese in den Nachkriegsjahrzehnten übliche These einer Rechtskontinuität wirkte nun als Skandal. Erhard Eppler, damaliger SPD-Fraktionsvorsitzender und Oppositionsführer im baden-württembergischen Landtag, bescheinigte Filbinger darum ein „pathologisch gutes Gewissen“. Am 8. Juli 1978 gestand Filbinger bei einer Pressekonferenz zu, er habe sich über den Fall Gröger nicht rechtzeitig und deutlich genug betroffen gezeigt. Bekanntwerden von Todesurteilen Spiegelherausgeber Rudolf Augstein hatte Filbinger am 8. Mai 1978 nach seiner Beteiligung an weiteren Todesurteilen gefragt. Das ARD-Magazin Panorama berichtete am 3. Juli 1978 über zwei Todesurteile, die er als Vorsitzender Richter gefällt hatte. Am 9. April 1945 hatte er den Obergefreiten Bigalske wegen Mordes in Tateinheit mit Meuterei und Fahnenflucht zum Tod verurteilt. Bigalske hatte am 15. März 1945 den Kommandanten des Hafenschutzboots NO 31 erschossen und war dann mit der übrigen Besatzung in das neutrale Schweden geflohen. Am 17. April 1945 verurteilte Filbinger den Obersteuermann Alois Steffen wegen Fahnenflucht und Wehrkraftzersetzung zum Tod. Dieser war Bigalske mit dem Hafenschutzboot NO 21 und 15 Mann Besatzung nach Schweden gefolgt. Beide Urteile konnten wegen der Flucht der Verurteilten nicht vollstreckt werden. Dies erwies Filbingers vorherige Falschaussagen. Er bezeichnete die Todesurteile nun als „Phantomurteile“, die weder vollstreckt werden konnten noch sollten und die er daher vergessen habe. Gegenüber dem damaligen Bundesarchivar Heinz Boberach erklärte er, falls noch ein viertes Todesurteil von ihm auftauche, werde er zurücktreten. Am 27. Juli 1978 fand eine Mitarbeiterin des Bundesarchivs zufällig eine ältere Gerichtsakte, die nicht zu den Aktenbeständen von Marinegerichten gehörte, von denen bis dahin Filbingers Mitwirken bekannt gewesen war. Bei der anschließenden systematischen Durchsicht der Verfahrensakten dieses Gerichts wurde ein weiteres Todesurteil entdeckt. Filbinger hatte es als Anklagevertreter 1943 wegen Plünderei gegen einen jungen Matrosen beantragt, der bei Aufräumarbeiten nach Luftangriffen auf Hannover einige Gegenstände von geringem Wert aus einer Drogerie an sich genommen hatte. Dem Antrag war der Richter gefolgt. Weil den vorgesetzten Militärjuristen das Urteil übertrieben erschienen war, hatten sie es in eine Lagerhaftstrafe umgewandelt. Deren Verbüßung überlebte der Matrose nicht. Am 1. August 1978 sandte Bundesinnenminister Gerhart Baum, der sich laufend über die Archivsuche unterrichten ließ, Filbinger eine Liste aller bisher ermittelten Todesurteile ohne Details dazu, aus der der vierte Fund hervorging. Am 3. August 1978 gab das Staatsministerium Baden-Württembergs das vierte Todesurteil bekannt, stellte den Verlauf aber wie folgt dar: Der Matrose Herbert Günther Krämer sei am 17. August 1943 wegen fortgesetzten Plünderns zuerst zu acht Jahren Zuchthaus, dann zum Tod verurteilt worden. Filbinger habe das Urteil beantragt, dem Gerichtsherrn zugleich aber Verhörergebnisse vorgelegt, die eine Begnadigung rechtlich möglich erscheinen ließen. Im Revisionsverfahren habe er als Ankläger dann die Umwandlung in eine Freiheitsstrafe erreicht. Diese Angaben wirkten nun umso unglaubwürdiger, nachdem er monatelang erklärt hatte, er habe kein weiteres Todesurteil beantragt und keines gefällt, und dann angab, er habe die Urteile wegen Belanglosigkeit vergessen. Er galt in den Medien nun als „Mann, der ein Todesurteil vergisst“. Rücktritt Heinrich Senfft hatte Filbinger im Hochhuthprozess am 9. Mai 1978 vor die Wahl gestellt, weitere Urteile selbst bekannt zu geben oder „abzutreten“. Theo Sommer hatte am 12. Mai gefragt: „Müsste Filbinger nicht zurücktreten – oder aber zu Mutter Gröger nach Langenhagen fahren und für die eigene Person jenen läuternden Kniefall vor der Vergangenheit tun, den Willy Brandt in Warschau für das ganze deutsche Volk vollzogen hat?“ Nach Hochhuths Teilerfolg vor Gericht forderte die oppositionelle Landes-SPD ab dem 27. Mai Filbingers Rücktritt als Ministerpräsident. Die Landes-CDU wies dies geschlossen zurück. Helmut Kohl und Heiner Geißler gaben mehrmals Ehrenerklärungen für ihn ab; die Bundes-CDU stellte sich bis Anfang Juli nach außen einmütig hinter ihn. Kritisiert wurde intern nicht sein Verhalten als Marinerichter, sondern die Form seiner öffentlichen Verteidigung: Sie sei zu sehr auf die juristische Ebene fixiert und berücksichtige die moralische Ebene nicht. Dass er die Vorgänge am Kriegsende nicht ausdrücklich bedauert habe, empfanden manche CDU-Mitglieder als engstirnig und ungeschickt. Ab dem 3. Juli wandte sich die öffentliche Meinung zunehmend gegen Filbinger. Parteifreunde kritisierten seinen Umgang mit den Vorhaltungen nun auch öffentlich. Norbert Blüm schrieb in einem Artikel vom 10. Juli über persönliche Schuld trotz formalen Rechthabens und folgerte, Kommunisten hätten dasselbe Recht zur „Umkehr“ wie NSDAP-Mitglieder. Der „Radikalenerlass“, dessen verschärfte Anwendung in Baden-Württemberg Filbinger verfügt und dies über den Bundesrat als Bundesgesetz durchzusetzen versucht hatte, sei infolge der Affäre zu überdenken. Er solle „Fehler“ zugeben, denn „die Selbstgerechten“ könne man nicht verteidigen. Am 11. Juli gab das Bundesarchiv bekannt, es habe Filbinger schon am 24. Mai von weiteren Aktenfunden zu seinen Urteilen 1945, darunter den „Phantomurteilen“, informiert. Daraufhin gingen die führenden Gremien von CDU und CSU zu ihm auf Distanz. Die Welt schrieb am 12. Juli, trotz der „Nibelungen-Gymnastik der CDU“ seien Filbingers politische Tage „selbstverständlich gezählt“; Matthias Walden kommentierte in der ARD am Folgetag, Filbingers Festhalten an seinem Amt schade dem „Geist der Demokratie“. Einige Medien (FAZ, 14. Juli, Der Spiegel, 17. Juli) machten den erwarteten Rücktritt zum Thema. Franz Josef Strauß sagte am 29. Juli vor Parteifreunden, Filbinger sei sein Verhalten am Kriegsende nicht vorzuwerfen, aber „mit Ratten und Schmeißfliegen führt man keine Prozesse.“ Lothar Späth, damals Fraktionsvorsitzender der CDU im Landtag Baden-Württembergs, berief zum 27. Juli eine Sondersitzung seiner Partei ein, deren Teilnehmer Filbinger nochmals ihre „kritische Solidarität“ versicherten. Nach der Bekanntgabe des vierten Todesurteils am 3. August versuchten die Landesgremien jedoch, Filbinger zum Rücktritt zu bewegen, und begannen die Suche nach einem Nachfolger. Am 7. August 1978 nachmittags trat Filbinger von seinem Amt als Ministerpräsident zurück. Er erklärte dazu: „Dies ist die Folge einer Rufmordkampagne, die in dieser Form bisher in der Bundesrepublik nicht vorhanden war. Es ist mir schweres Unrecht angetan worden. Das wird sich erweisen, soweit es nicht bereits offenbar geworden ist.“ Schon vorher hatte Filbinger gegenüber dem Spiegel-Journalisten Felix Huby von einem „linken Abschusskartell“ gesprochen. Er sah sich zeitlebens als Opfer eines „Feldzugs linksliberaler Medien“. Seine Anhänger in der Landes-CDU, sein Vorgänger Gebhard Müller, sein Nachfolger Erwin Teufel und rechtskonservative sowie neurechte Autoren teilten diese Sicht. Für Filbingers Kritiker hatte er seinen Rücktritt selbst verursacht. Dass er keine Reue gegenüber den Opferangehörigen zeigte, kritisierte Theo Sommer als starr und uneinsichtig: „Er wehrt jede Schulderfahrung ab…“ Seine Haltung zu den damals diskutierten Antiterrorgesetzen stimme mit seinen Anträgen und Urteilen als Marinerichter überein: „Er bleibt dem Obrigkeitsstaat hörig … Er ist ein Mann von law and order geblieben…“. Der Kommunikationswissenschaftler Hans Mathias Kepplinger führt Filbingers Rücktritt auf damalige Forderungen konservativer Medien, der Zeitgeschichtler Knud Andresen auf eine damalige Liberalisierung der CDU zurück, durch die etwa Filbingers Einsatz für den Radikalenerlass nun hinderlich gewirkt habe. Der Politikwissenschaftler Klaus Kamps beschreibt den Rücktritt als Folge missglückten „Skandalmanagements“ Filbingers: Er habe mit einer „Salamitaktik“ reagiert und damit umso stärkere Recherchen zu seiner Vergangenheit herausgefordert. Doch nicht seine Tätigkeit als Marinerichter, sondern deren aufgedeckte Verschleierungsversuche seien ihm zum Fallstrick geworden. Nur Verzicht auf Lügen hätte den Schaden für den Skandalisierten begrenzen können; erst das Ertapptwerden dabei mache diesen unbeherrschbar. Ende März 1979 gab Filbinger auch sein Amt als einer von sieben stellvertretenden Bundesvorsitzenden ab. Die baden-württembergische CDU ernannte ihn 1979 zum Ehrenvorsitzenden. Im CDU-Bundesvorstand blieb er bis 1981. Nachgeschichte Rehabilitierungsversuche Filbinger versuchte in den folgenden Jahrzehnten, seine Rehabilitierung zu erreichen. Dazu veröffentlichte er unter anderem 1987 seine Memoiren. Mit deren Titel Die geschmähte Generation erklärte er sich zum Sprecher der Generation der NS-Zeit. Darin entfaltete er frühere Angaben, wonach er seit 1938 Mitglied eines widerständigen Freiburger Freundeskreises um Reinhold Schneider gewesen sei. Der spätere katholisch-konservative Publizist Karl Färber hatte ihm dies im Entnazifizierungsverfahren 1946 bezeugt. Für diesen christlichen Kreis sei Gegnerschaft zum Hitlerregime „selbstverständliche Voraussetzung“ gewesen. Seinen Dienst bei der NS-Marinejustiz bezeichnete er als „aristokratische Form der Emigration“. Die Verschwörer des 20. Juli 1944 hätten ihn „für eine Verwendung nach geglücktem Attentat auf Adolf Hitler vorgesehen“. Der Sohn Paul von Hases, Alexander von Hase, habe ihm dies brieflich am 7. Juni 1978 bestätigt. Reinhold Schneider ist als Gegner des Nationalsozialismus bekannt. Doch er, Karl Färber und sein Freundeskreis waren keine Mitglieder des christlich-marktliberalen, im Dezember 1938 gegründeten Freiburger Kreises. Filbingers angebliche Rolle bei Stauffenbergs Putschversuch von 1944 beruht nur auf seiner Eigenangabe zu dem unveröffentlichten Brief Alexander von Hases. Infolge der Filbingeraffäre fanden Historiker heraus, dass Paul von Hase selbst an Todesurteilen der Wehrmacht mitgewirkt hatte. Ferner erklärte Filbinger, nur indem die Marinejustiz die Soldatendisziplin wahrte, habe die Kriegsmarine im Frühjahr 1945 Millionen ostdeutsche Flüchtlinge über die Ostsee retten können. Sein Anwalt Gerhard Hammerstein behauptete am 4. April 1995 in einem Leserbrief an die Badische Zeitung wahrheitswidrig, „der Matrose G.“ (Gröger) sei im Verlauf dieser Rettungsaktion fahnenflüchtig geworden. Fahnenflucht habe diese gefährdet. 1992 gaben zwei ehemalige Offiziere beim Ministerium für Staatssicherheit (MfS) der DDR an, dessen Hauptverwaltung Aufklärung habe Filbinger seit seinem großen, mit dem Slogan Freiheit statt Sozialismus errungenen Wahlsieg 1976 als Anwärter auf das Bundespräsidentenamt beobachtet. Daraufhin traf sich Filbinger am 30. April 1993 mit einem der beiden Autoren, Günter Bohnsack, und veröffentlichte dann das von diesem unterzeichnete Gesprächsprotokoll als Anhang zu seinen Memoiren mit dem Titel Die Wahrheit aus den Stasiakten. Darin hieß es: „Wir haben Filbinger durch aktive Maßnahmen bekämpft, d.h., Material gesammelt, gefälschtes oder verfälschtes Material in den Westen lanciert.“ Was dieses Material war, wann es entstand und wer es verfasste, gab Bohnsack nicht an. Ungenannte Kollegen hätten es ihm erzählt, erklärte er Filbinger im Beisein eines Zeugen des MAD. Dass das MfS Hochhuth in Ost-Berlin damit versorgt habe, wie Filbinger es in das Protokoll aufnehmen wollte, bestritt er. Er und Brehmer hätten keine Dokumente mit Todesurteilen Filbingers fabriziert und westlichen Kontaktpersonen zugespielt. Bundesdeutsche Journalisten sahen in dem Protokoll daher einen Versuch, den Eindruck gefälschter Todesurteile zu erwecken und sich so zum Stasi-Opfer zu machen. Filbinger hielt bis an sein Lebensende daran fest, Opfer einer Medienhetze geworden zu sein und kein Unrecht getan zu haben, so dass er keine Schuld eingestehen müsse. Er erklärte in verschiedenen Interviews 2002 und 2003: „Ich hätte damals offensiv sagen sollen: ‚Durch den Filbinger ist kein einziger Mensch ums Leben gekommen.‘“ – „Wer meuterte, gefährdete das Ganze.“ Dieser Sicht stimmen Teile der CDU bis heute zu. Helmut Kohl hatte 1978 von einer „erneuten Entnazifizierungskampagne“ gesprochen und wiederholte dies in seinen Memoiren 2004, betonte dort aber auch, dass Filbinger die Affäre „mit einem menschlichen Wort des Bedauerns an die Angehörigen der Opfer“ hätte überstehen können. Dies habe er ihm damals vergeblich geraten. Das von Filbinger 1979 gegründete, bis 1997 geleitete rechtskonservative Studienzentrum Weikersheim stellte ihn auf seiner Homepage bis 2011 als NS-Gegner dar. Der ihm folgende Präsident Weikersheims, Wolfgang von Stetten, behauptete 1997 im Bundestag, Filbinger sei durch eine „ferngelenkte Stasikampagne“ gestürzt worden und inzwischen „absolut rehabilitiert“. Wer dies bestreite, entlarve sich als „Mittäter der Stasi“. Klaus Voss, Redakteur der Preußischen Allgemeinen Zeitung, und der damalige Rechtsextremist Andreas Molau sahen Filbinger als „Opfer einer Hetze“. Sein Zeuge Guido Forstmeier verteidigte ihn 2000 in Weikersheim und nach seinem Tod 2007 in der rechtsextremen National-Zeitung. Demgegenüber beschrieb Ralph Giordano den Fall Filbinger als „schmähliches Beispiel“ für die „zweite Schuld“, die viele Deutsche durch Verdrängen und Verleugnen ihrer Beteiligung am Nationalsozialismus und seinen Verbrechen nach 1945 auf sich geladen hätten. Für Neele Kerkmann und Torben Fischer verkörpert Filbinger durch „seine unbewegliche Rechtfertigungshaltung, die keinerlei selbstkritische Reflexion seiner Tätigkeit erkennen ließ, […] in den Augen der sensibilisierten Öffentlichkeit geradezu idealtypisch einen in Diktatur wie Demokratie erfolgversprechenden konservativ-autoritären Habitus, der sich durch ein ‚pathologisch gutes Gewissen‘ (Erhard Eppler) und – so die Ergänzung der Süddeutschen Zeitung – ein ‚pathologisch schlechtes Gedächtnis‘ auszeichnete.“ Baden-Württembergs damaliger Ministerpräsident Günther Oettinger griff in seiner Trauerrede zum Staatsakt am 11. April 2007 Filbingers Behauptung, durch seine Urteile sei niemand zu Tode gekommen, wörtlich auf und bezeichnete ihn als „Gegner des Nationalsozialismus“. Dies löste bundesweit Empörung und Widerspruch bei vielen Opferangehörigen, Verbänden, Parteien und Prominenten aus; einige Historiker sprachen von Geschichtsfälschung. Nach deutlicher Kritik der Bundeskanzlerin Angela Merkel nahm Oettinger den Ausdruck „Gegner“ am 16. April zurück. In diesem Zusammenhang wurden Filbingers Verhalten in der NS-Zeit und sein Umgang mit den Berichten darüber nochmals betrachtet. Debatte über Filbingers Verhältnis zum Nationalsozialismus Am 22. Mai 1978 veröffentlichte der Spiegel Auszüge aus einem Aufsatz Filbingers vom März/April 1935, in dem er die damals mit einer Denkschrift des preußischen Justizministers vorbereitete nationalsozialistische Strafrechtsreform erklärte. Erst der Nationalsozialismus, hieß es darin, habe den „wirksamen Neubau des deutschen Rechts“ geistig ermöglicht und schütze statt der Freiheitsrechte des Einzelnen die „Volksgemeinschaft“ durch einen starken Staat. Als „Blutsgemeinschaft“ müsse diese nach nationalsozialistischer Auffassung zudem „rein erhalten und die rassisch wertvollen Bestandteile des deutschen Volkes planvoll vorwärtsentwickelt werden.“ Daher enthalte die Denkschrift „Schutzbestimmungen für die Rasse, für Volksbestand und Volksgesundheit, […]“. Weiter schrieb Filbinger: „Schädlinge am Volksganzen jedoch, deren offenkundiger verbrecherischer Hang immer wieder strafbare Handlungen hervorrufen wird, werden unschädlich gemacht werden.“ Darin habe das bisherige Strafrecht versagt, weil es Einflüsse von Erbanlagen, Erziehung und Umwelt auf das „Seelenleben des Verbrechers“ untersucht habe, um den „meist unverbesserlichen“ Täter zu resozialisieren, statt „auf eine eindrucksvolle und scharfe Strafe sowie wirksamen Schutz der Gesamtheit bedacht“ zu sein. Das neue Gesetz werde jedoch nur durch „lebendige Richterpersönlichkeiten“ in das Volk hinein wirken; es verlange daher „den neuen Juristen, der aus Kenntnis und Verbundenheit mit dem Volke des Volkes Recht spreche“, nicht bloß nach formaler Sach- und Gesetzeslage. Filbinger erklärte 1978 dazu, er habe damals nur Ansichten seines damaligen Lehrers Erik Wolf referiert, ohne diese zu übernehmen. Politikwissenschaftler und Historiker vermuten dennoch, dass Elemente der nationalsozialistischen Volkstums- und Rassenlehre, die sich im September 1935 in den Nürnberger Rassegesetzen niederschlug, seine Urteile als Marinerichter später mitbestimmten und er auch nach der deutschen Kapitulation „der nationalsozialistischen Denkweise noch sehr verhaftet“ gewesen sei. Laut Militärhistoriker Frank Roeser 2007 ließen die Nationalsozialisten nur für sie zuverlässige Juristen als Militärrichter arbeiten, und man konnte dieses Amt ohne Nachteile für sich ablehnen. Der Richter Helmut Kramer schrieb im Mai 2007 dazu: In einer Gedenkrede 1960 in Brettheim hatte sich Filbinger von nationalsozialistischem Unrecht distanziert. Dort hatte ein Standgericht die „Männer von Brettheim“ – einen Bauern, der Hitlerjugend-Angehörige entwaffnet hatte, und zwei Beamte, die ihn dafür nicht zum Tod verurteilen wollten – 1945 kurz vor Kriegsende erhängt. Das Ansbacher Gericht erklärte das Standgerichtsurteil in einem Verfahren gegen die Mörder 1960 für rechtsgültig, nachdem es den verurteilten Kriegsverbrecher Albert Kesselring und Erich Schwinge als Sachverständige gehört hatte. Als Reaktion darauf bezeichnete Filbinger die Erhängungen als „himmelschreiendes Unrecht“. Debatte über Filbingers Handlungsspielräume Ob und wie weit Filbinger Grögers Hinrichtung mitverursacht hatte, wurde zu einer zentralen Streitfrage der Affäre. Grögers ehemaliger Verteidiger Werner Schön erklärte am 4. Mai 1978 in einem Leserbrief, Filbingers Beteiligung sei ihm nicht erinnerlich; er habe wohl nur eine Statistenrolle gehabt. Zwar habe das Gericht der Weisung des Gerichtsherren nicht folgen müssen, und es habe durchaus rechtliche Argumente gegen die Todesstrafe gegeben. Aber der Ankläger hätte eine geringere Strafe nur mit neuen Fakten beantragen können. Diese seien jedoch schon in Grögers erstem Verfahren geklärt gewesen. Rudolf Augstein verwies am 8. Mai auf die von 1938 bis 1945 geltende Kriegsstrafverfahrensordnung, die die Weisungsbefugnis der Gerichtsherren eng begrenzte und Anklagevertreter verpflichtete, rechtliche Bedenken gegen eine Weisung vorzutragen und schriftlich festzuhalten, falls diese unberücksichtigt blieben. Davon hatte Filbinger bei Gröger abgesehen, weil er die Weisung, wie er Augstein gegenüber bestätigte, nicht für rechtswidrig hielt. Wegen seiner antinazistischen Haltung habe er aussichtslose Fälle „anstandslos passieren lassen, um in aussichtsreicheren Fällen erfolgreich tätig werden zu können“. Am 12. Mai fragte Zeitredakteur Theo Sommer, ob „Bemühung, Mannhaftigkeit, vielleicht schon ein wenig Schläue genügt haben könnten, das nur scheinbar Unabwendbare abzuwenden?“ Joachim Fest fragte in der FAZ am 26. Mai, „ob nicht etwas weniger beflissener Erledigungswahn dem Verurteilten das Leben hätte retten können“. Der Historiker Heinz Hürten meinte in einem 1980 erschienenen Aufsatz, Filbinger habe wegen der in der Verhandlung aufgedeckten Täuschungsversuche Grögers nur die Todesstrafe beantragen können. Er habe als Ankläger auch nicht auf die dem Urteil folgende gerichtliche Prüfung eines Gnadengesuchs einwirken dürfen. Die Hinrichtung habe sich nach der Urteilsbestätigung durch den Oberbefehlshaber der Kriegsmarine nicht mehr hinauszögern lassen. Hürten erwähnte einen anderen Marine-Ankläger, der nach einem Todesurteil eine Eingabe an den Oberbefehlshaber gesandt und dafür zwar einen dienstlichen Verweis erhalten, jedoch die Aufhebung des Urteils erwirkt hatte. Golo Mann sprach schon am 6. August 1978 von einer „Menschenhatz“ gegen Filbinger. 1987 folgte er Filbingers Memoiren: Das Todesurteil gegen Gröger habe festgestanden, seine Rettung sei „von vornherein unmöglich“ gewesen. Filbinger sei kein Anhänger Hitlers, sondern eines „freiheitlichen Rechtsstaates“ gewesen, der sich gegen seinen Einsatz als Militärjurist gewehrt habe. In seinem Amt habe er sich dann so „human“ verhalten, „wie er irgend durfte.“ Er könne durchaus zwei ohnehin nicht vollstreckbare Todesurteile vergessen haben. Mann fragte, ob Hochhuth 1978 „eine Liste deutscher Politiker durchging, biographische Fakten studierte und sich dann für die Akten eines Marinerichters entschloß – oder, ob er Winke von anderswoher erhalten hat.“ Zu Filbingers 90. Geburtstag 2003 untersuchten Historiker das Thema erneut. Florian Rohdenburg fand bei Recherchen im Bundesarchiv, dass Ankläger und Richter der NS-Militärjustiz nie bestraft wurden, wenn sie von Vorgaben der Gerichtsherrn abweichende Anträge stellten oder Urteile fällten. Ihm folgend meinte Wolfram Wette, Filbinger hätte seinen Vorgesetzten mitteilen können, dass er das erstinstanzliche Urteil gegen Gröger weiter für ausreichend halte. Denn Grögers militärischer Vorgesetzter hatte ihn in einer Stellungnahme für den zweiten Prozess als „hoffnungslosen Schwächling“ bezeichnet, „der nie seine Soldatenpflichten erfüllen wird“. Bei fehlender „Mannhaftigkeit“ konnte man nach dem NS-Militärrecht von der Todesstrafe absehen. Dass Filbinger dies nicht erwog, führt Wette auf seine Geringschätzung Grögers zurück: Dieser sei für ihn wegen seiner militärischen Vorstrafen „für die kämpfende Volksgemeinschaft ohne Wert“ gewesen. Dagegen zeige Forstmeiers Aussage, dass er sehr wohl Handlungsspielräume zum Vermeiden eines Todesurteils gehabt habe. Dagegen betonte Günther Gillessen im November 2003 im Anschluss an Hürten und Franz Neubauer erneut die damaligen Prozessumstände: Filbinger habe den Fall erst nach Abschluss der Untersuchung mildernder Umstände übernommen, also die Anklage nicht mit vorbereiten und der gesetzmäßigen Weisung des Flottenchefs nicht widersprechen können. Ein Gnadengesuch habe nur dem Verteidiger zugestanden, Gnadengründe hätte nur der Richter dem Gerichtsherrn darstellen müssen. 2004 erstattete Strafanzeigen gegen Filbinger wegen der Mitwirkung an Todesurteilen wurden nicht weiter verfolgt. Militärhistoriker Manfred Messerschmidt sagte nach Prüfung der Originalakten zum Fall Gröger im April 2007: „Filbinger hätte die Todesstrafe nicht fordern müssen, er hat trotzdem in dem Verfahren mitgespielt. Das war gut, um seine Position als Marine-Oberstabsrichter zu sichern. Aus anderen Fällen ist bekannt, dass es keinen Zwang dazu gab. Filbinger hätte nicht einmal ein Disziplinarverfahren fürchten müssen, hätte er sich anders entschieden…“ So sei etwa Reichkriegsgerichtsrat Hans-Ulrich Rottka für seine häufigen Anträge auf genauere Prüfung der Anklage, um voreilige Todesurteile zu vermeiden, nur entlassen worden. Helmut Kramer zufolge versuchte Filbinger zu verschleiern, dass er als Ankläger „ein ungerechtes Todesurteil gefordert und damit das Gericht in Zugzwang gebracht“ habe. Er sei einer der „furchtbaren Juristen“, aber nur ein typischer Mitläufer unter etwa 2.500 bis 2.800 Militärrichtern der NS-Zeit gewesen. Historische und rechtliche Aufarbeitung der Wehrmachtsjustiz Nach Filbingers Rücktritt eröffnete Franz Josef Strauß eine Bundestagsdebatte über die Verjährungsfrist für NS-Verbrechen am 14. August 1978 mit dem Vorwurf: „Das Materialsammeln, Schnüffeln, Drecksuchen, Anschießen, Hetzen, Rufmorden, Abschießen war eine beliebte Methode der Nazis, deren gelehrige Schüler die Roten heute sind.“ Er forderte eine Generalamnestie für NS-Täter. Herbert Wehners Gegeninitiative, Verjährung bei Mord generell aufzuheben, fand 1979 eine parteiübergreifende Mehrheit. Die Filbinger-Affäre verstärkte die um 1966 begonnene empirische Erforschung der Wehrmachtsjustiz. Der ehemalige Luftwaffenrichter Otto Peter Schweling und Erich Schwinge hatten diese 1977 als „antinationalsozialistische Enklave der Rechtsstaatlichkeit“ dargestellt und Todesstrafen auch für jugendliche Deserteure gerechtfertigt, die sogar nach Hitlers Erlass hätten freigesprochen werden können. Mit ihren Argumentationsmustern verteidigte sich Filbinger seit 1978. Dagegen wiesen Fritz Wüllner und Manfred Messerschmidt vom Militärgeschichtlichen Forschungsamt in Freiburg/Breisgau 1987 detailliert nach, dass die Wehrmachtsjustiz in „nahtloser Anpassung an die NS-Rechtslehre“ über 30.000 Todesurteile und zehntausende Hinrichtungen zu verantworten hatte. Ohne Hochhuths Angriff auf Filbinger, so die Autoren, wäre dies weiter kaum näher untersucht worden. 1987 erschien Ingo Müllers Buch Furchtbare Juristen, das die Rolle der NS-Justiz und den Umgang der bundesdeutschen Justiz damit behandelte. 1988 verwies Heinrich Senfft in einem Buch zur politischen Justiz in Deutschland darauf, dass die Todesurteile der NS-Richter nach 1945 nicht gesühnt wurden. Der Bundesgerichtshof (BGH), der die Strafverfolgung von Juristen der NS-Zeit lange Zeit weitgehend verhindert hatte, stellte am 16. November 1995 in einem obiter dictum (lat. „nebenbei Gesagtes“) fest: Die NS-Justiz habe die Todesstrafe beispiellos missbraucht. Ihre Rechtsprechung sei „angesichts exzessiver Verhängung von Todesstrafen nicht zu Unrecht oft als ‚Blutjustiz‘ bezeichnet worden“. Eine „Vielzahl ehemaliger NS-Richter“, die in der Bundesrepublik ihre Laufbahn fortsetzten, hätten „strafrechtlich wegen Rechtsbeugung in Tateinheit mit Kapitalverbrechen zur Verantwortung gezogen werden müssen… Darin, daß dies nicht geschehen ist, liegt ein folgenschweres Versagen bundesdeutscher Strafjustiz.“ Dies begrüßten Juristen und Militärhistoriker als Abkehr von alten Betrachtungsweisen und „selbstkritische Bilanz des Umgangs mit der NS-Militärjustiz“. Dieser Wandel ermöglichte allmählich auch die Rehabilitierung der Opfer der NS-Militärjustiz und Entschädigung ihrer Angehörigen, die vor allem die Evangelische Kirche in Deutschland verlangte. Das am 23. Juli 2002 verabschiedete Gesetz zur Aufhebung nationalsozialistischer Unrechtsurteile in der Strafrechtspflege rehabilitierte alle als Deserteure der Wehrmacht Verurteilten nachträglich. Am 8. September 2009 hob der Bundestag einstimmig auch alle wegen sogenannten Kriegsverrats gefällten NS-Urteile auf, die bis dahin noch einer Einzelfallprüfung überlassen waren. Am 22. Juni 2007 eröffnete die Berliner Stiftung Denkmal für die ermordeten Juden Europas in Wien eine Wanderausstellung unter dem an das bekannte Filbingerzitat angelehnten Titel „Was damals Recht war … – Soldaten und Zivilisten vor Gerichten der Wehrmacht“. Sie zeigt analog zur Wehrmachtsausstellung in Österreich und Deutschland Ergebnisse von zwei Jahren Forschung zur Unrechtsjustiz der NS-Zeit. Bundespräsident Richard von Weizsäcker sagte zur Eröffnung der Ausstellung: „Die Jahrzehnte währenden Debatten um die Motive der Angeklagten verstellten den Blick auf die Justiz, die sie verurteilte. Die Wehrmachtgerichte waren ein Instrument des nationalsozialistischen Unrechtsstaates.“ Künstlerische Verarbeitung Am 29. Juni 1979 führte der Regisseur Claus Peymann, den Filbinger zuvor zum Rücktritt gezwungen hatte, in Stuttgart das Stück Vor dem Ruhestand, Eine Komödie von deutscher Seele von Thomas Bernhard erstmals auf. Die Hauptfigur ist ein ehemaliger KZ-Kommandant und nachmaliger Gerichtspräsident, der noch als Rentner jährlich zu Heinrich Himmlers Geburtstag seine alte Uniform anzieht. Wie Filbinger glaubt auch diese Figur eines Juristen, heute könne nicht Unrecht sein, was einst Recht gewesen sei. Das Drama war von der Filbingeraffäre angeregt und behandelte das Thema, dass sich die alten Nazis nicht geändert haben. Obwohl es nicht direkt auf der Affäre beruhte, wurde es als Antwort darauf und auf die damit verbundenen Themen verstanden. Im Oktober 1979 erschien Hochhuths Theaterstück Juristen, das im Anschluss an sein Buch Eine Liebe zu Deutschland, aber allgemeiner die Rolle von Wehrmachtsrichtern in der NS-Zeit thematisierte. Es wurde zum Teil als unzeitgemäß plakativ, effekthascherisch und künstlerisch wertlos kritisiert. 2014 berichtete der ehemalige Chefredakteur der Thüringer Allgemeinen Sergej Lochthofen von einem Interview, das er 1978 mit einem U-Boot-Maat geführt hatte. Dieser berichtete ihm, er habe im Krieg als Prozessbeobachter in Norwegen zwei Todesurteile Filbingers miterlebt, die beide kurz danach vollstreckt worden seien. In einem Fall habe Filbinger einen Elsässer des Hochverrats angeklagt, weil dieser sich als Franzose, nicht als Deutscher sah und sich darum nicht am Morden habe beteiligen wollen. Im zweiten Fall habe er einen Matrosen angeklagt, der laut Meldung eines Kameraden „Feindsender“ gehört haben sollte. Lochthofens Bericht dazu wurde in der DDR nicht veröffentlicht, angeblich, um sich nicht „in die inneren Angelegenheiten der BRD“ einzumischen. Literatur Verteidigend Bruno Heck (Konrad-Adenauer-Stiftung, Hrsg.), Heinz Hürten, Wolfgang Jäger, Hugo Ott: Hans Filbinger – Der Fall und die Fakten: Eine historische und politologische Analyse. Hase & Koehler, Mainz 1980, ISBN 3-7758-1002-1. Franz Neubauer: Der öffentliche Rufmord. 2., veränderte und überarbeitete Auflage. Roderer, Regensburg 2007, ISBN 978-3-89783-589-4. Kritisch Wolfram Wette (Hrsg.): Filbinger. Eine deutsche Karriere. Zu Klampen, Springe 2006, ISBN 3-934920-74-8. Helmut Kramer: Hans Filbinger. In: Helmut Kramer, Wolfram Wette (Hrsg.): Recht ist, was den Waffen nützt: Justiz und Pazifismus im 20. Jahrhundert. Aufbau Verlag, Berlin 2004, ISBN 3-351-02578-5, S. 43ff. Thomas Ramge: Der furchtbare Jurist. Marinerichter Hans Karl Filbinger und sein pathologisch gutes Gewissen. (1978) In: Thomas Ramge: Die großen Polit-Skandale. Eine andere Geschichte der Bundesrepublik. Campus, Frankfurt am Main 2003, ISBN 3-593-37069-7 (Buchauszug online) Rolf Surmann: Filbinger. NS-Militärjustiz und deutsche Kontinuitäten. In: Dieter Schröder, Rolf Surmann (Hrsg.): Der lange Schatten der NS-Diktatur. Unrast, Münster 1999, ISBN 3-89771-801-4. Heinrich Senfft: Richter und andere Bürger. 150 Jahre politische Justiz und neudeutsche Herrschaftspolitik. Greno, Nördlingen 1988, ISBN 3-89190-957-8, S. 16–37. Rosemarie von dem Knesebeck (Hrsg.): In Sachen Filbinger gegen Hochhuth. Die Geschichte einer Vergangenheitsbewältigung. Rowohlt, Reinbek bei Hamburg 1983, ISBN 3-499-14545-6. Zeitgeschichtlicher Kontext Jörg Musiol: Vergangenheitsbewältigung in der Bundesrepublik. Kontinuität und Wandel in den späten 1970er Jahren. Tectum, Marburg 2006, ISBN 3-8288-9116-0. Norbert Frei: Karrieren im Zwielicht. Hitlers Eliten nach 1945 [Das Buch zur ARD-Fernsehserie]. Campus, Frankfurt am Main 2001, ISBN 3-593-36790-4. Michael Schwab-Trapp: Konflikt, Kultur und Interpretation: eine Diskursanalyse des öffentlichen Umgangs mit dem Nationalsozialismus. Westdeutscher Verlag, Opladen 1996, ISBN 3-531-12842-6. Weblinks Baden-Württembergs Ministerpräsident muss 1978 zurücktreten: Die Filbinger-Affäre. SWR2, 14. Mai 2020 Horst Bieber, Joachim Holtz, Joachim Schilde, Hans Schueler, Theo Sommer: Dokumentation: Erschießen, Sargen, Abtransportieren. Die Zeit, 12. Mai 1978; aktualisierter Nachdruck, 30. März 2007 / 16. April 2007 Theo Sommer: Die Bürde der Vergangenheit. Die Zeit, 12. Mai 1978; Nachdruck 13. April 2007 (DasErste.de, 4. November 2015) Umstrittene Trauerrede für Hans Filbinger In: Landeszentrale für politische Bildung Baden-Württemberg (Kapitel: Der „Fall“ Hans Filbinger) Jörg Beuthner: 07.08.1978 - Rücktritt von Hans Filbinger. WDR ZeitZeichen vom 7. August 2013 (Podcast). Einzelnachweise Politische Affäre in der Bundesrepublik Deutschland Politik 1978 Militärjustiz Aufarbeitung des Nationalsozialismus Hans Filbinger
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https://de.wikipedia.org/wiki/Landesb%C3%BChne%20Niedersachsen%20Nord
Landesbühne Niedersachsen Nord
Die Landesbühne Niedersachsen Nord (LBNN) ist ein 1952 gegründetes Theater mit Standort in Wilhelmshaven. Hervorgegangen aus der Ostfriesischen Landesbühne in Leer, ist es heute eine von zwei Landesbühnen in Niedersachsen (neben dem Theater für Niedersachsen in Hildesheim). Zu den Besonderheiten dieser Häuser zählt es, dass sie nicht nur jeweils ihren Stammort und Verwaltungssitz mit Theaterkunst versorgen, sondern darüber hinaus auch ein großes Spielgebiet im ländlichen Raum. Im Fall der Landesbühne Niedersachsen Nord, die in den 1950er Jahren noch bis in die Lüneburger Heide reiste, änderten sich die Spielorte anfangs jährlich. Heute präsentiert das Theater seine Inszenierungen in einer von 720.000 Menschen bewohnten Region, die von Ostfriesland über das Emsland bis in das Oldenburger Münsterland reicht. Die Landesbühne Niedersachsen Nord beschäftigt über 100 Mitarbeiter, darunter 22 Schauspieler, die jährlich mehr als 500 Aufführungen im kompletten Spielgebiet ermöglichen. Schwerpunkte sind das Schauspiel und das Kinder- und Jugendtheater. Träger des größten Kulturinstituts in Nordwestdeutschland war von Beginn an der „Zweckverband der Landesbühne Niedersachsen Nord“, dem die Landkreise und Städte des Spielgebietes angehören. Zusammen mit dem Land Niedersachsen gewährt der Zweckverband dem Theater jährliche Zuschüsse. Annähernd 30 Prozent seines Etats erwirtschaftet das Theater selbst. Geschichte 1947 bis 1952: Von Leer nach Wilhelmshaven Die Geschichte der LBNN begann unmittelbar nach dem Ende des Zweiten Weltkrieges, als mit den in Leer gegründeten Ostfriesischen Kammerspielen und der auf der Nordseeinsel Norderney ins Leben gerufenen Neuen Bühne die Vorläufer der Landesbühne ihren Spielbetrieb aufnahmen. Die finanziell auf wackligen Beinen stehenden Theater fusionierten zu der ab Juni 1948 so bezeichneten Ostfriesischen Landesbühne GmbH in Leer, die nach Plänen ihrer Leiter verschiedene Gastspielorte mit Theaterkunst aller Sparten versorgen sollte. Schon recht bald zeigte sich aber, dass Leer für die Unternehmung einer Tourneebühne entscheidende Nachteile aufwies: Der Ort lag einerseits nicht zentral genug für die Abstecher zu den verschiedenen Spielstätten, andererseits war das Einzugsgebiet der Stadt selbst zu klein. Ein Umzug in die nahegelegene Großstadt Wilhelmshaven, die seit ihrer Gründung im Jahr 1869 über eine reiche Theatertradition verfügte, war aus diesem Grund naheliegend. Im Zuge des Wiederaufbaus nach dem Krieg war in Wilhelmshaven bereits im April 1947 ein „Theaterbauverein“ mit dem Ziel gegründet worden, die Errichtung eines neuen Theaters voranzutreiben, das die 1943 dem Luftkrieg zum Opfer gefallene Städtische Bühne im Seemannshaus ersetzen sollte. Nach vielen Diskussionen entstand ein neues Bühnengebäude durch den Umbau der zentral gelegenen ehemaligen Marine-Intendantur aus dem Jahr 1904. Der Lichthof des Gebäudes an der Kreuzung Virchow-/Ecke Peterstraße, eine Fläche von 13 mal 31 Metern, wurde überdacht, auf diese Weise Platz für die Bühne und den Zuschauerraum gewonnen. Die vormaligen Diensträume wichen auf zwei Stockwerken dem neugeschaffenen Foyer sowie Büros für die Angestellten. Die Sitze des Theaters – 718 im Parkett und 155 auf den Rängen – wurden von der Wilhelmshavener Bevölkerung gespendet, die damit ihre Anteilnahme an der neuen Kulturinstitution bekundete. Das neue Stadttheater Wilhelmshaven war anfangs jedoch ein „Haus ohne Ensemble“. Erst durch die schließlich 1952 vom niedersächsischen Kultusminister Richard Voigt vorgenommene Umgründung der Ostfriesischen Landesbühne in die Landesbühne Niedersachsen Nord, mit Verwaltungssitz in Wilhelmshaven, kam das Stadttheater in den Genuss regelmäßiger Schauspiel-Aufführungen. Gleichzeitig wurde vereinbart, dass das Stadttheater auch musikalische Produktionen des Oldenburgischen Staatstheaters, plattdeutsche Stücke der seit 1932 existierenden Niederdeutschen Bühne und Konzerte des Städtischen Orchesters beherbergen sollte. Die Landesbühne wiederum hatte ein großes Spielgebiet vom Emsland bis in die Lüneburger Heide abzudecken und gastierte in ihren ersten Jahren außer an ihrem Stammort Wilhelmshaven in den folgenden Städten, Gemeinden und Kurorten: Ahmsen, Aurich, Brake, Emden, Esens, Jever, Juist, Leer, Meppen, Norden, Norderney, Oldenburg, Papenburg, Pewsum, Rotenburg/Wümme, Sögel, Soltau, Stade, Varel, Weener, Werlte, Westrhauderfehn, Wittmund und Zeven. Manche dieser Orte unterhielten später nicht dauerhaft ein eigenes Theater, andere Orte fielen in den Zuständigkeitsbereich der ebenfalls 1952 gegründeten Landesbühne Hannover (heute: Theater für Niedersachsen mit Sitz in Hildesheim), so dass sich das Spielgebiet der LBNN anfangs von Saison zu Saison unterschied. Um die Landesbühne auf eine solide rechtliche und finanzielle Basis zu stellen, wurde schon 1947 der „Zweckverband der Landesbühne Niedersachsen Nord“ gegründet, dem Vertreter der kreisfreien Städte, der kreisangehörigen Städte und der Landkreise im Spielgebiet angehören. Unmittelbares organisatorisches Vorbild der Körperschaft, die ihren Sitz bis heute in Aurich hat, war dabei eine Institution abseits der Kulturarbeit, nämlich der „Zweckverband zur Kadaververwertung in Ostfriesland“. Seit 1953 fungiert der Verband als alleiniger Gesellschafter einer GmbH. Zu den Aufgaben seines Aufsichtsrates zählt es, den Intendanten der Landesbühne zu bestellen. Die Mitglieder des Zweckverbandes zahlen Beiträge auf Basis ihrer Einwohnerzahl, die zusammen mit den Zuschüssen des Landes Niedersachsen ein wichtiges wirtschaftliches Fundament der Landesbühne bilden. 1952 bis 1958: Die ersten Spielzeiten Die ersten künstlerischen Leiter der LBNN hatten noch in Leer gewirkt: Wilhelm Grothe und Herbert Paris. Letzterer übernahm ab 1952 gleichzeitig die Funktion eines Intendanten des Stadttheater Wilhelmshaven. Diese Personalunion – Leiter der Landesbühne und Intendant – stellte bis Mitte der 1990er Jahre die Regel in Wilhelmshaven dar, aber es gab auch Ausnahmen. Zwischen 1958 und 1964 stand zum Beispiel Rudolf Sang, der frühere Oberspielleiter in Oldenburg, dem Stadttheater vor, während Rudolf Stromberg in diesem Zeitraum als Intendant der LBNN tätig war. Die erste Inszenierung der Landesbühne Niedersachsen Nord, eine Einstudierung des Hamlet, hatte am 19. Oktober 1952 in Form einer Festaufführung Premiere in Wilhelmshaven. Die Titelrolle spielte an diesem Abend der Gast Bernhard Minetti. Am Vormittag desselben Tages war das Stadttheater mit einer Matinee-Veranstaltung offiziell eröffnet worden; die Festrede hielt der Berliner Theaterwissenschaftler Hans Knudsen. In den ersten Spielzeiten überwogen deutlich Aufführungen von Klassikern. Neben einigen Stücken des jungen Schiller (Die Verschwörung des Fiesco zu Genua, Don Karlos) standen dabei große und ein personell begrenztes Ensemble herausfordernde Produktionen wie Ein Wintermärchen von Shakespeare oder Der Ritter von Zalamea von Calderón auf dem Programm. Doch auch die moderne Dramatik der ersten Nachkriegsjahre fand Einzug in die Landesbühne; so wurde Sartres Geschlossene Gesellschaft ebenso gezeigt wie Arthur Millers Stücke Alle meine Söhne und Hexenjagd. Unerschrockenheit bewies die Bühne mit einigen Uraufführungen sowie der Inszenierung von Rolf Honolds Schauspiel Der Stoß nach Ssogrebitsche, einer frühen Auseinandersetzung mit den Kriegsjahren. Als lokale Besonderheit gelangte das Drama Nicht im Hause, nicht auf der Straße zur Aufführung, dessen Autor Hans-Joachim Haecker als Lehrer an einem Wilhelmshavener Gymnasium arbeitete. Die Inszenierung, die eine Klageprozession enthielt und Wachträume des Protagonisten thematisierte, forderte die Schauspieler zu einem nicht-mimetischen Spielstil heraus und wurde vom Publikum zurückgewiesen. Dennoch bescheinigte die Kritik den Verantwortlichen, zeitgenössisches Theater zu machen: „Einen Vorwurf darf man der Wilhelmshavener Landesbühne nicht mehr machen: Mangel an Experimentierfreudigkeit und Nichtentsprechen der geistigen Strömungen unserer Zeit.“ Schon im Sommer 1955 wechselte Herbert Paris nach Hamburg an die Staatsoper, während Wilhelm Grothe ebenfalls in die Hansestadt zog und dort als Schauspieler wirkte. Deren Nachfolger Hermann Ludwig, der zuvor die Volksbühne in Hannover geleitet hatte, eröffnete seine Intendanz mit Lessings Nathan der Weise. Er führte in vielerlei Hinsicht das Werk von Grothe und Paris fort. So präsentierte er mit Blick von der Brücke ein weiteres Drama von Arthur Miller und griff aktuelle Probleme auf. In Wilhelmshaven wurde Gerd Oelschlegels Stück Die tödliche Lüge uraufgeführt, das das Schicksal eines Ehepaares aus der Sowjetischen Besatzungszone und dessen Versuche beleuchtet, in der westdeutschen Gesellschaft Fuß zu fassen. 1958 bis 1973: Rudolf Stromberg Leiter der Landesbühne wurde 1958 Rudolf Stromberg. Der Vater des späteren Intendanten des Deutschen Schauspielhauses in Hamburg, Tom Stromberg, hatte in Wien, Graz, Stuttgart, Mannheim und schließlich Wilhelmshaven Erfahrungen als Schauspieler, Dramaturg und Regisseur gesammelt, außerdem eine Zeitlang als Kritiker gearbeitet. Er war mit dem Metier des Theaters also von allen Seiten vertraut. Der häufig ortsabwesende Intendant Ludwig hatte ihn zudem mit Führungsaufgaben betraut und ihn zu seinem Nachfolger erkoren. Stromberg setzte sich von Anfang an dafür ein, die Arbeitsbedingungen der Landesbühne und ihres Ensembles an allen Spielstätten zu verbessern. Der Westflügel des Stadttheaters in Wilhelmshaven wurde ausgebaut, wodurch neue Magazinräume, eine neue Schneiderei und eine kleine Probebühne entstanden. Der Name Strombergs ist aber vor allem mit einer Reihe von neuen Saalbauten verbunden, die nach seiner Konzeption an verschiedenen Orten des Spielgebietes errichtet wurden. Die neu gewonnenen Spielflächen befanden sich in der Regel in Schulgebäuden, wo sie als Aulen zur Verfügung standen, gleichzeitig aber auch den Erfordernissen des Theaterbetriebes (Bühne mit Mindestfläche, ausreichende Beleuchtung, ansteigende Stuhlreihen, Garderobenräume etc.) genügen mussten. Ein erwünschter Nebeneffekt dieser Bautätigkeit lag darin, dass Schüler oft einen beträchtlichen Teil des Publikums ausmachten. Die Idee der Saalbaukette, die bundesweit Beachtung fand und in Schleswig-Holstein kopiert wurde, hatte außerdem den Vorteil, dass an den verschiedenen Orten ähnliche Bedingungen herrschten und beispielsweise die Bühnenbilder nicht jeweils den lokalen Verhältnissen angepasst werden mussten. Auch in künstlerischer Hinsicht hatte Stromberg klare Vorstellungen. Er versuchte, die Zahl der Gastspiele anderer Bühnen in Wilhelmshaven zu minimieren und dadurch den Ensemblegeist an der Landesbühne zu stärken. Seine Inszenierungen klassischer Stücke (zum Beispiel von Shakespeare, Schiller, Ibsen und Shaw) standen in der Tradition des Regietheaters, passten sich mit teilweise umfassenden Strichen den jeweiligen Zeithintergründen an und wurden auch außerhalb der Landesgrenzen wahrgenommen. Vor allem aber öffnete sich Stromberg der zeitgenössischen Dramatik. Das seit Mitte der 1950er Jahre im Entstehen begriffene absurde Theater war an der Landesbühne durch Autoren wie Eugène Ionesco (Die kahle Sängerin; Die Unterrichtsstunde; Die Nashörner) und Wolfgang Hildesheimer (Die Verspätung) früh repräsentiert. Im Laufe der 1960er Jahre verschoben sich die Akzente zugunsten einer bewusst gesellschaftskritischen Literatur. Zu sehen waren nun zweimal das Anti-Kriegs-Stück Mutter Courage und ihre Kinder von Bertolt Brecht, eine Reihe der bitteren Komödien Friedrich Dürrenmatts, die kabarettistisch-skizzenhaften Nachrichten aus der Provinz von Jochen Ziem oder Heinar Kipphardts heftig diskutiertes Zeitstück In der Sache J. Robert Oppenheimer. Nachhaltig vertraut machte Stromberg sein Publikum außerdem mit dem aktuellen französischen Theater; in das Repertoire gelangten unter anderem Stücke von Sartre, Camus, Giraudoux, Anouilh und Queneau. Stromberg lehnte leichte, unverpflichtende Unterhaltung ab und verteidigte seinen Spielplan mit einem von Sartre abgeleiteten Begriff als „engagiertes Theater“. „Wir wollen“, schrieb er in einer ersten Bilanz nach fünf Jahren, „daß die Ereignisse auf der Bühne […] den Besucher aufrufen, alte Gedanken und Überzeugungen neu zu überdenken, ihn mahnen zur Selbstbesinnung, zur Erkenntnis und Kritik seiner Tugenden und Untugenden, ihn auffordern, mit klarem, besserem Bewusstsein [sic] zu leben, ihm Mut eingeben, selbstbewußter, individualistischer, beherzter und konsequenter seinen Weg zu gehen.“ Diese Theaterauffassung führte teilweise zu Konflikten mit dem Publikum, das gerade in den kleineren Spielorten der Landesbühne (zum Beispiel in Varel und Jever) nicht mehr so zahlreich zu den Aufführungen erschien. Das Theater reagierte mit einer Serie von „Ausspracheabenden“, an denen neben dem Intendanten und Regisseuren auch Repräsentanten der Volkshochschulen oder kommunalen Bibliotheken teilnahmen. Allein im Frühjahr 1969 beteiligten sich Vertreter der Landesbühne an nicht weniger als 21 Diskussionsrunden im gesamten Spielgebiet. In der Repertoirepolitik zeigte sich die LBNN jedoch nicht kompromissbereit. Dem Bedürfnis nach einem nicht anklagenden, nicht bedrückenden Theater, das vor allem die ältere Generation in den Diskussionen geltend gemacht hatte, wollte die Intendanz mit der Ansetzung von Peter Handkes Sprechstück Publikumsbeschimpfung begegnen. Der Autor untersagte dem Theater jedoch, wie auch anderen Bühnen zu jener Zeit, sein Stück zu spielen. Aus dieser Not – und aus einem gewissen Ärger heraus – erarbeitete die Landesbühne unter der Ägide des Schauspielers und Dramaturgen Moritz Boerner die Produktion Die Publikumsbesänftigung, die sich, satirisch gebrochen, in einen Dialog mit Handkes Text begab und die Zuschauer ebenso mit ihren Ansprüchen konfrontierte. Die Produktion Victor oder die Kinder an der Macht (auf Grundlage des gleichnamigen Dramas von Roger Vitrac) wurde 1972 zum 2. Norddeutschen Theatertreffen in Hamburg eingeladen und gewann einen Preis, der darin bestand, dass die Inszenierung in den Dritten Fernsehprogrammen von NDR, Radio Bremen und Sender Freies Berlin ausgestrahlt wurde. Im Herbst desselben Jahres feierte die Landesbühne ihr 20-jähriges Jubiläum. Auf den langen Reisen in die verschiedenen Spielorte, von denen die Schauspieler und Techniker oft erst weit nach Mitternacht zurückkehrten, waren bis zu diesem Zeitpunkt 724.822 Kilometer zurückgelegt worden. Rudolf Stromberg, der erheblich dazu beigetragen hatte, die Landesbühne als Kulturinstitution dauerhaft zu etablieren, wurde im Dezember 1973 mit dem Niedersächsischen Verdienstorden ausgezeichnet. Zu diesem Zeitpunkt hatte er Wilhelmshaven nach 15-jähriger Intendanz bereits verlassen und die Städtischen Bühnen Augsburg übernommen. 1973 bis 1979: Mario Krüger Strombergs Nachfolger wurde der ehemalige Kieler Chefdramaturg Mario Krüger. Während seiner sechsjährigen Intendanz gelang es, ein lange geplantes Vorhaben in die Tat umzusetzen. In einem Seitentrakt des Stadttheater Wilhelmshaven wurden 1976 neue Räumlichkeiten für Werkstätten eingeweiht, so dass sich nun Malersaal, Montagehalle, Tischlerei, Möbellager, Dekorationshalle, Requisitenräume und ein Elektrolager für Scheinwerfer unter einem Dach befanden. Zuvor mussten die Bühnenbilder in einem Kasernenbau in der Schellingstraße, mehrere Kilometer vom Theater entfernt, angefertigt werden. Da die Räume dort nur drei Meter hoch waren, konnten Prospekte und andere große Flächen nur mit Hilfe einer komplizierten Falttechnik hergestellt bzw. bearbeitet werden. Für das technische Personal der Landesbühne stellten die neuen Werkstätten, die für die relativ geringe Summe von einer Million Mark entstanden waren, eine erhebliche Erleichterung ihrer Arbeit dar. Auch von einer anderen Maßnahme Krügers profitierten die Techniker der Landesbühne. Für diese Mitarbeitergruppe wurde neben der BfA-Rente eine zweite Rente und damit eine größere soziale Absicherung vereinbart. Das technische Personal wurde damit in dieser Hinsicht den Schauspielern gleichgestellt. In seiner Spielplanpolitik setzte Mario Krüger im Verhältnis zum aufklärerisch-gesellschaftskritischen Theater seines Vorgängers bewusst andere Akzente. So kündigte er im Werbeheft für die Spielzeit 1977/78 ein neuverstandenes „Volkstheater“ an, das er als ein „Theater für Mehrheiten“ definierte. Als wesentlichen Aspekt bezeichnete er dabei die „allgemeine Verständlichkeit der Thematik.“ Noch in einem rückblickenden Artikel 25 Jahre später, aus Anlass einer Buchveröffentlichung über die Landesbühne, fasste er das Theater als eine Institution auf, die weniger zu provozieren oder zu verstören habe, sondern der es obliege, „den Zusammenhalt der Gesellschaft zu gewährleisten, Gesellschaft zu stabilisieren“. Das Resultat dieser Anschauungen war ein Theater, das nach Einschätzung des Theaterwissenschaftlers Karl Veit Riedel weniger Experimente oder gar „Depressives“ hervorbrachte und stattdessen „dem heiteren Genre mehr Raum“ zubilligte. Ernste Dramen, zum Beispiel Tod eines Handlungsreisenden von Arthur Miller, wurden thematisch betont boulevardesken Produktionen wie Der Trauschein von Ephraim Kishon gegenübergestellt – und die Kontrastwirkung noch dadurch erhöht, dass in beiden Inszenierungen dieselben Schauspieler, Barbara Dembeck und Klaus Hofer, die zentralen Rollen der Eheleute übernahmen. Auch die Sommerspielzeit auf Norderney, mit der eine Saison der Landesbühne traditionell begann, stand wieder deutlicher im Zeichen leichterer Dramatik und von Kriminalstücken. Dennoch griffen auch Mario Krüger und seine künstlerischen Mitarbeiter vereinzelt Zeitthemen auf. Mit der Ansetzung von Georg Kaisers expressionistischem Stück Gas aus dem Jahre 1918 reagierte die Bühne auf eine Reihe größerer Industrieansiedlungen und Brückenbauten in Wilhelmshaven, die in den 1970er Jahren küstennahe Landschaften, so etwa Teile des Geniusstrandes im Stadtteil Voslapp, zerstörten. Die mangelnde Sensibilität im Umgang mit der Natur, die vor allem junge Menschen zu Protesten veranlasste, findet in Kaisers Schauspiel ein Pendant in der rücksichtslosen Ausbeutung von Energieressourcen. Auch Arnold Weskers zeitgenössisches Stück Goldene Städte, das das Scheitern von sozialen Utopien zum Thema hat, fand besonders bei der Jugend Anklang. Kritisierte schon Weskers Drama den nüchternen Pragmatismus der Labour Party, verspottete Rolf Hochhuths politische Komödie Die Hebamme, die der Autor 1978 selbst in Wilhelmshaven inszenierte, unter anderem die Korruption eines Oberstadtdirektors der SPD. Die Theatergänger im Nordwesten Deutschlands dürften diese Attacken auf die Sozialdemokraten als indirekte Auseinandersetzung mit kommunalen Entscheidungsträgern verstanden haben, die unter anderem in Zusammenhang mit der Errichtung eines PVC-Werkes der Imperial Chemical Industries an der Innenjade in die Kritik geraten waren. 1979 bis 1994: Georg Immelmann Eine neue Blütezeit erlebte die Landesbühne Niedersachsen Nord ab 1979, als Georg Immelmann, der frühere Chefdramaturg des Theater Aachens, die Intendanz in Wilhelmshaven übernahm. Als Oberspielleiter verpflichtete er bis 1984 Johannes Kaetzler, der zuvor als Assistent Ingmar Bergmans am Residenztheater in München gewirkt hatte. Zusammen mit dem Dramaturgen Kurt Kreiler wurde eine Theaterprogrammatik entwickelt, die selbstbewusst die „Verweigerung provinziellen Denkens“ in den Mittelpunkt rückte. Im Rahmen dieser Programmatik kam es gleichzeitig aber auch zu einem „Bekenntnis zur Provinz“. So setzte Georg Immelmann in der Spielzeit 1986/87 das einzige Theaterstück der Weltliteratur auf den Spielplan, das in Wilhelmshaven spielt, nämlich Ernst Tollers historisches Schauspiel Feuer aus den Kesseln (1930), in dem der Autor den Matrosenaufstand vom Herbst 1918 rekonstruiert. Die Inszenierung fiel in die Zeit der Filbinger-Affäre und der hitzigen Diskussionen um die Todesurteile des ehemaligen Marinerichters. Das Thema der Marinegerichtsbarkeit speziell des Ersten Weltkrieges arbeitete die LBNN in Kooperation mit verschiedenen Dienststellen der Bundesmarine auf; parallel dazu wurde im Foyer des Stadttheaters, der ehemaligen Marine-Intendantur, eine Ausstellung eingerichtet. Die Aufführungen und begleitenden Veranstaltungen wurden vom Publikum gut angenommen. Während der Intendant Stromberg noch eine Vorliebe für die französische Dramatik gezeigt hatte, standen nun auffallend häufig skandinavische Klassiker im Repertoire. Johannes Kaetzler inszenierte das vergleichsweise selten gespielte Ibsen-Drama Die Frau vom Meer, dem mit Gespenster, Ein Volksfeind und Nora oder ein Puppenheim weitere Werke des Norwegers zur Seite standen. Schon 1981/82 präsentierte die Landesbühne August Strindbergs Beziehungsstück Fräulein Julie; vier Jahre später wagte sie sich an das sehr kurze, dramatisch konzentrierte Monodrama Die Stärkere desselben Autors. Auch im Bereich des Kinder- und Jugendtheaters vertraute die LBNN mit Selma Lagerlöf und den damals in Deutschland noch kaum eingeführten schwedischen Dramatikerinnen Barbro Lindgren und Ninne Olsson auf die skandinavische Literatur. Die ständige Suche nach Unentdecktem mündete während der Intendanz Immelmann allmählich in einen regelrechten „Trend zum vergessenen Klassiker“. Gespielt wurden Goethes Schwank Jahrmarktsfest zu Plundersweilern in der Bearbeitung von Peter Hacks, Friedrich Hebbels allgemein eigentlich für veraltet gehaltenes bürgerliches Trauerspiel Maria Magdalena und unter dem Eindruck der Wiedervereinigung sogar dessen auf zwei Abende verteilte umfangreiche Tragödie Die Nibelungen (Spielzeit 1989/90). Zu den ersten Stücken, die Immelmann dem norddeutschen Publikum vorstellte, zählte Lessings kaum aufgeführtes Jugendwerk Die Juden, das die religiöse Toleranz zum Thema hat. Da er im Zweifel war, ob das Lustspiel 250 Jahre nach der Geburt des Autors, 1979, noch ohne Veränderungen spielbar war, beauftragte er den Dramatiker Erwin Sylvanus mit einer Bearbeitung des Textes, die eine Verbindung zur Gegenwart herstellen sollte. Sylvanus entschloss sich, das Typenhafte des Einakters, der unter dem Einfluss der Commedia dell’arte entstanden war, zum Ausgangspunkt einer freien Fortsetzung zu machen. Besonders richtete er seine Aufmerksamkeit darauf, „die Charaktere aufzublättern, die Typen zu konfrontieren mit dem, was sie glauben zu sein, sie die Konsequenzen daraus spüren und erleben zu lassen.“ Von der Lessing-Inszenierung spannte sich der Bogen zur gezielten „Auseinandersetzung mit dem Fremden“, die in Immelmanns letzter Saison, 1993/94, einen expliziten Schwerpunkt der Spielzeit darstellte. Mit Akzenten dieser Art reagierte die künstlerische Leitung der LBNN direkt auf gesellschaftliche Entwicklungen. In einer Ankündigung hieß es: „Vielleicht das größte Problem im wiedervereinigten Deutschland und im noch nicht vereinigten Europa ist die Angst vor dem Fremden, eine Angst, die Aggressionen hervorbringt und in Haß umschlägt, der Gewalt bewirkt. Wir denken, daß sich das Theater heute diesem Problem stellen muß. Dabei wissen wir, daß es keine Lösungen anbieten kann. Aber es kann Beispiele aus der Vergangenheit zeigen, Modelle der Gegenwart beschreiben und Utopien für die Zukunft entwickeln.“ Auf die Bühne gelangten in diesem Zusammenhang Brechts Flüchtlingsgespräche, Shakespeares Klassiker Othello, Witold Gombrowicz’ Komödie Yvonne, die Burgunderprinzessin und Marivaux’ frühaufklärerischer Streit. Auch die deutsche Erstaufführung von George Taboris Emigrantendrama Requiem für einen Spion fiel in den Kontext der Beschäftigung mit der Xenophobie. Die programmatische Abkehr von provinziellem Denken implizierte, dass der Erwartungshaltung der Theatergänger teilweise bewusst entgegengearbeitet wurde. Als der AIDS-Schock im Lauf der achtziger Jahre mehrere Wellen von Tabuisierungen auslöste, setzten sich der damalige Chefdramaturg der Landesbühne, Knut Weber, und das Ensemble in Form einer choreographisch akzentuierten Aufarbeitung mit dem aktuellen Thema auseinander. Andere Spielplanentscheidungen führten an verschiedenen Orten zu direkten Zerwürfnissen mit dem Publikum. Seine zweite Saison (1980/81) eröffnete Georg Immelmann auf Norderney mit der subversiven Farce Bezahlt wird nicht! des späteren Literaturnobelpreisträgers Dario Fo. Da man an diesem Ort, im altehrwürdigen Kurtheater, eher mit einem harmlosen Unterhaltungsangebot gerechnet hatte, verließen die ersten Zuschauer unter Zwischenrufen und Protesten bereits nach zwanzig Minuten den Saal. Weitere kontroverse Stücke wie Peter Turrinis Minderleister folgten. Klaus Pohls Drama Das alte Land, das unmittelbar nach Kriegsende in der Gegend um Stade (einem damaligen Abstecherort des Theaters) spielt, konnte in einigen Orten nicht aufgeführt werden, da die lokalen Veranstalter es nach der Fernsehausstrahlung einer Kölner Inszenierung rigoros ablehnten. Dagegen zeigte die Landesbühne als erstes deutsches Theater in der Spielzeit 1991/92 das Schauspiel Untertier von Thomas Strittmatter im Abonnement. Das Stück veranschaulicht, wie brutaler Berufsalltag auf private, zwischenmenschliche Beziehungen abfärbt; die Inszenierung begann mit einer Szene, in der Polizisten nackt unter der Dusche stehen und über ihre Probleme sprechen. Die Aufführungen wurden von Teilen des Publikums und der Presse heftig abgelehnt („quälend langweilige und unfreiwillig komische Inszenierung“). Kritik regte sich auch in einigen kleineren Spielorten der Landesbühne wie Papenburg, wo das Stück kurzerhand durch eine andere Produktion ersetzt wurde. In Leer gründete sich daraufhin eine Bürgerinitiative, die forderte, das Stück nicht abzusetzen; dort wurde die Aufführung zu einem Erfolg. Zustimmung erhielt die Landesbühne auch für eine Reihe weiterer Inszenierungen. Das Stück Die Journalisten des am Theater bereits eingeführten britischen Dramatikers Arnold Wesker erlebte im September 1981 seine deutsche Erstaufführung in Wilhelmshaven. Der Autor war zu den Proben zugegen und vermittelte als Gast aus London Christopher Hewitt, dessen Simultanbühne beeindruckte. Auch ein weiteres britisches Stück, die Komödie Educating Rita, wurde in deutscher Übersetzung erstmals an einer Landesbühnen-Spielstätte (Norderney) inszeniert und anschließend bundesweit nachgespielt. Als viertes europäisches Theater überhaupt nahm sich das Haus daneben des intellektuell herausfordernden Stückes Der neue Prozeß von Peter Weiss an. Die Fachzeitschrift Theater heute lobte die von „Eindringlichkeit und Distanz“ gleichermaßen geprägte Inszenierung Johannes Kaetzlers und bescheinigte den Schauspielern, darunter der über 80-jährigen Irmgard Solm, der Aufgabe mehr als nur gewachsen gewesen zu sein. 1985 bezeichnete dieselbe Zeitschrift die Landesbühne als „Aufsteiger der Saison“; im alljährlichen Ranking der besten deutschsprachigen Theater belegte sie hinter den Münchner Kammerspielen, dem Stadttheater Freiburg und dem Münchner Residenztheater den vierten Platz. In die Zeit der Intendanz von Georg Immelmann fiel auch ein seit längerem geplanter Umbau des Stadttheater Wilhelmshaven im Jahr 1983. Durch eine umfassende Modernisierung fielen die Ränge im Zuschauerraum fort, wodurch das Kartenkontingent auf 600 Plätze sank, die sich nun ausschließlich im Parkett befanden. Gleichzeitig wurden die Foyerräume des Theaters erweitert. Von noch größerer Bedeutung war die Einweihung einer zweiten Spielstätte der Landesbühne in Wilhelmshaven. Im September 1989 wurde in den Räumlichkeiten einer ehemaligen Berufsschule das Haus in der Rheinstraße 91 bezogen, das sowohl das Junge Theater mit eigenem Stab als auch das Studio für intimere Aufführungen beherbergt. Das Junge Theater, das 2009 sein 20-jähriges Jubiläum feierte, bezeichnet sich heute als das älteste und größte Kinder- und Jugendtheater in Niedersachsen. 1994 bis 1998: Unruhige Jahre Nachdem Georg Immelmann 1994 nach fünfzehnjähriger Tätigkeit Wilhelmshaven verlassen hatte, wurde die seit 1952 bestehende institutionelle Trennung zwischen der Landesbühne Niedersachsen Nord und dem Stadttheater Wilhelmshaven aufgehoben. Die Leitung beider Institutionen befand sich nun vertraglich in einer Hand. Die daraus erwachsenden Synergieeffekte blieben jedoch zunächst aus, was auch damit zusammenhing, dass der neue Intendant Thomas Bockelmann, der als Leiter des Zimmertheaters Tübingen an die Küste gewechselt war, schon nach zwei Jahren die Landesbühne wieder verließ und die Städtischen Bühnen in Münster übernahm. In der kurzen Zeit, in der er in Niedersachsen arbeitete, konnte er dem Theater kein eigenes Profil verleihen. Auf Bockelmann geht jedoch die Einführung des Sommertheaters im Wilhelmshavener Stadtpark zurück, für das als Open-Air-Veranstaltung unter anderem eine Adaption von Goethes Urfaust entstand. Nach dem überraschenden Abgang Bockelmanns fungierte ab 1996 der Verwaltungsdirektor Arnold Preuß, der außerdem seit Mitte der achtziger Jahre der Niederdeutschen Bühne vorstand, als „interimistischer künstlerischer Geschäftsführer“ der Landesbühne. Er versuchte sich an der Arbeit seiner Vorgänger und Erfolgsrezepten der Vergangenheit anzulehnen. Unter anderem griff er die Idee des Freiluftspiels auf und wählte – mit Bezug zur Landschaft – Theodor Storms Novelle Der Schimmelreiter aus, die in einer Auftragsfassung des Argentiniers Norberto Presta 1997 in Wilhelmshaven uraufgeführt wurde. Als Regisseur kehrte Georg Immelmann, dessen Bekenntnis zur Provinz die Aufarbeitung von Stoffen der Region begründet hatte, an die Landesbühne zurück. Die Schimmelreiter-Aufführungen kamen beim Publikum gut an, und auch die Presse befand, dass das Stück „nicht für die Gartenlaube inszeniert“ war. 1998 bis 2013: Gerhard Hess Im Mai 1998 wählte der Aufsichtsrat des Zweckverbandes Gerhard Hess zum neuen Intendanten der Landesbühne. Der gebürtige Schweizer hatte als freier Regisseur unter anderem in Mannheim, Wiesbaden und Dortmund gearbeitet. Hess kam mit dem Anspruch nach Wilhelmshaven, „ein Theater zu machen, das nicht nur eine Grundversorgung leistet, sondern [ein] Theater, das sich nicht aus der inhaltlichen und ästhetischen Diskussion der deutschen Theaterszene ausklammert.“ In einer Zeit der digitalen Informationstechnik und schnellen Erreichbarkeit der führenden Großstadttheater war damit auch für Hess der Gegensatz zwischen Metropole und Provinz obsolet geworden. Sein Ziel war es von seiner ersten Saison an, „mit den Mitteln der Landesbühne ein Theater von auch überregionaler Bedeutung zu gestalten.“ Um diesen Ambitionen gerecht zu werden, beschritt er teilweise ungewöhnliche Wege. „Thematisch brisante“ Stücke sollten einen Schwerpunkt des Theaters bilden, und zu diesem Zweck ging es – untypisch für eine Landesbühne – zum Teil langfristige Kooperationen mit jungen Autoren ein. Die Dramatikerin Katharina Gericke schrieb im Auftrag der Landesbühne zwischen 2000 und 2009 sechs Stücke, die allesamt in Wilhelmshaven uraufgeführt wurden. Ästhetik und Thematik der Werke waren dabei recht heterogen. Gerickes Stück Geister Bahn, das im November 2000 im Studio seine Premiere erlebte, erzählte vom Aufstieg und Fall einer Boygroup aus dem Osten und kontrastierte nach dem Eindruck der Kritik auf nicht sehr geglückte Weise den „seichten Chill-Out-Kosmos der Popgeneration“ mit einer Theatersprache, die unter anderem an Heiner Müller erinnerte. In Che oder Der Stern von Boina ging die Autorin dem Mythos von Che Guevara auf den Grund, der als Idealist im bolivianischen Urwald scheitert; die Inszenierung wurde als atmosphärisch dicht gelobt. Die vorläufig letzten beiden Auftragsarbeiten für die Landesbühne zeigten besonders deutlich das breite Spektrum Gerickes: Während Buckliges Mädchen erneut in der auseinanderfallenden DDR spielte und diesmal um den 9. November 1989 kreiste, adaptierte sie im Herbst 2009 den Nibelungen-Stoff, den Regisseur Olaf Strieb als grellen Comicstrip umsetzte. Die Erstaufführungsrechte sicherte sich die Landesbühne auch für Dominik Finkeldes düstere Dystopie Berlin Underground, die das Auseinanderbrechen der Zwei-Klassen-Gesellschaft in naher Zukunft ebenso behandelt wie die Lebenslügen der Medien, die diesen Prozess scheinheilig begleiten (Saison 1999/2000). Das nächste Stück des Autors, das im Nordwesten Deutschlands zu sehen war, Porzellanschiff, beanspruchte fast das komplette Ensemble der Landesbühne. Eine Versammlung von Aristokraten, Parvenüs und Hobbypoeten, unter ihnen Karl der Große und Jeanne d′Arc, zelebrierte auf einem Zeit und Raum enthobenen Luxusdampfer ihren eigenen Verfall und gab dabei Blicke frei auf die ökonomische, moralische und emotionale Unfreiheit einer geschlossenen Gesellschaft (Saison 2002/2003). Die Zusammenarbeit mit einer weiteren jungen Dramatikerin, Tine Rahel Völcker, resultierte unter anderem in der Uraufführung ihres Werkes Albertz über den protestantischen Pfarrer und Regierenden Bürgermeister von Berlin. Wie schon mehrfach in der Vergangenheit thematisierte damit eine Landesbühnen-Produktion das Verhältnis von Macht und Moral am Beispiel eines SPD-Politikers. Auch wenn die Kritik diese Produktionen selten bis ins letzte Detail für gelungen hielt, wurde doch der kontinuierliche Dialog mit jüngeren Autoren, die Versorgung auch kleinerer Spielorte mit aktueller Gegenwartsdramatik sowie generell die Risikobereitschaft der Landesbühne gewürdigt – „für einen Spielplan, neben dem manch besser dotiertes Theater schüchtern wirkt“. Als Beispiel für diesen Mut können auch die zum Teil spektakulären Premieren im Bereich des Musiktheaters gelten. Im Februar 2003 brachte die Landesbühne, von großem Medieninteresse begleitet, die Biographie der Schauspielerin und Sängerin Hildegard Knef in Form eines Musicals auf die Bühne. Knef selbst hatte bereits 1979 auf der Grundlage ihres Welterfolges Der geschenkte Gaul gemeinsam mit dem Komponisten Harold Faltermeyer ein Bühnenwerk für den Broadway konzipiert, das jedoch nie realisiert wurde. Statt in New York waren die Knef-Chansons nun in Wilhelmshaven zu hören. Das Libretto hatte der Regisseur und damalige Oberspielleiter Reinhardt Friese in enger Kooperation mit Knefs Ehemann Paul von Schell – und mit Ausgangspunkt im Manuskript von 1979 – erarbeitet. Die Aufführungen lockten annähernd 10.000 Zuschauer an. Dieser Erfolg wurde Anfang 2010 noch überboten vom Rockmusical Meta, Norddeich, einer Hommage an die eigenwillige Norder Wirtin und Diskothekenbetreiberin Meta Rogall, die in den sechziger und siebziger Jahren für ihren in ganz Ostfriesland bekannten Musikclub Haus Waterkant internationale Bands verpflichtete. Binnen kurzer Zeit waren alle 30 Vorstellungen mit dem Gast Angelika Bartsch in der Hauptrolle ausverkauft. Knapp 3000 Zuschauer sahen das Musical allein in Norden. Als Erst- oder Uraufführung produzierte die LBNN auch manches Werk der ausländischen Dramatik, so David Hares Skylight (Saison 2000/2001) oder David Lescots Arbeiten Pleite – Anfang und Ende (Un homme en faillite; Saison 2006/2007) und Es lebe Europa! (Saison 2007/2008). Daneben überraschte Intendant Hess mit der Ansetzung einiger schwierig zu spielender Klassiker wie Shakespeares Titus Andronicus (Saison 2004/05). Bei seinem Bestreben, „auch Unbekanntes, bereits verloren Gehendes zu konservieren und zu erhalten“, gelangen Hess einige interessante Ausgrabungen und Wiederentdeckungen. Seinen Einstand als Regisseur gab er im Herbst 1998 mit Christian Dietrich Grabbes sperriger Komödie Scherz, Satire, Ironie und tiefere Bedeutung, die gleichzeitig die Möglichkeit bot, fast alle Schauspieler des Hauses in einer Produktion zu versammeln und dem Publikum vorzustellen. Es folgten Inszenierungen von Stücken, die teilweise nur Literarhistorikern noch ein Begriff war, zum Beispiel Die Freier von Joseph von Eichendorff (Saison 2001/2002) oder Sturm und Drang von Friedrich Maximilian Klinger (Saison 2004/2005). Das Barockdrama Ermordete Majestät (Carolus Stuardus) von Andreas Gryphius war vor seiner Wilhelmshavener Premiere im März 2006 gar über 200 Jahre von keinem deutschen Theater mehr aufgeführt worden; die durch die Inszenierung betonte Thematik der religiösen Legitimation von Macht und der Widerstand gegen sie erschien der Kritik dennoch als „brandaktuell“. Eine weitere Neudeutung eines Klassikers an der Landesbühne erzeugte Anfang 2004 ein großes Echo, obwohl – oder gerade weil – das Aufführungskonzept auf gerichtlichem Wege gestoppt worden war. Der junge Regisseur Philipp Kochheim wollte Samuel Becketts Stück Warten auf Godot entgegen den Anweisungen des Autors teilweise mit Frauen (Rollen Estragon und Lucky) besetzen und die Dialoge als Zwiegespräche eines Ehepaares inszenieren. Der S. Fischer Verlag ließ jedoch im Auftrag der Beckett-Erben die Aufführungen verbieten, so dass die Landesbühne das Stück lediglich als Lesung darbieten konnte. Über die juristischen Auseinandersetzungen berichteten Zeitungen selbst in Indien und Indonesien. Anfang April 2012 kündigte Hess an, seinen bis 2016 laufenden Vertrag „auf eigenen Wunsch“ frühzeitig zum Ende der Spielzeit 2012/2013 zu beenden. Bereits wenige Tage nach Hess' Ankündigung wählte der Zweckverband der Landesbühne mit dem bisherigen Oberspielleiter Olaf Strieb einen Nachfolger. Die Wahl erfolgte einstimmig und ohne Gegenkandidaten. Im Juni 2013 wurde Hess als Intendant der Landesbühne Niedersachsen Nord verabschiedet. Der Wilhelmshavener Oberbürgermeister Andreas Wagner zeichnete Hess zu diesem Anlass mit der Stadtmedaille aus. Seit 2013: Olaf Strieb Der neue Intendant Olaf Strieb eröffnete seine erste Saison (2013/2014) mit der Produktion Buddenbrooks, einer Theaterbearbeitung des bekannten Romans von Thomas Mann. Olaf Strieb bekannte sich dazu, gefälliges Theater zu bieten. Dies führte erst zu einem weiteren Besucheranstieg im niedrigen einstelligen Prozentbereich, aber auch dazu, dass die Landesbühne kaum noch überregionale Beachtung fand. Ab 2017 brachen dann die Zuschauerzahlen massiv ein. Anschließend verstärkte ab 2020 die COVID-19-Pandemie zusätzlich den Negativtrend. Seit Oktober 2013 wird die Landesbühne durch einen Förderverein unterstützt. Anstelle des baufällig gewordenen Jugendtheaters und Studios in der Rheinstraße wurde im Februar 2016 das Theater im Oceanis (TheoS am Bontekai) mit dem Musical Die Fantasticks eröffnet. Da das Stadttheater Wilhelmshaven aufgrund umfangreicher Sanierungsarbeiten zu Beginn der Spielzeit 2022/2023 nicht nutzbar war, zog die Landesbühne in eine Ausweichspielstätte in einem ehemaligen Baumarkt. Die als „Provisorium 29“ bezeichnete Halle verfügt über 402 Zuschauerplätze. Profil Sparten Schwerpunkt auf dem Sprechtheater Schon kurz nach Gründung der Ostfriesischen Landesbühne in Leer zeichnete sich eine Tendenz zum Sprechtheater ab. Obwohl es in den ersten Nachkriegsjahren eine starke Nachfrage nach heiterer Musik und Operetten gab, entschieden sich die ersten Leiter der Landesbühne, Wilhelm Grothe und Herbert Paris, für nur wenige entsprechende Aufführungen, da ihrer Meinung nach das kleine Ensemble mit dieser Aufgabe überfordert war. Anfangs wurden gelegentlich noch Gastsänger engagiert, doch aufgrund terminorganisatorischer Schwierigkeiten bewährte sich diese Praxis nicht. Auch Hermann Ludwig hatte – aufgrund seines Qualitätsanspruches – keine Sympathien für das musikalische Lustspiel; während seiner Intendanz gelangte nur Karl Farkas’ und Robert Katschers Bei Kerzenlicht auf die Bühne (Saison 1956/57). Während seine Vorgänger ihre Repertoirewahl noch eher mit Sachzwängen und mit der Personalsituation erklärten, begründete Rudolf Stromberg seine Skepsis gegenüber dem Musiktheater mit künstlerischen Vorbehalten. Dies führte sogar zu einem offenen Konflikt mit der Stadt Wilhelmshaven, die Strombergs Konzept eines reinen Schauspielhausbetriebes nicht teilte. Nicht zuletzt aus diesem Grund gab es zwischen 1958 und 1964 eine personelle Doppellösung mit Rudolf Stromberg (Leiter der Landesbühne) und Rudolf Sang (Intendant des Stadttheater Wilhelmshaven). Auch Mario Krüger, der grundsätzlich dem Unterhaltungstheater aufgeschlossener gegenüberstand, integrierte lediglich punktuell Musikstücke in seinem Spielplan, so etwa die Musicals Kiss me Kate (Saison 1974/75) oder Irma la Douce (Saison 1976/77). Eine besondere Form des Musiktheaters pflegten Georg Immelmann und seine künstlerischen Mitarbeiter: Sie entwickelten – als Uraufführungen – zeitkritische Revuen zu bestimmten Epochen der deutschen Geschichte, so etwa die Biedermeier-Revue (Saison 1979/80) oder die Gründerzeit-Revue (Saison 1980/81). Wenn in seltenen Fällen Musicals im Spielplan auftauchten, geschah dies zur Unterstützung dramaturgischer Schwerpunkte wie der Auseinandersetzung mit der Fremdenfeindlichkeit. Für den Klassiker West Side Story (Saison 1993/94) waren einige der wichtigsten Rollen zum Beispiel mit griechischen, türkischen und jugoslawischen Jugendlichen besetzt. Einen etwas breiteren Raum nehmen musiktheatralische Produktionen erst seit 1998 ein, als Gerhard Hess die Landesbühne übernahm. Neben den Erfolgen Der geschenkte Gaul und Meta, Norddeich wurden Singspiele wie Ralph Benatzkys Im weißen Rößl oder Musicals wie erneut Kiss me, Kate, Ein Käfig voller Narren oder Anatevka produziert. Neben dem Sprech- und in geringerem Ausmaß dem Musiktheater bilden Vorstellungen für Kinder und Schüler ein drittes Standbein der LBNN. Andere Theaterformen – so etwa Ballett oder Figurentheater – sind an der Landesbühne nur sehr selten und ausschließlich in Form von Gastspielen zu sehen. Kinder- und Jugendtheater Das Kinder- und Jugendtheater spielte früh eine wichtige Rolle. Schon in den ersten Spielzeiten standen mit Aschenputtel, Rumpelstilzchen oder Peterchens Mondfahrt Märchen im Repertoire der Landesbühne, die sich schnell zu einer festen Institution etablierten. Eine erste Uraufführung im Bereich des Kindertheaters fand zu Beginn der Ära Stromberg statt, als Wolf Dieter Pahlkes Märchen-Musical „Zirkuskinder“ über die Bühne ging (Saison 1959/60). Während sich das Theaterangebot für junge Zuschauer in den ersten zwanzig Jahren nach Gründung der LBNN weitgehend auf die Weihnachtszeit beschränkte, verstärkten sich diese Aktivitäten in den siebziger Jahren. Es entstand eine Kinder- und Jugendtheatergruppe im Ensemble, die eine offene Spielform unter Einbezug der Zuschauer entwickelte. Die Aufführungen wurden für kleinere Räume konzipiert, so dass sie auch in ländlichen Gemeinden abseits der eigentlichen Spielorte gezeigt werden konnten. Nachdem Georg Immelmann Intendant geworden waren, bemühte sich die Landesbühne besonders intensiv um jugendliche Zuschauer. Als einziges Theater in der Bundesrepublik zeigte es Leonie Ossowskis Stück Voll auf der Rolle, das am Berliner Grips-Theater uraufgeführt worden war, im Abendspielplan – auch um den Dialog zwischen den Generationen anzuregen. Beim 10. Norddeutschen Theatertreffen 1981 in Lübeck wurde die Inszenierung Columbus entdeckt Amerika (nach dem gleichnamigen Drama von Karl Wesseler) mit einem Preis ausgezeichnet. Die Jury stellte dabei das sogenannte „integrierte Modell“ der LBNN heraus, das vorsieht, dass die Schauspieler sowohl abends (meist in Schauspielen für ein erwachsenes Publikum) als auch nachmittags (im Kindertheater) auftreten. Über die Hälfte der insgesamt 162.000 Zuschauer, die in dieser Saison, 1980/1981, die Vorstellungen der Landesbühne besuchten, waren dank parallel gespielter Märchenstücke Kinder und Schüler; die Zahl stellte einen Besucherrekord dar, der seitdem unerreicht ist. Einen wichtigen Impuls für ihre weitere Arbeit auf dem Gebiet des Kinder- und Jugendtheaters bezog die LBNN aus der Eröffnung des Jungen Theaters in der Wilhelmshavener Rheinstraße (1989). Um die allmählich reiche Tradition an der Landesbühne weiterzuentwickeln, gründete Gerhard Hess 1999 das deutsch-niederländische Jugendtheaterfestival Vis á vis mit Standort in Emden, das „alle zwei Jahre das Beste aus der deutschen und niederländischen Jugendtheaterszene zu vereinen sucht“. Jährlich steht für Kinder ein Weihnachtsmärchen auf dem Spielplan. Theaterpädagogik Parallel zum Ausbau des Kinder- und Jugendtheaters engagierte die Landesbühne 1976 erstmals einen Theaterpädagogen, der mit Jugendlichen eigene Theaterstücke entwickelte. In enger Kooperation mit den Schulen im Spielgebiet sollte vor allem die Eigeninitiative gefördert werden. Auf diese Weise entstand das Stück Parka, Jeans und 16 Jahre, das im Wilhelmshavener Kommunikationszentrum Pumpwerk zu sehen war und einen Sonderpreis auf dem 7. Norddeutschen Theatertreffen in Hamburg gewann. Daneben versuchte die Landesbühne, Senioren an das Theater zu binden. In Emden schlossen sich Frauen im Alter von 65 bis 90 Jahren, zum Teil im Rollstuhl sitzend, zur Gruppe „Die Wagemutigen“ zusammen und stellten Szenen aus ihrem Alltag dar. Eine weitere Altentheatergruppe, „Die Wellenbrecher“, entstand in Wilhelmshaven, wo ihr ab 1989 das Junge Theater als Proben- und Aufführungsort zur Verfügung stand. Auch niederdeutsche Spielgruppen und Volkstanzkreise wurden in das theaterpädagogische Modell einbezogen. Die Stiftung Niedersachsen unterstützte das Projekt „Kinder- und Seniorentheater“ der LBNN ab Beginn der Spielzeit 1989/90 für drei Jahre mit jeweils 600.000 DM; Zweckverband und Land Niedersachsen hatten sich zuvor bereit erklärt, die Folgefinanzierung des Projektes zu übernehmen, das bis heute fortgeführt wird. Aktuell existieren am Stammort Wilhelmshaven zwei „Kinderclubs“ (für Kinder ab 8 Jahren & für Kinder ab 12 Jahren), ein „Jugendclub“ (für Jugendliche ab 15 Jahre), der unter anderem mit der südafrikanischen Jugendtheatergruppe Victory Sonqoba Theatre Company eine gemeinsame Szenencollage erarbeitet hat (Frühjahr 2009), und die Seniorengruppe „Die Silbermöwen“. Künstlerische Leitung und Ensemble Die Landesbühne Niedersachsen Nord ist wiederholt als „jugendliches Unternehmen“ apostrophiert worden, eine Anspielung nicht nur auf die verhältnismäßig kurze Geschichte der Institution, sondern auch auf das junge Alter vieler ihrer Angestellten. Die Leiter der Landesbühne übernehmen in der Regel nach einer längeren Tätigkeit als freie Regisseure oder Chefdramaturgen in Wilhelmshaven ihre erste Intendanz. Rudolf Stromberg war bei seinem Antritt 32 Jahre alt, Mario Krüger 38 Jahre, Gerhard Hess kaum älter. Auch die Oberspielleiter wechseln häufig in jungen Jahren in den Norden; so kam Johannes Kaetzler 27-jährig von München aus nach Niedersachsen. Trotz ihrer oftmals noch nicht sehr großen Erfahrung verantworten Intendanten, Regisseure und Dramaturgen an der Landesbühne wichtige künstlerische Bereiche. Ähnliches gilt für die Schauspieler. Seit den ersten Spielzeiten ist das Ensemble durchweg als sehr jung zu bezeichnen; nicht selten stellt die Anstellung an der Landesbühne Niedersachsen Nord das erste feste Engagement für die Schauspieler dar. Obwohl sie frisch examiniert von den Schauspielschulen ihre Stelle antreten, spielen sie nicht selten sofort tragende Rollen (wie Hamlet, Käthchen oder Nora). Für dieses Privileg haben sie das Opfer einer geringen Anfängergage von lediglich 1600 Euro brutto (Stand: 2009) aufzubringen und zermürbende Busfahrten in die teilweise weit entfernten Spielorte auf sich zu nehmen. Die junge Altersstruktur seines Ensembles stellt das Theater gelegentlich vor Probleme. So bekannte zum Beispiel Intendant Immelmann, dass die Arbeit mit den jungen Schauspielern „beglückend“ sei, räumte aber gleichzeitig ein, dass die Kooperation zwischen den vielen jungen und den wenigen älteren Darstellern nicht immer reibungslos funktioniere. Angesichts des jungen und allzu homogenen Ensembles stießen außerdem Regisseure häufiger auf die Schwierigkeit, ihre Inszenierungen nicht angemessen besetzen zu können. Der Aufsichtsrat des Zweckverbandes bemängelte aus diesem Grund mehrfach, dass der Landesbühne die „gestandenen Schauspieler“ fehlten. Manche Darsteller nutzen die „Sprungbrettfunktion“ des Theaters, das heißt den Zugang zu den attraktiven Rollen, um sich für andere Engagements zu empfehlen. Dies hatte zu verschiedenen Zeiten zur Folge, dass Intendanten größerer Häuser regelmäßig die Vorstellungen der LBNN besuchten und die besten Schauspieler des Ensembles abwarben. Aus diesem Grund war die Fluktuation im Personal zeitweise relativ groß. Zu den bekannten Künstlern, die an der Landesbühne auftraten, zählen der Chansonsänger Tim Fischer, der zu Beginn seiner Karriere im Jahr 1991 eine Rolle in Rainer Bielfeldts Musical Kennwort Einsames Herz übernahm, die Schauspielerin Andrea Sawatzki, die ebenfalls Anfang der 1990er Jahre in etlichen Schauspiel- und Kindertheaterproduktionen mitwirkte, und der erfolgreiche Theater- und Fernsehschauspieler Siegfried W. Kernen, u. a. bekannt aus der deutschen Fernsehkrimiserie Schwarz-Rot-Gold, der an der LBNN 1964 sein erstes Festengagement antrat. Der Musiker Still Jürn, unter anderem Teil des Folk-Duos Jan & Jürn, gehörte als Schauspieler ebenso zum Ensemble der LBNN wie Thomas Pommer, der heute vor allem als Fernsehproduzent arbeitet. Der bekannte Maler Rainer Fetting absolvierte noch zu Zeiten der Intendanz Stromberg ein Volontariat im Bereich Bühnenbild. Obwohl viele Ensemblemitglieder nur einige wenige Jahre an der Landesbühne verweilen, gibt es Beispiele von Schauspielern, die jahrzehntelang am Haus beschäftigt waren. Bereits am 2. September 1971 wurde Elisabeth Thiel für ihre 25-jährige Bühnenzugehörigkeit mit der Ehrenmitgliedschaft ausgezeichnet; sie war zur Landesbühne gestoßen, als sie ihren Stammsitz noch in Leer hatte. Andere Schauspieler, die ihre Karriere überwiegend an der LBNN verbrachten, waren Irmgard Solm, Barbara Dembeck, Harry Burmeister, Oskar Matull und Johannes Simons. Die Größe des Ensembles ist in der knapp 60-jährigen Geschichte der Landesbühne relativ konstant geblieben. Anfang der 1950er Jahre bestand das Ensemble „meist aus 9 Damen und 12 Herren“, in den sechziger Jahren aus neun Damen und 15 Herren. In der Saison 2009/2010 waren 8 weibliche und 14 männliche Darsteller an der Landesbühne engagiert, hinzu kamen etwa 15 Gäste für einzelne Inszenierungen. Neben dem Oberspielleiter beschäftigte das Theater drei Dramaturgen (zwei für das Schauspiel und einen für das Kinder- und Jugendtheater), dagegen keinen festen Regisseur. Einzelne der Schauspieler waren – neben dem Intendanten – auch mit Regieaufgaben betraut, ansonsten arbeitete das Theater mit freien Regisseuren zusammen. Prinzipien des Spielplans Nach häufigen Wechseln in den Anfangsjahren hat sich das Spielgebiet der Landesbühne im nördlichen Niedersachsen seit Mitte der 1990er Jahre nicht mehr verändert. Politisch-soziologisch ist diese Landschaft als sehr heterogen zu bezeichnen. Während etwa die Industriestädte Emden und Wilhelmshaven sowie die Landkreise Aurich und Leer als sozialdemokratische Hochburgen gelten, sind die ländlichen Räume um Papenburg und Vechta katholisch und konservativ geprägt. Auf der Insel Norderney finden sowohl Einheimische als auch Vergnügen suchende Kurgäste den Weg ins Theater. Die „überraschend unterschiedliche Mentalität des Publikums“, auch die mannigfaltig zusammengesetzten Kulturausschüsse der Kommunen, üben seit Gründung der Landesbühne Einfluss auf die Arbeit der jeweiligen Intendanten aus. Dennoch war es nie Anliegen eines Theaterleiters, Teile des Spielplans speziell auf einen bestimmten Ort auszurichten. Eine Ausnahme bildeten bis in die 1990er Jahre lediglich die Sommerspielzeiten auf Norderney, als sich der komplette künstlerische Stab der Landesbühne für mehrere Wochen auf der Insel aufhielt und seinen Gästen ein buntes, abwechslungsreiches Programm bot. Manche Intendanten schätzten es, das Ensemble an einem Ort versammeln zu können, damit sich die Schauspieler untereinander besser kennenlernten. Insgesamt überwogen jedoch die Nachteile bei dieser Lösung, so dass Norderney inzwischen den Status eines von mehreren festen Spielorten hat, der mehrmals pro Saison – mit den unterschiedlichen Produktionen – angesteuert wird. Obwohl die einzelnen Intendanten verschiedene Schwerpunkte setzten, orientierten sie sich größtenteils am Konzept eines „gemischten Spielplans“, der auf vier Säulen ruhte: Die Klassiker, das zeitgenössische Theater, die Unterhaltung sowie das Kinder- und Jugendtheater. Diese programmatische Breite sollte jeweils ein möglichst großes Publikum ansprechen und die erforderlichen Einnahmen generieren. Das Mischungsverhältnis konnte dabei, je nach Zeitläuften und künstlerischem Temperament des Theaterleiters, stark variieren. Während in den Jahren nach dem Krieg der Bildungsauftrag des Theaters im Mittelpunkt stand und es zu Einstudierungen einer entsprechend hohen Zahl von Schulklassikern kam, machte es sich Rudolf Stromberg zur Aufgabe, „die Arbeit der zeitgenössischen Autoren“ zu beobachten, so dass beispielsweise in der Saison 1967/68 gleich sieben aktuelle Stücke auf dem Spielplan standen. Strombergs Nachfolger Krüger öffnete sich stärker dem Unterhaltungstheater und brachte neben Lustspielen wie Ein Glas Wasser oder Charleys Tante z. B. eine Dramatisierung von Herman Wouks Roman Die Caine war ihr Schicksal auf die Bühne. Mit Georg Immelmann begann – bei ansonsten ausgewogenem Spielplan – die exemplarische Aufarbeitung regionaler Geschichte, die sich auch nach seinem Weggang fortsetzte. Gerhard Hess und seine Mitarbeiter förderten wiederum gezielt junge Dramatiker und brachte nach dem Erfolg mit Meta, Norddeich im Frühjahr 2010 das von der Kulturstiftung des Bundes finanzierte Projekt Schlicksoldaten auf den Weg, das sich künstlerisch mit der Marine, als der Keimzelle der Stadt Wilhelmshaven, auseinandersetzte – unter Beteiligung von Soldaten, Zivilangestellten und deren Familienangehörigen. Zu einer weiteren Konstante innerhalb des „gemischten Spielplans“ entwickelte sich seit den ersten Spielzeiten der LBNN ein starkes Interesse an der deutschen und osteuropäischen Geschichte, unter Einschluss der Themen Flucht und Vertreibung. Schon die in den 1950er Jahren aufgeführten Dramen von Honold und Oelschlegel, die die Kriegs- und Nachkriegsjahre behandelten, wiesen in diese Richtung. Unter Rudolf Stromberg wurde unter anderem das Schauspiel Silvester 1944 des tschechischen Dramatikers Vlastimil Šubrt uraufgeführt, das einen Mordfall in Prag im letzten Kriegswinter zum Gegenstand hat und zeigt, wie sich Tschechen und Deutsche, noch Jahre nach dem Verbrechen, auf Grund von Vorurteilen gegenseitig der Tat bezichtigen (Saison 1965/66). Später, auch während der Intendanz von Mario Krüger, standen einige der kurzen Dramen Václav Havels, Pavel Kohouts und Sławomir Mrożeks auf dem Spielplan. Mehrere Texte von Katharina Gericke beleuchteten die letzten Tage der DDR, während die Vorstellung Sonnenfinsternis, auf Basis des Romans von Arthur Koestler, die Praktiken der stalinistischen Geheimpolizei ins Gedächtnis rief (Saison 2000/2001). Eine mehrjährige Kooperation mit dem Teatr Polski in Bydgoszcz hatte zum Ziel, den Bromberger Blutsonntag aus deutscher und polnischer Perspektive gemeinsam aufzuarbeiten. Zu den Hintergründen der Zusammenarbeit gehörte, dass sich große Teile der deutschen Minderheit, die in Bydgoszcz (Bromberg) lebte, kurz nach Kriegsende in Wilhelmshaven ansiedelten. Die Premiere des Stücks „Bromberg/ Bydgoszcz“ (Autoren: Katharina Gericke / Artur Palyga, Regie: Grażyna Kania) fand im Oktober 2012 in Polen statt. Gegenwart Spielstätten Seit Mitte der 1990er Jahre ist das Spielgebiet der Landesbühne Niedersachsen Nord fest umrissen. Im saisonalen Rhythmus präsentiert das Theater seine Produktionen in einer Region, die von 720.000 Menschen bewohnt wird. Nach einer Formulierung des Intendanten Gerhard Hess spielt die LBNN für eine „Großstadt in der Fläche“. In der Regel wird eine neue Inszenierung am Stammhaus in Wilhelmshaven fünf- bis achtmal gezeigt, in den übrigen Spielorten jeweils einmal. Signifikante Ausnahmen wie im Fall des Musicals Meta, Norddeich, das aufgrund seines Bezuges zur Stadt Norden allein dort sechsmal (Stand: 2010) zu sehen war, sind jedoch möglich. Die Spielstätten im Einzelnen: Wilhelmshaven Stadttheater Wilhelmshaven: Das Theater ist in der ehemaligen Marine-Intendantur, einem Gebäude aus dem Jahr 1904, untergebracht. Bühne und Zuschauerraum sind als klassisches Guckkastentheater konzipiert. Die Besucherbereiche wurde 1983 und zu Beginn des 21. Jahrhunderts modernisiert. Im Saal stehen bis zu 514 Sitzplätze zur Verfügung. Die Bühne ist 18 Meter breit und 7 Meter tief; der Orchestergraben bietet Platz für 52 Musiker. Ehemaliges Junges Theater/Studio: Das Haus an der Rheinstraße beherbergte von 1989 bis 2015 das älteste Kinder- und Jugendtheater Niedersachsens. Auch kleinere Studio-Aufführungen wurden auf der intimen Bühne ohne Rampe präsentiert. Die Spielstätte verfügte über 99 Sitzplätze. Bedingt durch Sanierungsstau wurde sie letztlich aufgegeben. Theater im Oceanis (TheOs): Als Ersatz für das Studio in der Rheinstraße wurde 2016 eine neue Spielstätte für die Junge Bühne und kleine Studio-Produktionen mit 99 Sitzplätzen im grundsanierten Gebäude des ehemaligen Oceanis geschaffen. Ehemaliges Provisorium 29: Während der Deckensanierung des Zuschauerraumes des Stadttheaters vom Sommer 2022 bis zum Frühjahr 2023 war der Spielbetrieb in einen ehemaligen Baumarkt ausgelagert. Diese Ausweichspielstätte wurde Provisorum 29 genannt. Aurich Stadthalle: Neben der Landesbühne nutzen punktuell auch andere Theater wie das Ohnsorg-Theater den Veranstaltungsort, der ansonsten für Konzerte und Partys zur Verfügung steht. Bei Reihenbestuhlung stehen 500 Sitzplätze zur Verfügung. Emden Neues Theater: Das Neue Theater wurde 1970 erbaut und fasst zwischen 600 (Musiktheater) und 680 Personen (Schauspiel). Der Bühnenraum ist 16,80 m breit und 10,80 m tief. Esens Theater in der Theodor-Thomas-Halle: Im Jahre 1962 gelang es der Kulturgemeinde der Stadt Esens, die Landesbühne Niedersachsen Nord zu Auftritten in ihrer Stadt zu bewegen. Seitdem ist die Stadt Esens fester Spielort der Landesbühne. Gespielt wird im 382 Sitzplätze fassenden Theater in der Theodor-Thomas-Halle an der Walpurgisstraße. Jever Theater am Dannhalm: Nachdem die unzulänglichen Bühnenverhältnisse die Bespielung des Concerthauses mit größeren Bühnenbildern ab den siebziger Jahren nicht mehr zuließen, wurde das Theater am Dannhalm eigens als Spielstätte für die Landesbühne konzipiert. Die Spielstätte verfügt über 352 Sitzplätze. Leer Theater an der Blinke: Die ehemalige Emsaula der Berufsbildenden Schulen, mit einem Fassungsvermögen von 800 Zuschauern, wurde 2010 für rund 3,3 Mio. Euro umfassend renoviert und erhielt unter anderem ein neues Foyer, eine neue Bestuhlung und eine moderne Bühnentechnik. Norden Theatersaal der Realschule, mit 450 Sitzplätzen. Norderney Kurtheater: Das 1894 eröffnete Kurtheater, ein spätklassizistischer Bau des hannoverschen Architekten Johannes Holekamp, entspricht vom Bautyp dem höfisch-öffentlichen Mehrzwecktheater. Seit 1923 wird es auch als Kino genutzt. Das Theater, das einst für etwa 500 Zuschauer konzipiert worden war, verfügt heute über 363 Sitzplätze. Papenburg Forum Alte Werft: Das Forum Alte Werft ist in den ehemaligen Fabrikhallen der Meyer Werft untergebracht, die 1992 nach umfangreichen Umbaumaßnahmen in ein Kulturzentrum verwandelt wurden. Zum Ensemble gehören ein Theater mit 240 Plätzen und die Stadthalle mit 800 Plätzen. Vechta Metropol: Kinosaal, der auch für Theaterabende genutzt wird, mit 272 Sitzplätzen. Weener Karl-Bruns-Realschule: Schulaula, die auch für Kulturveranstaltungen genutzt wird, mit 290 Sitzplätzen. Wittmund Aula im Schulzentrum Brandenburger Straße, mit 271 Sitzplätzen. Mitarbeiter und Aufführungen Die Landesbühne Niedersachsen Nord beschäftigt in der Spielzeit 2014/2015 mehr als 100 Mitarbeiter. Die Leitung des Hauses besteht aus dem Intendanten Olaf Strieb, dem Verwaltungsdirektor Torben Schumacher, der Leiterin der Jungen Landesbühne, Carola Unser, und der Oberspielleiterin Eva Lange. Dieses Personal erarbeitet über 500 Aufführungen für das gesamte Spielgebiet. Die Vorstellungen verteilen sich auf neun Inszenierungen im Abendspielplan, die in allen Spielorten zu sehen sind, sowie auf vier Studio-Produktionen und sechs Kinder- und Jugendtheaterproduktionen der Jungen Landesbühne. Nachdem der Besucherrekord aus der Saison 1980/81 nicht mehr erreicht worden war und die Landesbühne in den 1990er Jahren einen weiteren Rückgang der Zuschauerzahlen zu verzeichnen hatte, gelang Anfang des neuen Jahrhunderts eine Trendumkehr. Die Vorstellungen werden seit der Saison 2003/2004 wieder jeweils von mehr als 100.000 Menschen gesehen, darunter von gut 50.000 Besuchern allein in Wilhelmshaven. Neben den Theateraufführungen finden seit einigen Jahren regelmäßig Liederabende und Lesungen im Stammhaus statt. In der Saison 2009/2010 wurde die Veranstaltungsreihe „Theaterkirche“ vorgestellt, bei der es sich um eine Zusammenarbeit zwischen der Landesbühne und der Christus- und Garnisonkirche in Wilhelmshaven handelt. In Form einer Andacht nähern sich Pfarrer und Dramaturgen dabei gemeinsam Themen aus dem aktuellen Spielplan an. Publikum Schon die ersten Leiter der Landesbühne, Herbert Paris und Wilhelm Grothe, erwirkten Zuschüsse für Schülervorstellungen und Eintrittsermäßigungen für Jugendliche, mit langfristigem Erfolg. Mitte der 1950er Jahre gehörten 1600 junge Leute verschiedenen Jugend-Besucherorganisationen an; 35 Prozent der Zuschauer in den Theatersälen waren Jugendliche. Andere Intendanten wie Georg Immelmann bemühten sich ebenfalls explizit um das junge Publikum, was ihnen den Vorwurf eintrug, aus der Landesbühne ein „reines Kinder- und Jugendtheater“ machen zu wollen. Auch aktuell machen Besucher jugendlichen Alters, zumal im wichtigen Schul- und Hochschulstandort Wilhelmshaven, einen beträchtlichen Teil des Publikums aus. Wahlabonnements wie das Junior-Six-Pack richten sich gezielt an Schüler und Studierende. Daneben machen sogenannte „Theaterboten“ Werbung für die Landesbühne an den Schulen und organisieren Theaterbesuche. Senioren gehören ebenso in allen Spielorten zum festen Besucherstamm, während die mittlere Generation etwas unterrepräsentiert ist. Die größte Theaterbesuchergemeinschaft in Wilhelmshaven und Umgebung stellt die Volksbühne dar, die 2007 ihr 60-jähriges Bestehen feierte und damit um fünf Jahre älter ist als das Theater selbst. Besondere Angebote gibt es für Arbeitslose, so etwa Eintrittskarten zum stark ermäßigten Preis (2 Euro; Stand: September 2011) für Empfänger von ALG II. Zu einem der wichtigsten Marketinginstrumente der Landesbühne hat sich in den letzten Jahren das allsommerlich stattfindende „Kulturkarussell“ in Wilhelmshaven entwickelt, das mit einem Umzug der kostümierten Theaterleute durch die Innenstadt beginnt. In einer kostenlosen Spielzeitrevue erhalten die Zuschauer einen Einblick in die Inszenierungen der kommenden Saison. Außerdem haben sie die Möglichkeit, einen Blick hinter die Kulissen zu werfen und Kostüme aus dem Fundus zu ersteigern. Etat Seit der Gründung der Ostfriesischen Landesbühne in Leer beteiligen sich der Zweckverband und das Land Niedersachsen an der Finanzierung der Institution. Während der Intendanz Stromberg wurden die Zuweisungen zu circa 70 Prozent vom Land und zu circa 30 Prozent vom Zweckverband getragen. An dieser Mittelverteilung hat sich bis in die Gegenwart wenig geändert. Zum Jahresetat in Höhe von 5,537 Millionen Euro steuerte das Land Niedersachsen in der Spielzeit 2007/2008 insgesamt 2,908 Millionen Euro bei, der Zweckverband 983.000 Euro. Aufgrund der positiven Entwicklung der Besucherzahlen konnte die Landesbühne knapp 30 Prozent ihrer Kosten (gegenüber 15,9 Prozent im Jahr 1995) selbst erwirtschaften – was bundesweit einen Spitzenwert darstellte. Dennoch war Anfang 2010 die weitere Finanzierung der LBNN nicht gesichert. Als die Kosten aufgrund von Tariferhöhungen, gestiegenen Energiekosten und teurer gewordenen Bühnenbildmaterialien deutlich anschwollen, passte das Land Niedersachsen seine Zuweisungen der neuen Situation nicht an. Auf diese Weise drohte ein Defizit von 900.000 Euro zu entstehen. Der Zweckverband beschloss daraufhin, seinen Zuschuss drei Jahre lang um jährlich 150.000 Euro aufzustocken, in der Hoffnung, dass das Land diesem Beispiel folgen würde. Trotz gegenteiliger Zusicherungen durch den niedersächsischen Kulturminister Lutz Stratmann wurden die Aufwendungen des Landes jedoch nicht erhöht. Die Landesbühne reagierte mit einer Online-Petition an den Niedersächsischen Landtag, in der sie das Land aufforderte, „das kulturelle Ausbluten des ländlichen Raums im Nordwesten zu beenden“. Ende Mai 2010 sagte das Land Niedersachsen der Landesbühne für das laufende Geschäftsjahr zusätzliche Mittel in Höhe von 140.000 Euro zu. 2011 wurde zwischen der Landesbühne und dem Land Niedersachsen ein neuer Vertrag geschlossen. Er sieht eine „Teildynamisierung“ und nicht, wie von der LBNN gefordert, eine jährliche Steigerung des Landeszuschusses um die Summe der Tarifsteigerungen vor. Da bis 2014 erneute Finanzlücken drohten, beschloss der Zweckverband, seinen finanziellen Beitrag einseitig zu erhöhen. Auszeichnungen 2. Norddeutsches Theatertreffen in Hamburg (1972): Auszeichnung für Produktion Victor oder die Kinder an der Macht von Roger Vitrac 7. Norddeutsches Theatertreffen in Hamburg (1977): Sonderpreis für Produktion Parka, Jeans und 16 Jahre des Theaterpädagogischen Modells 10. Norddeutsches Theatertreffen in Lübeck (1981): Auszeichnung für Produktion Columbus entdeckt Amerika von Karl Wesseler 14. Norddeutsches Theatertreffen in Göttingen (1985): Auszeichnung für Produktion Der kaukasische Kreidekreis von Bertolt Brecht 14. Norddeutsches Theatertreffen in Göttingen (1985): Auszeichnung für Schauspielerin Elke Münch (für ihre Rolle als Grusche in Bertolt Brecht, Der kaukasische Kreidekreis) Autorenförderpreis der Landesbühnengruppe im Deutschen Bühnenverein an Katharina Gericke für Geister Bahn, 2000 Aufsteiger der Saison 1985 (nach Meinung der Fachzeitschrift Theater heute) Nominiert für Beste Theaterarbeit abseits der Zentren (von der Fachzeitschrift Die deutsche Bühne, 2006) Nominiert für Beste Theaterarbeit abseits der Zentren (von der Fachzeitschrift Die deutsche Bühne, 2008) Nominiert für beste Leistung im Bereich Bühne/Raum/Kostüm – Diana Pähler/Andorra – (von der Fachzeitschrift Die deutsche Bühne, 2008) Nominiert für beste Leistung im Bereich Regie – Eva Lange/Andorra – (von der Fachzeitschrift Die deutsche Bühne, 2008) Nominiert für Beste Regie Schauspiel – Jan Steinbach/Stella – (Der Deutsche Theaterpreis DER FAUST, 2010) Ferner erfolgten Einladungen mit Inszenierungen an große deutsche Bühnen. So war die Uraufführungsinszenierung des Völcker-Stückes Albertz, Regie: Christian Hockenbrink, aus der Spielzeit 2008/09 im Berliner Maxim-Gorki-Theater und die Stella-Inszenierung aus der Spielzeit 2009/10 im Deutschen Schauspielhaus in Hamburg zu sehen. Intendanten 1952–1955: Wilhelm Grothe / Herbert Paris 1955–1958: Hermann Ludwig 1958–1973: Rudolf Stromberg 1973–1979: Mario Krüger 1979–1994: Georg Immelmann 1994–1996: Thomas Bockelmann 1996–1998: Arnold Preuß („Interimistischer künstlerischer Geschäftsführer“) 1998–2013: Gerhard Hess seit 2013: Olaf Strieb Literatur Gerhard Hess (Hrsg.): Theater am Meer. 50 Jahre Landesbühne Niedersachsen Nord und Stadttheater Wilhelmshaven. LBNN GmbH, Wilhelmshaven 2002, ISBN 3-930510-77-4. Gerhard Hess, Großstadttheater in der Fläche – Die Landesbühne Niedersachsen-Nord. In: Christian Kirk (Hrsg.): Wirtschaftsstandort Niedersachsen, Auflage 2009/2010, Darmstadt 2009, ISBN 978-3-938630-64-8. Peter Hilton Fliegel: Manchmal ist der Kreis doch ein Quadrat. Gerhard Hess im Gespräch über die Landesbühne Niedersachsen Nord. LBNN GmbH, Wilhelmshaven 2013, ISBN 978-3-941929-04-3. Heino Küster: Musik und Theater in Niedersachsen. In: Karl Wiechert (Hrsg.): Kulturpolitische Initiativen in Niedersachsen. Richard Voigt gewidmet. Verlag für Literatur und Zeitgeschehen, Hannover 1965, S. 105–111. Karl Veit Riedel: Stadttheater Wilhelmshaven, Landesbühne Niedersachsen-Nord, Niederdeutsche Bühne Wilhelmshaven. Geschichte und Erinnerungen. Friesen-Verlag Willy Beutz, Wilhelmshaven 1983 (ohne ISBN) Bernd Steets: Theateralmanach Spielzeit 2009/2010. Topographie der deutschsprachigen Theaterlandschaft. Edition Smidt, Pullach im Isartal 2009, ISBN 978-3-941537-00-2. Weblinks Offizielle Website der Landesbühne Offizielle Website des Jungen Theaters Beteiligungsbericht der Stadt Wilhelmshaven 2008, S. 85–89 (PDF; 1,4 MB) Einzelnachweise Theater (Niedersachsen) Kultur (Wilhelmshaven) Kultur (Ostfriesland) Kultur (Emsland) Oldenburger Münsterland Gegründet 1952
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https://de.wikipedia.org/wiki/Dohlenh%C3%A4her
Dohlenhäher
Die Dohlenhäher (Cyanolyca) sind eine Gattung der Rabenvögel (Corvidae). Sie umfassen mittel- und südamerikanische Arten, die sich ökologisch und morphologisch alle stark ähneln. Dohlenhäher sind kleine bis sehr kleine Vertreter ihrer Familie und zeichnen sich durch ihr tiefblaues Körpergefieder und ihre schwarze Gesichtsmaske aus. Ihr Verbreitungsgebiet reicht vom südlichen Mexiko bis in die Zentralanden. Dort bildet der feuchte Misch- und Nebelwald der Tropen und Subtropen ihren Lebensraum. Die Nahrung der Vögel besteht aus Gliederfüßern, Beeren sowie bisweilen Eiern und kleinen Wirbeltieren und wird von ihnen allein, in Paaren oder kleinen Trupps gesucht und aufgelesen. Das schüsselförmige Nest wird im Geäst von Bäumen gebaut, das Weibchen bebrütet das Gelege allein. Die Gattung Cyanolyca wurde 1851 von Jean Louis Cabanis aufgestellt. Sie entsprang einer frühen Radiation der Rabenvögel in Amerika und ist das Schwestertaxon aller anderen Neuwelthäher. Ihr werden derzeit neun Arten zugerechnet, die sich auf zwei große Entwicklungslinien aufteilen. Die Dohlenhäher gelten insgesamt als spärlich erforscht, insbesondere im Hinblick auf Ernährung, Brut, Sozialverhalten und Bestand. Durch Rückgang ihres Lebensraumes schwindet der Bestand mehrerer Arten; der Zwerghäher (C. nanus) und der Weißkehlhäher (C. mirabilis) gelten als bedroht. Merkmale Körperbau und Färbung Dohlenhäher sind sehr kleine Rabenvögel mit 20–34 cm Körperlänge, 11–17 cm Schwanzlänge, 40–210 g Körpergewicht und insgesamt sehr homogenem Körperbau und Aussehen. Mit dem Zwerghäher (C. nanus) gehört der kleinste lebende Rabenvogel zu dieser Gattung. Der Schnabel fällt je nach Art stämmig und kurz oder länglich und schlank aus. Er entspricht dem Grundbauplan der Rabenvögel und bewegt sich mit seinen Proportionen im Mittelfeld dieser Familie. Wie auch alle anderen Neuwelthäher weisen die Dohlenhäher einen vergleichsweise schwachen Oberschnabel mit ausgeprägtem Würgerzahn sowie ein spezielles Kiefergelenk auf, das Stöße besser abfangen kann und so die Meißelfunktion des Unterschnabels unterstützt. Die Ausprägung dieses Merkmals variiert innerhalb der Gattung stark, ist aber insgesamt schwächer als bei abgeleiteten Gattungen der Neuwelthäher wie etwa den Buschhähern (Aphelocoma) oder den Blauraben (Cyanocorax). Zwischen Männchen und Weibchen bestehen keine markanten Unterschiede.  Das Gefieder der Dohlenhäher zeichnet sich durch einige charakteristische Eigenschaften aus. Alle Arten besitzen eine schwarze Gesichtsmaske, die Stirn, Nasalborsten, Augen, Wangen und Ohren umfasst. Zum Scheitel hin wird sie bei einigen Arten durch einen dünnen weißen Streif abgegrenzt. Die Kehle ist je nach Art weiß, schwarz oder mit variablen Blautönen gefärbt. Scheitel und Hinterkopf zeigen ein helles Türkis bis hin zu einem tiefen, fast schwarzen Dunkelblau. Teilweise ist diese „Kappe“ deutlich vom dunkleren Nacken und Hals abgegrenzt, teilweise umfasst sie beide oder geht in sie über. Das Körpergefieder ist bei allen Dohlenhähern vollständig in Violett-, Türkis- oder Ultramarintönen gehalten. Die Kehl- und Schulterbereiche fallen dabei häufig dunkler aus als das Bauchgefieder und der untere Rücken. Schwung- und Steuerfedern sind oberseitig in ähnlichen Blautönen wie das angrenzende Körpergefieder gefärbt, unterseitig besitzen sie eine dunkle, blauschwarze Tönung. Die Iris ist bei allen Arten dunkelbraun oder rotbraun, Beine und Schnabel sind stets schwarz. Bei Jungtieren ist das Schnabelinnere anfänglich teilweise rosa gefärbt und die Farben des Gefieders matter. Flugbild und Fortbewegung Dohlenhäher bewegen sich fast ausschließlich im Geäst von Bäumen und Sträuchern und kommen eher selten auf den Boden herab. Im Flug werden meist nur geringe Distanzen zwischen Ästen oder einzelnen Bäumen überwunden. Die Flügelschläge sind dabei rasch, beim Zwerghäher wurden sogar kurze Rüttelflugphasen beobachtet. Kürzere Entfernungen überbrücken Dohlenhäher für gewöhnlich hüpfend, ohne die Flügel zu Hilfe zu nehmen. Alle Arten zeigen ein sehr lebhaftes Bewegungsmuster, das gelegentlich von Ruhephasen zur Nahrungsaufnahme, für Kontaktrufe oder zur Ausschau unterbrochen wird. Lautäußerungen Die Rufe der Dohlenhäher sind in der Regel hoch und oft nasal. Ein Großteil der Rufe ist einsilbig, mehrere Arten geben aber auch schnelle, stakkatoartige Rufserien von sich. Bei einem Teil der Gattung dienen die Lautsilben wiek! und schree zum Alarm oder der Kommunikation in kleinen Gruppen. In dieser Hinsicht ähneln die Dohlenhäher den teilweise sympatrischen Buschhähern, ihre Stimme klingt jedoch insgesamt sanfter und melodischer.  Während das akustische Repertoire der Dohlenhäher – ausgehend von den mittelamerikanischen Arten – früher als vergleichsweise klein und wenig komplex galt, zeichneten spätere Studien ein differenzierteres Bild. Ausschlaggebend dafür war vor allem eine Studie zu den Lautäußerungen des südamerikanischen Halsbandhähers (C. armillata) von 1967, die eine Vielzahl an verschiedenen Rufen und Kombinationen offenbarte. Spätere Autoren kamen zu dem Schluss, dass Ähnliches auch für den Blaukehlhäher (C. viridicyanus) gilt. Verbreitung und Wanderungen Die kleinräumigen Artareale der Dohlenhäher verteilen sich über die Gebirgsrücken Mittel- und Südamerikas. Am weitesten nördlich stößt der Blaukappenhäher (C. cucullata) vor, dessen Verbreitungsgebiet von der nördlichen Sierra Madre de Chiapas bis zu deren südöstlichem Ende reicht und ein weiteres, disjunktes Areal in der Cordillera de Talamanca umfasst. Entlang der Südwestküste Mexikos lebt der Weißkehlhäher (C. mirabilis) in zwei voneinander getrennten Arealen, weiter nordwestlich ist der Zwerghäher (C. nanus) teilweise mit dem Blaukappenhäher sympatrisch. Auch der Schwarzkehlhäher (C. pumilo) ist in der südöstlichen Sierra Madre de Chiapas gemeinsam mit dem Blaukappenhäher anzutreffen. Gleiches gilt für den Silberhäher (C. argentigula) in der Cordillera de Talamanca.  In Südamerika beschränkt sich das Verbreitungsgebiet der Gattung auf die Anden. Der Halsbandhäher (C. armillata) bewohnt mit der Cordillera de Mérida, der kolumbianischen Cordillera Oriental und, davon getrennt, der Cordillera Central den Nordteil des Gebirges. Durch den Río Cauca wird dieses Verbreitungsgebiet von dem des Schmuckhähers (C. pulchra) in der Cordillera Occidental getrennt. Die Verbreitungsgebiete beider Arten reichen bis ins nördliche Ecuador, wo sie sich mit dem des Türkishähers (C. turcosa) überschneiden. Dieser dringt südwärts bis zum Oberlauf des Río Marañón vor, auf dessen Südwestseite er vom Blaukehlhäher (C. viridicyanus) abgelöst wird. Das Artareal des Blaukehlhähers erstreckt sich von dort, unterbrochen von den Senken des Río Apurímac und des Titicacasees, südwestwärts bis etwa 17° S 67° W.  Nächstverwandte Arten leben meist allopatrisch und werden durch klimatisch-topografische Gegebenheiten voneinander getrennt. Im Falle der mittelamerikanischen Dohlenhäher sind dies vor allem der Isthmus von Tehuantepec und die Tiefebenen von Nicaragua und Panama. In Südamerika fungieren vor allem größere Flussläufe und ihre relativ trockenen Täler als Barrieren zwischen den Verbreitungsgebieten verschiedener Arten und Populationen. Diese heute vergleichsweise kleinen geografischen Hindernisse waren wahrscheinlich ausschlaggebend für die Artbildung innerhalb der Gattung.  Dohlenhäher sind Standvögel, je nach Jahreszeit unternehmen einigen Arten aber möglicherweise Höhenwanderungen. Lebensraum Alle Arten der Gattung Cyanolyca sind auf feuchte Wälder verschiedenen Typs angewiesen. In Mittelamerika sind die bewohnten Wälder vor allem von Eichen (Quercus spp.) und gemäßigtem bis subtropischem Klima geprägt. Mischwälder unterschiedlicher Zusammensetzung werden hier bevorzugt, der Blaukappenhäher (C. cucullata) kommt aber auch in halboffenem Eichenparkland vor. In Südamerika stellen tropische und subtropische Laubwälder das Habitat.  Ausschlaggebend für die Eignung eines Waldes ist vor allem sein Mikroklima: Trockene, leeseitig gelegene Lebensräume werden kaum genutzt, favorisiert werden dagegen Wälder mit hoher Luftfeuchtigkeit und dichtem Epiphytenbewuchs. Einige Arten suchen zudem die Nähe von Süßwasser, etwa von Bachläufen, Tümpeln oder Sümpfen. Dohlenhäher bewegen sich für gewöhnlich in den Randbereichen der Wälder oder in der lichteren Sekundärvegetation, seltener im dichten Waldesinneren.  Typische Arten der von Cyanolyca bewohnten Wälder sind in Mittelamerika neben Eichen und Kiefern vor allem Amberbäume (Liquidambar spp.), Tulpenbäume (Liriodendron spp.), Linden (Tilia spp.) und Steineiben (Podocarpus spp.). Leitvogelart ist hier neben den Dohlenhähern der Laucharassari (Aulacorhynchus prasinus).  In Südamerika sind typische Pflanzenarten der tiefer gelegenen Habitate etwa Rote Chinarindenbäume (Cinchona pubescens), Bambus (Bambuseae spp.) oder Baumfarne. In höheren Lagen der Anden dominieren dagegen Polylepis-Arten.  Ihr Lebensraum bindet die Gattung an montane Höhenstufen. Die meisten Dohlenhäher bevorzugen Lagen zwischen 1200 und 3000 m, nur Blaukappenhäher und Schmuckhäher (C. pulchra) sind auch in Lagen zwischen 800 und 1200 m anzutreffen. Mit 4000 m stößt der Halsbandhäher (C. armillata) vertikal am weitesten vor.  Wo verschiedene Cyanolyca-Arten sympatrisch vorkommen, weichen sie häufig in unterschiedliche Höhenlagen aus oder besetzen verschiedene Bereiche des gleichen Ökosystems, etwa das Waldesinnere und den Waldrand. Lebensweise Ernährung Dohlenhäher ernähren sich überwiegend von Insekten und anderen Wirbellosen. Daneben spielen bei einigen Arten auch Beeren eine Rolle. Beobachtungen zu Vogeleiern, Fröschen, Salamandern und Eidechsen in der Nahrung einiger Arten deuten auf ein weitgehend opportunistisches Fressverhalten hin. Während andere Neuwelthäher häufig Nüsse fressen, sind diese als Nahrung von Dohlenhähern nicht belegt. Der Zwerghäher (C. nanus) ernährt sich nach bisherigen Kenntnissen ausschließlich von tierischer Nahrung; Früchte oder Beeren wurden in seinem Magen nicht gefunden.  Dohlenhäher suchen ihre Nahrung in verschiedenen Ebenen des Waldes. Die meisten Arten bewegen sich hauptsächlich im Kronen- und Unterkronenbereich von Bäumen, einige bevorzugen jedoch niedrigere Ebenen oder das Unterholz. Sympatrische Cyanolyca-Arten nutzen bei der Nahrungssuche Feldbeobachtungen zufolge unterschiedliche Bereiche des gemeinsamen Habitats. Dohlenhäher suchen ihre Nahrung, indem sie die Epiphyten-Vegetation der Baumkronen mit dem Schnabel durchsuchen und ihn in kleine Öffnungen stecken, um sie dann schnabelsperrend zu erweitern. Dieses „Zirkeln“ genannte Verhalten ist typisch für Rabenvögel. Pflanzengallen werden gezielt geöffnet und die darin befindlichen Eier oder Larven gefressen. Ameisenschwärme werden ebenfalls als Nahrungsquelle genutzt. Stücke, die zu groß zum Schlucken sind, werden mit einem Fuß festgehalten und mit dem Schnabel bearbeitet. Unterschiede gibt es bei der Nahrungssuche bezüglich der Gruppengröße. Während einige Arten stets einzeln oder in Paaren nach Nahrung suchen, finden sich andere zu kleinen Verbänden zusammen oder schließen sich gemischten Schwärmen von Vögeln an. Sozial- und Territorialverhalten Im Vergleich mit anderen Rabenvögeln gelten Dohlenhäher als mäßig sozial. In Feldbeobachtungen reagierten mittelamerikanische Arten nicht auf nachgeahmte Alarmrufe. Die von Dohlenhähern gebildeten Schwärme umfassen nur wenige Vögel. Lediglich nach dem Ende der Brutsaison können sich bei einigen Arten Gruppen von bis zu 30 Vögeln zusammenfinden. Diese Gruppen bilden dann auch Schlafgemeinschaften, in denen die einzelnen Vögel nahe beieinander schlafen. Revierverhalten wurde bisher bei keiner Art beobachtet. Fortpflanzung und Brut Die Brutbiologie der Dohlenhäher ist nur lückenhaft erforscht. Für einige Arten liegen gar keine Berichte über die Brut vor. So ist unklar, ob in der Gattung Einzelbruten oder kooperative Bruten die Regel sind. Beobachtungen von mehr als zwei adulten Vögeln an einem Gelege deuten zumindest bei einigen Arten auf letzteres hin. Die Nester der Gattung sind relativ schlichte, halbkugelige Konstruktionen aus dünnen Zweigen, Flechten oder Nadeln. Bisher beschriebene Nester hatten einen Außendurchmesser von 19–33 cm und werden häufig zusätzlich mit weichen Materialien umhüllt. Die Vögel platzieren sie einige Meter hoch in Baumkronen oder Astgabeln. Beide Geschlechter beteiligen sich am Nestbau. Beobachtungen von drei adulten Türkishähern, die am gleichen Nest bauten, legen zumindest für diese Art die Existenz von Bruthelfern nahe. Das Gelege aller bisher untersuchten Arten besteht aus zwei bis drei blaugrünen, dunkel gesprenkelten Eiern, die vom Weibchen allein bebrütet werden, während es vom Männchen mit Nahrung versorgt wird. Die Zeit bis zum Schlupf der Nestlinge beträgt jeweils 20 Tage. Die Nestlinge werden anschließend von beiden Eltern gefüttert. Systematik und Entwicklungsgeschichte Forschungsgeschichte und Taxonomie Die Gattung der Dohlenhäher wurde 1851 von Jean Louis Cabanis erstbeschrieben. Er veröffentlichte die Erstbeschreibung im ersten Band des Museum Heineanum, einer von ihm verfassten Übersicht über die Balgsammlung des Beamten Ferdinand Heine aus dem preußischen Halberstadt. Cabanis nannte als Unterschied zu den Blauelstern (Cyanopica) und den Schopfhähern (Cyanocitta), von denen er sie abtrennte, „stärkern Schnabel, bürstenartige Stirnfedern u.s.w.“ und stellte sie gleichzeitig in die Nähe der Blauraben (Cyanocorax). Als lateinischen Gattungsnamen wählte er Cyanolyca, eine Kombination aus den griechischen Begriffen („(dunkel-)blau“) und („dohlenartiger Vogel“). Als deutschen Namen gab er, ebenfalls in Anlehnung an die Dohle, „Dohlenheher“ an.  Typusart der Gattung ist der Halsbandhäher (C. armillata). Er wurde als solcher nicht von Cabanis genannt, sondern erst 1855 im Nachhinein von John Edward Gray festgelegt. Der Blaukehlhäher (C viridicyanus) wurde 1832 als erste, der Weißkehlhäher (C. mirabilis) als letzte der Dohlenhäher-Arten beschrieben. Die bislang letzten Unterarten wurden 1951 erstbeschrieben. Erste umfassende Studien zur Gattung Cyanolyca führte erstmals zu Beginn der 1960er Jahre John William Hardy durch, ein US-amerikanischer Ornithologe. Während er zunächst unschlüssig über das Verwandtschaftsverhältnis der Dohlenhäher zu den anderen amerikanischen Gattungen war, bewogen ihn, Erkenntnisse über ihre Lautäußerungen sowie morphologische Merkmale, die Dohlenhäher als Untergattung der Buschhäher (Aphelocoma) zu behandeln. Hardy trug auch zur Kenntnis des Sozialverhaltens und der Habitatnutzung mehrerer mittel- und südamerikanischer Arten bei. Erste Hypothesen zur inneren Systematik stellte kurz darauf Derek Goodwin auf, wobei er sich vor allem auf Gefiedermerkmale bezog. Richard Zusi konnte 1987 erstmals die Monophylie der Dohlenhäher und ihre Zugehörigkeit zu den Neuwelthähern eindeutig anhand ihres Kiefergelenkaufbaus demonstrieren. Die genauen äußeren und inneren Verwandtschaftsverhältnisse der Gattung beschrieben schließlich 2007 und 2009 A. Townsend Peterson und Elisa Bonaccorso anhand von DNA-Untersuchungen. Als unzureichend erforscht gelten nach wie vor Sozial- und Brutverhalten sowie der Bestand und die Ernährung der meisten Arten. Äußere Systematik Wie alle rein amerikanischen Rabenvogelgattungen gehören auch die Dohlenhäher zu der Gruppe der Neuwelthäher. Der gemeinsame Vorfahre dieser Gattungen ähnelte wahrscheinlich den Blauelstern (Cyanopica) und erreichte vor 8–10 Millionen Jahren im späten Miozän von Asien aus Nordamerika, als zwischen beiden Kontinenten eine bewaldete Landbrücke mit warmem Klima bestand. Die Gattung Cyanolyca stellt eine relativ ursprüngliche Entwicklungslinie der Neuwelthäher dar und ist das Schwestertaxon einer Klade, die von Blauraben, Schopfhähern, Nacktschnabelhäher (Gymnorhinus cyanocephalus) und Buschhähern gebildet wird. Die Dohlenhäher spalteten sich in Mittelamerika vom Vorläufer dieser Klade ab, spezialisierten sich auf Hochlagen und erreichten später von dort aus Südamerika. Innere Systematik Die neun Arten der Gattung Cyanolyca verteilen sich auf zwei große Entwicklungslinien, deren Ursprung in Mittel- respektive Südamerika liegt. Beide Kladen trennten sich vermutlich erst nach der Entstehung des Isthmus von Panama vor 3,1 Millionen Jahren. Die weitere Auffächerung der beiden Entwicklungslinien in die heute existierenden Arten erfolgte erst im Anschluss daran.  Die vier kleinen mittelamerikanischen Arten – die sogenannten „Zwerghäher“ – teilen sich wiederum auf zwei Kladen auf: Einerseits Zwerghäher und Weißkehlhäher, andererseits Schwarzkehlhäher und Silberhäher. Beide Entwicklungslinien werden durch den Isthmus von Tehuantepec voneinander getrennt, einer geographischen Barriere, die wahrscheinlich ausschlaggebend für die Kladogenese war. In Südamerika kam es zu einer Radiation, die in einer „Hochlandklade“ – Halsbandhäher, Türkishäher und Blaukehlhäher – entlang der westlichen Anden und zwei Tieflandformen – Schmuckhäher und Blaukappenhäher – im nördlichen Südamerika resultierte. Der Vorfahre des Blaukappenhähers gelangte von Südamerika wieder zurück nach Mittelamerika. Die Aufspaltung in die heute neun anerkannten Arten erfolgte jeweils durch die Isolation einzelner Populationen durch trockene Flusstäler, Tiefländer und Senken während des Pleistozäns. DNA-Untersuchungen deuten darauf hin, dass sich die durch den Río Apurímac getrennten Populationen des Blaukehlhähers (C. viridicyanus) so stark voneinander unterscheiden, dass beiden Populationen Artstatus zukommt. Die Population nördlich des Flusses wäre damit als Cyanolyca jolyaea eine zehnte Art der Dohlenhäher. Gefährdung Von den neun Cyanolyca-Arten gelten der Zwerghäher und der Weißkehlhäher nach Ansicht von BirdLife International als bedroht (), einige mexikanische Ornithologen fordern für beide sogar eine Einstufung als stark gefährdet (). Die Populationen beider Arten litten in der Vergangenheit unter dem intensiven Holzeinschlag in ihren Lebensräumen. Als Konsequenz dieser Lebensraumzerstörung gingen sowohl die Bestände als auch die Verbreitungsgebiete beider Arten zurück. Ähnlich, wenn auch weniger gravierend, stellt sich die Situation beim südamerikanischen Schmuckhäher dar, der auf der Vorwarnliste () von BirdLife steht. Literatur Elisa Bonaccorso, Andrew Townsend Peterson: In: 42, 2007. doi:10.1016/j.ympev.2006.06.025, S. 467–476. Elisa Bonaccorso: In: 50, 2009. doi:10.1016/j.ympev.2008.12.012, S. 618–632. Jean Louis Cabanis: Museum Heineanum: Verzeichniss der ornithologischen Sammlung des Oberamtmann Ferdinand Heine, auf Gut St. Burchard vor Halberstadt. I. Theil, die Singvögel enthaltend. R. Frantz, Halberstadt 1850–1851. (Volltext) Derek Goodwin: 2. Auflage. , London 1986. ISBN 0-565-00979-6. John Edward Gray: Printed by order of the Trustees, London 1855. doi:10.5962/bhl.title.17986. John William Hardy: In: 42 (2), 1961. S. 13–149. (Volltext) John William Hardy: In: 11, 1964. S. 1–14. John William Hardy: In: 69, 1967. S. 513–521. John William Hardy: In: 165, 1969. S. 1–16. John William Hardy: In: 71, 1969. S. 360–375. (Volltext; PDF; 1,5 MB) Josep del Hoyo, Andrew Elliott, David Christie (Hrsg.): Lynx Edicions, Barcelona 2009. ISBN 978-84-96553-50-7. Steve Madge, Hilary Burn: Princeton University Press, Princeton 1994, ISBN 0-691-08883-7. K. Winnett-Murray, G. Murray: In: 100 (1), 1988. S. 134–135. Alejandro Solano-Ugalde, Rene Lima, Harold F. Greeney: In: 10, 2010. S. 61–64. Andrew C. Vallely: In: Ornithologia Neotropica 12, 2001. S. 271–275. Richard L. Zusi: In: 104, 1987. S. 665–680. Weblinks Einzelnachweise Fußnoten direkt hinter einer Aussage belegen diese einzelne Aussage, Fußnoten direkt hinter einem Satzzeichen den gesamten vorangehenden Satz. Fußnoten hinter einer Leerstelle beziehen sich auf den kompletten vorangegangenen Text. Rabenvögel
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https://de.wikipedia.org/wiki/Tomb%20Raider%20%28Computerspiel%2C%202013%29
Tomb Raider (Computerspiel, 2013)
Tomb Raider ist ein Videospiel aus dem Action-Adventure-Genre. Es handelt sich um den insgesamt zehnten Teil der Tomb-Raider-Serie und um den vierten Beitrag des US-amerikanischen Studios Crystal Dynamics zu dieser Reihe. Der Titel wurde am 5. März 2013 vom japanischen Konzern Square Enix für PlayStation 3, Xbox 360 und Windows erstveröffentlicht. Das Spiel ist als Neubeginn der Tomb-Raider-Serie konzipiert worden und beleuchtet die Ursprünge von Lara Croft, der Hauptfigur. Es erzählt von ihrer ersten Abenteuerreise, der Entdeckung des japanischen Königreichs Yamatai. Aufgrund der dabei gezeigten gewalttätigen Inhalte wurde die Altersfreigabe durch die USK und PEGI auf 18 Jahre festgelegt, ein Novum in der Geschichte der Tomb-Raider-Spiele. Kritikern gefiel die Art, wie die Entwicklung der Hauptfigur von einer unerfahreneren Forscherin hin zu einer erfahrenen Überlebenskünstlerin erzählt wird. Die dazu passend in Szene gesetzte Spielwelt wurde ebenfalls positiv aufgenommen. Besondere Aufmerksamkeit erfuhr dabei die wirklichkeitsnahe Darstellung von Haaren beteiligter Spielfiguren durch die von AMD entwickelte TressFX-Programmbibliothek. Die positive Rezeption schlug sich auch in den Verkaufszahlen nieder: Mit etwa elf Millionen verkauften Exemplaren ist das Spiel der bislang meistverkaufte Titel der Tomb-Raider-Serie. Ende Januar 2014 wurde eine überarbeitete Version des Spiels mit dem Namen Tomb Raider: Definitive Edition für die beiden Konsolen PlayStation 4 und Xbox One veröffentlicht. Am 15. März 2018 erschien mit Tomb Raider eine Verfilmung des Computerspiels in den deutschen Kinos. Handlung Die 21-jährige britische Archäologin Lara Croft bricht zu einer Expedition unter der Leitung des Archäologen Dr. James Whitman in den Pazifik auf, um die Überreste des alten japanischen Königreichs Yamatai zu finden. Weitere Crewmitglieder ihres Schiffes, der Endurance, sind der Kapitän Conrad Roth, der Steuermann Angus Grimaldi (genannt Grim), die Chefingenieurin Joslin Reyes, der Schiffstechniker Alex Weiss, der Schiffskoch Jonah Maiava und die Filmemacherin Samantha Nishimura (Laras beste Freundin, genannt Sam). Nach mehrtägiger erfolgloser Suche schlägt Lara das Drachen-Dreieck als neues Suchgebiet vor. Whitman ist skeptisch, da er die Position Yamatais an anderer Stelle vermutet. Roth, welcher ein Freund von Laras Vater war und sich seit dessen Tod um sie gekümmert hat, vertraut jedoch Laras Intuition und nimmt Kurs auf das Drachen-Dreieck. Dort wird das Schiff von einem Sturm erfasst und strandet auf einer unbekannten Insel. Nachdem sie sich an den Strand gerettet hat, wird Lara von einem Unbekannten niedergeschlagen und in eine Höhle verschleppt, aus der sie jedoch fliehen kann. Anschließend beginnt Lara mit der Suche nach der Besatzung ihres Schiffes. Mithilfe eines Funkgeräts gelingt die Kontaktaufnahme mit Roth und sie trifft Sam wieder, die mit einem ebenfalls auf der Insel gestrandeten Mann namens Mathias an einem Lagerfeuer sitzt. Während Lara schläft, verschwinden die beiden jedoch. Als Lara erwacht, ist sie besorgt über Sams Verschwinden und trifft kurz darauf auf die restliche Schiffscrew (mit Ausnahme von Roth). Gemeinsam beschließen sie nun, sich für die Suche nach ihren Kameraden aufzuteilen. Während Jonah, Grim, Reyes und Alex sich auf die Suche nach Sam machen, brechen Whitman und Lara auf, um Roth zu finden. Dabei entdecken letztere, dass die Insel von den Anhängern eines Kults bewohnt wird, der die Sonnenkönigin Himiko, der übernatürliche Kräfte nachgesagt werden, verehrt – ein Hinweis darauf, dass es sich bei der Insel um deren ehemaliges Königreich Yamatai handelt. Whitman ergibt sich zu Laras Entsetzen sofort, als die beiden kurz danach von einer Gruppe Kultisten überrascht werden, woraufhin auch Lara gefangen genommen wird. Sie kann jedoch schnell entkommen, nachdem sie den Anführer der Gruppe in Notwehr getötet hat und stößt wenig später auf den von Wölfen verwundeten Kapitän Roth. Lara versorgt notdürftig dessen Wunden und versucht anschließend, einen Hilferuf abzusetzen. Dazu besteigt sie einen Funkturm einer japanischen Basis aus dem Zweiten Weltkrieg. Mit Hilfe von Alex, welcher ihr per Funk Anweisungen erteilt, kann Lara ein in der Nähe befindliches Suchflugzeug kontaktieren. Während des Anflugs auf die Insel zieht jedoch urplötzlich ein schwerer Sturm auf und das Flugzeug stürzt ab. Lara muss mit ansehen, wie einer der Piloten, die sich mit Fallschirmen retten konnten, von den Kultisten getötet wird. Danach trifft sie wieder mit Roth zusammen und macht sich anschließend auf die Suche nach dem zweiten Piloten. Als sie diesen sterbend vor den Toren eines alten Klosters findet, gerät sie in einen Hinterhalt von Mathias, dem Mann, der mit Sam verschwunden ist. Er ist der Anführer der Kultisten, welche sich selbst Solarii nennen. Es handelt sich dabei um im Laufe der Jahrzehnte auf dieser Insel gestrandete Überlebende von Schiffs- oder Flugzeugunglücken, die durch die Stürme, welche die Insel umtosen, daran gehindert werden, die Insel wieder zu verlassen. Die am Hinterhalt beteiligten Solarii wollen Lara auf Befehl von Mathias nun töten, werden aber vorher von einer Gruppe mysteriöser Krieger abgeschlachtet, die alte japanische Waffen und Rüstungen tragen und Lara in einen Raum voller Leichen innerhalb des Klosters verschleppen. Lara kann sich jedoch befreien, findet im Kloster das Grab von Königin Himiko und entdeckt dadurch, dass es sich bei der Insel tatsächlich um das von ihrer Expedition gesuchte Königreich Yamatai handelt. Nachdem Lara aus dem Kloster entkommen ist, nimmt Sam über Funk Kontakt zu ihr auf und erzählt ihr, dass sie von Mathias entführt wurde und in der alten Palastanlage Yamatais, wo die Solarii ihr Hauptquartier haben, gefangen gehalten wird. Auch die anderen Crewmitglieder mit Ausnahme von Roth wurden dort festgesetzt. Grim kann sich zwar befreien, wird aber beim Versuch Lara zu helfen getötet. Mathias unterzieht Sam auf einem Scheiterhaufen einem Feuerritual, von dem Lara eine Wandmalerei in Himikos Grab gesehen hat. Da das Feuer jedoch von einem plötzlich aufkommenden Sturm gelöscht wird und das Ritual damit zum ersten Mal erfolgreich ist, glaubt er in der japanischstämmigen Sam eine Auserwählte gefunden zu haben, die es den Solarii ermöglichen soll, die Insel wieder zu verlassen. Lara gelangt nun in die Höhlen unterhalb des Palasts und entzündet bei der Befreiung der dort gefangen gehaltenen Crewmitglieder Reyes, Jonah und Alex mehrere Schwefelquellen, woraufhin die gesamte Palastanlage in Brand gerät. Anschließend kann sie auch die direkt im Palast gefangen gehaltene Sam befreien und sich den Weg durch die Solarii hindurch aus dem Palast freikämpfen. Ihr gelingt es schließlich in einen Hubschrauber zu springen, der nach der Crew von Laras Schiff sucht und in dem sich Roth bereits befindet. Der Hubschrauber gerät jedoch wie zuvor bereits das Flugzeug in einen schweren Sturm und stürzt ab. Als die Solarii an der Absturzstelle erscheinen und die Verunglückten angreifen, wird Roth beim Versuch Lara zu schützen von Mathias getötet. Nachdem sie Roth auf einem Scheiterhaufen bestattet haben, trifft sich Lara am Strand mit Reyes, Jonah und Sam, welche gerade die Flucht mit einem alten Boot vorbereiten. Auch Whitman stößt nun wieder zur Gruppe, der behauptet, dass er aus der Gewalt der Solarii fliehen konnte. Da ihnen das für die Instandsetzung des Boots notwendige Werkzeug fehlt, war Alex bereits vor Laras Eintreffen zum Wrack der Endurance aufgebrochen. Lara folgt ihm und stellt fest, dass er auf dem Schiff unter Wrackteilen eingeklemmt wurde. Als die beiden plötzlich von Solarii angegriffen werden, löst Alex eine Explosion aus, bei der er selbst ums Leben kommt, um Lara die Flucht mit dem benötigten Werkzeug zu ermöglichen. Lara findet auf dem Rückweg in einem Bunker die Aufzeichnungen japanischer Forscher, die während des Zweiten Weltkriegs die Quelle der mysteriösen Stürme untersuchen sollten, über die Japan die Kontrolle erlangen wollte. In den Notizen wird vom Grab eines bedeutenden Generals von Yamatai berichtet, welches mit den Stürmen in Verbindung stehen soll. Anschließend überbringt Lara Reyes das Werkzeug, sodass diese mit der Instandsetzung des Boots beginnen kann. Da Lara nicht daran glaubt, dass man die Insel verlassen kann, solange die unheimlichen Stürme nicht aufhören, macht sie sich nun auf den Weg zu besagtem Grab. Darin angekommen entdeckt sie im Abschiedsbrief des Generals, der vor langer Zeit Seppuku begangen hat, das Geheimnis der Wetterphänomene: Himikos Seele ist in ihrem toten Körper immer noch am Leben und verursacht mit ihren übernatürlichen Kräften die Stürme auf der Insel. Lara kommt zu dem Schluss, dass Himikos Körper zerstört werden muss, um den Spuk zu beenden. Zurück am Strand muss Lara feststellen, dass Whitman Sam entführt hat, um sie wieder zu Mathias zu bringen, der ihn nur zu diesem Zweck freigelassen hatte. Whitman will, dass Mathias sein Ritual bekommt und die anderen Crewmitglieder sterben, damit er sich anschließend als einziger Überlebender von der Insel absetzen und ganz allein den Ruhm für die Entdeckung von Yamatai ernten kann. Lara, Jonah und Reyes nehmen das instand gesetzte Boot nun einen Fluss entlang landeinwärts, zurück zum Kloster, wo Mathias auch Sam hinbringt. Als Whitman, Sam und Mathias am Kloster eintreffen, wird Whitman von den mysteriösen Kriegern, die vorher Lara verschleppt hatten, getötet. Dabei handelt es sich um die Sturmwache, die Soldaten von Königin Himiko, die aus unbekannten Gründen immer noch am Leben (wenn auch nicht mehr wirklich menschlich) sind, nun auch Oni genannt werden und im Kloster Himikos toten Körper bewachen. Diese haben während des Zweiten Weltkriegs auch alle japanischen Soldaten und Forscher abgeschlachtet, die gekommen waren, um das Geheimnis der Stürme zu untersuchen. Als Lara im Kloster ankommt, wird ihr klar, dass Mathias Sam zu Himiko bringt, damit diese Sams Körper, den sie sich während des Feuerrituals erwählt hat, übernehmen kann und sie Mathias dann endlich von der Insel entkommen lässt. Lara kämpft sich durch die Oni und die Solarii hindurch bis zur Spitze des Klosters, wo Himiko in Anwesenheit von Mathias gerade dabei ist, ihre Seele in Sams Körper zu transferieren. Beim Versuch, Lara daran zu hindern das Ritual zu stoppen, wird Mathias von Lara getötet (wobei sie zum ersten Mal ihre berühmten Doppelpistolen einsetzt), bevor Himiko in Sams Körper gelangen kann. Anschließend vernichtet Lara den Körper der Sonnenkönigin mit einer Fackel, woraufhin die Stürme abflauen, was den vier letzten Überlebenden der Endurance die Flucht von der Insel ermöglicht. Spielprinzip Allgemein Das Spielgeschehen findet auf der Insel Yamatai statt. Den Schwerpunkt nimmt dabei die Einzelspieler-Kampagne ein, die in Form von aufeinanderfolgenden Missionen erzählt wird. Im Rahmen dieser Kampagne erforscht der Spieler allmählich die gesamte Insel und bekämpft eine kriegerische Sekte, die Solarii. Das Spiel fußt auf zwei Elementen, dem Kämpfen und dem Lösen von Rätseln. Kampfsituationen entstehen, wenn die Figur Feinden oder wilden Tieren begegnet. Für Kämpfe stehen dem Spieler diverse Waffen zur Verfügung. Die erste Waffe, auf die er stößt, ist ein Blankbogen. Im Verlauf der Kampagne findet er zusätzliche Schusswaffen, etwa Gewehre oder eine Pistole. Ebenfalls verfügt die Figur über eine Kletteraxt, die auch als Nahkampfwaffe fungiert. Neben dem Kampf stellt die Fortbewegung oft eine weitere Herausforderung dar. An vielen Stellen des Spiels wird der Hauptfigur der Weg versperrt, beispielsweise durch Gebäuderuinen oder durch unwegsames Gelände. Um solche Hindernisse zu überwinden, muss der Spieler eine geschickte Kombination bestimmter Bewegungen ausführen. Beim Lösen dieser Rätsel wird der Spieler durch den Überlebensinstinkt unterstützt. Hierbei handelt es sich um eine Funktion des Spiels, bei der Schlüsselobjekte, die das Vorankommen ermöglichen, kurzzeitig leuchtend hervorgehoben werden. Gegner werden durch den Überlebensinstinkt ebenfalls markiert. Zur Fortbewegung kann der Spieler auf den Bogen und die Kletteraxt zurückgreifen. Mithilfe der Axt kann die Spielfigur an geeigneten Wänden klettern. Den Bogen kann der Spieler dazu nutzen, Seile zu spannen, mit denen die Spielfigur beispielsweise über Schluchten klettern kann. Auf Yamatai befinden sich mehrere Gräber, die der Spieler erforschen kann. Daneben finden sich in der Spielwelt verteilt Kisten mit Beutegut und Waffenbauteilen. Mit ersterem kann der Spieler seine Waffen aufrüsten, indem er beispielsweise erweiterte Magazine oder verbesserte Visiere herstellt. Mit letzteren kann der Spieler neue, stärkere Waffen konstruieren. Das Verbessern vorhandener und das Bauen neuer Waffen kann die Spielfigur in Lagern vornehmen, die auf der Insel verteilt sind und im Laufe der Kampagne vom Spieler entdeckt werden. Daneben erlauben die Lager dem Spieler, zwischen Schauplätzen auf der Insel hin- und herzureisen. Schließlich beinhaltet das Spiel in Anlehnung an Rollenspiele die Möglichkeit, die Spielfigur weiterzuentwickeln. Indem sie Gegner bezwingt, Fortschritt in der Kampagne erzielt oder andere schwierige Stellen bewältigt, erhält der Spieler Erfahrungspunkte. Diese kann der Spieler dazu nutzen, seine Figur neue Fähigkeiten erlernen zu lassen, die sie kampfstärker oder widerstandsfähiger machen oder ihr andere Vorteile verschaffen. Mehrspieler Das Spiel bietet neben der Einzelspielerkampagne auch eine Mehrspielerkomponente. Diese umfasst drei Spielmodi, Deathmatch, Rettung und Hilferuf. In ersterem Modus werden die Spieler in zwei Teams, die Überlebenden und die Solarii, eingeteilt, die gegeneinander um die Vorherrschaft in einem Gebiet kämpfen. Bei Rettungseinsätzen versucht das Team der Überlebenden, medizinische Ausrüstung zu einem bestimmten Punkt auf der Karte zu bringen, während die Solarii versuchen, es davon abzuhalten. Im letztgenannten Modus kämpfen die Überlebenden darum, einen Funksender für eine bestimmte Zeit zu erobern und zu kontrollieren, um ein Funksignal abzusenden. Die Solarii versuchen, die Überlebenden vom Funkturm fernzuhalten. In Mehrspielerpartien stehen den Spielern mehrere Spielfiguren zur Auswahl sowie neue Spieloptionen, etwa das Stellen von Fallen, zur Verfügung. Entwicklungsgeschichte Entwicklung Nach der Veröffentlichung von Tomb Raider: Underworld im Jahr 2008 zeigte sich der damalige Publisher Eidos unzufrieden mit dem Erfolg des Spiels, der mit 1,5 Millionen verkauften Exemplaren insbesondere auf dem nordamerikanischen Markt hinter den Erwartungen des Konzerns zurückblieb. Infolgedessen wurde das zuständige Entwicklerstudio Crystal Dynamics verkleinert. Für die Arbeit an kommenden Tomb-Raider-Titeln wurde das Studio in zwei Teams eingeteilt. Die erste Gruppe begann ihre Arbeit am nächsten, mittlerweile zehnten Teil der Tomb-Raider-Reihe. Die zweite Gruppe wurde mit der Entwicklung einer neuen Ableger-Serie mit Namen Lara Croft betraut. Die Entwickler knüpften bei der Konzeptionierung des Spiels bewusst nicht an frühere Tomb-Raider-Titel an, sondern planten eine eigenständige Handlung, die die Herkunft der Protagonistin und deren Werdegang zur späteren Abenteurerin beleuchtet. Als leitender Designer des zehnten Titels wurde Toby Gard, der zu den Begründern der Serie zählte, verpflichtet. Gard verließ das Studio jedoch bereits neun Monate nach Beginn seiner Anstellung im September 2009. Das Drehbuch zum Spiel wurde von Rhianna Pratchett verfasst, die unter anderem auch die Handlung von Mirror’s Edge schrieb. Im November 2010, noch vor einer offiziellen Bestätigung der Entwicklung des neuen Spiels, ließ Square Enix den späteren Untertitel des sich in Entwicklung befindenden Titels, A Survivor is Born (dt.: Ein Überlebenskünstler wird geboren), als Marke eintragen. Am 6. Dezember des gleichen Jahres bestätigte das Unternehmen, dass sich Tomb Raider seit zwei Jahren beim Studio Crystal Dynamics in Entwicklung befinde, nannte aber weder ein vorläufiges Erscheinungsdatum noch die angepeilten Plattformen. Der Leiter des Studios, Darrell Gallagher, kommentierte aber den Spielinhalt, indem er ankündigte, dass das Spiel eine Handlung enthalten werde, die die Hauptfigur auf eine Weise definieren werde, wie es kein anderer Teil zuvor vermochte. Es sollte mit früheren Titeln der Reihe brechen und einen Neubeginn der Spielereihe darstellen. Für die Handlung erarbeitete Pratchett ein Konzept, in dem Crofts Charakter tiefgründiger dargestellt werden sollte als es in früheren Titeln der Fall war. Dazu stellte er Eigenschaften wie Zweifel, Unsicherheit und Angst der Figur in den Vordergrund, die Croft im Laufe des Spiels allmählich überwindet. Als Inspirationsquellen für den Entstehungsprozess von Tomb Raider gab Gallagher unter anderem die Filme Stirb Langsam, The Descent, Alien und Rambo an. Daneben befassten sich die Entwickler mit einigen realen Ereignissen, die einen Bezug zum Überleben in der Wildnis besaßen, etwa die Geschichten des Bergsteigers Aron Ralston und der Absturz von Fuerza-Aérea-Uruguaya-Flug 571. Eine umfangreiche Vorstellung des Titels erfolgte in einer Ausgabe des US-amerikanischen Spielemagazins Game Informer im Januar 2010. Im Juni 2011 wurde das Spiel auf der Electronic Entertainment Expo (E3) in Los Angeles ausgestellt. Dort zeigte Square Enix einen Trailer zu Tomb Raider mit dem Titel Turning Point. Dieser wurde von Square Enix’ Studio Visual Works mittels 3D-Computergrafik produziert. Bei dieser Vorführung wurde das Spiel für das dritte Quartal des Jahres 2012 angekündigt. Im März 2012 wurde das Entwicklerteam um Cory Barlog, Entwicklungsleiter bei God of War II, erweitert. Er übernahm die Produktion der Zwischensequenzen, die in der Kampagne regelmäßig zum Einsatz kommen, um Schlüsselstellen zu erzählen. Im Mai gab Gallagher bekannt, dass sich die Veröffentlichung des Spiels bis März 2013 verzögern werde. Eine Woche später wurde der Veröffentlichungstermin in einem Trailer auf den 5. März konkretisiert. Im Juli folgte eine weitere Vorstellung des Titels auf Comic Con in San Diego. Markendirektor Karl Stewart gab in einem Interview an, dass die Haupthandlung des Spiels etwa 12 bis 15 Stunden dauern würde. Neben der Haupthandlung werde der Spieler die Gelegenheit haben, verschiedene Nebenaufgaben zu lösen, die Insel zu erforschen, Orte wieder zu besuchen und Grabstätten zu finden. Anfang Januar 2013 berichtete das Official Xbox Magazine, eine Fachzeitschrift für die Xbox-Konsole, dass Tomb Raider als erster Titel der Serie – mit Ausnahme des Ablegers Lara Croft and the Guardian of Light – einen Mehrspielermodus beinhalten werde. Dieser wurde allerdings nicht von Crystal Dynamics entwickelt, sondern vom kanadischen Videospielentwickler Eidos Montréal, der beispielsweise an Deus Ex: Human Revolution beteiligt war. Eine Veröffentlichung des Spiels für Nintendos Wii-U-Konsole war gemäß Stewart nicht in Planung. Er begründete dies damit, dass das Spiel bereits vor Ankündigung der Wii U in Entwicklung gewesen war. Darüber hinaus wäre eine reine Portierung nicht im Sinn der Entwickler gewesen. Hätten sie anfänglich eine Umsetzung für die Wii U vorgesehen, wären spezielle Funktionen für diese Konsole in das Spiel eingebaut worden, was den Verlauf der Entwicklung beeinflusst hätte. Am 8. Februar 2013 waren die Arbeiten am Spiel abgeschlossen. Damit war es bereit für die Veröffentlichung. Technik Das Spiel verwendet die von Crystal Dynamics entwickelte Crystal Engine, die bereits in früheren Spielen des Studios zum Einsatz kam. Für die Entwicklung des Spiels kooperierten die Entwickler mit dem US-amerikanischen Chipentwickler AMD. Daher wurde das Spiel für AMD-Grafikkarten optimiert. Ebenfalls verwendet die Windows-Version als erstes Videospiel die von dem Chiphersteller entwickelte TressFX-Technologie. Diese wurde für die realistische Darstellung von Haaren konzipiert. Die Simulation von Haaren gilt in der Videospielentwicklung als eine schwierige Angelegenheit. Für eine realitätsnahe Darstellung müsste das physikalische Verhalten jedes einzelnen Haars separat berechnet werden, da sich die Haare eines Kopfes selten alle auf gleiche Weise bewegen. Die Berechnung des physikalisch korrekten Verhaltens, etwa der Trägheit, würde aufgrund der Masse an Haaren auf einem Kopf den Prozessor (CPU) stark auslasten. Daher wurde über lange Zeit die Haarsimulation bei der Spielentwicklung vernachlässigt und erfolgte beispielsweise durch ein bewegliches Element eines Modellskeletts. Die TressFX-Software berechnet dagegen jede sichtbare Haarsträhne einzeln. Die Auslastung der CPU vermeidet sie, indem sie für die Berechnungen mithilfe der DirectCompute-Schnittstelle nicht auf die CPU, sondern auf die GPU, den Grafikprozessor, zurückgreift. Dadurch beansprucht die Physiksimulation den Hauptprozessor nicht in dem Umfang, wie es andere Techniken tun. Für die Animation der Figuren griffen die Entwickler auf die Motion-Capture-Technik zurück, um möglichst menschliche Bewegungsabläufe darzustellen. Dazu trugen die Schauspieler bei den Aufnahmen spezielle Anzüge, die mit Sensoren ausgestattet waren und die Bewegungen an einen Computer übermittelten. Im Anschluss wurden diese Bewegungen auf die Figurenmodelle des Spiels übertragen. Ton und Synchronisation Im Dezember 2010 wurde bekannt, dass Crystal Dynamics nach vier Jahren auf die bisherige Lara-Sprecherin Keeley Hawes (seit Tomb Raider: Legend) verzichten und stattdessen ein Casting für eine neue Sprecherin veranstalten werde, da die Stimme der alten Sprecherin zu alt für die junge Hauptfigur klang. Am 26. Juni 2012 wurde Camilla Luddington als Lara Crofts neue Stimme angekündigt. In der deutschen Lokalisierung wird die Hauptfigur von Nora Tschirner gesprochen. In der arabischen Lokalisierung, die erstmals in einem Titel von Square Enix enthalten ist, spricht Nadine Njeim Lara Croft. Als Komponist fungierte Jason Graves, der bereits an der Dead-Space-Serie mitwirkte. Da Crystal Dynamics mit dem Spiel nicht an frühere Teile der Serie anknüpfen wollte, ließ das Studio Graves einen großen kreativen Spielraum. Graves plante, für den Soundtrack die Klänge zahlreicher verschiedener Gegenstände zu verarbeiten, um den Charakter der Insel als Heimat vieler Schiffbrüchiger zu unterstreichen. Die Musik sollte auf den Spieler eine beunruhigende und unheimliche Wirkung haben. Die Hauptmelodie, die in vielen Sequenzen das Fundament für den Soundtrack bildet, besteht aus Klaviermusik. Je nach Spielsituation wird das Klavier um zusätzliche Instrumente wie Trommeln oder Geigen ergänzt. Graves entwarf und baute für seine Arbeit ein Instrument aus Glas und verschiedenen Metallen gemeinsam mit den McConnell-Studios aus Raleigh. Dieses Instrument, mit dessen Hilfe der Komponist eine große Bandbreite von Klängen erzeugen konnte, untermalt vor allem den Anfang der Handlung musikalisch. Der komplette Soundtrack wurde am 5. März 2013 unter dem Titel Tomb Raider von Sumthing Else Music Works veröffentlicht. Veröffentlichung Das Spiel erschien für Xbox 360, Windows und PlayStation 3 in Nordamerika und Europa am 5. März 2013. Dieser Termin war ursprünglich auch in Australien vorgesehen. Dort verkauften es jedoch einzelne Händler bereits ab dem 1. März. In Japan wurde das Spiel am 25. April veröffentlicht. Am 23. Januar 2014 erschien das Spiel weltweit für macOS. Das Spiel wurde als erster Tomb-Raider-Titel in mehreren Alterskennzeichnungen, etwa USK und PEGI, als nicht jugendgeeignet eingestuft. Das amerikanische ESRB ordnete das Spiel als mature (Freigabe ab 17 Jahren) ein. Entwickler Carl Stewart sah die gesteigerte Brutalität des Spiels, die zu dieser Einstufung führte, als notwendig an, damit das Spiel eine glaubhafte Geschichte erzählen könne. Das Entfernen gewalttätiger und auch grausamer Sequenzen hätte die Handlung des Spiels abgestumpft. Auf dem europäischen Markt veröffentlichte Square Enix neben der Standardversion des Spiels die Survival Edition. Diese Veröffentlichung enthält neben dem Spiel ein Buch mit Konzeptzeichnungen, eine doppelseitige Karte der Insel, den Soundtrack auf CD sowie einen Freischaltcode für zusätzliche Spielinhalte. Schließlich erschien das Spiel auch in einer Collector’s Edition in Europa und in Nordamerika. In Europa beinhaltete sie den Inhalt der Survival Edition und zusätzlich eine Lara-Croft-Figur. In der nordamerikanischen Collector’s Edition sind anstelle des Buchs und des Beutels drei Eisenplaketten und ein gerahmenter Kunstdruck enthalten. Die Xbox-360-Version des Spiels für den asiatischen Markt enthielt zusätzliche Spielinhalte. In Nordamerika wurde speziell für den Einzelhändler Best Buy eine Sonderedition namens Tomb Raider: The Beginning bereitgestellt, welche eine 48-seitige, als Hardcover gebundene Graphic Novel enthält. Sie stammt, wie die Handlung des Spiels, aus der Feder der Autorin Rhianna Pratchett und erzählt die Vorgeschichte des Spiels. Daneben enthält sie ein 1930er-Jahre-Abenteureroutfit. Exklusiv für Amazon in Nordamerika gab es für Vorbesteller die The-Final-Hours-Edition, welche ein 32-seitiges Buch mit Konzeptzeichnungen, ein zusätzliches Kostüm für Lara und Videos von der Entwicklung des Spiels für das Kindle Fire enthält. Bereits auf der E3 2012 kündigte Darrell Gallagher an, dass das Studio für die Xbox-360-Fassung zusätzliche Inhalte bereitstellen werde. Diese erschienen am 19. März, wenige Wochen nach der Veröffentlichung von Tomb Raider, unter dem Titel Caves & Cliffs. Diese Ergänzung enthielt drei zusätzliche Karten für den Mehrspieler-Modus. Anfang Januar 2014 erschien eine Portierung von Tomb Raider für die PlayStation 4 und die Xbox One unter dem Titel Definitive Edition. Für diese Portierung wurde die Auflösung aller Texturen erhöht, das Modell der Hauptfigur teilweise neu modelliert und die TressFX-Technologie für Konsolen angepasst. Außerdem enthält diese Portierung alle bisher erschienenen Erweiterungen. Am 27. April 2016 veröffentlichte das britische Studio Feral Interactive eine Portierung des Spiels für Linux und SteamOS. Rezeption Die Royal Mail brachte 2020 einen Satz von zwölf Briefmarken mit Motiven aus britischen Computerspielen heraus, in dem ein Wert eine Szene aus Tomb Raider zeigt. Vorberichterstattung Seitdem erste Materialien zu Tomb Raider erschienen, kommentierte die Fachpresse regelmäßig, dass das neue Spiel, das einen Neustart der Serie darstellen sollte, markante Unterschiede zu den Vorgängern erkennen lasse. So sei die Hauptfigur merklich anders gestaltet. Dave Thier schrieb in einem Bericht für das Online-Magazin IGN, dass erkennbar sei, dass das kommende Spiel die Serie in eine neue Richtung lenken würde. Es schließe sich damit einem gegenwärtigen Trend namhafter Spieleserien an, die Kontinuität zu früheren Werken aufzugeben und sich neu zu erfinden. Meist erhalten die Spiele dabei einen finstereren Anklang als ihre Vorgänger. Interessant sei laut Sophia Lang vom Online-Magazin GameSpot der Ansatz einer charakterfokussierten Handlung, in deren Mittelpunkt die Entwicklung der Hauptfigur zur späteren Abenteuerin im Mittelpunkt stehe. Carolyn Petit kommentierte wohlwollend, dass das Spiel den Anschein erwecke, dass es mit neuen Ideen aufwarte. Auffällig sei bereits in den ersten Präsentationen, dass das Spiel deutlich brutaler und finsterer wirke als frühere Titel der Serie. Viel Aufmerksamkeit erregte eine Vorschausequenz, in der einige Berichterstatter eine versuchte Vergewaltigung erblickten. Produzent Ron Rosenberg bestätigte dies auch und sprach davon, dass diese Sequenz einen Beschützerinstinkt beim Spieler wecken solle. Der Leiter von Crystal Dynamics, Darrell Gallagher, dementierte dies jedoch wenig später. Eine Vergewaltigung sei kein Thema des Spiels. Auch Autorin Pratchett wies die Annahme zurück. Rezensionen Die Webseite Metacritic, die Testberichte sammelt und einen Wertungsdurchschnitt ermittelt, berechnete für das Spiel Tomb Raider einen Schnitt von 86 von 100 Punkten für die Windows-Version und für die Xbox-360-Fassung. Die Umsetzung für die PlayStation 3 erreichte einen Durchschnitt von 87 Punkten. Keza Macdonald lobte in einem Bericht für IGN die aufwändige Inszenierung der Handlung. Die Hauptfigur sei vielfältig charakterisiert, sodass es spannend und mitreißend sei, ihrem Erlebnis zu folgen. Das Tempo, in dem sich die Handlung entfaltet, sei genau richtig gewählt. Unterentwickelt und wenig interessant wirken dagegen die Nebenfiguren. Die Handlung sei zwar anders als bei früheren Titeln der Serie deutlich actionlastiger gestaltet, dies wirke jedoch nicht nachteilig. Carolyn Petit bezeichnete die Handlung als lebhaft. Sie warte mit vielen Überraschungen auf und beschreibe glaubhaft Crofts Entwicklung zur Abenteurerin. Überzeugend sei allerdings nur der Haupthandlungsstrang, der Lara folgt. Die Geschichten der übrigen Charaktere seien zu vorhersehbar. Kirk Hamilton von Kotaku bezeichnete die Parallelen zum Film The Descent als überraschend, da Horrorfilme für Spiele eine ungewöhnliche Vorlage sind. Sie seien aber thematisch passend. Von der Presse kommentiert wurden ebenfalls einige Parallelen zur Uncharted-Serie von Naughty Dog. Macdonald bezeichnete die Spielumgebung als außergewöhnlich einfallsreich gestaltet. Das Leveldesign sei für Actionsspiele untypisch weitläufig und lade zum Entdecken ein. Dies komme insbesondere bei der Suche nach versteckten Schätzen und bei den Gräbern, die in der Handlung nur eine Nebenrolle einnehmen, zum Tragen. Petit lobte die düstere Inszenierung von Yamatai. Die Spielumgebung sei aufwändig und mit Liebe zum Detail designt worden. Vor allem auf dem PC wirke die Insel wegen der höheren Auflösung bedrohlich. Auch die Wettersimulation sei gelungen. Überzeugend seien laut Peter Bathge von der Spielezeitschrift PC Games auch die visuelle Qualität der Figuren. Hier steche die TressFX-Technologie hervor. Laut Evan Narcisse von Kotaku sei der Handlungsort gut gewählt. Er warte zwar mit vielen außerordentlich grausamen Szenen auf und wirke meist furchteinflößend, sei aber interessant inszeniert und passe gut zur Handlung. Lob erhielt ebenfalls die Steuerung des Spiels. Laut Jonas Elfving von Gamereactor sei die Kampfmechanik leicht zu verstehen. Negativ falle dagegen die Anspruchslosigkeit der computergesteuerten Gegner auf. Die Quick-Time-Events, Sequenzen, in denen der Spieler durch schnelles Drücken einer Tastenkombination eine besondere Situation meistert, seien zwar wenig fordernd, sorgen aber für spektakuläre Momente. Bathge lobte, dass die Steuerung bei der Portierung für Windows gut an dessen typische Eingabegeräte angepasst wurde. Eine weitere Stärke des Spiels sei, dass es sehr kurze Ladezeiten habe. Jörg Luibl von 4Players kritisierte, dass einige Spielmechaniken nicht ausreichend in die Handlung integriert werden. Viele der aufsammelbaren Gegenstände, etwa Reliquien oder Schätze, haben keine oder nur eine nebensächliche Bedeutung für das weitere Spielgeschehen. Hier habe Crystal Dynamics die Gelegenheit vergeben, einigen Spielelementen größere Bedeutung zu verleihen und dem Erkunden und Sammeln einen größeren Sinn zu geben. In einem Testbericht der Zeitschrift GameStar wurde das Spiel dafür kritisiert, vom Spielprinzip früherer Tomb-Raider-Titel zu stark abzuweichen. Die Redakteure bemängelten, dass das Spiel zu actionlastig geworden sei. Es besitze zu viele Parallelen zu einem Shooter und zu wenig Elemente eines Abenteuerspiels. Dadurch sei ein prägendes Merkmal der Serie verloren gegangen. John Walker von Rock, Paper, Shotgun schrieb, dass das Spiel gerade in der Anfangsphase sehr linear aufgebaut sei und dem Spieler durch Zwischensequenzen und Quick-Time-Events zu oft die Kontrolle über die Figur entziehe oder sie stark einschränke. Chris Thursten von PC Gamer bezeichnete dieses Verhalten als irritierend, da man dem Spiel den Wechsel in eine Zwischensequenz visuell nicht anmerkt. Weniger überzeugend sei der Mehrspieler-Modus. Macdonald bezeichnete ihn als zu kompliziert und nicht unterhaltend. Das Kampfsystem wirke zwar im Einzelspieler-Modus gut gestaltet, für eine kampflastige Mehrspielerpartie fehle ihm dennoch der Tiefgang. Petit kritisierte den Modus als innovationsarm, da ihm jedes Alleinstellungsmerkmal fehle. Philip Kollar von Polygon bemängelte den zu geringen Umfang des Modus. Viel Lob erhielt die Vertonung des Spiels. Forbes bezeichnete Graves’ Komposition als gut gelungen. Die Tonstücke, insbesondere die, in denen Graves’ selbstgebautes Instrument zum Einsatz kommt, seien überdurchschnittlich abwechslungsreich. Laut Martin Woger von Eurogamer sei ebenfalls die Synchronisation der deutschen Fassung gut gelungen. Tschirners Sprecherleistung übertreffe die des Originals. In den übrigen Rollen wirke die englische Version dagegen besser besetzt. Die Neuauflage Definitive Edition wurde von der Presse positiv aufgenommen. Laut Matt Helgeson von Game Informer habe sich die Grafik spürbar verbessert. Durch die erhöhte Auflösung wirke das Spiel noch deutlich detailreicher als es die Originalversion tat. Aníbal Gonçalves schrieb im Online-Magazin Eurogamer, dass die Neuauflage zwar neben der verbesserten Grafik kaum Neuerungen biete, dies schmälere jedoch nicht die bereits im Original vorhandene hohe Qualität. In einem Rückblick bewertete Michael Mahardy das Spiel als Meilenstein der Tomb-Raider-Serie. Sowohl der erzählerische Part als auch die Spielmechanik seien derart überzeugend gelungen, dass das Spiel die Reihe vor einem Abrutschen in die Belanglosigkeit bewahrte und einen neuen Qualitätsmaßstab für künftige Tomb-Raider-Titel legte. Auszeichnungen Nach den Messevorstellungen auf der E3 2011 und 2012 zeichneten einige Magazine, darunter GamesRadar, IGN, GameSpot und GameSpy, das Spiel als besten Titel der Messe aus. Für die zehnte Verleihung der Games Awards der British Academy of Film and Television Arts wurde Tomb Raider in drei Kategorien nominiert. Auf der Game Developers Conference, einer Computerspielfachtagung, wurde Tomb Raider ebenfalls in drei Kategorien, darunter das Spiel des Jahres, nominiert. Bei den Spike Video Game Awards, einer Preisverleihung des Senders Spike TV, wurde das Spiel für fünf Auszeichnungen, etwa als bester Titel des Jahres oder als bester Titel seines Genres, nominiert. Analyse Der Computerspielforscher Tobias Unterhuber untersuchte, inwieweit Tomb Raider einen Neubeginn innerhalb der Tomb-Raider-Serie darstellt. Auffällig sei diesbezüglich zunächst die äußere Gestaltung der Hauptfigur, die sich durch den Verzicht auf knappe Kleidung und realitätsferne Anatomie erheblich von früheren Darstellungen unterscheide. Darüber hinaus sei die neue Figur erstmals in der Serie verletzlich. Damit verlöre die Figur in diesem Spiel ihre Übernatürlichkeit, die sie laut der Kulturtheoretikerin Astrid Deuber-Mankowsky bislang kennzeichnete. Dem Urteil schloss sich Carol Pinchefsky in einem Testbericht für die Zeitschrift Forbes an. Unterhuber fährt mit der Entwicklung von Lara Croft fort, die sich vor allem in drei Szenen zeige: dem anfänglichen vermeintlichen Vergewaltigungsversuch, der Besteigung des Sendemasts, die im Spiel als außerordentlich beschwerlich dargestellt wird und der Szene, in der sich Lara in das Lager der Solarii eindringt, um Sam zu befreien. Von Szene zu Szene werde die Hauptfigur entschlossener, ihre Gefährten vor den Kultisten zu schützen. Damit einher gehe eine zunehmende Brutalität der Kämpfe. All dies zeige, dass sich die Entwickler darum bemühten, in Tomb Raider erstmals eine menschlich wirkende, glaubhafte Figur zu erschaffen. Esther MacCallum-Stewart schrieb, dass es dem Spiel gelungen sei, das negative, sexistische Bild, das mit der Tomb-Raider-Reihe bis dahin verbunden war, zu überwinden. Andreas Rauscher schrieb, dass sich die inhaltlichen Veränderungen von Tomb Raider auch in der Spielmechanik widerspiegeln. Deutlich werde dies bei der Einschränkung der spielerischen Möglichkeiten zu Beginn. Während die Figur in früheren Titeln bereits von Anfang an kampfstark war, muss sie in Tomb Raider ihre Kampfkraft erst über einen längeren Zeitraum hinweg erlernen. Verkaufszahlen Innerhalb von 48 Stunden wurden eine Million Kopien des Spiels verkauft, innerhalb des ersten Monats 3,4 Millionen. Dennoch blieben diese Zahlen hinter den Erwartungen des Publishers Square Enix zurück, ebenso wie die Verkaufszahlen von Sleeping Dogs und Hitman: Absolution. Bei geschätzten Entwicklungskosten von rund 100 Millionen US-Dollar wären laut Eurogamer rund fünf bis sechs Millionen verkaufte Einheiten nötig gewesen, um die Gewinnschwelle zu erreichen. Diese Schwelle wurde erst Ende 2013 erreicht. Square Enix wies daher im Geschäftsjahr 2012/13 107 Millionen US-Dollar Verlust aus. Im März 2014 verkündete Darrell Gallagher, dass vom Spiel sechs Millionen Exemplare verkauft wurden. Damit habe das Spiel die Gewinnerwartung des Publishers übertroffen. Auf dem europäischen Markt führte der Titel laut Daten der Gesellschaft für Konsumforschung in mehreren Ländern die plattformübergreifenden nationalen Verkaufscharts an. In Großbritannien und Irland belegte das Spiel in den ersten beiden Verkaufswochen den ersten Platz. In Großbritannien entwickelte sich Tomb Raider nach Markteinführung zum bislang am schnellsten verkauften Titel des Jahres und der Tomb-Raider-Serie. Die Rangliste führte das Spiel in der ersten Woche ebenfalls in Frankreich und in den Niederlanden an. In den USA belegte es laut einer Erhebung der NPD Group im Monat März den zweiten Platz hinter BioShock Infinite. Bis Anfang 2015 konnte der Absatz auf 7,5 Millionen Kopien gesteigert werden. Im April 2015 wurde die Marke von 8,5 Millionen Exemplaren erreicht, womit der Titel zum meistverkauften Serienableger avancierte. Ende November 2017 vermeldete Publisher Square Enix über 11 Millionen verkaufte Einheiten. Nachfolger Anfang August 2013 bestätigte Square Enix, dass sich ein Nachfolger des Spieles in Entwicklung befinde. Dieser Nachfolger wurde auf der E3 im Juni 2014 offiziell für Ende 2015 angekündigt und trägt den Titel Rise of the Tomb Raider. Das Spiel erschien in Nordamerika am 10. November 2015 und in Europa drei Tage später für die Xbox 360 und die Xbox One. Für Windows erschien das Spiel am 28. Januar 2016. Eine PlayStation-4-Version folgte am 11. Oktober 2016. Die Handlung des Spiels schließt unmittelbar an die von Tomb Raider an. Nach ihrer Rückkehr aus Yamatai sucht Croft in Russland nach der legendären Stadt Kitesch. Zwischen dem 26. Februar 2014 und dem 29. Juli 2015 veröffentlichte Dark Horse Comics eine aus 18 Teilen bestehende Comicserie mit dem Titel Tomb Raider. Sie führt Laras Abenteuer nach der Handlung des Spiels fort und schlägt eine Brücke zwischen der Geschichte von Tomb Raider und der des Nachfolgers. Diese Serie wurde von Gail Simone verfasst. Im März 2018 ist von Square Enix eine weitere Fortsetzung angekündigt worden. Das dritte Spiel dieser Tomb-Raider-Reihe wurde am 14. September 2018 unter dem Titel Shadow of the Tomb Raider für PlayStation 4, Xbox One und PC veröffentlicht. Dieser Termin war bereits vor seiner offiziellen Bekanntgabe als Easter Egg im Quellcode der Entwicklerhomepage versteckt worden. Weblinks Einzelnachweise Tomb Raider Computerspiel 2013 Action-Adventure Third-Person-Shooter Google-Stadia-Spiel Linux-Spiel Mac-OS-Spiel Windows-Spiel PlayStation-3-Spiel PlayStation-4-Spiel Xbox-360-Spiel Xbox-One-Spiel
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https://de.wikipedia.org/wiki/Totalprothese
Totalprothese
Unter einer Totalprothese (auch Vollprothese, im Volksmund „Gebiss“, Zahnprothese oder „dritte Zähne“, im zahnärztlichen Jargon „14er“ oder „28er“ nach der Anzahl der ersetzten Zähne) versteht man in der Zahnmedizin den Ersatz aller Zähne und des Alveolarknochens eines oder beider Kiefer durch herausnehmbaren Zahnersatz, der aus einer Kunststoffbasis aus Polymethylmethacrylat (PMMA) und den darauf befestigten künstlichen Zähnen aus Kunststoff oder Porzellan besteht. Eine Totalprothese findet im Mund durch Saugwirkung, Adhäsions- und Kohäsionskräfte und das Zusammenspiel von Muskeln Halt am Kiefer. Hierzu wird der Prothesenrand mit Hilfe einer Funktionsabformung individuell angepasst. Eine Totalprothese ersetzt nicht nur die Zähne, sondern auch den abgebauten Kiefer. Der Knochenabbau des Kieferknochens (Kieferabbau) kann aus Zahnverlust, Parodontitis oder aus Knochenresorption, verursacht durch den Auflagedruck von Prothesen, resultieren. Die Herstellung einer Totalprothese erfolgt Hand in Hand zwischen Zahnarzt und Zahntechniker. Die zahntechnische Herstellung einer Totalprothese erfolgt auf Gipsmodellen in normierten Geräten. Das Einsetzen der Prothese in einen lebenden Organismus mit all seinen individuellen Besonderheiten stellt eine der größten Herausforderungen an den Zahnarzt dar. Der Erfolg der Behandlung setzt dabei große Erfahrung voraus. Die Herstellung einer Totalprothese dauert etwa sechs Behandlungssitzungen, die sich in der Regel über einen Zeitraum von vier bis sechs Wochen erstrecken. Es folgen mehrere Nachbehandlungssitzungen, die sich über weitere zwei bis acht Wochen hinziehen können. Halt einer Totalprothese Der Halt einer Prothese hängt zunächst von der Kieferform ab. Je größer und ausgeprägter der Kieferkamm (Alveolarfortsatz) ist, desto besser ist der Halt. Der Prothesensattel sitzt wie ein Reitsattel auf dem Alveolarfortsatz auf. Der Halt einer Prothese kann sich im Laufe vieler Jahre verschlechtern, weil der Kieferknochen einem Knochenabbau unterworfen ist. Im unbezahnten Gebiss wirkt die Druckbelastung der Zahnprothesen auf die Gingiva propria (Schleimhaut) und damit auf den darunter liegenden Kieferknochen, der darauf mit vermehrter Resorption reagiert. Der Halt der Prothese hängt ferner von der statischen Gestaltung ab. Das bedeutet, dass die Prothesenzähne in ihrer Okklusion (Zusammenbiss der Ober- und Unterkieferzähne) zu einer stabilen Lage beitragen müssen und nicht durch Kaubewegungen ein Heraushebeln der Prothese bewirken dürfen. Der Halt unterscheidet sich zwischen der Oberkiefer- und der Unterkieferprothese. Bei Letzterer ist durch die kleinere Auflagefläche, die reduzierte Saugwirkung und die Bewegungen der Zunge der Halt erheblich geringer. Insbesondere der Halt der Unterkieferprothese hängt vom Zusammenspiel der Wangen- und Zungenmuskulatur ab, die die Prothese ausbalancieren. Im Unterkiefer wirken eine ganze Reihe von Muskeln stabilisierend, das sind neben dem Musculus buccinator (Backenmuskel) und der zirkulären Mundmuskulatur (Musculus orbicularis oris) der Musculus mylohyoideus (Kieferzungenbeinmuskel), der Musculus mentalis (Kinnmuskel) und die Zungenmuskulatur. Um die geringere Saugwirkung der Prothese zu kompensieren, muss der Prothesenträger eine gewisse Geschicklichkeit entwickeln, um die Unterkieferprothese durch die Zunge und die übrige Muskulatur in ihrer Lage zu halten. Im Laufe der Zeit prägt sich das Bewegungsmuster der Muskulatur ein und der Halt wird dadurch unbewusst hergestellt. In der Schleimhaut (Mukosa) befinden sich schleimbildende Zellen. Die Schleimbildung ist für die Haftung der Prothese wichtig. Der Schleim hat eine Funktion ähnlich der einer Flüssigkeit zwischen zwei Glasscheiben, die durch sie besser aneinanderhaften. Ähnliches beobachtet man beim Anfeuchten eines Saugnapfs. Letztlich entsteht der Halt durch den Unterdruck, der in etwa einem Fünftel des atmosphärischen Luftdrucks entspricht, zwischen Prothese und Schleimhaut. Zu wenig Speichel bzw. Speichelfluss von den Speicheldrüsen oder Mundtrockenheit (Xerostomie) kann den Halt einer Prothese erheblich verschlechtern. Die Schleimhaut bildet in der Regel kontinuierlich Schleim. Durch zu viel Schleim wird die Saugwirkung reduziert, da der zunehmende Schleim den Abstand zwischen Prothese und Schleimhaut vergrößert. Deshalb hält die Saugwirkung der Prothese nur etwa 20 Minuten lang an. Nach Ablauf dieser Zeit muss die Prothese durch ein kräftiges Zusammenbeißen wieder an den Kiefer gedrückt werden, um sich erneut festzusaugen. Durch dieses Zusammenbeißen wird der überschüssige Schleim zwischen Prothese und Schleimhaut herausgepresst. Unterschiede in der Okklusion gegenüber dem natürlichen Gebiss Eckzahnführung Im natürlichen Gebiss sorgt die Eckzahnführung dafür, dass bei einer Seitwärtsbewegung (Laterotrusionsbewegung) der Unterkiefer zur Öffnung gezwungen wird. Bei einer Seitwärtsbewegung des Unterkiefers blockieren die Eckzähne des Ober- und Unterkiefers eine Seitwärtsbewegung. Sie ist nur dann möglich, wenn der Eckzahn des Unterkiefers am Eckzahn des Oberkiefers entlang gleitet, wodurch der Mund zum Öffnen gezwungen wird. Dadurch geraten die Zähne im Seitenzahnbereich (Prämolaren und Molaren) außer Kontakt. Gleiches bewirken die Frontzähne (Schneidezähne und Eckzähne) bei einer Vorschubbewegung des Unterkiefers, wobei dann die Frontzähne des Unterkiefers an den Innenseiten der Frontzähne des Oberkiefers entlanggleiten und die Backenzähne zur Öffnung zwingen. Eckzähne sind durch ihre langen Wurzeln dazu geeignet, seitliche Belastungskräfte aufzufangen, die an den übrigen Zähnen, die kürzere Wurzeln besitzen, zu einer Lockerung führen können. Balancekontakte Bei einer Totalprothese entfällt diese Funktion. Eine alleinige Front- und Eckzahnführung würde ein Aushebeln und Kippen der Prothesen bewirken. In Ausnahmefällen kann sie als Grundlage dienen, beispielsweise bei ausgeprägtem Kieferkamm und jungen Prothesenträgern. Aus diesem Grund werden Prothesenzähne so aufgestellt und entsprechend eingeschliffen, dass keine aushebelnden Führungszonen bestehen. Vielmehr werden absichtlich Balancekontakte hergestellt. Dies bedeutet, dass bei einer Seitwärtsbewegung des Unterkiefers – im Gegensatz zur natürlichen Vollbezahnung – die Zähne beider Seiten unter Kontakt aufeinander gleiten. Bei der Vorschubbewegung des Unterkiefers gleiten neben den Frontzähnen auch die Molaren der Ober- und Unterkieferprothese übereinander und sorgen für eine distale (hintere) Abstützung. Hierzu werden die Zähne gemäß der Spee-Kurve (sagittale Kompensationskurve) aufgestellt. Die Wilson-Kurve hat ihre Bedeutung beim Aufstellen der künstlichen Zähne in der Kalottenartikulation von Totalprothesen. Die Seitenzähne einer Unterkieferprothese werden – von der Kaufläche her – gegen eine kalottenförmig gewölbte Schablone aufgestellt und bilden eine transversale Kompensationskurve. Hierdurch wird später in Funktion (beim Kauen) eine beidseitige „balancierte“ Okklusion erzielt. Die Wölbung der Kalotte ist von der Höckerneigung der Prothesenzähne und der Kondylenbahnneigung abhängig. Die Kondylenbahnneigung ist die Neigung der Gelenkbahn gegen die Campersche Ebene oder Frankfurter Horizontale (s. u.). Die Anwendung der Wilson-Kurve hat in der Kalottentheorie von George S. Monson (1920) ihren Ursprung. Danach treffen sich die Zahnachsen aller Oberkieferzähne in einem gemeinsamen Punkt, der im Bereich des Hahnenkamms () des Siebbeins () liegt. Die Kauflächen liegen auf der gekrümmten Oberfläche eines Kugelausschnitts mit einem Durchmesser von 28,8 cm. Abbau des Alveolarknochens Der Abbau des Alveolarknochens beträgt im ersten Jahr nach dem Zahnverlust etwa 0,5 mm im Oberkiefer und 1,2 mm im Unterkiefer. In den Folgejahren beträgt der Abbau 0,1 mm im Oberkiefer und 0,4 mm im Unterkiefer, jeweils pro Jahr. Der schnellere Abbau des Unterkieferknochens resultiert unter anderem daraus, dass die Auflagefläche für eine Prothese nur etwa halb so groß ist, wie die des Oberkiefers. Im Oberkiefer liegt die Prothese auch auf dem Gaumen auf. Dadurch sind die Belastungskräfte, die auf den Unterkiefer wirken, doppelt so groß wie im Oberkiefer. Daraus folgt, dass in der Regel nach etwa 20 Jahren Prothesentragedauer der Alveolarkamm des Unterkiefers vollkommen abgebaut und der Unterkiefer flach geworden ist. Er bietet dann keinen Halt mehr für eine Totalprothese. In solchen Fällen kann durch verschiedene chirurgische Kieferknochenaufbauverfahren der Kiefer wieder rekonstruiert werden. Ein Halt der Prothese kann auch durch Implantate erreicht werden. Damit der Kieferabbau möglichst langsam vonstattengeht, muss die Prothese gut aufliegen. Dies muss durch regelmäßige, in ein- bis zweijährigem Abstand durchgeführte Unterfütterungen („Aufpolstern“) der Prothese erfolgen. Nach etwa fünf Jahren sollte eine Neuanfertigung erfolgen, da der Kunststoff im Laufe der Zeit spröde wird und dadurch die Bruchgefahr der Prothese bei der Kaubelastung steigt. Beim sogenannten Normalbiss befinden sich die bukkalen (äußeren) Höcker der Oberkieferseitenzähne weiter außen, als die bukkalen Höcker der Unterkieferseitenzähne. Bei stark atrophierten Kiefern ist der zahnlose Unterkieferbogen regelmäßig größer als der Oberkieferzahnbogen. Häufig überkreuzen sich die Kieferkammbögen im Bereich der zweiten Prämolaren, woraus eine Aufstellung der Zähne im Kreuzbiss resultiert. Hierbei beißen die bukkalen Höcker der Unterkieferseitenzähne seitlich an den bukkalen Höckern der Oberkieferseitenzähne vorbei. Äußere begrenzende Strukturen für die Aufstellung der Seitenzähne sind im Oberkiefer die Crista zygomatikoalveolaris (Jochbein-Alveolarleiste) und im Unterkiefer die Linea obliqua mandibulae (schräge Unterkieferlinie). Präprothetische Chirurgie Die präprothetische Chirurgie dient der Verbesserung des Prothesenlagers. Die Vestibulumplastik im Oberkiefer ist ein chirurgisches Verfahren zur Vertiefung des Mundvorhofes. Dadurch wird indirekt der Kieferkamm erhöht und der Halt der Prothesen verbessert. Man unterscheidet die offene Vestibulumplastik, bei der über einen zirkulären Schleimhautschnitt das Gewebe abgelöst und weiter kranial (oben) wieder angenäht wird, von der geschlossenen Methode nach Hugo Obwegeser, bei der die Schleimhaut getunnelt und das darunter liegende Weichgewebe sowie die Muskulatur nach kranial verlagert werden. Der Mundboden kann insbesondere im hinteren Bereich vertieft werden, woraus eine retromolare Absenkung des Mundbodens resultiert. Hierbei werden die Schleimhaut des Mundbodens und der Ansatz des Musculus mylohyoideus (Kieferzungenbeinmuskel) beispielsweise mit der Mundbodenabsenkung nach Richard Trauner, nach Edlan und Mejchar oder nach Martin Waßmund nach kaudal (unten) verlagert. Sowohl Fibrome (Gewebshyperplasien) als auch tief inserierende Lippen- und Wangenbändchen sollten entfernt werden, da sie sonst nur durch Aussparen des Prothesenrandes umgangen werden könnten. Hierdurch entfiele ein allseitig gut abdichtender Prothesenrand. Mittels Exzision dieser Bändchen wird die Prothesenauflage vergrößert und ihr Sitz und Halt verbessert. Zahnärztliche Vorbereitungen Für die Anfertigung einer Totalprothese wird mittels einer Abformung mit einem konfektionierten Abdrucklöffel unter vorwiegender Verwendung von Alginat ein Situationsgipsmodell eines Kiefers hergestellt, auf dem ein patientenindividueller Abdrucklöffel aus lichthärtendem Kunststoff angefertigt wird. Dieser ähnelt bereits weitgehend der endgültigen Prothesenbasis, der „Platte“, die dem Kiefer aufliegt. Mukodynamische Abformung Mit dem individuellen Abformungslöffel nimmt der Zahnarzt eine Funktionsabformung vor. Der Patient vollführt mit Hilfe des Zahnarztes, während die Abformmasse abbindet, alle Bewegungen, die auch später mit der Prothese möglich sein sollen, wie Mund spitzen, Mund öffnen, Saugen, Lachen, Zunge nach links und rechts ausstrecken, Grimassen schneiden und Ähnliches. Die Weichteile im Mund können die Prothese bei verschiedenen Mund- und Zungenbewegungen lockern oder abhebeln. Die Prothese muss deshalb den diversen Muskelbändern einen Bewegungsspielraum lassen, wie beispielsweise dem Zungenbändchen oder den Lippen- und Wangenbändchen. Im Unterkiefer wird mit der Funktionsabformung auch der Bewegungsspielraum des Mundbodens berücksichtigt, da der Mundboden sich im Zusammenspiel mit der Zunge hebt und senkt. Die Prothese darf dadurch nicht vom Unterkiefer abgehoben und ausgehebelt werden. Der Prothesenrand muss gleichzeitig die Prothese weitgehend abdichten, was die Zielsetzung der mukodynamischen Abformung ist. Hierbei wird zwischen dem äußeren und inneren Ventilrand der Prothese unterschieden. Der innere Ventilrand befindet sich zwischen der Mukosa (Schleimhaut) des Alveolarkamms und dem inneren Rand der Prothesenbasis. Der äußere Ventilrand befindet sich zwischen dem Außenrand der Prothese und der Wangenschleimhaut. Im Oberkiefer wird am Übergang des weichen zum harten Gaumen (durch Radieren der sogenannten A-Linie am Gipsmodell) ein distaler (hinterer) Abschlussrand der Prothese erzeugt. Die A-Linie ist danach benannt, dass sich bei der Aussprache des Lautes „A“ der weiche Gaumen nach unten bewegt und dadurch für den Behandler sichtbar wird. Der Rand kann anschließend mit einem Stift markiert werden und bildet sich auf der Abformmasse ab. Dadurch kann der Zahntechniker die A-Linie nach Herstellung des Gipsmodells des Oberkiefers erkennen. Mit einem speziellen Abformmaterial (F.I.T.T. Functional Impression Tissue Toner) ist eine Langzeit-Funktionsabformung bei schwierigen Kieferverhältnissen möglich. Das Material kann mehrere Tage lang getragen werden, sowohl um die Wiederherstellung von verletztem Gewebe zu unterstützen, als auch eine Abformung während des täglichen Gebrauchs durchzuführen. Kieferrelationsbestimmung Nach der Funktionsabformung erstellt der Zahntechniker das Arbeitsmodell als Grundlage für die weiteren Arbeitsschritte. Es folgt die Anfertigung von Registrierschablonen (früher: Bissschablonen), mit deren Hilfe der Zahnarzt die Kieferrelationsbestimmung durchführt, die Okklusionsebene (Kauebene) festlegt sowie die Mittellinie und die Position der Eckzähne einzeichnet. Es gibt zahlreiche Methoden zur Kieferrelationsbestimmung, z. B. die Stützstiftregistrierung. Hierzu werden mittels einer Hilfskonstruktion im Mund des Patienten die Bewegungen des Unterkiefers aufgezeichnet. Im Schnittpunkt der Bewegungslinien liegt die sogenannte habituelle Okklusion. Das ist diejenige Position des Unterkiefers, die der Patient in gewohnter Weise einnimmt (Normalbissstellung). Das Ausrichten von Wachswällen auf Bissschablonen ist ein weiteres Verfahren zur Kieferrelationsbestimmung. Durch Auftragen oder Reduzieren der Wachswälle kann der Patient unterschiedlich hoch zubeißen. In einer zu findenden entspannten Lage der Kiefer wird der Bissabstand ermittelt. Etwa zwei Millimeter geringer ist dann der ideale Kieferabstand bei zusammengebissenen (ersetzten) Zähnen. Insgesamt kann jedoch keine klare Empfehlung zur Wahl einer der Methoden abgegeben werden. Die Einzeichnung der sogenannten Lachlinie in die Wachswälle lässt den Zahntechniker jenen Bereich erkennen, der beim Lachen sichtbar ist, denn der Prothesenkunststoff soll beim Lachen möglichst nicht sichtbar sein, sondern nur die Zähne. Lässt sich dies nicht vermeiden, stehen Kunststoffe in verschiedenen Rottönen der Gingiva zur Verfügung. Der Zahntechniker kann dementsprechend die Zähne aufstellen. Die Prothesenzähne sollen zudem mittig auf dem Kieferkamm aufgestellt werden, da durch eine exzentrische Aufstellung ebenfalls die Prothese ausgehebelt werden könnte. Ästhetische Aspekte Zum Eindruck des Alters eines Zahnlosen tragen verschiedene Faktoren bei. Dazu zählen der Verlust der Unterstützung der Lippen mit Entwicklung eines vergrößerten Winkels zwischen der Nase und der Oberlippe, die Entwicklung vertiefter Nasolabialfalten und vertikaler Falten im Mundbereich, die Reduzierung des Lippenrots, der Verlust an Untergesichtshöhe, die Entwicklung einer Pseudoprogenie (Vorstehen des Unterkiefers) und einer ausgeprägten Unterkinnfalte (Submentalfalte). Die Aufstellung der Frontzähne umfasst die Korrektur der gestörten Physiognomie und soll das Profil des Patienten rekonstruieren. Die Kieferrelationsbestimmung beim zahnlosen Patienten ist besonders schwierig, da durch den Verlust aller Zähne, beziehungsweise aller Zähne in einem Kiefer, die über die Okklusion gesicherte dreidimensionale Beziehung zwischen Ober- und Unterkiefer nicht mehr existiert. Sie erfolgt meist durch die Bestimmung des engsten Sprechabstands, der Ruheschwebelage. Alternativ wird die Schluckbisslage nach Hromatka angewandt. Ferner werden die Farbe und die Form der künstlichen Zähne ausgewählt. Charakteristika aus der Zeit der natürlichen Bezahnung sollten ansatzweise rekonstruiert werden, beispielsweise leichte Stellungsabweichungen oder Farbnuancen der Zähne. Die Feinheiten der ästhetischen Rekonstruktion des Gebisses haben zum Ziel, dass Außenstehende nicht erkennen können, dass es sich um einen Prothesenträger handelt. Je jünger der Prothesenträger ist, umso schamhafter wird das Tragen einer Prothese empfunden. Eine Prothese soll deshalb den Eindruck einer natürlichen Bezahnung vermitteln. Prothesenzähne werden aus Kunststoff oder Keramik hergestellt. Dabei zeigen Zähne aus keramischen Massen einen geringeren Abrieb und eine höhere Farbbeständigkeit. Keramische Prothesenzähne sind härter als Kunststoffzähne, daher ist das Zusammenbeißen der Zähne verstärkt hörbar („Zähneklappern“). Dafür lassen Kunststoffzähne durch geringfügigen Abrieb einen Feinschliff im Kaumuster zu. Nachteilig ist, dass Kunststoffzähne schneller abgenutzt werden. Zahnform und -größe Die Statur des Patienten findet sich in der Zahnform wieder, angelehnt an Kretschmers Konstitutionstypen. So hat ein Leptosomer oft sehr schlanke, lange Zähne, der Pykniker eher kurze gedrungene und der Athletiker trapezförmig geformte Zähne. Sollten keine Modelle oder Fotos der ursprünglichen, natürlichen Bezahnung vorliegen, werden die Prothesenzähne hilfsweise entsprechend dieser Konstitutionstypen bestimmt. Auch die Zahnform und -stellung von nahen Verwandten kann hilfsweise herangezogen werden. Nach dem von Albert Gerber für die Totalprothetik angegebenen embryo-genetischen Prinzip hat ein Mensch mit einer schmalen Nasenwurzel und einer breiten Nasenbasis einen im Vergleich zu den mittleren Schneidezähnen schmalen seitlichen Schneidezahn. Derjenige mit einer schmalen Nasenwurzel und -basis hat sowohl schmale mittlere als auch seitliche Schneidezähne und derjenige mit einer breiten Nasenwurzel und -basis besitzt sowohl breite mittlere als auch seitliche Schneidezähne. Die Breite der Zähne und damit deren Größe kann aus dem Abstand der äußeren Nasenflügelbegrenzung („Eckzahnlinien“) bestimmt werden. Der Abstand ergibt die Gesamtzahnbreite der oberen sechs Frontzähne. Zahlreiche Wissenschaftler haben diverse Konzepte dazu entwickelt. Zähne nutzen sich mit zunehmendem Alter ab (Abrasio dentium). Dies lässt sich durch ein entsprechendes Zuschleifen der Zähne altersentsprechend imitieren. Laien unterliegen oft dem Irrtum, dass die Zahnkanten der Frontzähne aufeinandertreffen. Im natürlichen Gebiss stehen die Oberkieferzähne jedoch vor den Unterkieferfrontzähnen (Overbite) und ermöglichen dadurch erst die Scherbewegung, die zum Abbeißen notwendig ist. Die Zahnkanten sind nicht gerade, sondern abgerundet. Die seitlichen Schneidezähne des Oberkiefers sind kürzer als die mittleren Schneidezähne. Nur bei einer Progenie (Vorstehen des Unterkiefers) werden die Zahnkanten aufeinandergestellt („Kopfbissstellung“). Farbe, Form und Stellung der Zähne sollen möglichst ein natürliches Aussehen bewirken. Zahnfarbbestimmung Durch eine Zahnfarbbestimmung konfektionierter Prothesenzähne (industriell gefertigt) wird passend zum Hauttyp und Alter die Farbe bestimmt, die jedoch vom Zahntechniker individualisiert werden kann, das heißt, es kann sowohl die Form durch Zuschleifen als auch die Zahnfarbe durch Bemalen individuell verändert werden. Der vestibuläre (lippenseitige) Prothesenkunststoff im Frontzahnbereich wird in seiner Färbung dem Alter, der Hautfarbe und dem Konstitutionstyp angepasst. Der leptosome Typ hat deutlich ausgeprägte Jugae alveolariae (Vorwölbungen der knöchernen Zahnfächer), der Athletiker verfügt eher über ein straffes Zahnfleisch ohne Narbung. Beim älteren Patienten sollte ein leichter Zahnfleischschwund imitiert werden. Reinweiße Zähne in „idealer“ Aufstellung (oft geäußerte Patientenwünsche) würden andernfalls jeden sofort erkennen lassen, dass es sich um einen Prothesenträger handelt. Bei einem künstlichen Zahn wird die Natur imitiert, denn ein Zahn besteht aus zahlreichen Farbnuancen. Je heller die Zahnfarbe ausgesucht wird, desto geringer unterscheiden sich die Farbnuancen und der Zahn wirkt künstlich. Der Eindruck des Helligkeitsgrads der Zähne hängt nicht nur von der eigentlichen Farbe der Zähne ab, sondern wesentlich auch vom Kontrast zur Farbe der Lippen und der Gesichtshaut. Bei dunkelhäutigen oder sonnengebräunten Menschen (auch bei Anwendung eines dunkleren Lippenstifts) erscheinen deshalb Zähne heller als bei hellhäutigen Menschen. Übertragungsbogen Mit Hilfe eines Übertragungsbogens wird die kiefergelenksbezogene Montage der Arbeitsmodelle im Artikulator (einem Kausimulator) ermöglicht. Ohne das Anlegen eines Gesichtsbogens müssen die Gipsmodelle nach Mittelwerten in einem Mittelwertartikulator montiert werden. Diese Artikulatoren orientieren sich am Mittelwert des Bonwill-Dreiecks. Dieses wird gebildet vom Kontaktpunkt der unteren mittleren Schneidezähne und vom Mittelpunkt der Kondylen (Kiefergelenksköpfchen des Unterkiefers). Zur Kauebene bildet dieses Dreieck den Balkwill-Winkel, der im Mittel zwischen 20° und 25° liegt. Mit Hilfe des Gesichtsbogens ist eine Individualisierung dieses Winkels und des Bonwill-Dreiecks möglich. Das Gipsmodell des Oberkiefers kann schädelbezogen in den Artikulator montiert werden. Je nach Artikulatorsystem erfolgt die Positionierung des Gesichtsbogens am Patienten entweder an der Frankfurter Horizontale oder der Camperschen Ebene. Die Frankfurter Horizontale verläuft durch den Unterrand der Orbita (Augenhöhle) und den Oberrand der beiden Pori acustici externi (äußere knöcherne Ohröffnung). Die Campersche Ebene verläuft durch die Spina nasalis anterior (unterer Dorn an der vorderen knöchernen Nasenöffnung) und den Oberrand des Porus acusticus externus beidseits. Die Campersche Ebene verläuft annähernd parallel zur Kauebene. Die Individualisierung des Artikulators soll sich vorteilhaft auf die Herstellung der statischen Okklusion (Schlussbiss) auswirken, woraus weniger nachträgliche Korrekturen des Kaureliefs durch Einschleifen notwendig werden. Einprobe Nach der Aufstellung der Zähne in Wachs auf einer aus Wachs modellierten oder aus Kunststoff hergestellten Prothesenbasis durch den Zahntechniker erfolgt eine Einprobe der zahntechnischen Arbeit. Für den Behandlungsablauf existieren ebenso wie für das Aufstellen der Prothesenzähne verschiedene Lehrmeinungen, beispielsweise das Aufstellen nach Gysi, nach Gerber, nach Lerch, nach der APF-Methode (Ästhetik, Phonetik, Funktion), nach der TiF-Methode (Totalprothetik in Funktion), das AIl-OraI-Verfahren, die Methoden nach Gutowski oder nach Reusch. In der Regel werden je Kiefer 14 Zähne ersetzt. Weisheitszähne werden nicht ersetzt. Nach mancher Lehrmeinung genügt der Ersatz von 12 Zähnen. Dabei bleiben die beiden zweiten Molaren (und die Weisheitszähne) nicht ersetzt. Bei der Einprobe kann die Kieferrelationsbestimmung und das Aussehen der Prothese durch Zahnarzt und Patient beurteilt und gegebenenfalls korrigiert werden. Oft ist nur ein Kompromiss unter den Anforderungen an Ästhetik, Phonetik und Funktion möglich, je nach anatomischer Ausgangslage. Zahntechnische Fertigstellung Der Zahntechniker bettet das Wachsmodell mit den Prothesenzähnen in eine Küvette ein und gießt diese mit einem Spezialgips aus. Nach der Aushärtung des Gipses wird das Wachs mit heißem Wasser ausgeschmolzen, wobei die Zähne in der Küvette verbleiben und eine Negativform resultiert. Für das Einbringen des Kunststoffes in die Negativform und dessen Aushärtung kommen verschiedene Verfahren zur Anwendung. Nach dem Aushärten des Kunststoffs und dem Ausbetten der Prothese werden Überschüsse an der Prothese weggeschliffen und der Prothesenkunststoff mit Bürsten und Polierpasten auf Hochglanz poliert. Metallbasis Statt aus Kunststoff kann die Prothesenbasis einer Oberkieferprothese aus einer Chrom-Cobalt-Molybdän-Legierung hergestellt werden. Dabei wird nur der Gaumen von der als „Stahlbasis“ bezeichneten Platte bedeckt, wo das Metall normalerweise nicht sichtbar ist. In diesem Bereich, der keiner Knochenresorption unterliegt, muss eine Totalprothese auch nicht unterfüttert werden. Die Metallbasis reicht nicht bis zur A-Linie, sondern endet kurz davor. An retentiven Stellen wird der Abschlussrand im Bereich der A-Linie aus Kunststoff angefertigt, weil Kunststoff gegebenenfalls leichter korrigierbar und vor allem unterfütterbar ist. Eine solche Stahlbasis kommt zur Anwendung, wenn auf Grund der Kieferform (beispielsweise hoher spitzer Gaumen, ausgeprägte Exostosen) eine erhöhte Bruchgefahr der Prothese bestünde. Eine Stahlbasis kann auch den Tragekomfort erhöhen, weil sie wegen der höheren Stabilität wesentlich dünner (ca. 0,5 mm) angefertigt werden kann als eine Kunststoffbasis. Dadurch hat die Zunge mehr Raum zur Verfügung. Eine Kunststoffprothesenbasis muss eine dickere Materialstärke aufweisen (ca. 3 mm), damit sie nicht bricht, wenn die Kaukräfte auf sie einwirken. Mit hohen Kosten ist eine Metallbasis verbunden, wenn sie aus Zahngold gegossen wird. Im Unterkiefer wird keine Stahlbasis verwendet, weil diese aus materialtechnischen Gründen nicht unterfütterbar wäre. CAD/CAM Mittels eines jungen Verfahrens (ca. 2012) können Totalprothesen im CAD/CAM-Verfahren hergestellt werden, wobei der digitale Workflow erst beginnt, nachdem die Funktionsmodelle hergestellt und diese in bekannter Art und Weise in den Artikulator eingebracht worden sind. Die Situation wird mit einem optischen 3-D-Scanner erfasst. Neuerdings ist aber auch ein Scannen intraoral, also im Mund, möglich und findet Anwendung. Bei den digital gesteuerten Fabrikationsprozessen stehen additive Verfahren (selektives Lasersintern, Stereolithografie, 3D-Druck) subtraktiven Verfahren (Fräsen, Schleifen) gegenüber. Es folgt die automatische digitale Aufstellung der Prothesenzähne. Die Software schlägt gemäß Modellanalyse passende Zahngarnituren vor. Nach der automatischen basalen Anpassung der Prothesenzähne an den Kieferkamm schlägt die Software das Gingivadesign vor. Die Fräsdaten für die Ober- und Unterkieferbasis einschließlich der Zahnfächer werden an eine Fräsmaschine geleitet, die unter Wasserkühlung aus einem zahnfleischfarbenen Wachsblank gefräst werden. Die Prothesenzähne werden mittels eines weiteren Datensatzes angepasst. Die Zähne werden manuell in den Zahnfächern mit Wachs befestigt. Neuerdings, seit 2012, gibt es auch die Möglichkeit, die Prothese mit schon eingesetzten Zähnen zu fräsen. Dadurch entfällt das spätere Einkleben der Zähne in die Prothese. Die Fertigstellung der Prothese erfolgt auf klassischem Wege. In einem anderen Verfahren wird die Prothesenbasis aus einem hochvernetzten, industriell gefertigten, porenfreien PMMA-Rohling gefräst. Eine Polymerisationsschrumpfung mit Verzug der Kunststoffbasis entfällt vollständig. Damit wird eine hohe Passgenauigkeit der Kunststoffbasis erreicht. Das sogenannte Eingravieren der A-Linie entfällt zusätzlich. Eingliederung der Prothese Nach Fertigstellung der Prothese im zahntechnischen Labor wird diese am Patienten eingesetzt und die Funktion überprüft. Hierbei müssen meist die Prothesenzähne eingeschliffen werden, bis alle Zähne gleichmäßig Kontakt zu den Antagonisten haben. Eine eventuell bestehende Eck- oder Frontzahnführung wird durch Beschleifen beseitigt. Hierzu bedient sich der Zahnarzt einer Artikulationsfolie, eines 8 µm bis 40 µm dünnen Farbbandes, das zwischen die Zähne des Ober- und Unterkiefers gehalten wird. Mit Artikulationsfolien in verschiedenen Farben werden die Kaumuster bei den Schließ- und Kaubewegungen auf den Okklusionsflächen abgebildet. Störende Kontakte und Gleitbahnen können an den eingefärbten Stellen gezielt weggeschliffen werden, um eine ausgeglichene dynamische Okklusion (früher: Artikulation) herzustellen. Dabei sollen beidseitig die Backenzähne gleichmäßig übereinander gleiten. Ist erkennbar, dass umfangreiche Einschleifmaßnahmen notwendig sind, wird eine sogenannte Remontage durchgeführt. Mit den Prothesen wird eine erneute Kieferrelationsbestimmung durchgeführt und die Prothesen werden zurück ins zahntechnische Labor geschickt, um die Korrekturen im Artikulator vorzunehmen. Erst danach erfolgen die Feinkorrekturen im Mund des Patienten. Nachsorge Mit der Eingliederung der Prothese ist die Behandlung noch nicht beendet. Material- und herstellungsbedingt entstehen Ungenauigkeiten der Prothese, die zu Druckstellen führen können, zu entzündeten und schmerzhaften Stellen im Bereich der Auflagefläche der Prothese. Die Prothese sitzt auf dem Gipsmodell unter einer gewissen Spannung auf. Wenn nach dem Abnehmen der Prothese die Spannung nachlässt, entstehen Abweichungen in der Okklusion. Durch die Wasseraufnahme während der ersten 14 Tage Tragedauer quillt der Prothesenkunststoff auf und verändert die Auflagefläche der Prothesenbasis. Nicht zu vermeidende Ungenauigkeiten bei der Kieferrelationsbestimmung und der Funktionsabformung erzeugen Korrekturbedarf. Die Schleimhaut weist eine variable Dicke auf, sodass die Belastung auf den Kieferknochen ungleichmäßig wirkt. Auch scharfe Kanten des Kieferknochens unter der Schleimhaut können auf Druck Schmerz erzeugen. Die entstandenen Druckstellen werden entfernt, indem an den betroffenen Stellen die Prothesenbasis geringfügig hohl gelegt wird. Dies geschieht durch ein Wegschleifen des Kunststoffs im Bereich der Druckstellen mit einer Kunststofffräse. Prädilektionsstellen sind die Tubera maxillae im Oberkiefer und die Cristae mylohyoidei im Unterkiefer. In schwierigen Fällen wird eine Remontage der Prothesen in den Artikulator durchgeführt, wenn umfangreiche Korrekturen der Artikulation notwendig sind. Hierzu werden mit den Prothesen Bissregistrate in der Zentrik, in der Protrusion und Laterotrusion genommen, um die individuellen Kaumuster im Artikulator imitieren zu können. Druckstellen Verursacht eine Prothese Druckstellen und schmerzt beim Kauen, dann wird verständlicherweise die Prothese nicht fest auf den Kiefer angedrückt, wodurch sich die Prothese nicht richtig ansaugen und damit nicht halten kann. Druckstellen müssen deshalb umgehend von einem Zahnarzt beseitigt werden. Bei einem kantigen Verlauf des Kieferkammknochens kann eine weichbleibende Unterfütterung die Belastungen beim Kauen etwas dämpfen und damit Druckstellen vorbeugen. Dem Kunststoff sind dabei Weichmacher zugesetzt. In nicht beherrschbaren Fällen muss der Kieferknochen chirurgisch geglättet werden. Sollte die Schleimhaut dem Kieferknochen nicht straff aufliegen und Falten bilden, entstehen Druckstellen durch das Quetschen dieser Schleimhautfalten. In diesem Fall muss entweder die überschüssige Gingiva chirurgisch entfernt oder die Prothese in diesem Bereich hohl gelegt werden. Im Übrigen führen Druckstellen zu Schleimhautgeschwüren, die sich infizieren und im schlimmsten Fall auch entarten können. Das Abheilen der Druckstellen kann durch die Verwendung von Haftmitteln beschleunigt werden. Nicht selten sind mehrere Behandlungen im Rahmen der Nachsorge notwendig, um alle Druckstellen zu beseitigen, denn nach jeder Veränderung der Prothesenbasis verändert sich die Belastungsverteilung auf dem Kiefer, wodurch neue Druckstellen entstehen können. Prothesenunverträglichkeit Man unterscheidet zwischen iatrogener, somatogener und psychogener Prothesenunverträglichkeit und psychogener Prothesenverträglichkeit. Iatrogene Prothesenunverträglichkeit Als iatrogene Prothesenunverträglichkeit bezeichnet man Fehler in der Anfertigung und Inkorporation des Zahnersatzes, auch lokal irritierende Faktoren. Somatogene Prothesenunverträglichkeit Die Ursachen einer somatogenen Prothesenunverträglichkeit liegen im organischen Bereich des Patienten. Hierzu zählen insbesondere Allergien, Gastritis, Stoffwechselerkrankungen, Xerostomie, Zungenhypertrophie, Parafunktionen oder Dyskinesien. Psychogene Prothesenunverträglichkeit Eine psychogene Prothesenunverträglichkeit liegt vor, wenn nicht objektivierbare Beschwerden vom Patienten vorgebracht werden. Manche Patienten verbinden mit Prothesen ihren Alterungsprozess und verweigern letztlich die Anpassung bzw. das Tragen der Prothesen. Hinzu kommt ein Schamgefühl. Sie klagen oft über Brechreiz, Ekel, Schluckbeschwerden, Mund-, Lippen- oder Zungenbrennen und unerklärbare Schmerzempfindungen. Hierunter fallen auch Patienten mit dem Koryphäen-Killer-Syndrom, die meistens mit einer Tüte voller Prothesen auftauchen und dem neuen Behandler ihr jahrelanges Leid als Prothesenträger klagen. Die Arzt-Patienten-Beziehung ist durch eine initiale Idealisierung des Arztes charakterisiert, die bald in Ablehnung wegen seines begrenzten Könnens umschlägt. Der Patient verträgt nur Kurzkontakte zum Arzt. In der Persönlichkeit fallen narzisstische Züge und die Persistenz eines äußeren Idealobjektes auf. Die Therapie des Syndroms beziehungsweise der psychosomatischen Erkrankung besteht in einer Psychotherapie, die einer Neuanfertigung von Prothesen vorausgehen muss. Psychogene Prothesenverträglichkeit Eine Sonderform stellt die psychogene Prothesenverträglichkeit dar, ein Krankheitsbild, bei dem Patienten aus zahnärztlicher Sicht inakzeptablen Zahnersatz auf Grund psychischer Besonderheiten wie Demenz, Oligophrenie, Alkoholismus, Morbus Alzheimer, jahrelang tolerieren, ja akzeptieren, bis hin zu vollster Zufriedenheit. Dabei kommt es zu erheblichen Schädigungen im orofazialen System. Dazu gehören Druckstellen mit Ulzerationen, Kiefergelenksschädigungen, Gaumenperforationen bis hin zu Tumorerkrankungen. Beeinträchtigungen Das Tragen einer Prothese geht mit Einschränkungen und Beeinträchtigungen einher. Gelegentlich wird von Patienten der Wunsch nach Extraktion aller Zähne geäußert, im Glauben, dass damit alle Zahnprobleme beseitigt seien. Abgesehen davon, dass die Extraktion von Zähnen ohne medizinischer Indikation – auch auf Wunsch und damit bei Einwilligung des Patienten (die unwirksam ist) – eine strafrechtlich relevante Körperverletzung nach StGB darstellt und Schadensersatzforderungen und Schmerzensgeld nach sich zieht, werden „Probleme“ teilweise durch andere Beeinträchtigungen ersetzt. Nahrungsaufnahme Die Beißkraft wird hauptsächlich von den vier Muskeln Musculus masseter (Kaumuskel), Musculus temporalis (Schläfenmuskel), Musculus pterygoideus medialis (innerer Flügelmuskel) und Musculus pterygoideus lateralis (äußerer Flügelmuskel) ausgeübt. Die drei erstgenannten Muskeln sind die Elevatoren, demnach diejenigen Muskel, die den Unterkiefer heben und den Zusammenbiss bewirken. Der Letztgenannte ist ein Führungsmuskel (für die Vorschubbewegung des Unterkiefers). Die maximale Beißkraft zwischen den Molaren eines Totalprothesenträgers (118 N ≈ 12 kp) ist im Vergleich zum vollbezahnten Patienten (1470 N ≈ 150 kp) erheblich reduziert. Damit sinkt auch die Kaueffizienz bei Prothesenträgern. Das Zerkleinern der Nahrung dauert vier- bis fünfmal so lange wie bei Vollbezahnten. Das Abbeißen ist mit einer Totalprothese nur eingeschränkt möglich. Voraussetzung ist, dass die Tubera maxillae ausgeprägt sind und die Prothese in den paratubären Raum reicht und die Tubera umfasst, sonst wird die Oberkieferprothese abgehebelt. Ist der Tuber maxillae nur einseitig ausgebildet, so kann gegebenenfalls mit der kontralateralen Seite abgebissen werden. Sonst muss die Nahrung zerkleinert statt abgebissen werden. Dünne Speisen wie beispielsweise Salatblätter können nur zerkleinert werden, wenn die Höcker und Grübchen der Ober- und Unterkieferzähne mittels Mörser-Pistill-Prinzip wirken können. Bei der sogenannten Schlittenartikulation (Gleitbiss) handelt es sich um eine vollständige Abnutzung der Zahnhöcker des Gebisses. Bei flach eingeschliffenen oder abgekauten Kauflächen lassen sich diese Speisen nicht mehr zerkleinern. Der Genuss von klebrigen Speisen (beispielsweise Karamellbonbons, Kaugummi) soll vermieden werden, weil dadurch die Prothesen verkleben und sich dadurch lösen können. Ein einseitiges Kauen sollte unterbleiben, das heißt, die Speisen sollten beim Kauen gleichmäßig auf beide Seiten verteilt werden. Bei einseitigem Kauen steigt die Gefahr des Aushebelns der Prothesen. Sollten die Prothesen bei Mahlbewegungen ausgehebelt werden, muss gegebenenfalls der Prothesenträger seine Kaugewohnheiten ändern und ein Kaumuster durchführen, das eher Hackbewegungen gleicht. Mahlbewegungen der Kiefer sind in diesem Fall eher zu reduzieren. Geschmacksinn Geschmacksknospen befinden sich vorwiegend in der Zunge, aber auch in der Gaumenschleimhaut. Durch die Abdeckung des Gaumens durch eine Totalprothese wird deshalb die gustatorische Wahrnehmung (Geschmacksempfinden) beeinträchtigt (Hypogeusie). Hierzu gehört auch das reduzierte Temperaturempfinden und die Reduzierung der sensorischen Wahrnehmung des Speisebolus. Die „Gaumenfreuden“ sind spürbar vermindert. Ferner können die nunmehr bedeckten Gaumenfalten () dem Einreiben der Aromastoffe der Nahrung in die Geschmacksknospen der Zunge nicht mehr dienen. Letzterem kann man – begrenzt – begegnen, indem in die Prothese künstliche Gaumenfalten eingearbeitet werden. Speichelfluss Wegen des ungewohnten Fremdkörpers im Mund wird anfangs übermäßig viel Speichel produziert, was sich im Laufe des Gewöhnungsprozess an die Prothese normalisiert. Ist der Speichel sehr dünnflüssig, kann mittels Haftpulver die Viskosität gesteigert werden. Ältere Patienten und Patienten nach einer Strahlentherapie im Kopf-Hals-Bereich oder Chemotherapie klagen häufig über Mundtrockenheit. Bei krankhaftem Mangel an Speichel gibt es Speichelersatzstoffe (Gel, Carmellose-Spray, Öl, Mucin-Spray). Lautbildung Fehlende Gaumenfalten können zum Lispeln führen. Eine zu dicke und glatte Prothesenbasis kann die Lautbildung (artikulatorische Phonetik) stören. Die Aussprache muss von einem Prothesenneuling geübt werden, indem er alleine laut vorliest. Zähneklappern Ein hörbares Zähneklappern kann durch die Verwendung von Porzellanzähnen entstehen. Es werden deshalb bevorzugt Kunststoffzähne verwendet. Ein Zähneklappern kann auch aus einer fehlerhaften Bestimmung der Bisshöhe (Ruheschwebelage) resultieren. Die Zähne des Ober- und Unterkiefers stehen zu dicht aufeinander und berühren sich beim Sprechen, was zu dem störenden Geräusch führt. Gleichzeitig führt eine zu große Bisshöhe zum erschwerten Lippenschluss. Zahnfarbe Die zahntechnischen Werkstoffe sind nicht in der Lage, die Zahnfarbe künstlicher Zähne bei allen Lichtverhältnissen natürlich und identisch erscheinen zu lassen. Direkte Sonnenstrahlung, Scheinwerferlicht, künstliche Beleuchtung oder unterschiedliche Helligkeitsgrade tags und nachts bewirken unterschiedliche Farbeindrücke der Zahnfarbe. Der Lumineffekt kann künstliche Zähne beispielsweise unter Diskobeleuchtung (Schwarzlicht) unerwünscht leuchten lassen. Durch die im Tageslicht enthaltenen UV-Strahlen wird neben rot und gelb auch Fluoreszenzgrün angeregt, mit der Folge, dass sich grün und rot als Komplementärfarben zu weiß ergänzen und dieses mit gelb das gelbliche Aussehen des Zahnes im Tageslicht ergeben. Im Kunstlicht dagegen sind keine UV-Strahlen vorhanden, wodurch nur gelb und rot reflektiert werden und der Zahn rötlich erscheint. Würgereiz Ein Würgereiz kann durch eine „zu lange“ Oberkieferprothese verursacht werden, wenn der Abschlussrand im Bereich des sogenannten weichen Gaumens zu liegen kommt, demnach die A-Linie überschreitet. Prothesenstomatitis Bei Trägern von Zahnprothesen kann mangelhafte Prothesenpflege (Plaque und/oder Haftcremereste an der Prothese) eine Stomatitis auslösen. Die Mundschleimhaut ist entzündlich verändert, einschließlich der klassischen Entzündungszeichen der Rötung (), der Überwärmung (), der Schwellung (), dem Schmerz () und einer eingeschränkten Funktion (). Besonders häufig ist der Pilz Candida albicans der Auslöser, es können aber auch Staphylokokken, Streptokokken, Enterobakterien oder Neisserien beteiligt sein. Taubheitsgefühl Im Unterkiefer kann durch den Abbau des Alveolarknochens der Druck der Prothese auf den Nervus mentalis (Kinnnerv), der aus dem Foramen mentale (Kinnloch) austritt, zu einem Taubheitsgefühl der Unterlippe führen. In diesem Fall muss die Prothese in diesem Bereich hohl gelegt werden. Alternativ kann der Nervus mentalis mittels einer chirurgischen Nervverlagerung nach caudal (unten) versetzt werden. Torus palatinus Der Torus palatinus, eine Exostose (knöcherner Wulst) in der Mitte des sogenannten harten Gaumens, kann den Halt einer Totalprothese im Oberkiefer erschweren, da die umliegende Schleimhaut nachgiebig ist, der Torus palatinus jedoch nicht. Daher kann die Prothese über den Torus nach rechts und links schaukeln. Dem kann dadurch abgeholfen werden, dass der Torus „entlastet“ wird. Hierzu wird bei der Herstellung der Prothese eine Zinnfolie von etwa 1 bis 2 mm Stärke als Platzhalter auf dem Gipsmodell über den Bereich des Torus gelegt, wodurch der Torus bei der fertiggestellten Prothese hohl gelegt sein wird. Diese Hohllegung kann auch – eingeschränkt – nachträglich durch Ausschleifen dieses Prothesenbereichs erfolgen. Bei Ausübung des Kaudrucks gibt dann zunächst die umliegende Schleimhaut nach, bevor die Prothese mit dem Torus in Kontakt tritt. Die Inzidenz (Häufigkeit) des Torus palatinus und des Torus mandibularis (im Unterkiefer) in der Bevölkerung wird mit etwa 30 % angegeben. Zungenvergrößerung Besteht über einen längeren Zeitraum Zahnlosigkeit, die nicht durch Zahnersatz versorgt worden ist, vergrößert sich die Zunge im Sinne einer muskulären Hypertrophie (Makroglossie). Die Eingliederung von Totalprothesen wird in diesem Fall als stark raumeinengend für die Zunge empfunden. Die Eingewöhnung an eine Prothese dauert entsprechend länger, ein Zeitraum, in dem sich auch die Zunge wieder etwas verkleinert. Mundwinkelrhagaden Sollte es durch den Abbau des Alveolarknochens und/oder durch Abnutzung der künstlichen Zähne oder durch eine von vornherein zu niedrige Bisshöhe zu einer Bisssenkung kommen, können Mundwinkelrhagaden () entstehen, schlecht heilende entzündliche Veränderungen der Mundwinkel, die durch Einrisse (Fissuren) und oberflächliche Gewebedefekte (Erosionen) charakterisiert sind. In diesem Fall ist eine Bisserhöhung, gegebenenfalls durch Neuanfertigung der Prothesen, notwendig. Schlotterkamm Zu den mechanisch bedingten Schleimhautveränderungen zählt der „Schlotterkamm“, der durch dauerhaften mechanischen Reiz verursacht wird. Beim Schlotterkamm sieht der Alveolarfortsatz in der Mundhöhle scheinbar noch gut erhalten aus. Unter der Schleimhaut ist der knöcherne Alveolarfortsatz jedoch durch Bindegewebe ersetzt, sodass der Kieferkamm beweglich ist und „schlottert“. Eine typische Situation ist der Schlotterkamm in der Oberkieferfront durch langjähriges Tragen einer Oberkiefervollprothese bei gleichzeitig unversorgtem, anterioren (vorderen) Restgebiss im Unterkiefer. Daraus resultiert eine fehlende stabile Lage der Oberkieferprothese, weil sich diese zusammen mit dem darunter liegenden Schlotterkamm mitbewegt. Prothesenbruch Liegt die Prothese hohl, weil sie längere Zeit nicht unterfüttert wurde oder der Kunststoff spröde geworden ist oder die Prothese beim Reinigen entglitten ist, so kann es zum Prothesenbruch kommen. Die Reparatur einer gebrochenen Prothese ist in der Regel innerhalb eines Tages möglich. Voraussetzung ist, dass kein laienhafter Reparaturversuch durchgeführt wurde, weil in diesem Fall die Bruchstücke nicht mehr exakt reponierbar sind. Die Prothese würde dadurch unbrauchbar. Gewichtsabnahme Bei einer Gewichtsabnahme verändern sich die Weichteile des Gesichts nicht unerheblich. Das Zusammenspiel von Muskeln und Bändern trägt aber wesentlich zum Prothesenhalt bei. Bei einem Gewichtsverlust muss deshalb die Prothese den neuen Verhältnissen angepasst werden. Bissverletzungen In der Eingewöhnungsphase können Bissverletzungen in die Wange oder die Zunge erfolgen, weil sich die Mundmuskulatur erst an die neue Prothese gewöhnen muss. Das Zerkauen der Nahrung sollte deshalb anfangs geübt werden, indem mit weichen Speisen (Kartoffelpüree, Brei) das „Zerkleinern“ der Nahrung erfolgt. Nach einer Bissverletzung schwillt das Zahnfleisch an, wodurch die Gefahr einer erneuten Bissverletzung steigt. Im Laufe weniger Wochen gehen die neuen Kaumuster in das Unterbewusstsein über. Pfeifenraucher Pfeifenraucher können mit Totalprothesen im Ober- und Unterkiefer nur sehr erschwert die Pfeife zwischen den Zähnen halten, da insbesondere die Unterkieferprothese wesentlich leichter abkippt. Es sollte eine möglichst leichte (20 g), kurze, gebogene Pfeife („Podge“) mit flachem, aber breiterem Biss („Fishtail“-Mundstück) aus dem weicheren Naturkautschuk (Ebonit) bevorzugt werden. Acrylmundstücke sind, auch in Abhängigkeit vom Pfeifengewicht, nur schwer zwischen den Zähnen zu halten. Es ist zwar möglich, die Zähne so einzuschleifen, dass eine Pfeife bei geschlossenen Zahnreihen zwischen die Zähne passt („Pfeifenlöcher“), jedoch blieben dabei ohne Pfeife unschöne Lücken zwischen den Oberkiefer- und Unterkieferzähnen im Bereich des Pfeifeneinlasses sichtbar. Das Halten einer Pfeife zwischen den Zähnen erhöht den Speichelfluss, wodurch auch die Haltedauer der Prothesen verkürzt wird. Taucher Taucher sollten ein orthopädisches Mundstück (JAX) verwenden, das möglichst durch den Zahnarzt individuell an das Gebiss angepasst oder individuell hergestellt wird. Alternativ kann mit einer Vollgesichtsmaske getaucht werden. Beim Schnorcheln soll eine obere Totalprothese mit einer sehr zähen Haftcreme am Gaumen fixiert werden, selbst dann, wenn im täglichen Leben keine Haftcreme benutzt wird. Eine untere Totalprothese wird weggelassen, stattdessen kommt ein individuell vom Zahnarzt hergestelltes Mundstück am Schnorchel zum Einsatz, das mit dem Schnorchel fest verbunden ist. Sowohl beim Tauchen als auch beim Schnorcheln besteht beim Herausnehmen des Mundstücks die Gefahr des Verlustes der Prothesen. Ihr spezifisches Gewicht ist größer als das des Wassers. Auch beim Schwimmen besteht die Gefahr des Herausschwemmens der Prothesen. Sonderformen Neben der klassischen Totalprothese gibt es diverse Sonderformen. Immediatprothese Eine Sonderform ist die Immediatprothese (Sofortprothese). Bei einer notwendigen Reihenextraktion wird im Vorfeld der Extraktionen eine Prothese vorbereitet, die unmittelbar nach der Extraktion der Zähne eingegliedert wird, wodurch der Patient nicht zahnlos die Praxis verlässt. Hierzu wird eine Abformung des noch bezahnten Gebisses vorgenommen. Auf dem entstandenen Gipsmodell werden die Zähne weggeschliffen und darauf eine Totalprothese gefertigt. Eine solche Prothese wird nach wenigen Wochen korrigiert, z. B. mittels Unterfütterung, weil sich der Kiefer im Verlauf der Abheilung der Extraktionswunden stark ändert und abgebaut wird. Ein Nebeneffekt einer Immediatversorgung ist, dass eine solche Prothese gleichzeitig als Verbandplatte für die zahlreichen Extraktionswunden dient. Interimsprothese Eine Übergangsprothese wird Interimsprothese genannt. Diese wird angefertigt, wenn die Anfertigung einer Totalprothese oder Immediatprothese wegen schwieriger anatomischer Verhältnisse nicht sofort möglich ist. Mittels einer Interimsprothese kann der Zeitraum bis zur Fertigstellung einer Totalprothese, der mehrere Wochen bis Monate betragen kann, überbrückt werden. Zweitprothese Um einer auch nur vorübergehenden Zahnlosigkeit vorzubeugen, kann eine Zweitprothese (auch: Reiseprothese, Ersatzprothese, Duplikatprothese) angefertigt werden, denn bei einem Verlust einer Prothese benötigt eine Neuanfertigung mehrere Wochen, die mit einer Zweitprothese überbrückt werden können. Im Falle einer notwendig gewordenen Reparatur, beispielsweise einem Prothesenbruch, ist ebenfalls die durchgehende Versorgung mit einer Prothese gewährleistet. Totalprothesen werden im zahntechnischen Labor dubliert: Die fertiggestellte Originalprothese wird abgeformt und auf Basis dieser Hohlform ein Zweitexemplar hergestellt. Auch eine Interimsprothese kann zu einer Zweitprothese ausgebaut werden. Religiöse Gründe Die jüdischen Speisegesetze (, 3. Buch Mose (Kap. 11)) schreiben unter anderem die zeitliche Trennung des Genusses von „fleischigen“ () und „milchigen“ () Speisen vor (Deut. 14, 21b). Fleisch- und Milchprodukte dürfen nicht zusammen gegessen werden, sondern nur mit vorgeschriebenem zeitlichen Abstand. Die strikte Trennung geht so weit, dass auch unterschiedliches Geschirr für Fleisch- und Milchspeisen verwendet wird. Strenggläubige Juden lassen sich manchmal zwei Prothesenpaare anfertigen, um für jede der beiden Speisearten eine eigene Prothese verwenden zu können. Überwiegend wird jedoch von rabbinischen Autoritäten die Meinung vertreten, dies sei nicht notwendig. Blasmusiker Blasmusiker benötigen eine spezielle Prothese, die je nach Instrument und damit je nach Art der Tonerzeugung und Form des Mundstückes angefertigt ist und die Prothese beim Spielen stabilisiert. Eine zusätzliche Verankerung durch Implantate ist reinen Totalprothesen auf jeden Fall vorzuziehen. Wenn das nicht möglich sein sollte, wird für die Stabilisierung beispielsweise ein Aufbisswall im Molarenbereich gefertigt, ohne Verzahnung im Molarenbereich. Dieser entspricht in der Höhe etwa der Ruheschwebelage, mit leichter Protrusion (Vorbiss) des Unterkiefers. Die Aufbisswälle können durch zwei oder drei sogenannte „schiefe Ebenen“ verzahnt werden und drücken so die Prothese in Richtung des Kieferkamms. Alternativ können elastische Blashilfen aus weichbleibendem Kunststoff gefertigt werden. Blasmusiker benötigen in diesem Fall eine Zweitprothese im Sinne einer „normalen“ Totalprothese für den Alltag, als Ess- und Sprechprothese. Cover Denture Als Cover Denture (auch: Deckprothese) bezeichnet man einen Zahnersatz, bei dem noch einige wenige Restzähne im Gebiss vorhanden sind, die mit Teleskopkronen oder Wurzelkappen versehen werden. Die gleiche Funktion können auch Implantate (eingepflanzte künstliche Zahnwurzeln) ausüben. Über diese Kronen wird eine Totalprothese übergestülpt. Die so versorgten Zähne sorgen für einen besseren Halt, insbesondere im Sinne einer Übergangsversorgung, wenn die restlichen Zähne zu einem späteren Zeitpunkt auch noch extrahiert werden müssen. Sie dienen in diesem Fall der leichteren Eingewöhnung an eine Prothese. Defektprothese Mit einer Defektprothese (auch: Resektionsprothese) werden zusätzlich zu dem erwähnten Ersatz von Zähnen und dem Alveolarfortsatz einer Totalprothese auch Teile vom Kiefer ersetzt, die infolge einer angeborenen Fehlbildung, eines Unfalls oder einer Tumoroperation entstanden sind. Eine Sonderform ist der Obturator (auch: Gaumenobturator), der zur funktionssichernden Abdichtung der Mundhöhle gegen die Nasenhöhle oder Kieferhöhle bei nichtoperablen Kieferdefekten eingesetzt wird. Die Totalprothese ist dabei um einen Kunststoffwulst erweitert, der diese Funktion übernimmt. Damit der sichere Halt dieser, meist ohne Implantate befestigten, schweren Konstruktion gewährleistet ist, sollten an statisch sicherer Stelle Hohlräume eingebaut werden, die durch Gewichtsersparnis den Tragekomfort verbessern. Prothesenreinigung Prothesen sind aufgrund ihres Aufbaus und ihrer Oberflächenstruktur anfällig für Plaqueanheftung und damit Bakterienbefall. Zur Reinigung einer Totalprothese hält der Handel spezielle Prothesenbürsten bereit. Als Reinigungsmittel können Flüssigseife, Spülmittel aber auch Kernseife dienen. Zahnpasten mit enthaltenen Schleifkörpern sollen nicht verwendet werden, da diese den Prothesenkunststoff anrauen, wodurch der Anlagerung von Zahnstein und Belägen Vorschub geleitet wird. Die Reinigung sollte über einem mit Wasser gefüllten Waschbecken erfolgen, damit die Prothese bei einem Herunterfallen nicht bricht. Alternativ kann ein Handtuch in das Waschbecken gelegt werden, um den Aufprall der Prothese abzufedern. Zudem soll nach jeder Mahlzeit die Prothese abgespült werden, weil Speisereste, die sich unter die Prothese schieben, einerseits den Halt der Prothese verschlechtern und andererseits zu Mundgeruch führen können. Reinigungstabletten sollten zurückhaltend verwendet werden. Der Prothesenkunststoff wird bei häufigerer Benutzung von Reinigungstabletten ausgelaugt, die Oberfläche wird rau und der Kunststoff verliert seine Farbe. Bei längerer Anwendung wird die Prothesenelastizität beeinträchtigt. Als Wirkstoffe werden Percarbonate, Natriumhypochlorit, Chlorhexidindigluconat, Tenside und Enzyme verwendet. Die Anwendung von Kaltplasma zur Reinigung und Desinfektion wird derzeit (2017) erforscht. Reinigungstabletten ersetzen auch nicht die mechanische Reinigung. Prothesenreinigungsgerät Es gibt Prothesenreinigungsgeräte, die auf Ultraschallbasis funktionieren, und andere, die magnetisch durch Poliernadeln die Prothesen reinigen. Bei Ultraschallgeräten werden die Prothesen in ein Wasserbad gelegt und das Wasser wird durch Ultraschall in Schwingung versetzt. Dabei entstehen zusätzlich kleinste Wasserbläschen, die zusätzlich die Reinigungskraft erhöhen. Zahnärzte und zahntechnische Laboratorien verfügen auch über Prothesenreinigungsgeräte mit Poliernadeln (Wirbelstromgeräte). Hierzu wird die Prothese in ein Wasserbad mit Reinigungszusätzen gelegt. Zusätzlich werden spezielle Poliernadeln in das Wasserbad gegeben. Die im Wasserbad enthaltenen Poliernadeln werden in Schwingungen versetzt, welche die Prothese von Verschmutzungen reinigen. Epidemiologie Laut statistischem Jahrbuch der Kassenzahnärztlichen Bundesvereinigung wurden im Jahre 2015 in Deutschland 297.700 Totalprothesen im Oberkiefer und 170.600 Totalprothesen im Unterkiefer bei Kassenpatienten neu angefertigt. Hinzu kommen 420.400 neu angefertigte Cover-Denture-Prothesen im Ober- und Unterkiefer (bei einem Restzahnbestand bis zu drei Zähnen je Kiefer). Hierbei sind etwa 10 % Privatversicherte nicht berücksichtigt. Unter der Annahme, dass Prothesen alle fünf bis acht Jahre neu angefertigt werden, ist die absolute Zahl der Totalprothesenträger (zuzüglich Cover denture) entsprechend höher (geschätzte über 4 Millionen Betroffene, was etwa 5 % der Bevölkerung entspräche). Gemäß der Fünften Deutschen Mundgesundheitsstudie (DMS V), die von Oktober 2013 bis Juni 2014 durchgeführt wurde, ist jeder achte aus der Altersgruppe der 65- bis 74-Jährigen zahnlos, im Jahr 1997 war es noch jeder vierte. Weltweit sind etwa 158 Millionen Menschen von vollständiger Zahnlosigkeit betroffen, was 2,3 % der Weltbevölkerung ausmacht (Stand 2010). Frauen sind mit einem Anteil von 2,7 % stärker davon betroffen als Männer mit 1,9 %. Kosten Deutschland Es gibt in Deutschland in der gesetzlichen Krankenversicherung seit 2005 ein Festzuschuss-System für Zahnersatz. Bei einer Totalprothese handelt es sich um eine sogenannte Regelversorgung, für die ein Festzuschuss von 50 % der Durchschnittskosten beträgt. Ohne Bestätigung eines regelmäßigen jährlichen Zahnarztbesuchs durch ein Bonusheft beträgt der Eigenanteil des Patienten je Ober- und Unterkiefer-Totalprothese etwa 600–800 €. Je nach Regelmäßigkeit des Zahnarztbesuches in den letzten 5 bzw. 10 Jahren, reduziert sich der Eigenanteil auf 40 bzw. 35 % ( Abs. 1 SGB V). Österreich In Österreich belaufen sich die Kosten der Totalprothese pro Kiefer beispielsweise bei Versicherten der Salzburger Gebietskrankenkasse auf 852 €. Schweiz In der Schweiz belaufen sich die Kosten einer Totalprothese auf 3200,– bis 3800,– CHF. Geschichte Aus dem frühen 16. Jahrhundert ist bekannt, dass in Japan Totalprothesen aus Holz gefertigt wurden. Das hielt an, bis sich Japan im 19. Jahrhundert dem Westen öffnete. Diverse Versuche in der Vergangenheit, Zähne durch funktionstüchtige Prothesen zu ersetzen, waren letztlich untauglich. Als George Washington 1789 erster Präsident der Vereinigten Staaten wurde, war er 57 Jahre alt und hatte nur noch einen Zahn. Washington behalf sich mit einer kosmetischen Prothese aus Flusspferdzähnen, Elfenbein und menschlichen Zähnen, die John Greenwood angefertigt hatte. Vormals Tischler und Mechanikus nautischer Instrumente in New York City, hatte dieser als Dentist von sich reden gemacht. Den Halt der Prothesen sollten Spiralfedern erzeugen. George Washington verließ bei einem Bankett regelmäßig den Raum, um ungestört ohne Prothesen essen zu können, denn er wollte sich nicht als Prothesenträger outen. Waterloo-Zähne Menschliche Zähne wurden von Leichenfledderern aus Grüften entwendet oder Hingerichteten entnommen und durch Zahnärzte in Prothesen eingebaut. Im Jahr 1799 hielt Francisco de Goya eine Szene im Gemälde A caza de dientes () fest, in der eine gut gekleidete Frau einem Gehenkten die Zähne aus dem Mund bricht. Ein großer Fundus für menschliche Zähne für Prothesen war die Schlacht bei Waterloo (1815), in der mehrere 10.000 Soldaten fielen, darunter viele junge Männer mit gesunden Zähnen. Der Handel mit diesen Zähnen, mit denen Zahnersatz gefertigt wurde, nahm solche Ausmaße an, dass sie später Waterloo-Zähne () genannt wurden. Das Sammeln von Waterloo-Zähnen gab es aber schon nach der Völkerschlacht bei Leipzig vom 16. bis zum 19. Oktober 1813. Dort, wo sich rund 600.000 Soldaten aus mehreren europäischen Staaten gegenüberstanden, verloren über 91.000 von ihnen das Leben. Nach der Schlacht wurden die Kampfplätze in der Peripherie von Leipzig von einer Schar Plünderer heimgesucht, die versuchten, alles, was Wert besaß, zu ergattern. „Am schlimmsten waren die Fledderer“, wie ein Leipziger Stadtreferent zitiert wird, „welche den Toten die Kinnladen aufbrachen und die schönsten und weißesten Zähne herausrissen, um sie zum Einsetzen in der Folge zu verkaufen. Teilweise entrissen sie den noch Sterbenden ihre Zähne“. Als Prothese wurden auch Zähne eines Flusspferdes auf den Kiefer passend geschnitzt. Teilweise wurden an der geschnitzten Prothesenbasis aus Zähnen eines Hippopotamus Waterloo-Zähne befestigt. Beides konnten sich nur begüterte Kreise im Viktorianischen Zeitalter leisten. Ein weiteres „Reservoir“ für menschliche Zähne war der Amerikanische Bürgerkrieg (1861 bis 1865). Auch dort wurden den Gefallenen Zähne extrahiert und massenhaft nach London verschifft. Diese Zähne nannte man mit dem inzwischen eingebürgerten Begriff ebenfalls Waterloo-Zähne. Die Beendigung der Fledderei dürfte durch den veränderten Umgang mit Kriegsgefangenen und Gefallenen nach der Unterzeichnung der ersten Genfer Konvention vom 22. August 1864 gewesen sein. Porzellanzähne Dem Wunsch nach natürlich aussehendem Zahnersatz wollte 1789 der Franzose Nicolas Dubois de Chémant nachkommen und meldete die von ihm entwickelten Porzellanzähne zum Patent an. Sie wurden incorruptible () genannt, im Gegensatz zum übelriechenden, beinernen Zahnersatz. Chémant griff die Idee des Apothekers Alexis Duchâteau (1714–1792) auf, der 1774 mit der Herstellung von Porzellanzähnen experimentiert hatte. Der italienische Zahnarzt Giuseppangelo Fonzi (1768–1840) eignete sich die Kenntnisse an und erlangte 1815 Ruhm durch seine erfolgreiche Produktion von Porzellanzähnen, die er mittels Metallstiften fest mit der Prothesenbasis verband. Der Ruf dieser incorruptible verbreitete sich bis an den bayerischen Königshof in München, zum russischen Zaren Alexander I. und von dort zu den spanischen Bourbonen. Am 9. März 1822 wurde dem New Yorker Charles M. Graham ein US-Patent bewilligt für seine Erfindung einer Verbesserung im Aufbau künstlicher Zähne. Vulkanisation Im Jahre 1839 erfand Charles Goodyear die Vulkanisation, ein Verfahren, bei dem Kautschuk unter Einfluss von Zeit, Temperatur und Druck gegen atmosphärische und chemische Einflüsse sowie gegen mechanische Beanspruchung widerstandsfähig gemacht wird. Daraus resultierten bald die Kautschukprothesen nach Thomas W. Evans und Clark S. Putnam (1864), in die Porzellanzähne eingebaut werden konnten. Die innige Verbindung von Kautschuk und Metall einer Metallbasis gestaltete sich als schwierig. Beim Vulkanisieren bildete sich durch die Schwefelausscheidung des Kautschuks auf dem Metall eine Sulfidschicht, die die Haftung zwischen den beiden Materialien erschwerte. Um 1840 wurden etwa 500.000 Porzellanzähne von Paris aus in die USA exportiert, womit eine rasante Zunahme von Zahnärzten und Zahntechnikern einherging. 1844 begann Samuel Stockton White (S. S. White) in den USA mit der Herstellung von Porzellanzähnen. Einer Umfrage in den USA zufolge wurden 1940 etwa 70 % aller dortigen Zahnprothesen aus Kautschuk gefertigt. Anfang des 20. Jahrhunderts, als die Funktionsabformung zur Erzeugung der Saugwirkung und damit des Halts einer Prothese noch nicht erfunden war, baute man Saugnäpfe in Oberkieferprothesen ein. Diese erzeugten jedoch bei langjähriger Verwendung Kieferdefekte bis hin zu Perforationen des Gaumens, worauf man dieses Hilfsmittel wieder verließ. Kunststoff Der Prothesenkunststoff Polymethylmethacrylat (PMMA) wurde 1928 etwa zur selben Zeit in Deutschland, Großbritannien und Spanien entwickelt. In Deutschland war hieran der Chemiker Walter Bauer (1893–1968) beteiligt. Durch die Firma Kulzer & Co. wurde im Jahre 1936 das von Bauer entwickelte chemoplastische Verarbeitungsverfahren (Paladonverfahren) vorgestellt. Es entspricht dem heute verbreiteten Verfahren, Polymerpartikel mit Monomerflüssigkeit anzuteigen und plastisch in Hohlformen einzubringen, wo der Kunststoff unter Druck aushärtet. Der Kunststoff wurde in den 1950er Jahren so weit entwickelt, dass er den Kautschuk verdrängt hat. Abform- und Modellmaterial Nachdem Edwin Thomas Truman das Guttapercha entwickelt hatte, fügte 1856 der Londoner Zahnarzt Charles T. Stent (1807–1885) insbesondere Stearin hinzu, das die Plastizität des Materials sowie seine Stabilität verbesserte, Talkum als inerten Füllstoff, um dem Material mehr Masse zu geben, ferner Harz und roten Farbstoff, und es entstand das nach ihm benannte thermoplastische Material für die Abformung der Kiefer (und der Zähne). Stent löste das bis dahin gebräuchliche Bienenwachs und Gips als Abformmaterial ab. Für die Gipsabformung wurde ein spezieller, leicht brechender Abdruckgips verwendet, der nach dem Abbinden stückweise aus dem Mund herausgebrochen werden konnte. Die Bruchstücke wurde anschließend zusammengeklebt und mit einem Hartgips ausgegossen, um das endgültige Modell herzustellen. Zur „Geschmacksverbesserung“ während der Abdrucknahme wurde dem Gips Pfefferminze zugesetzt. Der britische Chemiker und Pharmazeut Edward Curtis Stanford gilt als Entdecker des Alginats, der 1880 Alginsäure aus Braunalgen extrahierte. 1940 wurden die Salze der Alginsäure, die allgemein als Alginate bezeichnet werden, als Abformmaterial in die Zahnheilkunde eingeführt. Es enthält neben Natriumalginat meist noch Calciumsulfat (Gips), Natriumphosphat als Verzögerer und einen großen Anteil an Kieselgur (Diatomeenerde). Mit den reversiblen Hydrokolloiden erfolgte 1925 die Einführung der ersten elastischen Abformmassen. Anfang der 1950er Jahre wurden die elastomeren Abformmaterialien eingeführt, zunächst die elastomeren Polysulfide (Thiokole) und die kondensationsvernetzenden Silikone, 1965 gefolgt von den Polyethern (Impregum, 3M ESPE) und 1975 von den additionsvernetzenden Silikonen (Vinyl-Polysiloxan). Artikulatoren Die Entwicklung des Artikulators, der als Kausimulator die Bewegungen des Unterkiefers und damit die Nachbildung der Kaumuster ermöglichen sollte, begann mit einem Okkludator, der lediglich ein Öffnen und Schließen des Gebisses nachahmen ließ. Ausführlich beschreibt Julius Parreidt 1893 verschiedene im 19. Jahrhundert gebräuchliche Methoden, wobei zunächst ein Türscharnier verwendet wurde, um die beiden Kiefermodelle genau so, wie die Kiefer im Munde sich zueinander beim Beißen verhalten, zu fixieren. Nach Vorarbeiten durch Daniel Evans entwickelte William Gibson Arlington Bonwill (1833–1899) aus Philadelphia 1864 den ersten überdurchschnittlichen Artikulator, ein Gerät zur Simulation der Kiefergelenksbewegungen. Dazu werden Gipsmodelle der Zahnbögen des Ober- und Unterkiefers in Okklusion in den Artikulator montiert. Der um 1910 vom Schweizer Zahnarzt Alfred Gysi (1865–1957) entwickelte Gysi-Simplex-Artikulator sollte sich als Meilenstein herausstellen. Aufgrund der kondylären Führungsfläche im Unterteil und der Gelenktrommel im Oberteil werden diese Typen als sogenannte Non-Arcon-Artikulatoren bezeichnet, da die Bewegungen umgekehrt zum anatomisch-physiologischen Ablauf im echten Gelenk stattfinden. Bekannter wurden der auf gleichem Prinzip aufbauende Hanau-Artikulator, der Whip-Mix-Artikulator oder der Schul-Artikulator-München (SAM). Über 100 verschiedene Artikulatoren wurden in den letzten 150 Jahren entwickelt. Die Suche nach einem besseren Halt Die historisch-prothetische Sammlung des Zentrums für Zahn-, Mund- und Kieferheilkunde der Martin-Luther-Universität Halle-Wittenberg zeigt zahlreiche Versuche aus der Vergangenheit auf, den Halt einer Prothese zu verbessern. Nach den Gummisaugern wurde ein Kompressionsring nach Heintz durch Radieren des Gipsmodells in der Oberkieferprothesenbasis erzeugt. Ihm folgte die Radierung nach Stadler. Die Anordnung seiner 1–2 mm tiefen Radierungen erfolgte am Gaumendach ohne den Torus palatinus zu überqueren. Diese verliefen parallel zum Torus palatinus, dorsal parallel zur A-Linie. Es folgten Modifikationen mit der Frankfurter Radierung und der Radierung nach Walser. Radierungen am Gipsmodell ergeben bei der fertiggestellten Prothese 1–2 mm große Wülste, die kleine Saugkammern im Gaumenbereich zum besseren Halt erzeugen sollten. Einen anderen Ansatz verfolgte die Konstruktion mit Pelotten (Zahnfleischklammern), bis zunächst die mukostatische und später die mukodynamische Abformung den Halt der Prothesen maßgeblich verbessert hat. Gleichzeitig versuchte man über die Formgestaltung und Aufstellung der Prothesenzähne den Halt zu verbessern. Zu nennen sind hier die Zahnaufstellungen nach Strack, der sie je nach Bisslage modifizierte, nämlich mit dem Typ K für den Kopfbiss beziehungsweise der Progenie, dem Typ D für den Deckbiss beziehungsweise Distalbiss und dem Typ S für den Scherenbiss. Es folgte die statisch-artikuläre Aufstellung nach R. Fischer, nach Hiltebrandt und die Kugelkalottenaufstellung nach Fehr, gefolgt von der Aufstellung nach Haller, bis man sich wieder auf die klassische Aufstellung nach Gysi besann. Eine weitere Variante war die Aufstellung mit Furchen-Backenzähnen. Aufgrund der ungenügenden Möglichkeiten, die Unterkiefertotalprothesen stabil zu konstruieren, bediente man sich diverser Hilfsmittel. So versuchte man die Prothese mit Metallspänen zu beschweren, die abstoßende Kraft von je einem Magneten in der Ober- und Unterkieferprothese auszunutzen oder die Saugfähigkeit mit Saugplättchen zu erhöhen. Eine weitere Überlegung waren Gebissfedern. Sie sollten mit großer Kraft den unteren Ersatz auf den Kiefer pressen. Es folgten subperiostale Implantate in den 1950er und 1960er Jahren, Metallgerüste, die zwischen Kieferknochen und Periost (Knochenhaut) unter der Schleimhaut eingesetzt wurden, von denen Pfosten durch die Schleimhaut herausragten, an denen man die Prothese befestigen konnte. Die subperiostalen Implantate waren jedoch nicht biokompatibel und führten zu Entzündungen. Trotzdem erlebt auch dieses anspruchsvolle Verfahren im Rahmen der wissenschaftlichen Weiterentwicklung unter strenger Indikation (z. B. Tumorchirurgie) von Zeit zu Zeit eine Renaissance. Auf der Basis von Backward-planning mit CT oder DVT ist die Eingliederung eines biokompatiblen Gerüstimplantates sogar mit provisorischer Versorgung in nur einer Operation möglich. Nach einer Einheilphase kann über einen digitalen Scan oder mit einem konventionellen Abdruck eine festsitzende bzw. bedingt herausnehmbare Zahnversorgung hergestellt und eingegliedert werden. Die in der BRD umstrittene Evidenz dieses Implantationsverfahrens (Außenseitermedizin) findet ihre Reflexion in der privaten Gebührenordnung. Nicht das Eingliedern, sondern nur das aufwendige Entfernen eines subperiostalen Implantates wird bewertet. Nach dem Medizinproduktegesetz bedarf es eines entsprechend zertifizierten Labores, um ein einzelnes individuelles Implantatgerüst herzustellen und zu vertreiben. Das Konzept nach Albert Gerber (1907–1990) war ein weiterer Meilenstein zur Verbesserung des Prothesenhalts, an dem er in Form eines Lebenswerks von 1948 bis 1984 gearbeitet hatte. Hierzu gehörte die Entwicklung von Artikulatoren (Condylator), von Zahnformen (Condyloformzähne) im Jahre 1958 bis hin zur kiefergelenkskonformen Herstellung. Ausblick Seit Beginn des 20. Jahrhunderts wurden für jeden Behandlungs- und Arbeitsschritt bei der Versorgung der Patienten mit Totalprothesen Dutzende von Materialien, Zahnformen, Instrumenten und Verfahren entwickelt. Es ist jedoch bis heute nicht gelungen, reproduzierbare Werte und Behandlungsergebnisse zu erzielen. Der Erfolg der Behandlung hängt letztlich von der Erfahrung des Zahnarztes ab, der seine Erfahrung mit dem von ihm bevorzugten Verfahren erworben hat. Der Trend geht zunehmend in Richtung implantatverankerten Zahnersatzes. Implantate (eingepflanzte künstliche Zahnwurzeln) können den Prothesenhalt erheblich verbessern. Voraussetzungen sind entsprechende anatomische Verhältnisse und die finanziellen Rahmenbedingungen. Dabei müssen jedoch die geschilderten Grundregeln der Behandlung zur Herstellung einer Totalprothese eingehalten werden. Literatur Klaus Fuhr, Thomas Reiber: Die Totalprothese. Urban & Schwarzenberg, München u. a. 1993, ISBN 3-541-12071-1. Horst Gründler, Ulrich Stüttgen: Die Totalprothese (= Grundwissen für Zahntechniker. Bd. 4). 3., überarbeitete Auflage. Neuer Merkur, Planegg 2014, ISBN 978-3-929360-84-4. Lorenz Hupfauf (Hrsg.): Totalprothesen (= Praxis der Zahnheilkunde. Bd. 7). 2. Auflage. Urban & Schwarzenberg, München u. a. 1987, ISBN 3-541-15270-2. Bernd Koeck (Hrsg.): Totalprothesen (= Praxis der Zahnheilkunde. Bd. 7). 4. Auflage. Urban & Schwarzenberg, München u. a. 2005, ISBN 3-437-05360-4. Weblinks S3-Leitlinie Implantatprothetische Versorgung des zahnlosen Oberkiefers, Arbeitsgemeinschaft der Wissenschaftlichen Medizinischen Fachgesellschaften, AWMF-Registernummer: 083-010, Stand: November 2014. Gültig bis November 2019. Online, abgerufen am 10. April 2017. Einzelnachweise Zahnersatz Zahntechnik Wikipedia:Artikel mit Video
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https://de.wikipedia.org/wiki/Einschlussk%C3%B6rperchenkrankheit%20der%20Riesenschlangen
Einschlusskörperchenkrankheit der Riesenschlangen
Die Einschlusskörperchenkrankheit der Riesenschlangen (boid inclusion body disease BIBD, auch Einschlusskörperchenkrankheit (EK) der Boas oder Boide EK genannt) ist eine tödlich verlaufende Infektionskrankheit, die bei Boas (Boidae) und Pythons (Pythonidae) vorkommt. Die BIBD gilt heute auch aufgrund der sich mehrenden Fälle als wichtigste Infektionskrankheit bei Schlangen in Gefangenschaft. Sie konnte zuerst Ende der 1970er Jahre bei Tieren in privaten Sammlungen und in zoologischen Gärten der Vereinigten Staaten, später auch in Afrika und Europa beobachtet werden. Als Krankheitserreger waren seit 1994 Retroviren in den Fokus geraten, da in den Zellen fast aller infizierten Organe der Tiere neben den typischen Einschlusskörperchen auch virusähnliche Partikel vom retroviralen C-Typ gefunden wurden. Dies hat sich in weiteren Studien als nicht haltbar erwiesen. Seit 2012 wird eine Virusinfektion mit verschiedenen neu entdeckten Viren der Gattung Reptarenavirus (Familie Arenaviridae) als Krankheitsursache angenommen. Diese neu entstandenen Viren sind sehr wahrscheinlich als sogenannte Emerging Viruses genetische Neukombinationen und Varianten von zuvor nicht krankheitsauslösenden Arenaviren bei Schlangen. Die Virusinfektion verläuft bei erwachsenen Schlangen schleichend, chronisch und in den ersten Wochen und Monaten mit keiner oder nur sehr geringer klinischer Symptomatik. In dieser Zeit kann es sehr wahrscheinlich durch Schmierinfektion von Tier zu Tier oder durch Kontakt mit infizierten Gegenständen zur Übertragung auf weitere Tiere kommen. Bei Boas ist auch eine Übertragung durch das Muttertier auf die Jungtiere möglich. Eine Übertragung durch Schlangenmilben (Ophionyssus natricis) als Vektor wird ebenfalls diskutiert. Die erkrankten Schlangen sterben an schweren neurologischen Störungen, die eine Nahrungsaufnahme verhindern. Da weder eine spezifische antivirale Therapie noch eine vorbeugende Impfung verfügbar sind, bestehen die einzig verfügbaren Maßnahmen zur Eindämmung der Infektion in einer strikten drei- bis sechsmonatigen Quarantäne, Einhaltung der Hygiene bei der Haltung (Desinfektion von Gegenständen und Händen) sowie der Tötung erkrankter Tiere. Eine strikte Isolierung infizierter, aber noch nicht erkrankter Tiere ist möglich. Ätiologie Histopathologie Als besonderes histologisches Merkmal fielen bei den ersten Fallbeschreibungen der BIBD die sogenannten Einschlusskörperchen (EK) auf. Man fand sie in ganz unterschiedlichen Zelltypen fast aller Organe, bei Boas in sehr hoher Zahl in Epithelzellen aller Organe des Gastrointestinaltraktes (einschließlich Bauchspeicheldrüse, Leber, Tonsillen der Speiseröhre), im Epithel des Atemtraktes, in Tubuluszellen und in Nervenzellen des Zentralnervensystems (im Unterschied zu Pythons bei Boas auch in Gliazellen). Vermehrt nachweisbare Lymphozyten im umgebenden Gewebe sind als Zeichen einer Entzündungsreaktion nur in wenigen Fällen zu beobachten. Die EK als histopathologische Veränderung sind charakteristisch für eine ganze Reihe verschiedener Infektionen mit intrazellulären Erregern wie Viren, so dass nach diesen ersten Befunden bereits eine den gesamten Organismus betreffende (systemische) Virusinfektion als Krankheitsursache vermutet wurde. Die bei der BIBD im Zytoplasma vorkommenden EK sind in der Hämatoxylin-Eosin-Färbung besonders intensiv mit dem sauren Farbstoff Eosin anfärbbar (eosinophil), was auf eine basophile Eigenschaft der EK hindeutet. In elektronenmikroskopischen Aufnahmen gehen die sehr dunkel (elektronendicht) erscheinenden EK von Polyribosomen aus und der Rand großer EK ist oft von einem Kranz kleinerer, sich abschnürender EK umgeben. Gelegentlich sind konzentrische Strukturen innerhalb der EK zu beobachten. Als Hauptbestandteil der Einschlusskörperchen konnte ein etwa 68 kDa großes Protein identifiziert werden. Spezifische Antikörper gegen dieses sogenannte IBD-Protein wurden im Blut erkrankter Schlangen nachgewiesen. Mit monoklonalen Antikörpern gegen dieses Protein können die Einschlusskörperchen in immunhistologischen Färbungen von Gewebeproben spezifisch angefärbt und dargestellt werden (siehe Abbildung). Erreger In elektronenmikroskopischen Aufnahmen entdeckte Schumacher 1994 membranumhüllte, virusähnliche Partikel innerhalb der histologisch veränderten Zellen. Die Partikel waren 110 nm im Durchmesser groß und hatten im Inneren ein hexagonales, möglicherweise ikosaedrisches Kapsid. Außerhalb der Zelle waren diese Viruspartikel nicht zu beobachten. Ähnliche Partikel fanden sich in primären Nieren-Zellkulturen erkrankter Abgottschlangen. Nach Injektion von zellfreien Überständen dieser Zellkulturen in zwei Dunkle Tigerpythons (Python molurus bivittatus) erkrankten die Tiere an BIBD und wiesen im Gewebe die typischen EK auf. Die zuvor beobachteten Partikel waren jedoch nicht mehr zu finden. Aufgrund ihrer Größe und des konzentrischen Kapsids nahm Schumacher an, dass es sich um Retroviren mit einer sogenannten C-Typ-Morphologie (Alpharetroviren) handeln könnte. Wozniak und Kollegen infizierten daraufhin gesunde Boas mit homogenisiertem Lebergewebe einer erkrankten Abgottschlange, das sie zuvor filtrierten (Porengröße bis 45 µm). Die Schlangen wiesen nach etwa zehn Wochen die typischen EK auf, die virusähnlichen Partikel waren wieder zu beobachten, jedoch zeigten die Tiere auch nach einem Jahr keinerlei Krankheitszeichen. Damit waren zwei der drei Koch’schen Postulate zum Beweis eines Krankheitserregers als krankheitsauslösende Ursache nicht erfüllt. Eine spätere Untersuchung über das Vorkommen von Retroviren bei BIBD-erkrankten Schlangen konnte keinen Zusammenhang zwischen Viruspräsenz und Erkrankung aufzeigen. Retroviren, besonders Endogene Retroviren, sind bei Amphibien und Reptilien häufig zu finden, auch Genomsequenzen von Endogenen Retroviren des C-Typs sind bei Reptilien weit verbreitet. Obwohl Retroviren bei Schlangen in der Lage sind, Tumorerkrankungen auszulösen, können diese Viren auch ohne eine krankheitsauslösende Bedeutung in Zellen gesunder Pythons beobachtet werden. Gegen ein Retrovirus als Erreger der BIBD spricht zusätzlich, dass für diese Viren die Bildung großer zytoplasmatischer Einschlusskörperchen untypisch ist. Die Suche nach einem Erreger erfuhr 2012 eine neue Wendung, als bei erkrankten Abgottschlangen und Ringelboas zwei Viren und eine weitere inkomplette virale Genomsequenz identifiziert wurden, die aufgrund ihrer Sequenzähnlichkeit und ihrem Genomaufbau der Familie Arenaviridae zugehörig erschienen. Dies gelang mit einer moderneren Methode, der Metagenomanalyse und Sequenzierung mit einer Deep-Sequencing-Technik. Dies war der erste Nachweis von Arenaviren außerhalb von Säugetieren als Wirt. Die neuentdeckten Virusisolate wurden Golden-Gate-Virus (GGV) und California-Academy-of-Sciences-Virus (CASV) benannt. Innerhalb der Arenaviridae sind die beiden Viren deutlich von den bisherigen Gattungen verschieden, unter anderem sind die viralen Glykoproteine der Virushülle jenen der Filoviridae ähnlicher als den bisher bekannten Arenaviren. Eine weitere Arbeitsgruppe bestätigte unabhängig hiervon kurz darauf die Ergebnisse in erkrankten Abgottschlangen, in primären Zellkulturen und durch Strukturanalysen der Virionen. Sie fanden ein weiteres, dem GGV und CASV sehr ähnliches Arenavirus, das Universität-Helsinki-Virus (UHV). Eine weitere Studie identifizierte im gleichen Jahr das Boa-Arenavirus NL B3 (jetzt ROUT-Virus genannt), das auf der Basis von Sequenzvergleichen dem UHV am nächsten steht. Als neu zu schaffende Virusgattung schlugen die Entdecker des UHV die Virusgruppe der Boid Inclusion Body Disease-associated Arenaviruses (BIBDAV) vor, durch das International Committee on Taxonomy of Viruses wurde die neue Gattung jedoch als Reptarenavirus in die Taxonomie aufgenommen. Nach einer Aufreinigung des 68 kDa-Proteins (IBD-Protein) aus infizierten, primären Schlangenzellkulturen und einer darauf folgenden Proteinanalyse mittels Massenspektrometrie (MALDI-TOF), wurde es als virales Nukleoprotein von Reptarenaviren identifiziert. Es liegt mit seiner Größe im Bereich der Nukleoproteine anderer Arenaviren (63 bis 68 kDa), die ebenfalls an Membranen zusammengelagert im Zytosol vorliegen und mit der Replikation der viralen RNA assoziiert sind. Neben dieser Funktion als wichtiger Bestandteil des Replikationskomplexes (Viroplasma) macht das Nukleoprotein auch mit etwa 70 % die Hauptmasse der Virionen aus. Es ist wie alle viralen Nukleo- und Kapsidproteine basisch, was die lange bekannte eosinophile, basophile Eigenschaft der Einschlusskörperchen erklärt. Viele weitere neue Arenaviren konnten 2015 in Abgottschlangen identifiziert und mit der BIBD in Verbindung gebracht werden. Darunter waren das Universität-Gießen-Virus (UGV), Tavallinen-Suomalainen-Mies-Virus (TSMV), Hans-Kompis-Virus (HKV) und Suri-Vanera-Virus (SVaV), die alle den neuen Viren in der Gattung Reptarenavirus sehr ähnlich sind. Ein Virus, das Haartman-Institut-Schlangenvirus (HISV), fügte sich aufgrund der Sequenzanalyse jedoch nicht in diese Gattung und daher wurde vom ICTV in für diese Spezies eine weitere neue Gattung Hartmanivirus (sic!) in der Familie Arenaviridae eingerichtet. Von diesen Viren wurde jedoch nur das große der beiden Genomsegmente, das L-Segment, zur Sequenzanalyse herangezogen. Ob diese einzelnen Viren alle als eigene Arten oder nur Unterarten oder Subtypen angesprochen werden können, ist nicht abschließend geklärt. Im Vergleich zu anderen Virusinfektionen ist der Befund ungewöhnlich, dass bei Tieren mit BIBD immer eine Mischung verschiedener Reptarenaviren oder mehrere abweichende Varianten einer Virusart gleichzeitig isoliert werden. Eine Untersuchung zur Varianz, Verteilung und Übertragung dieser Viren belegte verschiedene Mechanismen, die die beobachtete Variabilität erklären können. Dazu gehört ein Reassortment der beiden arenaviralen RNA-Segmente, eine intrasegmentale Rekombination zwischen gleichen Segmenten verschiedener Virusisolate und eine hohe Mutations- und Replikationsrate im neu infizierten Tier. Nach natürlicher Kontaktübertragung von einer erkrankten auf eine nichtinfizierte Schlange war im neuinfizierten Tier zunächst ein einheitlicher Virusstamm nachweisbar, der sich innerhalb weniger Wochen bis zum Ausbruch der Erkrankung in mehrere, deutlich verschiedene Virusstämme aufspaltete. Bei allen untersuchten Tieren wurden insgesamt 23 unterschiedliche Genotypen des L-Segments und 11 des S-Segments identifiziert, wobei stets nur ein S-Segment-Genotyp in einem einzelnen Tier wie auch in einer bestimmten Population von Schlangen vorherrschend war. In der überwiegenden Zahl der Fälle (77 % der Infektionen) wurde der S-Genotyp 6 nachgewiesen, der eine besonders hohe Replikationsrate oder einen optimierten Zelleintritt aufweisen könnte. Das Ausmaß der hier vorliegenden Diversität der Virusstämme und die Geschwindigkeit ihrer Neukombination ist von anderen Virusinfektionen bei Tieren und Menschen nicht bekannt. Ursprung der viralen Erreger Die Haltung von Riesenschlangen in Zoologischen Gärten und Wandermenagerien ist in Europa und Amerika seit dem 19. Jahrhundert bekannt, die häusliche Haltung in Terrarien von Privatleuten ist seit den 1950er Jahren zunehmend verbreitet. Trotz der langen Geschichte der Schlangenhaltung wurde vor dem Ende der 1970er Jahre von keiner Erkrankung berichtet, die dem tödlichen und charakteristischen Verlauf der BIBD ähnlich wäre. Neben dem Neuauftreten einer bis dahin unbekannten Erkrankung sprechen ebenfalls virologische Eigenschaften dafür, dass die Infektion durch ein Überspringen der Erreger von einem noch unbekannten natürlichen Wirt auf in Gefangenschaft gehaltene Riesenschlangen erfolgte. Typisch für den Krankheitsverlauf eines in einer Tierpopulation neu auftretenden Virus ist seine oft noch nicht optimierte Übertragungsfähigkeit (geringe Kontagiosität), ein schwerer Krankheitsverlauf oder eine hohe Letalität sowie eine hohe Variabilität der Erreger im neuen Wirt. Begünstigt wird die Anpassung an einen neuen Wirt besonders durch eine erhöhte Populationsdichte der Wirte, die die Wahrscheinlichkeit mehrerer Übertragungen des Erregers zwischen den neuen Wirten auch bei Abwesenheit der ursprünglichen Infektionsquelle entscheidend erhöht. Diese Zirkulation innerhalb der neuen Wirtspopulation kann zu einer Verbesserung der Übertragungs- und Replikationsfähigkeit (replicative fitness) neuer Viren führen und die Infektion damit dauerhaft in der neuen Wirtsspezies etablieren. Diese auch als viral traffic bezeichnete Zirkulation ist entscheidend bei der Etablierung neuer, sogenannter Emerging Viruses („neu entstehende Viren“). Durch die Intensivierung des Tier-Tier-Kontaktes in Gefangenschaft größerer Tiergruppen kann neuen Erregern eine günstigere Gelegenheit zur Zirkulation geboten werden als unter natürlichen Bedingungen, da freilebende Riesenschlangen Einzelgänger sind. Die wichtigsten Beispiele für einen solchen Wirtsübergang beim Menschen sind die Humanen Immundefizienzviren, die Henipaviren, das Influenza-A-Virus H5N1 oder das MERS-Coronavirus, beim Haustier das Canine Parvovirus 2. Arenaviren wie das Lassa-Virus oder das Lymphozytäre-Choriomeningitis-Virus (LCMV) sind aufgrund ihrer genetischen Variabilität und ihrer geringen Wirts- und Zellspezifität (Tropismus) für artübergreifende Infektionen bekannt. Beim Lassa-Virus sind Übertragungen von Nagetieren auf den Menschen möglich, wenn die Nagetiere der Ernährung dienen, so dass auch ein Übergang der neuen Arenaviren durch gefütterte Nagetiere auf die Riesenschlangen möglich erschien. Die bei der BIBD isolierten Arenaviren können sich aufgrund des gering ausgeprägten Tropismus nicht nur in Zellkulturen mit Schlangen-Zelllinien vermehren, sondern auch in Säugetierzellen. Bei dieser Vermehrung des Universität-Helsinki-Virus (UHV) in Vero-Zellen (aus Grünen Meerkatzen) und in menschlichen A549-Zellen passte sich das Virus bereits nach drei Passagen an die neuen Zellen an und erhöhte seine Replikationsrate. Überraschend war der Umstand, dass die Vermehrung des UHV in Schlangen- und Säugetierzellen bei 37 °C vollständig gehemmt wird, während bei 30 °C optimale Vermehrungsbedingungen herrschen. Daraus kann gefolgert werden, dass diese Viren in ihrer Vermehrungsfähigkeit auf die Körpertemperatur von wechselwarmen Tieren wie Reptilien und Amphibien adaptiert sind. Dies würde, ebenso wie die erheblichen Unterschiede zwischen den Reptarenaviren und den bekannten Arenaviren in Säugetieren (besonders Nagetieren) im sogenannten Z-Protein und der Hüllproteine, eine Herkunft der BIBD-assoziierten Viren von anderen Säugetieren unwahrscheinlich erscheinen lassen. Als mögliche Quelle kommt theoretisch ein Eintrag über freilebende Riesenschlangen oder andere Schlangenarten in Betracht, bei denen ursprüngliche Reptarenaviren adaptiert sind und keine Infektionskrankheit auslösen, bei ihnen die Infektion also klinisch nicht erkannt wird. Ebenso sind andere Reptilien oder Amphibien, die bei der menschlichen Tierhaltung in nicht-natürlichen Kontakt mit Riesenschlangen kommen, als ursprünglicher Wirt denkbar. Der Nachweis von häufigen Reassortments und Rekombinationen des Virusgenoms lässt die Vermutung zu, dass die pathogenen Reptarenaviren am ehesten durch Neukombination ursprünglich nicht-pathogener Viren bei freilebenden Riesenschlangen entstanden. Dies würde durch einen unnatürlich dichten Tierkontakt in der Haltung und das beständige Einbringen freilebender Tiere mit natürlich vorkommenden und bei Züchtern sehr beliebten Farbvarianten der Schuppenhaut (sogenannter color morphs) begünstigt. Die in der Natur möglicherweise vorkommenden Reptarenaviren könnten derselben, geographisch unterschiedlich verlaufenden Koevolution zwischen Reservoirwirt und Schlangenvirus unterliegen, wie dies von anderen Arenaviren bekannt ist und damit die Variabilität neuer Reptarenaviren durch Neukombination erhöhen. Nach Zusammenführung der Tiere in der Gefangenschaft können aus den geographisch unterschiedlichen Varianten schließlich neue, pathogene Reptarenaviren entstehen. Übertragung Der hauptsächliche Übertragungsweg ist noch nicht ausreichend geklärt. Sehr wahrscheinlich kommen eine direkte Schmierinfektion von Tier zu Tier und eine indirekte Übertragung durch kontaminierte Gegenstände und Hände beim Umgang mit den Schlangen in Betracht. Eine Übertragung von Muttertier zu Jungtier wird bei Boas vermutet, wobei unklar ist, ob ein enger Kontakt hierfür ausreicht oder eine echte vertikale Infektion eine Rolle spielt. Ausscheidungen wie Speichel und Erbrochenes erkrankter Tiere gelten als potentiell infektiös. Da die Ausbreitung innerhalb einer Tiergemeinschaft vergleichsweise langsam geschieht, wird eine Übertragung über die Luft als wenig wahrscheinlich angesehen. Auch weist die langsame Übertragung auf eine nicht sehr hohe Kontagiosität des Erregers hin. Auffällig ist ein gehäuftes Vorkommen der BIBD in Haltungen, die mit der blutsaugenden Schlangenmilbe Ophionyssus natricis befallen sind. Dies führte zu der Vermutung, dass diese Ektoparasiten an der Übertragung zumindest beteiligt sein könnten. Ein Beweis für diese Vermutung, beispielsweise durch Nachweis der Viren im Parasit oder durch experimentelle Übertragung, wurde bislang (Stand 2016) nicht erbracht. Da beide, die BIBD und der Befall mit Schlangenmilben, durch unsaubere Tierhaltungen begünstigt werden, könnte dies die beobachtete Koinzidenz ebenfalls erklären. Die Erkrankung kann experimentell auf Schlangen übertragen werden, wenn ultrafiltrierter Zellkultur-Überstand von primären Zellkulturen aus Gewebe erkrankter Schlangen einem Versuchstier injiziert wird. Eine Übertragung mit zentrifugierten, zellfreien Organsuspensionen einer erkrankten Abgottschlange (Boa constrictor) auf Tigerpythons ist experimentell möglich. Es gibt keinen Hinweis auf eine Übertragung der Reptarenaviren auf den Menschen. Vorkommen Die BIBD kommt nur bei Boas und Pythons vor, wobei die Häufigkeit bei Boas ungleich höher ist. Umfassende Untersuchungen zur Prävalenz liegen noch nicht vor, lediglich die Untersuchung unterschiedlich großer, meist gemeinsam in einer Einrichtung gehaltener Tiergruppen ist publiziert. Eine Post-mortem-Untersuchung in den USA wies eine Prävalenz von mehr als 33 % bei verschiedenen Unterarten der Abgottschlange und 28 % bei der Ringelboa (Corallus annulatus) auf, während die BIBD in den untersuchten 301 Pythons nicht nachgewiesen wurde. Sehr gering war die Prävalenz bei bodenlebenden Riesenschlangen (Acrantophis spp., Epicrates spp. und Eunectes spp.). Eine Untersuchung des Veterinäruntersuchungsamtes Ostwestfalen-Lippe konnte bei der Sektion von 575 Boidae nur bei 2 % der untersuchten Pythons, jedoch bei 47 % der Boas BIBD-typische histologische Veränderungen nachweisen. Bei einer Untersuchung von 100 lebenden und klinisch zunächst unauffälligen Schlangen aus 14 verschiedenen Haltungen in Deutschland, fand sich eine BIBD bei 3 von 32 Abgottschlangen, 2 von 16 Tigerpython und 1 von 4 Netzpython. Nachdem die Infektion als eigenständige Erkrankung beschrieben war, wurde sie zunächst am häufigsten beim Dunklen Tigerpython (Python molurus bivittatus) festgestellt. Die BIBD wurde dann 1998 in gefangenen Rautenpythons (Darwin-Teppichpython Morelia spilota variegata und Diamantpython Morelia spilota spilota) in Australien, in Abgottschlangen (Boa constrictor) auf den Kanarischen Inseln und in Belgien nachgewiesen. Weitere Fälle von BIBD wurden in den 2000er Jahren in verschiedenen weiteren Arten beschrieben: Große Anakonda (Eunectes murinus), Gelbe Anakonda (Eunectes notaeus), Regenbogenboa (Epicrates cenchria), Haiti-Boa (Epicrates striatus), Nördliche Madagaskarboa (Acrantophis madagascariensis), Heller Tigerpython (Python molurus molurus), Netzpython (Python reticulatus) und Königspython (Python regius). Aufgrund des weltweiten Austauschs und Handels mit Riesenschlangen, was zu einer unerkannten Ausbreitung der Infektion führt, ist mittlerweile weltweit bei jeder entsprechenden Haltung der Tiere ein Auftreten der BIBD möglich. Die BIBD wurde bisher nur bei Riesenschlangen beobachtet, die in Gefangenschaft gehalten wurden. Ob diese Erkrankung auch bei freilebenden Schlangen vorkommt ist unklar. Sehr ähnliche histologische Veränderungen mit gleichem letalem Verlauf wurden bei einer Gruppe von Marchs Palmlanzenottern (Bothriechis marchi) und einer Kettennatter (Lampropeltis getula) beobachtet, wobei die eindeutige Zuordnung zur identischen oder einer nur BIBD-ähnlichen Infektionskrankheit noch aussteht. Die elektronenmikroskopische Untersuchung bei diesen Tieren zeigte eine zur BIBD abweichende Morphologie der Zelle und der Einschlusskörperchen. Krankheitsverlauf Klinische Symptomatik Die Infektion ist zunächst asymptomatisch, der Ausbruch der Erkrankung nach einer wochen- oder meist monatelangen Inkubationszeit beginnt mit unspezifischen Zeichen wie Passivität, Rückzugsverhalten oder geringer Nahrungsaufnahme (Inappetenz) der Tiere. Bei Boas ist eine ständig wiederkehrende Regurgitation von Mageninhalt mehrere Tage nach der Nahrungsaufnahme oft das erste spezifischere Anzeichen einer BIBD. Ihr folgt oft eine vollständige Verweigerung der Nahrungsaufnahme (Anorexie) und manchmal eine irreguläre, häufige Häutung. Nach wenigen Wochen treten auffällige neurologische Symptome als Zeichen einer Infektion des Zentralnervensystems (ZNS) hinzu, die zusammen mit den Regurgitationen als typisch für die BIBD angesehen werden. Dazu gehören eine eingeschränkte räumliche Orientierung (Desorientiertheit), ein Tremor des Kopfes, Ataxie, schlaffe Lähmungen, untypisch verschlungene Körperhaltungen mit starrer, abgeknickter Kopfhaltung und ein Opisthotonus mit Krämpfen der Muskulatur. Sehr charakteristisch ist eine Haltung in teilweiser Rückenlage und die Unfähigkeit, sich aus einer Rückenlage wieder in die natürliche Bauchlage zu bewegen. Letzteres wird auch als klinisches Zeichen bei einer tierärztlichen Untersuchung genutzt. Die neurologischen Störungen machen es der Schlange unmöglich, ihre Beute zu erwürgen. Der Tod tritt bei Boas mehrere Wochen nach dem Auftreten der ersten klinischen Erkrankungszeichen ein, teilweise aber auch erst nach Monaten. Pythons zeigen keine Regurgitationen, jedoch häufig eine Anorexie. Im Gegensatz zu Boas erscheinen die neurologischen Symptome früher und schwerer in ihrer Ausprägung. Typisch sind bei Pythons das Sternendeuterphänomen (star-gazing), bei dem der Kopf starr nach oben gerichtet ist, das Umkippen des Kopfes, einzeln auftretende Krampfanfälle und eine Lähmung der hinteren Körperhälfte. Der klinische Verlauf bei Pythons ist insgesamt rascher, so dass der Tod wenige Wochen nach Erkrankungsbeginn eintritt. Zu den neurologischen Symptomen bei allen Riesenschlangen treten als Zeichen einer virus-induzierten Immundefizienz weitere Symptome, die meist durch Koinfektion mit zusätzlichen (eventuell opportunistischen) bakteriellen und viralen Erregern verursacht werden. Dazu gehören eine Pneumonie, eine ulzerierende Stomatitis (Maulfäule der Schlangen), eine nekrotisierende, multifokale Dermatitis, bakterielle Granulome in Leber und Niere und Osteophyten der Wirbelkörper. Die virus-induzierte Immundefizienz zusammen mit der früheren Annahme einer retroviralen Infektion, führten zu der irreführenden populärwissenschaftlichen Bezeichnung Boa-AIDS oder Schlangen-AIDS für die BIBD. Auch Gewebswucherungen und Tumorerkrankungen werden bei einer BIBD beobachtet. So sind Sarkome der Haut und eine Leukämie bei der BIBD beobachtet worden. Nach der Identifizierung der BIBD-assoziierten Arenaviren wurde aus dem Tumorgewebe eines Fibromyxoms einer an BIBD erkrankten Abgottschlange ein Virus isoliert, das wahrscheinlich ein Subtyp des California-Academy-of-Sciences-Virus darstellt. Laborbefunde Bei akut infizierten Tieren in der Anfangsphase der Erkrankung können bei der Untersuchung klinisch-chemischer und hämatologischer Parameter Auffälligkeiten bestehen, die insgesamt aber nicht spezifisch für die Erkrankung und damit diagnostisch nicht wegweisend sind. Dazu gehören als allgemeine Entzündungsparameter eine Erhöhung der Leukozytenzahl im Blut (Leukozytose) und eine prozentuale Erhöhung des Lymphozytenanteils (relative Lymphozytose). Als Anzeichen für eine Beteiligung der Leber sind erniedrigte Werte für das Gesamtprotein und für die Globuline im Serum, sowie erhöhte Aspartat-Aminotransferase-Konzentrationen im Serum messbar. Besonders letzteres ist bei chronischen Verläufen nicht in diesem Ausmaß zu beobachten. Diagnostik Histologische Diagnostik Die Diagnose einer BIBD kann durch histologische Untersuchungen von Gewebeproben, Gewebeabstrichen der Mundschleimhaut und Heparin-Vollblut gestellt werden. Bei lebenden Tieren können Leberbioptate oder Gewebeproben aus Drüsengewebe (Bauchspeicheldrüse) verwendet werden, deren Gewinnung in Vollnarkose jedoch nicht risikoarm und sehr aufwändig ist. Die ösophagealen Tonsillen sind bei Riesenschlangen gut ausgeprägt und endoskopisch für eine Biopsie leichter zugänglich. Zur Beurteilung werden die fixierten und geschnittenen Gewebeproben mit der HE- oder Wright-Giemsa-Färbung angefärbt. Der mikroskopische Nachweis der typischen eosinophilen Einschlusskörperchen in Leber, Drüsengewebe, Blutlymphozyten weist auf eine BIBD hin. Nur bei Boas, nicht jedoch bei Pythons, können Einschlusskörperchen auch in Erythrozyten nachgewiesen werden und dies oft schon vor Ausbruch der Erkrankung. Zur Untersuchung wird bei Schlangen heparinisiertes Blut aus den Mundvenen oder durch Herzpunktion entnommen. Das Fehlen dieser Anzeichen bei einer Gewebe- oder Blutuntersuchung schließt eine Infektion jedoch prinzipiell nicht aus. Die Erkrankung kann durch eine Sektion toter Tiere zweifelsfrei nachgewiesen werden, wobei die typischen histologischen Anzeichen neben anderen Organen vor allem in Hirn-, Leber- und Bauchspeicheldrüsengewebe zu finden sind. Virologische Diagnostik Ein direkter Erregernachweis von Reptarenaviren in Gewebeabstrichen und Gewebeproben mittels PCR kann versucht werden, die Aussagekraft eines solchen Nachweises in der Praxis ist derzeit noch nicht ausreichend erprobt (Stand 2016). Der negativ prädiktive Wert einer PCR auf arenavirale RNA insbesondere bei lebenden Tieren ist noch unklar. Für Forschungszwecke kann eine Virusanzucht und Identifizierung in der Zellkultur erfolgen. Ein serologischer Test zum Nachweis spezifischer Antikörper steht für die Routinediagnostik noch nicht zur Verfügung. Antikörper gegen das in den Einschlusskörperchen überwiegend vorkommende p68-IBD-Protein erreichten in serologischen Tests bei einer Studie mit 93 Tieren eine Spezifität von 100 % und eine Sensitivität von 83 %. Experimentell konnte Reptarenaviren-spezifisches Anti-IgM und Anti-IgY (dem Pendant zu IgG bei Reptilien) isoliert und zur Herstellung von Antikörpern für serologische Nachweise im Immunblot oder der direkten Immunfluoreszenztestung hergestellt werden. Differentialdiagnosen Das klinische Bild einer Regurgitation (bei Boas) verbunden mit neurologischen Symptomen weist auf eine BIBD hin, jedoch können auch andere Erkrankungen mit ähnlichen Symptomen auftreten und kommen daher differentialdiagnostisch in Betracht. Eine Regurgitation kann bei verschiedenen anderen Infektionskrankheiten der Schlangen beobachtet werden, so einer Infektion des Verdauungstraktes mit Amöben, Trichomonaden, Coccidien, Kryptosporidien, verschiedene Wurminfektionen mit Fadenwürmern oder einer bakteriellen Gastritis, Enteritis und Stomatitis. Erbrechen von angedauter Nahrung ist ein häufiges Symptom bei Vergiftungen. Bei einer Vergiftung mit Phosphorsäureestern, die unter anderem zur Bekämpfung der Schlangenmilben eingesetzt werden, ist das Erbrechen mit neurologischen Symptomen verbunden. Erbrechen ist bei einer Sepsis, einer Tumorerkrankung, einer zu hohen Umgebungstemperatur oder als Folge einer Gewalteinwirkung durch falsche Handhabung der Tiere ein häufiges Symptom. Die neurologischen Symptome treten auch bei einer Enzephalitis viraler, bakterieller oder parasitärer Genese auf. Die wichtigsten Differentialdiagnosen sind eine Infektion mit Paramyxoviren (Schlangen-Paramyxoviren ATCC-VR-1408 und -1409), die neurologische und respiratorische Symptome aufweisen kann, sowie Krampfanfälle kombiniert mit gastrointestinalen Symptomen bei einer invasiven Infektion mit Entamoeba invadens oder Acanthamoeba-Arten. Therapie und Prophylaxe Eine spezifische antivirale Therapie gegen Reptarenaviren ist nicht verfügbar, eine symptomatische Behandlung der neurologischen Störungen ist ebenfalls nicht möglich. Die aktive Fütterung der nicht mehr selbständig zur Nahrungsaufnahme fähigen Tiere und eine Zuführung von Flüssigkeit kann in einigen Fällen den Allgemeinzustand verbessern, ein Fortschreiten der Infektion wird dadurch nicht beeinflusst. Bei erkrankten Tieren mit einer eindeutigen histologischen Diagnose wird eine Tötung empfohlen, die bei Schlangen mit der intrakardialen oder intrazölomatischen Gabe von Pentobarbital oder T61 durchgeführt werden kann. Die Tötung verhindert ein langsames Verhungern durch die bei der BIBD auftretenden neurologischen Lähmungen. Infizierte, aber noch nicht erkrankte Boas, können unter strikter Isolation gehalten werden. Da auch eine Impfung als Dispositionsprophylaxe nicht zur Verfügung steht, beschränken sich die Maßnahmen auf die Eindämmung der Weiterverbreitung der Infektion im Sinne einer Expositionsprophylaxe. Dies sind eine hygienische Tierhaltung mit Desinfektion der Kontaktoberflächen, der Geräte (Fangzangen) und der Hände nach Kontakt mit dem Tier und insgesamt saubere Haltungsbedingungen. Da die Reptarenaviren eine Virushülle besitzen, genügen Desinfektionsmittel mit begrenzter Viruzidie. Diese Maßnahmen mindern zusätzlich das Risiko für einen Befall mit Schlangenmilben, die als mögliche Überträger der BIBD noch nicht ausgeschlossen werden können. Vor Einbringung eines neuen Tieres in eine gemeinsame Haltung ist – unabhängig von einer diagnostizierten Erkrankung oder einer Herkunft aus einer vorgeblich BIBD-freien Zucht – eine strikte Quarantäne von minimal drei bis besser sechs Monaten einzuhalten, wobei bei Boas aufgrund der langsameren Krankheitsentwicklung stets sechs Monate empfohlen werden. Eine Quarantäne von sechs Monaten bietet einen als ausreichend angesehenen Sicherheitszeitraum bei der sehr variablen Inkubationszeit. Literatur J. Schumacher et al.: Inclusion Body disease in Boid Snakes. Journal of Zoo and Wildlife Medicine (1994) 25, 4: S. 511–524 Petra Kölle (Hrsg.): Heimtier und Patient: Echsen und Schlangen. Stuttgart (Enke) 2015, S. 215 f., ISBN 978-3-83-041224-3 D. Vancraeynest et al.: Inclusion body disease in snakes: a review and description of three cases in boa constrictors in Belgium. Vet. Rec. (2006) 158(22): S. 757–760 PMID 16751310 L-W. Chang und E.R. Jacobson: Inclusion Body Disease, A Worldwide Infectious Disease of Boid Snakes: A Review. Journal of Exotic Pet Medicine (2010) 19(3): S. 216–225 (PDF) Weblinks Abbildungen auf Researchgate (aus: L-W. Chang und E.R. Jacobson, 2010) Boa constrictor in verdrehter, auffälliger Körperhaltung bei einer BIBD Einschlusskörperchen in Neuronen und Gliazellen einer Boa constrictor bei BIBD Einschlusskörperchen in peripheren Lymphozyten und Erythrozyten einer erkrankten Boa constrictor The Joint Pathology Center (Silver Spring, Maryland, USA) Fallbeschreibungen mit vollständigen histologischen Präparaten: Slide Conference Nr. 11, 2012: Fallbeschreibung mit Präparat eines Blutausstrichs, Boa constrictor imperator mit BIBD Slide Conference Nr. 24, 2009: Fallbeschreibung und mikroskopisches Präparate (Leber) einer erkrankten Boa constrictor Einzelnachweise Virale Infektionskrankheit bei Tieren Reptilienkrankheit
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https://de.wikipedia.org/wiki/Carlton-Club-Treffen%20%281922%29
Carlton-Club-Treffen (1922)
Das Carlton-Club-Treffen von 1922 war ein Treffen der Parlamentsabgeordneten der britischen Conservative Party (Konservative Partei) am 19. Oktober 1922. Es fand im namensgebenden Carlton Club statt. Anlass war eine offene Diskussion um die Frage, ob die Partei die Koalitionsregierung mit dem von David Lloyd George geführten Teil der Liberal Party (Liberale Partei) über die nächste Unterhauswahl hinaus fortsetzen oder beenden solle. Während die Parteiführung um Austen Chamberlain für eine Fortführung der Koalition eintrat, machte sich eine Hinterbänkler-Gruppe um Andrew Bonar Law und Stanley Baldwin dafür stark, die anstehende Unterhauswahl als unabhängige Kraft zu führen. Die Hinterbänkler konnten sich durchsetzen und erzwangen so ein Ende der Koalition. Lloyd George trat daraufhin als Premierminister zurück, die Konservativen dagegen bildeten eine Regierung unter ihrem neuen Vorsitzenden Bonar Law. Das Treffen hatte weitreichende Auswirkungen. Lloyd George, der die letzten Jahre die politische Bühne Großbritanniens dominiert hatte, hielt nie wieder ein politisches Amt. Eine mögliche Spaltung der Konservativen wurde dagegen ebenso verhindert wie die von Lloyd George, Lord Birkenhead und Winston Churchill betriebene Fusion aus moderaten Konservativen und Liberalen zu einer neuen Zentrumspartei. In der britischen Parteienlandschaft, in der sich aufgrund des Mehrheitswahlrechts traditionell zwei Parteien als Antipoden gegenüberstehen, bildete sich für die nächsten Jahre ein unbeständiges Dreiparteiensystem heraus, bestehend aus Konservativen, Liberalen und der Labour Party (Arbeiterpartei), wobei die Liberalen in dieser Phase als Gegenspieler der Konservativen schrittweise von der aufstrebenden Labour-Partei abgelöst wurden. Das Carlton-Club-Treffen ist auch in der heutigen politischen Berichterstattung britischer Medien präsent und wird regelmäßig zitiert, um die Macht der konservativen Hinterbänkler herauszustreichen. Hintergrund Seit ihrer klaren Niederlage bei der Unterhauswahl von 1906 hatte sich die Konservative Partei in jahrelanger Opposition befunden. Die sozialen Reformgesetze der regierenden Liberalen, die maßgeblich von Premierminister H. H. Asquith und seinem Schatzkanzler David Lloyd George vorangetrieben wurden, trafen auf den heftigen Widerstand der Konservativen. Vor allem das sogenannte „Volksbudget“ (ein Gesetzespaket mit umfangreichen Steuern auf Landeigentümer, um soziale Maßnahmen zu finanzieren), der nachfolgende Parliament Act 1911, der das Veto-Recht des konservativ dominierten Oberhauses (House of Lords) radikal beschnitt und die andauernde Home-Rule-Frage über die irische Selbstverwaltung sorgten für erbitterte Auseinandersetzungen. Die Konservativen vertraten die Interessen der Landbesitzer und definierten sich traditionell als entschiedene Gegner der irischen Selbstverwaltung – so nannten sie sich auch, um dies auszudrücken, ab 1912 offiziell die „Conservative and Unionist Party“. Die erbitterten Konflikte um das Veto-Recht des Oberhauses hatten schließlich auch zu innerparteilichen Verwerfungen der Konservativen geführt; eine Gruppe um Lord Halsbury forderte (erfolglos) eine totale Opposition um jeden Preis. Dieser rechte Flügel wurde wegen seiner kompromisslosen Haltung als „Ditchers“ oder auch als „Die-hards“ (abgeleitet aus der englischen Redewendung die in the last ditch, deutsch etwa Kampf bis zum bitteren Ende) bezeichnet. Die Halsbury-Gruppe konnte die Verabschiedung des Parliament Act nicht verhindern, agitierte jedoch erfolgreich gegen den aus ihrer Sicht allzu zögerlichen Parteiführer Arthur Balfour, der im November 1911 zurücktrat. Sein Nachfolger wurde Andrew Bonar Law. Der Beginn des Ersten Weltkriegs im August 1914 hatte zunächst zu einem Stillhalteabkommen in der Parteipolitik geführt, um nationale Einigkeit zu demonstrieren. Die Konservativen selbst bezeichneten dies als „patriotische Opposition“. Angesichts sich mehrender militärischer Niederlagen und wiederholter Rückschläge war dieses Abkommen jedoch zunehmend an seine Grenzen gestoßen. Vor allem die von Winston Churchill unnachgiebig betriebene „Dardanellenstrategie“ mit dem Ziel, das Osmanische Reich aus dem Krieg zu drängen und damit einen sicheren Seeweg zum Verbündeten Russland zu schaffen, war umstritten; die daraus resultierende fatale und verlustreiche Schlacht von Gallipoli hatte zu heftigen Auseinandersetzungen und schließlich zum Rücktritt des Ersten Seelords John Arbuthnot Fisher geführt. Dies und die sogenannte Munitionskrise von 1915 (ein Mangel an Artilleriegeschossen bei den britischen Truppen an der Westfront) sorgte auch für heftige Kritik der britischen Presse. Eine weitere Alleinregierung der Liberalen und ein Stillhalten der konservativen Opposition war unter diesen Umständen zunehmend unmöglich geworden. Deshalb wurde 1915 eine Koalition zwischen den von Premierminister Asquith geführten Liberalen und den Konservativen um ihren Parteiführer Andrew Bonar Law gebildet. Dazu wurde diese Regierung von Teilen der Labour-Partei unterstützt – obwohl Teile der Labour-Partei der Regierung fernblieben, da sie nicht ihre pazifistische Überzeugung verraten wollten. Während die führenden Mitglieder der Konservativen bei der Regierungsbildung bereitwillig eigene Ambitionen zurückstellten und sich im Interesse der Sache in mehreren Fällen auch mit niederen Posten zufrieden gaben, zeigten viele Mitglieder in der Basis der Partei großen Ehrgeiz, woraus ein scharfer Wettbewerb um die wenigen zur Verfügung stehenden Posten resultierte. So wurde Bonar Law, der sich trotz seiner Rolle als konservativer Parteiführer mit dem Posten des Kolonialministers zufrieden gegeben hatte, mit Briefen geradezu bombardiert, in denen ehrgeizige Anhänger um ein subalternes Amt baten. Bis Ende 1916 war auch Premierminister Asquith ins Zentrum der Kritik gerückt; Asquith, der die Presse verachtete, lehnte es ab, sich mit ihr abzugeben und für seine Sache zu werben. Der mächtige Zeitungsmagnat Lord Northcliffe, Eigentümer von The Times und Daily Mail, arbeitete dagegen auf seine Absetzung hin. In der Presse wurde Asquith einerseits wegen seiner exaltierten Frau Margot (die einen Teil ihrer Schulzeit in Berlin verbracht hatte und auch im Krieg noch offen germanophil war), andererseits wegen seiner bekannt abwartenden Strategie, die er vormals selbst mit den Worten „Wait and see“ (Abwarten und schauen) beschrieben hatte, harsch kritisiert. Asquiths politische Gegner, zu denen Edward Carson und Alfred Milner zählten, warfen ihm Entscheidungsschwäche und Indifferenz vor; dies, andauernde langwierige Diskussionen und zahlreiche interne Intrigen machten einen schnellen Entscheidungsprozess im Kabinett unmöglich. Dagegen erwarb sich Lloyd George als Munitions- und nachfolgend als Kriegsminister eine Reputation für energisches und tatkräftiges Handeln. Mitte November 1916 fanden sich Carson, Lloyd George und Bonar Law zusammen und forcierten in der Folge eine Petition: Ein kleineres Kriegskabinett, bestehend aus vier Personen mit Lloyd George an der Spitze, sollte gebildet werden, Asquith diesem dagegen nicht angehören. Asquith weigerte sich, dies zu akzeptieren, woraufhin Lloyd George seinen Rücktritt einreichte. Da Bonar Law jedoch Lloyd George unterstützte und den Rücktritt aller konservativen Minister androhte, sah Asquith keine andere gangbare Option mehr und trat von seinem Amt zurück. Diese Entscheidung führte zur Spaltung der Liberalen Partei. Während der als Premierminister verdrängte Asquith mit seinen Anhängern in die Opposition ging, verblieb ein (kleinerer) Teil der Liberalen unter dem neuen Premierminister Lloyd George in der Koalition. Die „Coupon-Wahl“ 1918 Diese Koalition gewann die Britische Unterhauswahl 1918, bei der erstmals allen Männern über 21 Jahren und Frauen über 30 Jahren das Wahlrecht gewährt worden war. Diese Wahl wird auch als „Coupon-Wahl“ bezeichnet – da die Regierung zuvor Schreiben (coupons) an bestimmte Politiker der Liberalen und Konservativen gesandt hatte, die sie als Anhänger der bestehenden Koalition auswies. Dies verschärfte die bereits bestehende interne Spaltung der Liberalen Partei und versetzte ihr einen schweren Schlag. Die Koalitionsregierung gewann bei der Wahl eine deutliche Mehrheit mit den Konservativen als Hauptgewinner, die Liberalen unter Asquith schrumpften dagegen zu einer Rumpfpartei. Auch die Koalitionsliberalen befanden sich nun deutlich in der Minderheit; die Koalition bestand zu drei Vierteln aus Konservativen und einem Viertel aus Liberalen auf der Seite Lloyd Georges, während Asquiths Liberale von der aufstrebenden Labour-Partei als die führende Oppositionspartei abgelöst worden waren. Diese hatte nach Beendigung des Krieges ebenfalls die Koalition verlassen. In Irland gewann die radikale Partei Sinn Féin, die für die Loslösung Irlands aus dem Vereinigten Königreich eintrat und keine Abgeordneten nach Westminster entsandte, auf Kosten der moderaten Irish Parliamentary Party erstmals 73 Sitze. Die Irish Parliamentary Party, die seit vielen Jahren im Unterhaus mit den Liberalen alliiert war, wurde bei der Wahl nahezu ausgelöscht. Die schwierige Lage der Liberalen hatte sich auch durch die fällige Neuaufteilung der Wahlkreise verschärft, die der neuen Bevölkerungsverteilung Rechnung trug. Zahlreiche Sitze, in denen die Liberalen traditionell gewonnen hatten, waren aufgelöst und dafür mehrere neue Sitze mit einer konservativen Mehrheit kreiert worden. Im Ganzen stieg die Zahl der Abgeordneten im Unterhaus um 37 an; die neue Aufteilung gab den Konservativen dabei in den Landesteilen England, Schottland und Wales insgesamt 28 neue Sitze im Unterhaus verglichen mit der letzten Unterhauswahl im Dezember 1910, während Liberale und Labour gemeinsam auf nur insgesamt 8 neue Sitze kamen. Das neue Parlament unterschied sich jedoch nicht nur in seiner relativen Parteienstärke erheblich von seinem Vorgänger, auch die personelle Zusammensetzung der Parteien – insbesondere auch der Konservativen – hatte sich substantiell verändert. Stark vertreten in der konservativen Unterhausfraktion waren nun Geschäftsleute, die ihren Wohlstand oftmals auch dem Krieg verdankten. Der konservative Politiker J. C. C. Davidson, Privatsekretär Bonar Laws und 1920 bei einer Nachwahl ins Unterhaus gewählt, schilderte Lord Stamfordham, dem Sekretär von König Georg V., dass der altmodische Gentleman vom Land und die akademischen Berufe kaum noch repräsentiert seien, dafür jedoch ein hoher Anteil an profitgierigen, nüchternen Männern nun die Reihen der konservativen Partei aufgefüllt hätte. Auch Lloyd George äußerte bei einer Gelegenheit, er habe das Gefühl, nicht mehr zum Unterhaus zu sprechen, sondern zu einer Handelskammer auf der einen und zum Trades Union Congress auf der anderen Seite. Die neue Gruppe von konservativen Parlamentsabgeordneten zeigte sich wenig kompromissbereit und tendierte dazu, wirtschaftspolitische Fragen rein aus der Arbeitgeberperspektive zu sehen. Im gesellschaftlichen Klima der Nachkriegszeit, in dem Profitmacherei angesichts der großen Opfer des Krieges stigmatisiert war und die Spannungen zwischen den gesellschaftlichen Klassen zunahmen, führte dies zu einem Ansehensverlust der Koalition in den unteren Schichten der Bevölkerung. Krisen der Koalitionsregierung Die anfängliche Dankbarkeit gegenüber David Lloyd George als „dem Mann, der den Krieg gewonnen hatte“, war schnell zunehmender Ernüchterung gewichen. Der kurze wirtschaftliche Nachkriegsboom in Großbritannien war Ende 1920 deutlich abgekühlt. Bis Mitte 1921 wuchs die Zahl der Arbeitslosen von anfänglich 300.000 auf über zwei Millionen Menschen an. Es kam zu einer Serie von Streiks von Eisenbahnern und Bergleuten, die (vor allem nach der Russischen Revolution) die Angst vor dem Bolschewismus schürten. Dies und damit verbunden die Angst vor einer stärker werdenden, möglicherweise in den radikalen Sozialismus abdriftenden Labour-Partei war einer der Hauptgründe für das zunehmend widerwillige Festhalten an der Koalitionsregierung. Die Koalition war in der Bevölkerung zunehmend unbeliebt, mehrere Nachwahlen gingen für sie verloren. Hauptgewinner war die Labour-Partei, deren Wählerschaft sich hauptsächlich aus der Arbeiterklasse speiste und die sich sukzessive als führende Oppositionspartei konsolidieren konnte. Die Liberalen dagegen blieben weitgehend ihren Ideen (wie Freihandel und Home Rule) aus dem Viktorianischen Zeitalter verpflichtet und verloren zunehmend an Boden. Viele Fehler wurden Lloyd George persönlich angelastet, gegen den die konservativen Hinterbänkler bereits seit vielen Jahren ein starkes Misstrauen hegten. Auch in den konservativen lokalen Parteiorganisationen wuchs die Unzufriedenheit. Diese Antipathie resultierte zum Teil aus Lloyd Georges führender Rolle während der Auseinandersetzungen um den Parliament Act 1911, zum Teil aber auch daraus, dass er im Ruf stand, ein selbstsüchtiger Politiker zu sein, der immer seine eigenen Interessen an vorderste Position stellte. Vor allem Lloyd Georges außenpolitische Initiativen erwiesen sich zumeist als Fehlschläge und waren Gegenstand zahlreicher interner Auseinandersetzungen. Das Scheitern der Konferenz von Genua und der irischen Verhandlungen fügten Lloyd Georges Prestige schweren Schaden zu. In Genua zeigte sich Lloyd George aufgrund weitgehender Differenzen zwischen der deutschen und französischen Delegation nicht in der Lage, einen diplomatischen Erfolg zu erzielen und konnte auch die parallel in Rapallo erzielte Verständigung zwischen Deutschland und Russland nicht verhindern. Während er selbst den Anglo-Irischen Vertrag als persönlichen Erfolg ansah, sorgte der Beginn einer terroristischen Kampagne Sinn Féins in der nordirischen Provinz Ulster für Unmut bei den Tories. Der in weiten Teilen der Konservativen Partei populäre Andrew Bonar Law trat aus gesundheitlichen Gründen im März 1921 vom Parteivorsitz zurück und schied aus der Regierung aus; ihm folgte Austen Chamberlain nach, der bei weitem keine so enge Kontrolle über die Hinterbänkler ausübte wie sein Vorgänger. Lloyd George verließ sich im Umgang mit der konservativen Partei auf einen engen Zirkel Vertrauter und gab sich keine Mühe, bei den Hinterbänklern für sich selbst und seine politischen Anliegen zu werben. Im Juni 1922 erschütterte ein Korruptionsskandal das Oberhaus; mehrfach waren in den letzten Jahren Männer mit zweifelhafter Reputation geadelt worden, deren Ernennung als nicht statthaft galt, die jedoch große Summen an Vertrauensleute Lloyd Georges gespendet hatten. Aus allen Parteien wurden Forderungen nach einer Untersuchung laut. Lloyd George musste, obwohl er seine Praktiken verteidigte, im Unterhaus der Einsetzung einer royalen Kommission zustimmen, die sich eingehend mit der Zuerkennung von Adelstiteln beschäftigen sollte. Auch wenn Lloyd George damit die Angelegenheit zunächst entschärft hatte, trug sie zusätzlich zur allgemeinen Verärgerung vieler Konservativer bei und markierte einen weiteren Schritt im Niedergang der Koalition. Im Juli 1922 brach sich die allgemeine Unzufriedenheit in der Konservativen Partei Bahn. Eine Gruppe von Junior-Ministern um L.S. Amery konfrontierte die Minister der Koalition mit ihrer Forderung, die Koalition zu beenden, wurde jedoch von Lord Birkenhead in hochmütiger Weise abgekanzelt. Zudem spielte Lord Salisbury mit einigen Anhängern halböffentlich mit dem Gedanken, eine unabhängige Partei rechts von den Konservativen aufzubauen. Salisbury hatte bereits in den Auseinandersetzungen um den Parliament Act von 1911 eine führende Rolle gespielt und bildete mit etwa 50 Anhängern die auch als „Die-hards“ bezeichnete reaktionäre Gruppe, die nach wie vor viele innenpolitische Reformen ablehnte, welche die Liberalen um Asquith und Lloyd George in der Zeit vor dem Ersten Weltkrieg auf den Weg gebracht hatten. Vor allem auch in der irischen Frage opponierten sie gegen Lloyd George. Anfang August vertagte sich das Parlament in die übliche Sommerpause. In der Folge der kleinasiatischen Katastrophe, der Niederlage Griechenlands im Krieg mit der Türkei, kam es im September 1922 zur Chanakkrise, die erneut Lloyd Georges außenpolitischen Dilettantismus vor Augen führte. Lloyd George, Kolonialminister Churchill und Lord Birkenhead veröffentlichen im Alleingang und ohne vorherige Absprachen mit dem Kabinett und den Verbündeten Großbritanniens eine Erklärung, in der sie der Türkei mit einem Krieg drohten. Der konservative Außenminister Lord Curzon musste in schwierigen Konsultationen eine Kompromisslösung, den Waffenstillstand von Mudanya, aushandeln. Curzon, der im Kabinett regelmäßiges Opfer von Lloyd Georges beißendem Spott gewesen war und sich oft übergangen gefühlt hatte, hatte mehr als einmal dessen außenpolitische Fehler zu korrigieren. Curzon hatte mehrfach seinen Rücktritt eingereicht, ihn jedoch immer wieder zurückgezogen; nach der Chanakkrise entschloss er sich jedoch endgültig zum Rücktritt, da er sich erneut von Lloyd George düpiert sah. Zudem legte die Chanakkrise ein seit mehreren Jahrzehnten bestehendes Schisma der britischen Politik offen, denn seit den Tagen Benjamin Disraelis waren die Konservativen in Orientalischen Fragen wie dem bulgarischen Aprilaufstand protürkisch orientiert, während die Liberalen seit Gladstone antitürkische Ressentiments pflegten und Anhänger des Philhellenismus waren. In dieser Situation schrieb der zeitweilig genesene Andrew Bonar Law einen Leserbrief an die Londoner Times, der am 7. Oktober veröffentlicht wurde. Er vertrat die Ansicht, dass Großbritannien nicht als alleiniger Weltpolizist agieren könne, da die finanziellen und sozialen Konditionen des Landes dies unmöglich machen würden. Zahlreiche Unterstützer der Tories baten daraufhin Bonar Law, wieder in die aktive Politik zurückzukehren. Am 10. Oktober kam das Kabinett überein, eine Unterhauswahl anzusetzen und diese erneut gemeinsam zu bestreiten. Am Folgetag hielt Austen Chamberlain in Birmingham eine Rede, in der er angesichts der nationalen Krise die Aufrechterhaltung der Koalition forderte, anderenfalls würde der gemeinsame Feind Labour gewinnen. Einen Tag später verteidigte Lloyd George öffentlich seine Außenpolitik, verbunden mit einem Angriff auf die Türkei, die er als blutlüstern beschrieb; zudem erinnerte er daran, dass die Türken bereits Tausende von Griechen und Armeniern ermordet hätten. Am 15. Oktober teilte Chamberlain dem konservativen Chief Whip Leslie Wilson mit, dass er sich entschlossen habe, ein Treffen aller konservativen Abgeordneten einzuberufen, um sich das Vertrauen als Parteiführer aussprechen zu lassen. Chamberlain sah sich und seinen Führungszirkel zu diesem Zeitpunkt als unentbehrlich an und zeigte sich überzeugt, dass seine internen Gegner nicht in der Lage sein würden, eine andere Regierung zu bilden. Als Ort wurde der Carlton Club ausgewählt; im Jahr 1832 von Tory-Peers gegründet, stellte dieser private Londoner Gentlemen’s Club den traditionellen gesellschaftlichen Treffpunkt für Mitglieder der Konservativen dar. In der Mitte des 19. Jahrhunderts hatte der Carlton Club als Hauptquartier der konservativen Partei fungiert und auch mehrfach als Ausgangspunkt für parlamentarische Initiativen von konservativen Hinterbänklern gedient. Im November 1911 war er Schauplatz bei der Wahl Bonar Laws zum neuen Parteivorsitzenden gewesen, während im März 1921 Austen Chamberlain bei einem im Club abgehaltenen Treffen der konservativen Unterhausabgeordneten einstimmig zum Nachfolger Bonar Laws gewählt worden war. In den nächsten Tagen kam es bei mehreren informellen Treffen zu einem Meinungsaustausch von Hinterbänklern der Tories, in denen sich jeweils eine Mehrheit gegen eine weitere Coupon-Wahl aussprach und bereits der Widerstand gegen die Parteiführung koordiniert wurde; bei einem dieser Treffen baten die Anwesenden Sir Samuel Hoare, E.G. Pretyman und George Lane-Fox darum, Bonar Law aufzusuchen und ihn zu überreden, die Partei aus der Koalition herauszuführen. Die Rolle Bonar Laws und die Nachwahl in Newport Bonar Law wurde nun von mehreren Parteifreunden bestürmt, sich für eine der Seiten auszusprechen. Er zögerte lange, erklärte sich jedoch schließlich bereit, am Treffen teilzunehmen. Als ehemaligem Parteivorsitzenden kam ihm eine Schlüsselrolle zu, da, abgesehen vom schwankenden Curzon, die anderen Parteigrößen alle für eine Fortführung der Koalition unter den bestehenden Bedingungen votierten und eine neu formierte Regierung allenfalls von einem erfahrenen Politiker mit hohem Prestige gebildet werden konnte. Sein offener Brief an die Times hatte bereits implizit signalisiert, dass ein alternativer konservativer Parteiführer und Premierminister bereitstand. Parallel zu diesen Vorgängen kam es zu einer vielbeachteten Nachwahl im Wahlkreis Newport. Der konservative Kandidat, Reginald Clarry, einer der „Die-hards“, machte bei seinen Wahlkampfauftritten seine Abneigung gegen die von Lloyd George geführte Koalition deutlich und verspottete in einer Rede offen Lloyd Georges „stümperhafte Diplomatie“. Während allgemein ein Sieg des Kandidaten der Labour-Partei erwartet worden war, zeigte die Auszählung am Abend des 18. Oktober, dass mit Reginald Clarry der konservative Kandidat die Wahl gewonnen hatte, während der Kandidat der Liberalen deutlich abgeschlagener Dritter war. Die einflussreiche Londoner Times berichtete am Morgen des 19. Oktober auf ihrer Titelseite eingehend über die Nachwahl und ordnete sie als komplette Verdammnis der Koalitionsregierung und Rechtfertigung derjenigen Konservativen ein, die sich gegen die Koalition aussprachen. Das Treffen Das anberaumte Treffen begann am 19. Oktober um 11 Uhr morgens unter großem Andrang der konservativen Abgeordneten. Etwa 290 von ihnen waren anwesend. Chamberlain wurde kühl, Bonar Law dagegen mit Jubel begrüßt. Lord Birkenhead wurde bei seinem Eintreffen mit lauten Unmutsbekundungen empfangen. Chamberlain eröffnete das Treffen und kritisierte, dass die öffentliche Kritik während der Chanakkrise Großbritanniens Einfluss und Prestige ernsthaften Schaden zugefügt habe. Er führte aus, dass der wahre Konflikt nicht zwischen Liberalen und Konservativen ausgetragen werde, sondern zwischen freiheitlichen Kräften und denen, die für den Sozialismus stünden. Es sei unmöglich, allein eine Mehrheit gegen die Labour-Partei zu erringen. Folglich sei es auch Wahnsinn, zu diesem Zeitpunkt eine Spaltung der Allianz mit den Liberalen herbeizuführen. Chamberlains Rede wurde mehrheitlich negativ aufgenommen. Unmittelbar nach Chamberlain sprach der aufstrebende Stanley Baldwin. Er kritisierte die mit der Partei nicht abgesprochene Kabinettsentscheidung über die nächste Wahl, drohte mit seinem Rücktritt aus der Regierung und damit, die kommende Wahl als unabhängiger konservativer Kandidat zu bestreiten. Baldwin beschrieb Lloyd George als eine dynamische Kraft, die jedoch die Konservativen ebenso spalten könne wie zuvor bereits die Liberalen: „Nehmen Sie Mr. Chamberlain und mich selbst. Er ist entschlossen, in die politische Wildnis zu gehen, wenn er dazu gezwungen ist, den Premierminister im Stich zu lassen, und ich bin vorbereitet in die Wildnis zu gehen, wenn ich gezwungen bin, bei ihm zu bleiben.“ Baldwins Rede fand viel Applaus. Es folgte der Abgeordnete E. G. Pretyman, der sich gegen eine Fortführung der Koalition aussprach; den aktuellen Herausforderungen könne am besten durch konservative Prinzipien begegnet werden. Er brachte eine Resolution ein, dass die anstehende Unterhauswahl als unabhängige Partei geführt werden solle. Dies wurde vom nächsten Redner, George Lane-Fox, unterstützt. Danach meldete sich F. B. Mildmay mit einer konzilianten Rede zu Wort, woraufhin sich Sir Henry Craik, einer der „Die-hards“, ebenfalls für einen Bruch mit Lloyd Georges Liberalen aussprach. Dann folgte Bonar Law, der vor einer Fortsetzung der Koalition warnte und prophezeite, es würde ansonsten zu einer Spaltung der Konservativen Partei kommen. In dieser Situation sei für ihn die Einheit der Partei wichtiger als die nächste Wahl zu gewinnen. Das Gefühl gegen eine Fortsetzung der Koalition sei mittlerweile jedoch so stark, dass die Partei gespalten und eine neue Partei geformt werde, wenn man Chamberlains Rat folge. Die als moderat geltenden Mitglieder würden gehen, der verbliebene Rest der Partei würde reaktionärer werden. Er zog eine Analogie zum Jahr 1846, als der Streit um die Korngesetze die Partei gespalten hatte: Eine Generation würde es dauern, ehe die Konservative Partei wieder zu dem Einfluss zurückfinden würde, der ihr zustehe. Der ehemalige Parteiführer Arthur Balfour sprach sich dagegen für die Fortführung der Koalition aus und nannte Pretymans Vorstoß unehrenhaft. Leslie Wilson, der Chief Whip und auch ein Junior-Minister in der Koalition, äußerte, dass er der Wählerschaft in seinem Wahlkreis nach Chamberlains Statement immer noch nicht sagen könne, ob es im Fall eines konservativen Wahlsieges auch einen konservativen Premierminister geben würde. James Fitzalan Hope, ein Unterstützer der Koalition, regte nun eine Vertagung an, Chamberlain drängte jedoch auf eine sofortige Entscheidung. Das Votum wurde offen abgehalten, mit Karten, auf denen der Name des jeweiligen Abgeordneten markiert war. Das Ergebnis war eindeutig, mit 187 zu 87 Stimmen, die sich für Pretymans Resolution aussprachen. Etwa ein Dutzend der anwesenden Abgeordneten hatte kein Votum abgegeben. Eine spätere Analyse der Abstimmung sah die stärksten Gegner der Koalition in sicheren konservativen Wahlkreisen, wie beispielsweise in Kent, Surrey, Sussex sowie besonders in Nordirland und London, wo jeweils fast alle (anwesenden) Abgeordneten gegen die Koalition stimmten. Die Unterstützer der Koalition waren dagegen in denjenigen umkämpften Wahlkreisen zu finden, wo die Tories sich mit den Liberalen auseinandersetzen mussten, vor allem in Schottland, East Lancashire sowie im englischen Südwesten. Die Gegner der Koalition setzten sich dabei sowohl aus der Gruppe der „Die-hards“ zusammen als auch aus den als sehr moderat geltenden Tories wie Baldwin, Hoare und Edward Wood. Das Conservative Central Office, das Hauptquartier der Konservativen Partei, veröffentlichte nach dem Treffen ein detailliertes Kommuniqué, worauf sich die Times und andere Zeitungen in ihrer Berichterstattung am folgenden Tag stützten. In diesem Kommuniqué wurde lediglich eine beiläufige Äußerung Andrew Bonar Laws am Ende des Treffens ausgespart, in der er zugab, sich als Opportunisten zu sehen, den die Zerstörung der Liberalen Partei durch David Lloyd George nicht im geringsten beunruhige. Die anwesenden Parlamentsmitglieder gaben in den nächsten Tagen ebenfalls in ihren Wahlkreisen Rechenschaft über das Treffen und ihr eigenes Abstimmungsverhalten ab. Unmittelbare Nachwirkung Sofort nach dem Treffen reichten einige konservative Kabinettsmitglieder um Stanley Baldwin bei Premierminister Lloyd George ihren Rücktritt ein. Austen Chamberlain beriet sich dagegen zunächst mit seinen Unterstützern. Lloyd George fuhr im Verlauf des Nachmittags zum Buckingham Palace und gab König Georg V. seinen Rücktritt bekannt. In der Erwartung, es könne gegen sie keine Regierung gebildet werden, schlossen sich nun zahlreiche namhafte Kabinettsmitglieder – neben Chamberlain und Balfour auch Lord Birkenhead, Sir Robert Horne und der Earl of Crawford – Lloyd George an. Der König schickte daraufhin seinen Sekretär Lord Stamfordham zu Bonar Law und lud ihn dazu ein, eine neue Regierung zu bilden. Dieser lehnte zunächst mit dem formellen Hinweis ab, dass er kein Parteiführer sei. Am 23. Oktober wurde er jedoch einstimmig zum Parteiführer der Konservativen gewählt und bildete in den nächsten Tagen zur Überraschung vieler Beobachter eine neue Regierung, bei der er sich vor allem auf Curzon als Außenminister und Baldwin als Schatzkanzler stützte. Dazu berief er mehrere derjenigen Junior-Minister und Staatssekretäre aus der letzten Regierung, die gegen die Koalition gestimmt hatten. Zudem berief er mit Lord Salisbury den Anführer des aristokratischen rechten Parteiflügels, der „Die-hard“-Gruppe, als Lordpräsident des Rates (Lord President of the Council) in sein Kabinett. Da Chamberlain und seine Anhänger die Regierungsbildung boykottiert hatten, war Bonar Laws Kabinett nur mit wenigen erfahrenen Politikern besetzt. Der zusammen mit Lloyd George gestürzte Winston Churchill nannte die Regierung deshalb abschätzig „eine Regierung der zweiten Elf“. Lloyd George attackierte Bonar Law im nun beginnenden Wahlkampf bei seinem ersten Auftritt in Leeds; das Carlton-Club-Treffen nannte er „ein Verbrechen gegen die Nation“ und bezeichnete es als „reaktionäres Treffen“, das von Mayfair und Belgravia (vornehmen Londoner Stadtteilen, in denen traditionell konservativer Hochadel und Finanzmagnaten residiert hatten) aus vorangetrieben worden sei. Lord Birkenhead, der sich in seiner Partei nun weitgehend isoliert fand, folgte wenig später in ähnlicher Weise und nannte das Treffen eine Revolte der Parteimaschinerie und von „zweitklassigen Köpfen“, deren Mittelmäßigkeit ihn beängstige. Dagegen attackierten die Liberalen unter Asquith im Wahlkampf zwar die Konservative Partei, zeigten sich jedoch gleichzeitig befriedigt über den Sturz von Lloyd George. Bonar Laws Wahlmanifest versprach demgegenüber eine Abkehr von Unsicherheit und Rücksichtslosigkeit in der Außenpolitik, und einer Rückkehr zu Ruhe und Stabilität in der allgemeinen Regierungspolitik. Historische Signifikanz Aufgrund der unbeständigen und im Fluss befindlichen Situation in der britischen Parteienlandschaft der Nachkriegsjahre hatten Zeitgenossen eigentlich eine Weiterführung der Koalition unter geänderten Bedingungen erwartet; die von den Konservativen gewonnene Unterhauswahl am 15. November 1922 führte jedoch zu einer Stabilisierung und machte eine Koalitionsregierung unwahrscheinlich. Im Ergebnis des Treffens wurde eine Spaltung der Konservativen Partei verhindert, die zuvor von Salisbury und einigen Unterstützern auf der einen Seite, von Lloyd George (mit dem Gedanken, eine Zentrumspartei zu formen;) auf der anderen Seite betrieben worden war. Durch den Fall der Koalition wurde zudem das bisherige britische Zweiparteiensystem (mit den Konservativen und den Liberalen als Antipoden) durch eine kurze Übergangsphase mit drei Parteien abgelöst, in der die Liberalen zunehmend von der Labour-Partei als führendem Gegenspieler der Konservativen verdrängt wurden. Lloyd George, einer der dominierenden Politiker der vergangenen Dekade, hatte nie wieder ein Amt inne. Auch die Liberale Partei stellte seither nie wieder den Premierminister. Das Treffen markiert das einzige Mal, in dem Hinterbänkler ihren Parteiführer und die Regierung stürzten. Deshalb nimmt es bis heute einen prominenten Platz in der britischen Parteigeschichte ein regelmäßig wird in der politischen Berichterstattung Bezug auf das Treffen genommen, um die Macht der konservativen Hinterbänkler herauszustreichen. Der Historiker Robert Blake sah im Carlton-Club-Treffen einen demokratischen Vorgang, der das verloren gegangene Vertrauen nicht nur der konservativen Parlamentsmitglieder, sondern weiter Teile der Partei in Austen Chamberlains Führung ausdrückte. Auch ein anderes Votum hätte demnach allenfalls eine aufschiebende Wirkung gehabt, da aufgrund der vorherrschenden Stimmung in der Partei ein späterer Parteitag letztlich ebenfalls Chamberlains Niederlage bewirkt hätte. Michael Kinnear bewertete das Treffen nicht als generelle Absage an eine Koalition, sondern lediglich als Willensbekundung der Konservativen Partei, im Falle einer Mehrheit nach der nächsten Wahl allein eine Regierung zu bilden. Chamberlains unstete Führung habe mehr als alles andere das Ergebnis des Carlton-Club-Treffens entschieden; wäre die Führerschaft der Konservativen auch nach 1921 im festen Griff Bonar Laws geblieben, hätte es laut Kinnear nicht zum Bruch kommen müssen. John Campbell sah das Ergebnis des Treffens als logische Folge der inneren Widersprüche der Koalition und ihrer Unpopularität; in dem Moment, als (mit Bonar Law als Nachfolger Chamberlains) eine echte Alternative auftauchte, sei sie zu Fall gebracht worden. Es habe lediglich Bonar Laws Rückkehr in die aktive Politik und Curzons Seitenwechsel benötigt, um die Masse der konservativen Partei hinter einer neuen Regierung zu versammeln. David Powell sah den Fall der Koalition ebenfalls als Folge der Unpopularität des Premierministers und der Widersprüche innerhalb der Koalition. Das Treffen im Carlton Club sei als Produkt längerfristiger Spannungen innerhalb der Konservativen Partei zu verstehen; dazu habe das weitverbreitete Misstrauen innerhalb der Partei gegen Lloyd George den Bruch der Koalition in ihrer bestehenden Form letztlich unvermeidlich gemacht. Eine weitere Kooperation mit den Liberalen wäre, so Powell, nur durch die vorherige Absetzung des Premierministers David Lloyd George möglich gewesen. Forschungsgeschichte Das Carlton-Club-Treffen ist sehr gut dokumentiert und Gegenstand zahlreicher Publikationen, beginnend mit der Berichterstattung am folgenden Tag in der britischen Presse. Im Nachlass verschiedener Protagonisten des Treffens finden sich zahlreiche Unterlagen über das Treffen; vor allem der Nachlass Austen Chamberlains, in dem detailliert alle Wortmeldungen und eine Aufschlüsselung des Abstimmungsverhaltens aller Teilnehmer dokumentiert ist, ist als Quelle von Wert. Dazu können inzwischen die Tagebücher und Memoiren verschiedener Teilnehmer zur Auswertung herangezogen werden, woraus sich ein detailliertes Bild ergibt. Beginnend in den 1950er Jahren wurde das Treffen in zahlreichen Biografien und Memoiren thematisiert. So veröffentlichte L. S. Amery 1953 seine dreibändigen Memoiren; im zweiten Band, My Political Life. Volume Two: War and Peace. 1914–1929. widmete er sich der Krise der Koalition und ihrem Ende, an dem er als parlamentarischer Unterstaatssekretär und Gegner von Lloyd George mitgewirkt hatte. 1955 gab Lord Beaverbrook als Nachlassverwalter den Anstoß für Robert Blakes Biografie über Andrew Bonar Law. Beaverbrook veröffentlichte dazu 1963 sein Buch The Decline and Fall of Lloyd George, in dem er schilderte, wie er als Zeitzeuge und am Rande Beteiligter Lloyd Georges Fall miterlebte. Robert Rhodes James benutzte 1969 als Herausgeber des Buches Memoirs of a Conservative: J. C. C. Davidson’s memoirs and papers, 1910–37 dessen eigene Listung des Abstimmungsverhaltens der Teilnehmenden als Quelle, die einige geringfügige Abweichungen im Vergleich zu Austen Chamberlains und Andrew Bonar Laws Nachlass aufweist. (Davidson sah ein Endergebnis von 185 zu 88 Stimmen.) Maurice Cowling schilderte den Niedergang der Koalition in seiner Studie The Impact of Labour 1920–1924: The Beginning of Modern British Politics 1971 unter dem Blickwinkel des Auftauchens der Labour-Partei als realistische Konkurrenz zu den beiden etablierten Parteien. Die durch Labour dargestellte Herausforderung habe dazu geführt, dass die Konservativen sich in ihrer Mehrheit dafür entschieden, Lloyd George zu stürzen und sich danach, als Verteidiger der bestehenden sozialen Ordnung, als eindeutigen Hauptgegner der Labour-Partei zu positionieren. 1973 erschien Michaels Kinnears Buch The Fall of Lloyd George: The Political Crisis of 1922, das den Bruch der Koalition und das Carlton-Club-Treffen zum Thema hat. Darin wertete er auch Chamberlains Nachlass in Bezug auf das Abstimmungsverhalten der anwesenden Abgeordneten aus und stellte es Davidsons Aufzeichnungen gegenüber. Ebenfalls 1973 gaben Chris Cook und John Ramsden das Buch By-Elections in British Politics heraus, in dem John Ramsden im Kapitel „The Newport By-Election and the Fall of the Coalition“ die Auswirkungen der Newport-Nachwahl auf das Treffen und den Fall der Koalition analysierte. Darin kam er zum Schluss, dass das Ergebnis der Nachwahl zwar von lokalen Besonderheiten geprägt war, der Wahlsieg des konservativen Kandidaten Reginald Clarry jedoch großen Einfluss auf den Ausgang des Carlton-Club-Treffens hatte. John Campbell veröffentlichte 1977 das Buch Lloyd George: The Goat in the Wilderness 1922–1931, eine biografische Studie David Lloyd Georges in der Phase von 1922 bis 1931. These des Buchs ist die Dominanz des Politikers und „Phänomens“ David Lloyd George, der die politische Szenerie auch nach seinem Fall infolge des Carlton-Club-Treffens weiter dominiert habe; dabei schilderte er die innenpolitischen Errungenschaften der Koalition ebenfalls in günstigem Licht. 1979 veröffentlichte der walisische Historiker Kenneth O. Morgan sein Buch Consensus and Disunity – the Lloyd George Coalition Government 1918–1922, in dem er sich eingehend mit der Koalitionsregierung auseinandersetzte. Morgan argumentiert, es habe gute Gründe für die Fortführung der Koalition nach dem Ersten Weltkrieg gegeben und suchte die Koalition, entgegen ihrem schlechten Ruf, zumindest teilweise zu rehabilitieren. Im Jahr 1984 veröffentlichte der Historiker John Vincent mit dem Buch The Crawford Papers: The journals of David Lindsay, 27th Earl of Crawford and 10th Earl of Balcarres, 1871–1940, during the years 1892 to 1940 eine editierte Fassung der Tagebücher des Earl of Crawford. In diesen findet sich ebenfalls ein detaillierter Bericht über das Treffen im Carlton Club, der verschiedentlich von nachfolgenden Historikern ausgewertet wurde. 2004 veröffentlichte David Powell British Politics, 1910–1935: The Crisis of the Party System. Er deutete die Jahre von 1910 bis 1935 als Schlüsselphase in der politischen Geschichte Großbritanniens und die zunehmenden und heftigen parteipolitischen Konflikte in dieser Zeit als immanente Krise des britischen Parteisystems; dabei beschäftigte er sich auch eingehend mit der Koalition und den Gründen für ihren Bruch. Literatur Robert Blake: The Unknown Prime Minister: The Life and Times of Andrew Bonar Law, 1858–1923. Eyre and Spottiswoode, London 1955 (Nachdruck: 2010, ISBN 978-0-571-27266-2). Robert Blake: The Conservative Party from Peel to Major. Faber and Faber, London 1997, ISBN 0-571-28760-3, S. 184–211. John Campbell: Lloyd George: The Goat in the Wilderness 1922–1931. Jonathan Cape, London 1977, ISBN 0-224-01296-7, S. 17–46. Maurice Cowling: The Impact of Labour 1920–1924: The Beginning of Modern British Politics. Cambridge University Press, Cambridge 1971, ISBN 0-521-07969-1, S. 108–237. Michael Kinnear: The Fall of Lloyd George: The Political Crisis of 1922. Macmillan, London 1973, ISBN 1-349-00522-3. John Ramsden: The Newport By-Election and the Fall of the Coalition. In: Chris Cook, John Ramsden (Hrsg.): By-Elections in British Politics. Macmillan, London 1973, ISBN 1-349-01709-4. Weblinks The end of the 1922 coalition BBC-Radio 4-Diskussion zum 90. Jahrestag des Carlton-Club-Treffens. BBC News, 28. Oktober 2012 Alistair Lexden: The Carlton Club meeting and the fall of the Lloyd George Coalition Der offizielle Parteihistoriker der Konservativen, Alistair Lexden, über das Carlton-Club-Treffen. Conservative Home, 15. Februar 2019 Einzelnachweise Politikgeschichte (Vereinigtes Königreich) Britische Geschichte (Zwischenkriegszeit) Conservative Party Politik 1922
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https://de.wikipedia.org/wiki/La%20chanson%20de%20Jacky
La chanson de Jacky
La chanson de Jacky (auf Deutsch „Jackys Lied“) ist ein französischsprachiges Chanson von rund 3:20 Minuten Länge, das Jacques Brel Anfang November 1965 aufgenommen und zunächst auf einem 10″-Vinyl-Album bei Disques Barclay veröffentlicht hat. Weitere Titel darauf waren Ces gens-là, L’âge idiot, Fernand, Grand-mère und Les désesperés. Ein Jahr später erschien das Lied, das auf den Plattenhüllen dieser Jahre auch nur kurz als Jacky bezeichnet wurde, auf einer Langspielplatte, die zehn Songs enthielt. Den Text verfasste Brel selbst, die Musik schrieb Brels langjähriger Komponist Gérard Jouannest; die Orchestrierung erfolgte durch François Rauber, mit dem Brel gleichfalls über viele Jahre zusammengearbeitet hat. Dieses Lied entstand zu einem Zeitpunkt in Brels Karriere, an dem sich öffentlich höchstens gerüchtehalber andeutete, dass der Künstler – ungeachtet der Tatsache, dass er erst 36 Jahre alt war – bühnenmüde sei. Außerhalb von Familie und engstem Freundeskreis sprach er selbst seinen möglichen Rückzug aus den Konzertsälen und Plattenstudios wohl zum ersten Mal im Jahr darauf gegenüber seinem Kollegen Charles Aznavour an. Da Jacky die Verniedlichung seines Vornamens ist, mit der er als Kind bezeichnet worden war, und es bei dem Protagonisten in dem Lied um einen alternden Sänger geht, stand die Frage, inwieweit das Chanson autobiographische Züge enthalte, zwar auch damals schon im Raum, eine intensivere Beschäftigung damit erfolgte aber erst deutlich später. Kommerziell erfolgreicher als die französische Fassung war allerdings die von Mort Shuman übersetzte englischsprachige Coverversion, die Scott Walker Ende 1967 unter dem Titel Jackie veröffentlichte und die es in die britischen Top-30 brachte. Für das Arrangement zeichnete Wally Stott verantwortlich, der auch das Orchester dirigierte. Diesen Charterfolg wiederholte Marc Almond 1991.Dennoch zählt La chanson de Jacky zu den bedeutendsten Werken des 1978 gestorbenen Jacques Brel und gilt als ein typisches Beispiel für seine Dichtkunst. Es gehört zudem zu denjenigen seiner Lieder, die am häufigsten von anderen Interpreten aufgenommen und auf Tonträgern veröffentlicht worden sind. Inhalt und künstlerische Gestaltung Der Text In dem in Form der Ich-Erzählung angelegten Chanson überlegt ein Sänger, welchen Verlauf sein Lebensabend nehmen könnte. Er befürchtet, als alternder Interpret im Casino von Knokke-le-Zoute allabendlich vor Gruppen von Mütterchen, die sich wie Weihnachtsbäume herausgeputzt haben (mémères décorées comme des arbres de Noël), Liebeslieder und Tangoweisen vortragen zu müssen. Man würde ihn Antonio nennen, dabei wäre er ja nur ein röchelnder Argentinier aus Carcassonne in Südfrankreich, und er selbst müsste sich allabendlich betrinken, um in der Lage zu sein, diesen rosa Elefanten im Publikum lustlos seine Manneskraft vorzugaukeln (parler de virilité … pour des éléphants roses) und die Lieder aus der Zeit zu singen, als man ihn noch Jacky nannte. Denkbar wäre für ihn auch die Alternative, Besitzer einer Spielhölle in Macao zu werden, umgeben von ihn anschmachtenden Frauen (cerclé des femmes languissantes), die ihn den schönen Serge nennen. Dann werde er derjenige sein, der andere dazu zwingt, für die Gäste zu singen – er selbst sei dessen nämlich überdrüssig (lassé d’être chanteur). Er würde Schiffsladungen voller Drogen und Whisky aus Clermont-Ferrand verkaufen, ließe echte Schwule und falsche Jungfrauen für sich anschaffen (je vende de vrais pédés, de fausses vierges), würde unermesslich reich und hätte seine Finger in der Politik vieler Länder. Aber auch dann würde er sich in seiner Opiumhöhle, ganz alleine oder vor einer Handvoll Chinesen, jede Nacht die Lieder aus der Zeit vorsingen, als er sich noch Jacky nannte. Und selbst wenn er – sehr zu seiner Überraschung – an seinem Lebensende in das Paradies käme, würde er dort den Frauen mit den weißen Flügeln (chanteur pour femmes à ailes blanches) ein Halleluja vorsingen und dabei das irdische Leben da unten bedauern, wo schließlich auch nicht jeder Tag ein Sonntag sei. Falls man ihn Gottvater nenne – im himmlischen Telefonbuch irgendwo zwischen Gott dem Barmherzigen und Gott dem Schützenden eingereiht – (même si on m’appelle Dieu le Père, celui qui est dans l’annuaire entre Dieu le fit et Dieu vous garde) und er sich dafür sogar einen Vollbart wachsen ließe, würden sein Herz und seine reine Seele irgendwann wie ein überreifer Apfel zerplatzen (trop bonne pomme, je me crêve le cœur et le pur esprit). Denn er wisse, dass er zu guter Letzt all den Engeln, den Heiligen und dem Teufel zuhören müsse, wie sie ihm das Lied aus der Zeit vorsingen, als er sich noch Jacky nannte. Jeder dieser Perspektiven folgt als Refrain der dreifach und inbrünstig vorgetragene Wunsch, nur einmal noch – und sei es für eine Stunde, wenigstens gelegentlich – dieser junge Jacky zu sein, dem als ernüchterndes Fazit in der letzten Zeile „so schön und so dämlich zugleich“ folgt (beau, beau, beau et con à la fois, in der englischen Übersetzung cute, cute in a stupid-ass way). Formal besteht der Text aus dreimal drei Strophen, denen jeweils ein vierzeiliger Refrain folgt. Die Strophen enthalten nacheinander sechs, acht beziehungsweise vier Verszeilen. Darin werden unterschiedliche Reimfolgen verwendet, beginnend mit Paar- und Kreuzreim (A-A-B-C-B-C), dann eine Folge von Kreuz- und Blockreim (A-B-A-B-C-D-D-C), in der jeweils dritten Strophe ein weiterer Blockreim. Der Refrain ist wieder im Kreuzreim verfasst. Nahezu sämtliche Strophen beginnen mit einer Anapher (Même si → Selbst wenn), einem Stilmittel, das der Strukturierung und Rhythmisierung des Textes dient; für Patrick Baton führt dies zu einem „stufenweisen Anstieg der Erregung“ innerhalb jeder Strophe, vergleichbar einem Crescendo in der Musik. Mort Shumans englische Textfassung hält sich sehr weitgehend an Brels textliche Vorgaben, ist aber keine wörtliche Übersetzung davon. Zwar spielt auch er gelegentlich mit gleichklingenden Wörtern wie bei stupid-ass/stupid arse im Refrain. Andererseits ist beispielsweise der argentinische Bandoneonspieler aus Carcassonne bei Shuman ein Gitarre spielender Spanier, der auch nicht im belgischen Knokke auftritt, und der Whisky kommt bei ihm nicht aus dem zentralfranzösischen Clermont-Ferrand, sondern aus dem Londoner Stadtteil Twickenham. Beide Städte eint allerdings die Tatsache, dass sie nicht gerade als Synonym für Hochburgen der Whiskydestillation gelten; für den Brel-Kenner und Literaturprofessor Stéphane Hirschi zählt dies zu den „widersprüchlichen Bildern“, die Brel ganz bewusst verwende. Interpretation und Einordnung Alter und Kindheit Neben der Liebe und Belgien, dem Land seiner Herkunft, zu dem er zeit seines Lebens ein sehr zwiespältiges Verhältnis aufwies, gehörten das Altern bis hin zum Tod sowie, damit verbunden, Trennung und Abschied zu den in Brels Liedern besonders häufig wiederkehrenden Themen, beispielsweise in La mort von 1959, Le moribond von 1961, Les vieux von 1963, La chanson des vieux amants von 1967 und Orly von 1977. Auch Kindheit und Jugend waren immer wieder Gegenstand seiner Liedtexte. Für Brel besitzen Menschen in ihren frühen Lebensjahren noch Freiheit, Energie und die Gabe zu träumen; vor allem in seinen späteren Chansons wie L’enfance ist es aber kein idealisierender, sondern ein mehr und mehr nostalgischer Blick, den ein Erwachsener auf das ‚verlorene Paradies‘ der Kindheit zurückwirft. In Jacky kommen diese Themen zusammen. Denn unabhängig davon, welches der Zukunftsszenarien eintreffen wird und mit welchem Namen das lyrische Ich im Alter angesprochen wird – Antonio, Serge oder selbst Gottvater –, steht am Ende doch immer der Name, den er als Kind getragen hat. Für Bruno Hongre und Paul Lidsky besteht die wichtigste Erkenntnis des Lieds darin, dass Brel es rundheraus ablehnt, sich zu verkaufen oder sich etwas über seine eigenen Grenzen vorzumachen: „Indem er das abgeschlossene Universum, in dem er nichts mehr zu sagen weiß, verlässt [und] zum jungen Jacky […] zurückkehrt, bleibt er [den Idealen] seiner Kindheit treu, in der die Jagd nach Erfolg keinen Platz hat.“Die vorstehend verwendete Literatur vermeidet aber Spekulationen darüber, ob der Autor auch seinen Bühnenrückzug explizit habe zum Ausdruck bringen wollen – neben dem Credo, dass es unmöglich sei, der eigenen Vergangenheit zu entkommen, und seiner Befürchtung, zukünftig nichts wirklich Neues mehr schaffen zu können. Versteckte Botschaft über Brels Karriereende? Der Allmusic-Charakterisierung des Lieds zufolge wurde dieses „Epos über ein liederliches Leben und bacchanalische Ansprüche […] verbreitet als zumindest teilweise autobiographisch interpretiert“. Es gebe allerdings keinerlei lyrisch verkleidete Hinweise darauf, welche der darin verheißenen Laster der jugendlich träumende Protagonist tatsächlich ersehne.Der Buchautor Jérôme Pintoux hält dieses Chanson für einen von Jacques Brels überzeugendsten Texten zu einer „vibrierenden Melodie“. Es sei von einer „erfrischenden Hysterie“, wie Brel sich seine eigene Zukunft vorstellt und dass er dabei auch nicht davor zurückschreckt, für einen „grenzenlosen Megalomanen“ gehalten zu werden – fälschlicherweise, denn selbst wenn sich „seine kühnsten Träume erfüllen, seine verrücktesten, verborgensten Wahnvorstellungen in diesem Chanson Wirklichkeit würden“, würde ihn am Ende doch immer das „anödende Lied aus der Zeit, als er sich noch Jacky nannte, einholen“. Brel scheine sich beim Verfassen des Texts vielmehr als eine Art von Cyrano – diese literarische Figur steht in Frankreich bildhaft für jemanden mit einem guten Kern hinter einer unansehnlichen Fassade – und als jemand, dem vom Publikum die Gunst entzogen worden ist, empfunden zu haben. Tatsächlich fällt das Jahr 1965 für Brel in eine Zeit des Umbruchs; bereits 1964, nach einem Auftritt im Olympia, „verdichten sich die Gerüchte vom Rückzug des Sängers von der Bühne“. In dieser Zeit stand der Künstler laut Gilles Verlant fast täglich auf der Bühne und absolvierte bis zu 300 Auftritte pro Jahr, in den Tanz- und Veranstaltungssälen (salles des fêtes) irgendwo in der französischen Provinz ebenso wie unmittelbar vor und nach den Studioaufnahmen dieses Chansons auf einer fünfwöchigen Tournee durch die Sowjetunion und in den USA. Das könnte seine zunehmende Bühnenmüdigkeit erklären, obwohl er erst Mitte 30 war. Während er im Sommer 1965 in Évian dem damals für The New Yorker schreibenden Jeremy Bernstein nur Minuten nach dem Konzertende hinter der Bühne völlig außer Atem „Eines Tages hört das auf“ zuraunte, was Bernstein damals für einen Ausdruck ausschließlich momentaner Erschöpfung hielt, äußerte Brel sich 1966 gegenüber Charles Aznavour – wie ähnlich zuvor schon auf eine Frage seines Komponisten Gérard Jouannest – mit der Begründung „Ich höre auch deshalb auf, weil ich kein Altstar werden möchte“ sehr viel deutlicher in dieser Richtung. Ähnlich im Sommer am Rande eines Auftritts in Vittel, als er seinem Orchesterleiter François Rauber erklärte: „Ich habe nichts mehr zu sagen. Ich will nicht schlechter werden, ich will es einfach nicht.“ Dabei konnte für Brels Biographen Olivier Todd auch in diesen Jahren von einer „Schaffenskrise“ keine Rede sein. Brel habe alleine 1964 und 1965 das Urheberrecht für zwanzig neue Texte bei der SACEM angemeldet, darunter weitere anspruchsvolle Meisterwerke wie Un enfant, Les désespérés, Jef, Mathilde und Ces gens-là. Dennoch begann im Oktober 1966, wiederum im Pariser Olympia, Jacques Brels Abschiedstournee, die im Mai 1967 in Roubaix endete. Anschließend „ergriff [er] die Flucht vor diesem Milieu“ und wandte sich einer anderen Kunst zu, nämlich dem Film. Ein eindeutiger Beleg dafür, dass er mit Jacky seinen bevorstehenden Abschied schon anderthalb Jahre früher ganz bewusst habe mitteilen wollen, findet sich in der Literatur aber nicht. Die Kunst des Verwirrspiels Stéphane Hirschi spricht den vorstehenden Aspekt zwar auch kurz an („Man weiß, dass Brel die Bühne an dem Tag verlassen wird, an dem er fühlt, dass er nicht mehr aufrichtig sein Bestes zu geben vermag“), aber ansonsten steht diese Frage nicht im Vordergrund seiner detaillierten, stärker werkimmanenten Analyse dieses Chansons. Vielmehr erläutert er eine Reihe von Techniken, die darin verwendet werden, und stellt das Lied, das er als „inszeniertes Werk aus einer Folge pittoresker Gemälde“ bezeichnet, vor allem in einen Zusammenhang mit Brels lyrischem Gesamtwerk.Ihm zufolge spielt der Textdichter auch hier mit Worten und deren mehrfachen Bedeutungen, gelegentlich erfindet er dafür sogar neue, die sich schwer in andere Sprachen übertragen lassen. Beispiele dafür sieht Hirschi alleine schon im ersten Teil von Jacky reichlich: Ein Franzose assoziiert mit dem Argentinier leicht das Wort für Geld (Argentin/argent), was zur Verdichtung des Eindrucks beiträgt, dass der alternde Sänger sich von seinen betagten Zuhörerinnen letztlich kaufen lässt; dies wird in der zweiten Strophe zudem durch je brûle mes derniers feux en échange de quelques cadeaux („ich brenne mein letztes Feuerwerk im Tausch gegen ein paar Geschenke ab“) umschrieben. Dessen Gesang „mit einer Stimme wie ein Bandoneonspieler“ versieht Brel zusätzlich mit einem sexuellen Aspekt: die Wortneuschöpfung bandonéante lässt sich auch als Zusammensetzung aus bander und néant („erigieren“/„nichts“) verstehen. Dass der Sänger sich allabendlich betrinken muss, vermittelt der Text mit einer leichten Untertreibung – hydromel ist Honigwasser, auch Met – und einer weiteren Wortschöpfung (ma saoulographie → meine Säufergeschichte). Und der maître chanteur aus dem zweiten Teil des Chansons ist nicht nur ein Meistersänger, sondern umgangssprachlich auch ein Erpresser. Das zentrale Merkmal ist für Hirschi aber, wie Brel mit den unterschiedlichen Ebenen des Liedes – der Realität und dem Traum – spielt („ein Spiel der Illusionen“), indem er zwischen ihnen hin- und herwechselt. Nie könne sich der Hörer ganz sicher sein, welchem der beiden Zustände eine Aussage zuzuordnen sei. Denn der Autor und Sänger besingt die Zukunft eines Sängers, der wie Brel selbst auch noch Jacky genannt wird und im Casino von Knokke auftritt. Für Hirschi ist das aber in erster Linie ein künstlerisches Mittel, das dem Chanson „einen dynamischen Effekt [verleiht, weil] der Traum für [Brel] zugleich dessen Realität ist. […] Diese Vermischung, diese Verwirrung ist charakteristisch für Brels sprachliches Universum …“. Diese Unklarheit werde auch durch das Fehlen des Subjekts im Refrain erzeugt – wessen „letztes Stündchen“ ist darin gemeint, und wer oder was wird als schön und dämlich zugleich bezeichnet? Dazu trage auch der letzte Teil des Liedes bei, in dem der Bereich des noch als realistisch Vorstellbaren verlassen werde. Mit teilweise ironisierenden Bildern wie dem himmlischen Telefonbuch drücke der Agnostiker Brel seine Kritik an dem Versprechen aus, es gebe ein perfektes Paradies. Vielmehr zeige er, dass auch dabei Wirklichkeit und Vorstellung unterschiedlich nebeneinander existierten. In der Summe seien diese Verwirrspiele in Jacky zugleich aber auch Brels Augenzwinkern, mit dem er den Menschen zu verstehen gebe, dass er sich nicht verstecke, sondern sich persönlich einbringe, und mit denen er sie auffordere, mitzuspielen. Die Bilder aus diesem Chanson „bieten eine Traumwelt, bevölkert von Menschen, die zu Wandlungen fähig sind, dabei ihre ursprünglichen Charakterzüge bewahren, über die sich neue legen.“ Aus der Sicht von Michaela Weiß hat Brel mit diesem „Metachanson“ – so bezeichnet sie Lieder, die die reale Person des Sängers oder Autors behandeln – sein eigenes Berufsethos, das sich „gegen die Verlockungen der Starbequemlichkeit sperrt“, künstlerisch inszeniert, wenn auch in „karikaturistische[r] Überzeichnung“. La chanson de Jacky sei eine im doppelten Wortsinn phantastische Fiktion, womit sie wie Hirschi auf die darin zu konstatierende Gleichzeitigkeit von Wirklichkeit und Scheinwelt abhebt. Die Musik Die im Viervierteltakt gehaltene Melodie eröffnet mit einem instrumentalen Intro in g-Moll, nahe einem von den Bläsern dominierten Tusch, dessen Rhythmus und Instrumentierung den Eindruck eines galoppierenden Pferdes vermitteln, wobei die von den Blasinstrumenten gespielten Synkopen den musikalischen Ablauf beleben und zusätzlich Spannung aufbauen. Die dadurch erzeugte, anfeuernde Stimmung (Vivace), die sich während der ersten beiden Strophen im Hintergrund fortsetzt, steht in deutlichem Kontrast zu dem im Text beschriebenen Niedergang des Sängers. Innerhalb der folgenden Strophen wechselt die Tonart von Moll zu G-Dur. Der Übergang zur kurzen dritten Strophe erfolgt durch einige ausschließlich auf dem Klavier gespielte Triller, ehe die Melodie bei der Erwähnung des Chansons aus seiner Jacky-Zeit einen etwas bedeckteren, nostalgisch-nachdenklichen Charakter annimmt. Der Refrain erfährt eine Untermalung durch Akkordeon und Kastagnetten. Diese Atmosphäre ändert sich darin zunächst durch die besonders starke Betonung des viertletzten Wortes (con [dt.: verrückt]), und bereits mit der letzten, aus drei einsilbigen Wörtern bestehenden Textphrase des Refrains (à la fois [dt.: gleichzeitig]) setzt dann wieder die anfängliche musikalische Stimmung ein, die Stéphane Hirschi als einem Triumphmarsch ähnelnd bezeichnet. Die wenigen Abweichungen von diesem Grundschema finden sich insbesondere im Refrain. So wechselt in den ersten beiden Refrains das Tongeschlecht von G-Dur wieder zu g-Moll, im dritten hingegen bleibt die Melodie in Dur, wechselt dabei lediglich von G- zu D-Dur. Und der letzte Refrain wurde von Brel auf der Bühne nahezu wie ein Gebet mit gefalteten Händen und in flehentlichem Ton vorgetragen – für Hirschi äußerst stimmig, weil dies „den absoluten Tiefpunkt [markiert], auf den der Sänger abgestürzt ist“. Dave Thompson hebt die Stimmigkeit hervor, mit der die denkbaren Zukunftsszenarien „aus Brels köstlich verdorbenem Gesang hervorsickern“, während die instrumentale Begleitung in schrillen Farben die besungene Atmosphäre untermale. Robert Dimery bezeichnet das Lied – unter Bezugnahme auf die auch musikalisch dem Original sehr nahe kommende Scott-Walker-Version – als „rasant“ und ein „wahres Juwel“. Erfolge und Coverversionen In Frankreich und anderen französischsprachigen Ländern konnte das Lied keine hohen Platzierungen in den Hitparaden verzeichnen. Allerdings gehörte das sechs Titel enthaltende Album mit der Erstveröffentlichung von La chanson de Jacky im Weihnachtsgeschäft 1965 zu den drei meistverkauften Langspielplatten in Frankreich. Insofern trug auch dieses Chanson dazu bei, dass der Sänger im Jahr 1966 alleine aus den Plattenverkäufen von seiner ehemaligen Firma Philips gut 24.000 und von Barclay, das seit 1962 seine Chansons veröffentlichte, rund 300.000 Neue Francs an Tantiemen ausbezahlt bekam – eine Summe, die seinerzeit rund 265.000 DM (umgerechnet 135.000 Euro) entsprach. Zum Vergleich: Der gesetzliche Mindestlohn in der Industrie (SMIG) betrug Mitte der 1960er Jahre jährlich rund 5.000 Francs. Insbesondere nach Brels Tod (1978) ist La chanson de Jacky aber auf zahlreichen Zusammenstellungen seiner größten Hits und seiner wichtigsten musikalischen Meilensteine enthalten, so auch auf dem zuerst 1988 und danach mehrfach (zuletzt 2014) wiederveröffentlichten Album Quinze ans d’amour, das laut Allmusic seine „zwanzig populärsten Titel in ihrer jeweils berühmtesten Version“ enthält. Auf Englisch brachte Scott Walker (eigentlich Scott Engel), der sich vor Beginn seiner Solokarriere schon mit den Walker Brothers in Europa einen Namen gemacht hatte, Brels Chansons vor allem in Großbritannien einer größeren Zuhörerschaft näher. Von diesen schaffte es Jackie in der Übersetzung von Mort Shuman und arrangiert von Wally Stott als Single auf dem Philips-Label im Dezember 1967 bis auf Platz 22 in den britischen Charts, womit es im Vereinigten Königreich zugleich der bestverkaufte Brel-Titel in Walkers Interpretation war. Zudem war das Lied auf dem Album Scott 2 enthalten, das in den britischen Charts Anfang 1968 sogar Platz eins erreichte. Dabei weigerte sich zumindest die BBC aufgrund der expliziten Erwähnung von Zuhälterei und Bordellen, Drogengeschäften und einiger deftiger Formulierungen, den Song auf ihren Radio- und Fernsehkanälen auszustrahlen. Walker reagierte auf diese Zensur mit einem Lob an Brel und Jouannest: „Ich veröffentlichte Jackie, weil es so edel und schön (refined and beautiful) ist.“ Umgekehrt soll Brel Walker als den bedeutendsten anderen Interpreten seiner Chansons bezeichnet haben.Shuman war, neben einer Brel-Tournee 1967 durch die Vereinigten Staaten, auch maßgeblich daran beteiligt, dass Jacky und weitere Titel des Chansonniers in den USA bekannter wurden. Er schrieb gemeinsam mit Eric Blau das Musical Jacques Brel Is Alive and Well and Living in Paris, das im Januar 1968 im New Yorker Off-Broadway-Theater Village Gate uraufgeführt wurde und in dem der Cast der Aufführung, zu dem unter anderem Elly Stone und Shawn Elliott zählten, neben anderen Songs auch Jacky vorgetragen hatte. Die Revue lief dort gut vier Jahre lang durchgehend. Spätere Coverversionen aus dem angloamerikanischen Raum stammen unter anderem von Momus (1986, unter dem Titel Nicky), Marc Almond, der mit seiner Dance-Single – in der Schreibweise Jacky, aber gleichfalls auf Englisch – 1991 sogar Platz 17 der britischen Charts erreichte, The Divine Comedy (1999) sowie den Secret Chiefs 3 und Mike Patton (2012). Auf Deutsch machte Klaus Hoffmann, der auch den Text geschrieben hat, das Lied schon in den 1970er Jahren bekannt und veröffentlichte es auf seiner LP Klaus Hoffmann singt Brel (1997) sowie erneut 2017 auf dem Live-Album Glaube Liebe Hoffmann. Jacky fehlt zudem bei kaum einem seiner Bühnenauftritte. Ebenfalls in den 1970er Jahren entstand eine Version unter dem Titel Joe von Werner Schneyder, die er selbst und Michael Heltau im Repertoire hatten. Eine fünfeinhalb Minuten lange Aufnahme von Konstantin Wecker aus dem Jahr 1984 (auf der Langspielplatte Inwendig warm nebst einer Single-Auskoppelung) verwendet ebenfalls Schneyders Übersetzung. 2011 entstand zudem eine Jacky-Fassung von Sven Ratzke, und auch Jan Böhmermann hat das Chanson unter dem Titel Janni bei Live-Auftritten vorgetragen. Weitere Coverversionen veröffentlichten auf Französisch unter anderem Pierre Vaiana (1996), Nicolas Peyrac (1998), Dominique Horwitz (2000), Maria Bill (2001) und Les Croquants (2004), auf Niederländisch Henk van Ulsen (1974) und David Vos (2001), auf Italienisch Duilio del Prete (2002, posthum) sowie auf Finnisch Marku Riikonen (1984). Gemessen an der Gesamtzahl, in der dieses Chanson für andere Künstler so attraktiv war, dass sie es selbst gesungen und auf Tonträgern verbreitet haben, ist La chanson de Jacky eines von Brels bedeutendsten Werken. Zwar reicht es in dieser quantitativen Betrachtung nicht an Ne me quitte pas (rund 1.470 Coverfassungen), La chanson des vieux amants (570), Amsterdam (540), Quand on n’a que l’amour oder Le moribond (je über 400 Versionen) heran; aber mit mehr als 130 Covers in mindestens 13 Sprachen und Dialekten – neben den vorstehend bereits angeführten auch besonders häufig auf Japanisch – belegt es einen Platz unter den 15 bei anderen Interpreten besonders beliebten Titeln des Chansonniers. Literatur Stéphane Hirschi: Jacques Brel. Chant contre silence. Nizet, Paris 1995, ISBN 2-7078-1199-8. Olivier Todd: Jacques Brel – ein Leben. Achilla-Presse, Bremen und Hamburg 1997, ISBN 3-928398-23-7 (zuerst auf Französisch 1984). Weblinks Plattencover und Playlist der EP von 1965 und des Albums von 1966, auf dem La chanson de Jacky in Frankreich erstmals erschien (beide bei encyclopedisque.fr, abgerufen am 20. Juni 2019) Französischer Text bei lyrics.com (abgerufen am 20. Juni 2019) Brels Originalfassung (1965) und seine Live-Version (1966), Letztere aus den Beständen des INA (abgerufen am 20. Juni 2019) Englischer Text bei songtexte.com (abgerufen am 20. Juni 2019) Walkers Version bei YouTube (abgerufen am 20. Juni 2019) Nachweise und Anmerkungen Chanson (Lied) Lied 1965 Jacques Brel
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https://de.wikipedia.org/wiki/Der%20Ursprung%20der%20Welt%20%28Comic%29
Der Ursprung der Welt (Comic)
Der Ursprung der Welt (schwedisch Kunskapens frukt) ist ein feministischer Comic von Liv Strömquist, der im Jahr 2014 beim Ordfront Förlag veröffentlicht wurde. Die deutsche Übersetzung brachte der avant-verlag 2017 heraus. Strömquist zeichnet in ihrem Werk die Kulturgeschichte der Vulva nach. Der Sachcomic ist ein internationaler Erfolg und wurde in zahlreiche Sprachen übersetzt. Auszüge aus dem Werk wurden mehrfach ausgestellt, wobei insbesondere die Darstellung menstruierender Frauen für kontroverse Debatten sorgte. Der Ursprung der Welt stellt nicht nur im Medium Comic, sondern auch für den wissenschaftlichen Diskurs einen bedeutenden feministischen Beitrag dar. Konzeption und Inhalt Liv Strömquist hatte sich zunächst mit dem Thema Menstruation beschäftigt, weil sie als Jugendliche starke Menstruationsschmerzen hatte, bis hin zu einer Ohnmacht im Schulunterricht, sich aber zu sehr schämte, als dass sie jemandem davon hätte erzählen können. Ihre Recherche weitete sich auf das weibliche Geschlechtsorgan aus. In fünf Kapiteln analysiert Strömquist die historische Konstruktion und Tabuisierung der Vulva. Der Sachcomic folgt dabei keiner zentralen Handlung, sondern die einzelnen Episoden in der Form grafischer Essays setzen Themenschwerpunkte. Als Einleitung noch vor der ersten Kapitelüberschrift begrüßt Strömquist ihre Leser fast überrascht und beiläufig. Die Figur wendet sich direkt an ihr Publikum, während sie in einem weißen Halbkreis vor einem ansonsten schwarzen Hintergrund steht, und leitet das erste Kapitel ihres Werkes ein. Im Folgenden wird der Inhalt der einzelnen Kapitel kurz vorgestellt. Kapitel 1 – Männer, die sich zu sehr dafür interessieren, was als „das weibliche Geschlechtsorgan“ bezeichnet wird (S. 7): Im ersten Kapitel nennt Strömquist sieben Negativbeispiele von Männern, die sich mit dem weiblichen Geschlechtsorgan beschäftigt haben. Darunter sind etwa John Harvey Kellogg, der Masturbation von Frauen durch Auftragen von Karbolsäure auf die Klitoris behandelte, und Hexenprozesse, bei denen „seltsame Zitzen“ an „heimlichen Stellen“ als Beweis dienten. Das Kapitel schließt mit einer Gruppe schwedischer Wissenschaftler, die im Jahr 1965 die sterblichen Überreste der Königin Christina von Schweden exhumieren ließen, um diese auf Spuren von Hermaphroditismus zu untersuchen. Kapitel 2 – Umgedrehter Hahnenkamm (S. 31): Strömquist beantwortet die Frage, was das weibliche Geschlechtsorgan überhaupt ist, und erläutert zum Beispiel den Unterschied zwischen Vulva und Vagina. Dabei stellt sie heraus, dass die beiden Begriffe größtenteils als Synonyme verwendet werden, was falsch sei. Sie geht außerdem kritisch auf die Darstellung weiblicher Geschlechtsorgane und den Umgang mit ihnen ein. So ließ beispielsweise der leitende NASA-Wissenschaftler John E. Naugle einen Strich im Schritt der Frau in den schematischen Darstellungen der menschlichen Anatomie entfernen, die der NASA-Raumsonde Pioneer 10 bei ihrem Start 1972 mitgegeben wurden. Außerdem werden laut Strömquist insbesondere die äußeren Geschlechtsorgane der Frau in zahlreichen gesellschaftlichen Aspekten sprachlich ausgeklammert. Viel zu oft würden diese durch Paraphrasen und Metaphern umschrieben, anstatt etwa die Vulva klar zu benennen. Kapitel 3 – OK!!! Jetzt kommt ein Comic über den Orgasmus. AAHHAA (S. 56): Dieses Kapitel beginnt mit Zitaten, in denen der weibliche Orgasmus als nebensächlich und fast schon unbedeutend beschrieben wird („[f]ür manche Frauen ist Sex nicht unbedingt gleichbedeutend mit Orgasmus, da andere Sachen für sie wichtiger sind“ oder „[d]ie Frau möchte vielleicht gar nicht bei jedem Geschlechtsakt zum Orgasmus kommen“). Wie auch an anderer Stelle tauscht Strömquist die Rollen, um die unterschiedliche Bewertung zwischen Frau und Mann hervorzuheben. Die Autorin macht außerdem den Punkt, dass der weibliche Orgasmus immer in Bezug auf die männliche Sexualität definiert sei. Die weibliche Sexualität werde mal als schlechtere Version, mal als Gegensatz zum Mann beschrieben, aber niemals als etwas Eigenes. Kapitel 4 – Feeling Eve oder Auf der Suche nach Mamas Garten (S. 83): Der Essay behandelt das Thema Scham, ausgehend vom Unterschied zwischen Scham, die sich auf etwas beziehe, das die eigene Person ausmacht, und Schuld, die man wegen etwas fühle, das man getan hat. Die Autorin legt dafür der biblischen Figur Eva kurze Anekdoten verschiedener Frauen in den Mund. Darunter sind etwa ein junges Mädchen, das sich für ihre erste Periode schämt und diese zu verstecken versucht („Woran ich mich am besten erinnere, ist, dass mein Bauch furchtbar wehtat. Nicht, weil ich Regelschmerzen hatte, sondern vor Angst.“), oder Frauen, die sich für ihre eigenen Geschlechtsorgane schämen oder gar vor ihnen ekeln. In einem anderen Zitat berichtet eine Frau von sexueller Belästigung, wovon sie aber niemandem erzählt, weil es ihr zu peinlich ist. Kapitel 5 – Blood Mountain (S. 99): Das letzte Kapitel des Sachcomics thematisiert ausführlich die Menstruation der Frau. Strömquist beschäftigt sich mit kulturellen, gesellschaftlichen sowie religiösen Einflüssen auf Wahrnehmung und Umgang mit dem Thema und betont hier vor allem die aktuelle Tabuisierung und fehlende Öffentlichkeit. Die Comiczeichnerin macht zum Beispiel die Tampon-Industrie zum Gegenstand ihrer Analyse und attestiert dieser eine „Obsession“ mit Begriffen wie „frisch“ und „sicher“. Sie geht ebenfalls auf den kulturellen Wandel ein, ausgehend etwa von der Steinzeit oder Antike, als die Menstruation als Sinnbild der Fruchtbarkeit galt und vielfach in Kunst und Kultur dargestellt wurde. Einige Seiten des abschließenden Essays setzen sich mit dem prämenstruellen Syndrom auseinander. Stil Die Autorin ergänzt ihre eigenen, einfach gehaltenen Zeichnungen mit zahlreichen Fotos und historischem Bildmaterial. Bis auf das vierte Kapitel Feeling Eve oder Auf der Suche nach Mamas Garten ist Der Ursprung der Welt in Schwarz-Weiß gehalten. Strömquist verfolgt mit ihrem Werk ebenfalls einen pädagogischen Ansatz und fügt in Bilder und Text wiederholt Fußnoten sowie Belege aus wissenschaftlicher Literatur ein. Die Fußnoten unterbrechen bewusst die Sequenz aus Text und Zeichnungen, um etwa den historischen Hintergrund genauer zu kontextualisieren. Schwedische Kritiker beschreiben das Werk als Gender-Studie in Comicform („genusvetenskap i serieform“). In meist einheitlich angeordneten Panels stellt Strömquist die Fakten und Ergebnisse ihrer Recherche vor und bezieht dabei auch persönlich Stellung zum Inhalt, etwa wenn sie den gesellschaftlichen Umgang mit dem Thema Menstruation und ihre Tabuisierung kritisiert. Das kurzweilige Medium Comic tritt insgesamt in den Hintergrund, so wird etwa die große Menge an Fakten mit Hilfe der Panels übersichtlich strukturiert und präsentiert. Die karikaturesk bis kindlich erscheinenden Zeichnungen sind eher illustrativ als inhaltlich. So ist zum Beispiel das letzte Kapitel komplett in Schwarz-Weiß gehalten, nur die Farbe Rot wird im starken Kontrast eingesetzt. In zwei nahezu identischen Panels verändert sich die Szene und Wahrnehmung dieser durch ein geändertes Detail: Der rote Fleck auf dem Sofa zwischen den Beinen der Frau entsteht einmal durch eine verrutschte Damenbinde, in der zweiten Szene durch ein umgeworfenes Glas Rotwein. Abwechslungsreicher fällt das dynamische Schriftbild aus, durch das Strömquist Komik und Tempo in ihre Erzählung bringt. So nutzt die Autorin etwa einen großen, schweren Schriftsatz, um nach dem Umblättern eine laute Pointe zu setzen. An anderer Stelle entsteht der Eindruck, Strömquist rede sich seitenlang mit Kleinbuchstaben in Rage. Die Künstlerin tritt selber als Figur in ihrem Comic auf und führt als scharfzüngige Moderatorin und kritische Kommentatorin durch einen großen Teil ihres Werkes. Wiederholt tauscht die Autorin die Rollen zwischen Frau und Mann, um die Unterschiede in der gesellschaftlichen Betrachtung und Beurteilung zu verdeutlichen. Im dritten Essay etwa lässt sie eine männliche Figur die Frage stellen, ob es wichtig sei, einen Orgasmus zu haben. Als wichtigen Einfluss und Referenzpunkt für Der Ursprung der Welt nennt Strömquist die Arbeiten der kanadischen Comiczeichnerin Julie Doucet. Analysen Der Ursprung der Welt stellt insbesondere im Medium Comic einen herausragenden Beitrag zu Feminismus- und Gender-Themen dar. Auch im wissenschaftlichen Kontext zeigt sich der Comic als relevant für die fortlaufende Diskussion. Da Strömquist ihr Narrativ in Der Ursprung der Welt ganz bewusst immer wieder unterbricht („metatextual interruptions that break up the flow“), kann man das Werk als selbst-reflektierenden Comic oder „Meta-Comic“ einordnen („self-reflexive comics“ oder „metacomics“). Durch den Bruch im Lesefluss wird die Aufmerksamkeit auf das Medium Comic selber gelenkt. Den Lesern bietet sich dadurch die Möglichkeit, den Stellenwert des Textes und den medialen Kontext des Werkes zu hinterfragen. Gleichzeitig wird allerdings auch die Aufmerksamkeit vom eigentlichen Inhalt abgelenkt, was insbesondere dem pädagogischen Ansatz entgegensteht. So unterbricht Strömquist etwa den Lesefluss, wenn ihre visuelle Repräsentation im Comic auf die Grenzen eben dieses Mediums und damit auch von Der Ursprung der Welt hinweist. Das Wort „frukt“ (schwedisch für „Frucht“) im Titel der Originalausgabe kann auf zwei Arten interpretiert werden. Zum einen assoziiert man mit dem Wort das erfolgreiche Resultat (harter) Arbeit, zum anderen die deutlichere Anspielung auf die verbotene Frucht vom Baum der Erkenntnis. Deswegen bezieht sich der Titel Kunskapens frukt (schwedisch für „Die Frucht der Erkenntnis“) ebenfalls mit doppelter Bedeutung auf den sexuellen Erkenntnisgewinn: erstens im Sinne jahrzehntelanger Studien und dem Wissenszuwachs zur weiblichen Sexualität innerhalb patriarchalischer Kulturen und zweitens als Archiv der gesellschaftlichen Unterdrückung und Delegitimierung von Frauen. Es gibt zahlreiche Ansätze und Möglichkeiten, Geschlechter in verschiedenen Gesellschaften zu organisieren. Erst im 19. Jahrhundert entstand eine Obsession mit der wissenschaftlichen Einordnung von Sexualorganen („könsorgan“) in „normal“ oder „abnormal“ („avvikande“). Diese Unterscheidung hatte ebenfalls eine Ausweitung disziplinarischer Macht zur Folge („Biopower“). Das Problem bezüglich Geschlecht manifestiert sich nicht nur in der Stigmatisierung des weiblichen Körpers, sondern auch in der Art, wie das Wissen innerhalb des Diskurses reproduziert wird, der sich zu sehr auf die Objekte und deren Definition konzentriert. Eine Szene im ersten Kapitel von Der Ursprung der Welt zeigt zwei Chirurgen, die operativ das Geschlecht intersexueller Säuglinge verändern, was in diesem Zusammenhang als Machtdemonstration zu verstehen ist. Durch den Einfluss des Sexualwissenschaftlers John Money, der ein binäres Geschlechtersystem unterstützte, setzte sich die Ansicht durch, intersexuelle Säuglinge möglichst früh zu operieren, um das Geschlecht des Kindes der binären Kategorisierung anzupassen. Parallel zur Operation unterhalten sich die beiden Ärzte. Sie kommentieren nicht nur ihre eigenen Handlungen während des Eingriffs, sondern thematisieren ebenfalls feministische Theorien und nehmen Bezug auf „Biopower“. Durch die Gegenüberstellung von kalter, ausdrucksloser Machtausübung und der kritischen Auseinandersetzung mit dem Thema erzeugt Strömquist eine Szene voll trockener Ironie. Dabei lässt sie offen, ob die Akteure ihre Handlungen nicht stoppen können oder wollen, etwa weil sie die Tragweite des operativen Eingriffs aus dem Blick verloren haben. Strömquist kommentiert die Szene unter anderem mit den Worten „Eine Muschi zu machen, bedeutete für die Ärzte eine Art Lockerungsübung während der Arbeitszeit, wie andere Leute facebooken“. Die letzte Seite des ersten Kapitels Männer, die sich zu sehr dafür interessieren, was als „das weibliche Geschlechtsorgan“ bezeichnet wird zeigt eine historische Darstellung der Königin Christina von Schweden. Die italienische Gravur aus dem 17. Jahrhundert stellt Königin Christina nach ihrer Abdankung dar, reitend und in maskuliner Kleidung betritt sie Rom. Strömquist legt über die historische Darstellung eine Sprechblase mit dem Text „Fuck off für immer“ („Fuck off för evigt“). Der Text kann als artikulierter Widerstand gegen die wissenschaftlichen und kulturellen Interessen bezüglich Einordnung und Klassifizierung von Körpertypen interpretiert werden, die insbesondere durch eine binäre Repräsentation von Sex und Gender dominiert sind. Die Verwendung des Bildes zeigt außerdem ein Beispiel für den Ansatz und Versuch, historische Figuren für Feminismus- und Queer-Theorien zurückzugewinnen. Das letzte Kapitel Blood Mountain macht die Menstruation und vor allem die aktuelle Tabuisierung zum Thema. In der wissenschaftlichen Einordnung stellt Der Ursprung der Welt einen zeitgenössischen Beitrag dar, der auf vorangegangenen Aktivismus und feministische Kritik aufbaut. Strömquists Comic beziehungsweise ihr Kapitel Blood Mountain wird unter anderem als „contemporary menstrual activism“ beschrieben. Dabei beanstandet diese Form des Aktivismus nicht nur die mangelnde Sichtbarkeit und Öffentlichkeit der Menstruation, insbesondere getrieben von der Industrie für Hygieneprodukte, sondern auch die binäre Abgrenzung menstruierender Körper als „anders“. Da nicht alle und nicht nur Frauen menstruieren, kann der Der Ursprung der Welt ebenfalls als Queer-Aktivismus verstanden werden. Strömquist gestaltete und moderierte am 24. Juni 2013 den Rundfunkbeitrag Sommar i P1 (schwedisch für „Sommer in P1“), dadurch fand das Thema Menstruation in Schweden zunehmend Beachtung. Es war sogar von einer Menstruationsrevolution in verschiedenen Kunstgattungen die Rede. Im Jahr 2014 erschien mit Kvinnor ritar bara serier om mens (schwedisch für „Frauen zeichnen nur Comics über Menstruation“) ein weiterer Comic zum gleichen Thema. Die Anthologie sammelt verschiedene Beiträge, die die Menstruation in unterschiedlichen Stilen und Perspektiven darstellen, unter anderem auch von Trans-Männern. Der Titel der Comic-Anthologie geht auf ein Zitat von Strömquist zurück, das die Comiczeichnerin bei Sommar i P1 tätigte: Ein männlicher Kollege äußerte gegenüber Strömquist, Comics von Frauen seien es nicht wert gelesen zu werden, weil es darin nur um Menstruation gehe. Veröffentlichungen und Verkaufserfolg Kunskapens frukt erschien 2014 beim Ordfront Förlag. Bis 2018 wurden von der schwedischen Originalausgabe etwa 40.000 Exemplare verkauft. Die deutsche Übersetzung von Katharina Erben veröffentlichte der avant-verlag im Jahr 2017. Die deutschen Ausgaben von Strömquist, die der avant-verlag publizierte, wurden vom schwedischen Kulturrådet (schwedisch für „Kulturrat“) mit 5000 schwedischen Kronen gefördert, was in etwa 500 Euro entspricht. Zu den finanziell unterstützten Übersetzungen zählen zum Beispiel Der Ursprung der Welt und Der Ursprung der Liebe. Der Titel der deutschen Ausgabe ist angelehnt an das Gemälde Der Ursprung der Welt (französisch L’Origine du monde) von Gustave Courbet. Das Cover der deutschen und der schwedischen Originalausgabe zeigt ein Foto der Comicautorin, die mit gespreizten Beinen auf einer kleinen Holzbank sitzt und mit den Händen ein Dreieck in ihrem Schritt formt. Auf der Bank neben Strömquist lehnt eine Maschinenpistole an der weißen Wand im Hintergrund. Die Covergestaltung ist eine Anspielung auf die Aktion „Genitalpanik“ der Künstlerin Valie Export aus dem Jahr 1968. Begründet durch den anhaltenden Verkaufserfolg von Der Ursprung der Welt wurden auch frühere Bücher der Autorin ins Deutsche übersetzt. Im Jahr 2020 stellte Der Ursprung der Welt nach wie vor den größten Verkaufserfolg des avant-verlages dar, im folgenden Jahr wurde die deutsche Veröffentlichung in der 15. Auflage gedruckt. Auf der Bestsellerliste zum Thema „Graphic Novel“ von Buchreport belegte der Sachcomic im Februar 2021 den zweiten Platz. 2018 brachte der avant-verlag die zunächst einzeln veröffentlichten Comicalben Der Ursprung der Welt und Der Ursprung der Liebe zusammen in einer Hardcoverausgabe heraus. Kunskapens frukt. Ordfront Förlag, Stockholm 2014, Danskt Band (Softcover mit Klappen), 139 Seiten, ISBN 978-91-7037-804-1. Der Ursprung der Welt. Avant-verlag, Berlin 2017, Softcover, 140 Seiten, ISBN 978-3-945034-56-9. Der Ursprung der Welt & Der Ursprung der Liebe. Avant-verlag, Berlin 2018, Hardcover mit Leinenrücken, 280 Seiten, ISBN 978-3-96445-003-6. Die französische Ausgabe L’origine du monde publizierte Rackham 2016 (ISBN 978-2-87827-197-3). Auf dem Cover ist eine Zeichnung aus dem vierten Kapitel Feeling Eve oder Auf der Suche nach Mamas Garten zu sehen. Das Motiv zeigt die biblische Figur Eva zusammen mit der Schlange aus dem Garten Eden. Mit Fruit of Knowledge: The Vulva vs. The Patriarchy erschien im Jahr 2018 der erste Comic von Strömquist in englischer Übersetzung. In den USA brachte Fantagraphics Books den Comic heraus (ISBN 978-1-68396-110-9), die britische Ausgabe veröffentlichte Virago Press (ISBN 978-0-349-01073-1). Auf dem Cover der US-amerikanischen und britischen Veröffentlichung ist das gleiche Foto der Künstlerin zu sehen, allerdings wurde die Maschinenpistole aus der Abbildung entfernt. Es gibt weitere Übersetzungen ins Bulgarische, Dänische, Finnische, Italienische, Japanische, Kroatische, Niederländische, Philippinische, Portugiesische, Russische, Slowenische, Spanische, Tschechische und Ukrainische. Ausstellungen Ende 2014 zeigte das Landskrona Museum vergrößerte Auszüge und Bilder aus dem vierten Kapitel Blood Mountain. Von 2017 bis 2019 waren insgesamt 26 Bilder von Strömquist unter dem Titel „The Night Garden“ in der Stockholmer U-Bahn-Station Slussen zu sehen. Neben Zeichnungen aus Der Ursprung der Welt waren auch Beiträge aus früheren Werken der Künstlerin sowie exklusive Illustrationen für die Installation ausgestellt. Neben Darstellungen von etwa Pflanzen und Tieren wurden auch drei Illustrationen menstruierender Frauen gezeigt, darunter eine Eiskunstläuferin aus Der Ursprung der Welt. Insbesondere die deutlich sichtbare Darstellung menstruierender Frauen löste bei den Pendlern unterschiedliche Reaktionen aus, die vor allem über Social Media bekannt wurden: Einige empfanden die Bilder als witzig oder gelungen provokant, andere sahen in den Darstellungen einen schockierenden Tabubruch. Ein zentraler Kritikpunkt drehte sich um die Frage, ob eine öffentliche Haltestelle einen angemessenen Ausstellungsrahmen für solche Themen darstellt. Bei der Stockholmer Nahverkehrsgesellschaft Storstockholms Lokaltrafik gingen rund 30 formale Beschwerden zu der Ausstellung ein. Fast alle Bedenken bezogen sich auf die menstruierenden Charaktere und wurden hauptsächlich von Männern geäußert. Die rechtspopulistische Partei Sverigedemokraterna (schwedisch für „Die Schwedendemokraten“) setzte sich erfolglos für ein frühzeitiges Ende der mit öffentlichen Geldern finanzierten Installation ein. Aufgrund ihrer Erfahrungen kamen die unterschiedlichen Reaktionen für Strömquist nicht überraschend und sie bewertete deshalb die angestoßene Debatte als insgesamt wichtig und dem Thema zuträglich. Auch außerhalb ihres Heimatlandes Schweden wurden Bilder und Auszüge aus Strömquists Der Ursprung der Welt ausgestellt. Von August bis Oktober 2016 waren Zeichnungen der Künstlerin im Institut Suédois in Paris im Rahmen der Ausstellung „Le Divan de Liv“ zu sehen. Die Beiträge aus Der Ursprung der Welt, dessen französische Übersetzung etwa einen Monat vor Ausstellungsbeginn erschien, präsentierte der Veranstalter in einem eigenen Ausstellungssaal. Gezeigt wurden unter anderem Auszüge aus dem ersten Kapitel Männer, die sich zu sehr dafür interessieren, was als „das weibliche Geschlechtsorgan“ bezeichnet wird, etwa zu Sigmund Freud und John Harvey Kellogg, oder Darstellungen menstruierender Charaktere aus dem fünften Kapitel Blood Mountain. Im Rahmen des Nordwind Festival 2019 in Hamburg wurde Strömquist eine Ausstellung im Kulturzentrum Kampnagel gewidmet. Neben Zeichnungen aus Der Ursprung der Welt waren auch Nachdrucke aus den Comics Der Ursprung der Liebe und I’m every woman zu sehen. Im Jahr 2022 wurde beim Comic-Salon Erlangen eine große Ausstellung zu Strömquists Werk im Kunstpalais unter dem Titel Liv Strömquist: Fruits of Knowledge gezeigt, die von Juni bis September 2023 vom Museum Strauhof in Zürich übernommen wurde. Ausgangspunkt der Ausstellung ist laut Veranstaltern die „Neuerzählung der Geschichte der Vulva, mit der Strömquist vor zehn Jahren im deutschsprachigen Raum bekannt wurde“. Neben ihren Illustrationen wurde eine Reihe von Videos gezeigt, in denen unter anderem bekannte Persönlichkeiten aus den Werken Strömquists vorlesen, darunter befanden sich beispielsweise Hella von Sinnen und Bela B. Adaptionen Im Theater Ballhof in Hannover war Der Ursprung der Welt am 22. März 2020 erstmals als Theaterfassung zu sehen. Die Regie führte Franziska Autzen, die Dramaturgie übernahm Friederike Schubert. Am 19. September 2020 führte das Staatstheater Hannover Der Ursprung der Welt erneut als Schauspiel auf. Ursprünglich waren Vorstellungen bis Dezember 2020 geplant, aufgrund der COVID-19-Pandemie setzte das Staatstheater den Spielbetrieb allerdings am 2. November 2020 aus. Bedingt durch die Auswirkungen der Pandemie mussten etwa zehn geplante Theaterinszenierungen vor Publikum ausfallen. Alternativ wurde die Bühnenadaption von Der Ursprung der Welt sowie weitere aktuelle Produktionen des Staatstheaters Hannover als Videostream angeboten. Das etwa 90-minütige Theaterstück wurde ebenfalls unter der Regie von Franziska Autzen inszeniert. In einer Form der Publikumsbeschimpfung stehen vier Darstellerinnen als Ankläger des Patriarchats auf der Bühne und tragen Strömquists Anekdoten, Recherchen und Gedanken vor. Das Bühnenbild ist geprägt von einer schweren, schwarzen Treppe, über dessen Stufen ein roter Teppich in den vorderen Bühnenbereich „menstruiert“. Bildmaterial aus dem Comic wird in dem Stück nur sehr wenig verwendet. Rezeption Der Ursprung der Welt wurde in deutschsprachigen Medien insgesamt positiv besprochen, insbesondere die umfangreiche Recherche, der Informationsgehalt und der schlagfertige Humor werden gelobt. Auf Kritik stoßen zum Teil die einfach gehaltenen Zeichnungen und einheitlichen Panelanordnungen. In Der Tagesspiegel hält Marie Schröer fest, Liv Strömquist gebe „feministischer Theorie ein neues Gewand und demonstriert das Potential des Comics für grafische Essays“. Strömquist moniere die „Tabuisierung, Banalisierung, oder Dämonisierung der weiblichen Geschlechtsorgane seitens kirchlicher, (pseudo-)wissenschaftlicher oder kulturbetrieblicher Vertreter“ und ihre Arbeit diene als „Grundlage […] über den Umgang mit den Konsequenzen semiotischer Zuschreibungen“. Bei Deutschlandfunk Kultur hebt Jule Hoffmann Liv Strömquist als selbstbewusste Erzählerin hervor, die „mit viel Leidenschaft und zugleich auch viel Selbstironie Aufklärungsarbeit betreibt“. Das Werk sei ein lehrreiches „Sammelsurium haarsträubender Details aus der Sexualforschung und Kulturgeschichte der weiblichen Sexualität“. Jan-Paul Koopmann schreibt in Der Spiegel, so allgegenwärtig wie nackte Haut auch sei, insbesondere die weiblichen, primären Geschlechtsorgane „werden vorsätzlich aus der öffentlichen Bilderwelt verdrängt“. Liv Strömquist „führt ihre Gegner vor, entlarvt sie als verklemmte Sexisten“ und mache dies mit „beachtlicher Schlagfertigkeit und im Comic geschickt inszeniertem Wortwitz“. Ihre Zeichnungen treten dabei „eher als ungelenk-cartoonige talking heads in Erscheinung“, das Schriftbild allerdings sei „geradezu aufregend“. In der Neuen Zürcher Zeitung beschreibt Christian Gasser das Werk als „[u]mfassend recherchiert, mit feministischer Verve gezeichnet und mit ätzendem Sarkasmus gewürzt“. Es sei „[a]ufschlussreich, unterhaltsam, informativ, aufklärerisch und witzig“. Nadja Schlüter schließt sich bei Jetzt dem Lob an, der Der Ursprung der Welt fasse die Kulturgeschichte des weiblichen Geschlechtsorgans „extrem amüsant und informativ“ zusammen. Im Titel-Kulturmagazin kommt Philip Dingeldey zu dem Schluss, dass die meisten Themen zwar nur grob angeschnitten werden, trotzdem gelinge es Strömquist dank intensiver Recherche, „in der Öffentlichkeit eher weniger bekannte Fakten aufzuzeigen“. Es schade kaum der Qualität des Buches, dass viele Seiten mit einheitlich angeordneten Panels eher langweilig gestaltet seien und die Zeichnungen häufig eher unbeholfen wirkten. Sie nutze die „Kombination aus Text und Bild für eine bessere szenische und pointierte Darstellung“. Auch international wurde Der Ursprung der Welt größtenteils positiv rezipiert, dabei werden ebenfalls der umfangreiche Informationsgehalt und der Humor herausgestellt. Rachel Cooke lobt in The Guardian den Sachcomic über die Unterdrückung der weiblichen Sexualität als geistreich, scharfsinnig, aber auch wütend („[w]itty, clever and angry, this book about the suppression of female sexuality is fantastically acute“). In ihrem Artikel hebt Cooke insbesondere das letzte Kapitel positiv hervor, in dem Strömquist die Tampon-Industrie für die von der Comiczeichnerin postulierte „Obsession“ mit Begriffen wie „frisch“ und „sicher“ kritisiert. Für Cooke gehört die britische Ausgabe von Fruit of Knowledge: The Vulva vs. The Patriarchy zu den wichtigsten Veröffentlichungen des Jahres 2018 im Bereich „Graphic Novel“. In Publishers Weekly wird die Veröffentlichung als lebendige Sammlung graphischer Essays beschrieben, die ein breites Themenspektrum abdecke. Strömquist gelinge dabei eine ausgewogene Balance zwischen ernsthafter Analyse und respektlosem Humor („embraces an often fraught topic, balancing serious analysis and irreverent, R-rated humor“). Strömquist sei im Vergleich zu anderen Zeichnerinnen zwar weniger talentiert, trotzdem hat ihr Werk für Hillary Chute in The New York Times einen eigenen, wenn auch etwas schrägen Charme („wonky charm“). Der Comic sei lehrreich, vielfältig, akademisch, aber auch gewollt albern und etwas eigenartig („Fruit of Knowledge grew on me because of its weird, hybrid, this-only-really-happens-in-comics tone: It’s didactic, goofy, academic“). Laut France Culture überzeuge Strömquist durch eine genaue und klare Analyse. Für Überraschungen sorgten schnelle Wechsel zwischen Gegenwart und Vergangenheit, unerwartete Parallelen und der allgegenwärtige Humor („Liv Strömquist nous surprend encore une fois par la justesse et la clarté de son analyse, ses allées et retours effrénés entre passé et présent, ses parallèles inattendus et, surtout, son omniprésent humour au vitriol“). Trotz des bitteren Grundtons ist Fruit of Knowledge: The Vulva vs. The Patriarchy laut Michael Lorah auf Comic Book Resources extrem lustig („[w]hile the book possesses an underlying bitterness, it’s extremely funny“). Bereits beim dritten Panel habe er beim Lesen laut auflachen müssen. Strömquist vermag es laut Mike Classon Frangos, anspruchsvolle Konzepte verständlich und zugänglich zu präsentieren. Mit Hilfe des Mediums Comic erläutere sie komplexe Theorien anschaulich, gleichzeitig ergänze sie die laufende feministische Debatte um eine alternative Repräsentationsform. Weblinks Der Ursprung der Welt beim avant-verlag Der Ursprung der Welt bei Deutscher Comic Guide Der Ursprung der Welt bei Perlentaucher Kunskapens frukt in der Grand Comics Database (englisch) Leseprobe bei Der Spiegel Einzelnachweise Comic (Werk) Feministische Kunst Feministische Publikation Geschlechtergeschichte Vulva
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https://de.wikipedia.org/wiki/Sibley%20Railroad%20Bridge
Sibley Railroad Bridge
Die Sibley Railroad Bridge ist eine eingleisige Eisenbahnbrücke der US-amerikanischen Class-1-Bahngesellschaft BNSF Railway über den Unterlauf des Missouri River. Sie liegt etwa 35 Kilometer östlich von Kansas City in der Nähe der namensgebenden Stadt Sibley, wo der Missouri River die Grenze zwischen dem Jackson County und dem Ray County im Bundesstaat Missouri der USA bildet. Die erste Brücke wurde hier 1888 als Teil der Erweiterung des Eisenbahnnetzes der Atchison, Topeka and Santa Fe Railway (AT&SF) von Kansas City nach Chicago in Betrieb genommen. Der damals noch unregulierte wilde Missouri war besonders an seinem Unterlauf ein stark mäandrierendes Fließgewässer, was über Jahrzehnte umfangreiche wasserbauliche Maßnahmen zur Vermeidung von Flusslaufänderungen am Brückenstandort nötig machte. Mit der Entwicklung immer leistungsstärkerer Dampflokomotiven Anfang des 20. Jahrhunderts kam die schmiedeeiserne Fachwerkbrücke an ihre Belastungsgrenze, was den Austausch des Überbaus durch eine Stahlkonstruktion für höhere Traglasten erforderte. Von 1911 bis 1915 wurden die Fachwerkträger der Hauptbrücke sowie die Trestle-Brücke der nördlichen Zufahrt bei laufendem Betrieb schrittweise entlang des 1,2 Kilometer langen Bauwerks ersetzt. Die AT&SF ging 1995 in der BNSF auf, die die seit 1915 unveränderte Brücke als Teil ihrer transkontinentalen Hauptstrecke zwischen Südkalifornien und Chicago für den Schienengüterverkehr betreibt. Dieser auf die AT&SF zurückgehende Eisenbahnkorridor wird heute als Southern Transcon bezeichnet und ist die wichtigste Route für den intermodalen Güterverkehr der BNSF. Zudem verkehrt der Amtrak-Fernzug Southwest Chief über die Brücke. Das durchschnittliche Verkehrsaufkommen über die Brücke lag 2017 bei täglich 70–75 Zügen. Geschichte Expansion der AT&SF bis Mitte der 1880er-Jahre Die Atchison, Topeka and Santa Fe Railway (AT&SF) hatte ihre Anfänge im Zentrum der USA, wo 1859 eine Verbindung der namensgebenden Städte Atchison und Topeka im Bundesstaat Kansas in Angriff genommen wurde. Mit der Erweiterung des Streckennetzes nach Südwesten durch Colorado und New Mexico, wurde in den 1860er-Jahren der angestrebte Zielort Santa Fe mit in den Unternehmensnamen aufgenommen. Die Gesellschaft erreichte 1880 Albuquerque und expandierte bis Mitte der 1880er-Jahre weiter westwärts nach Kalifornien und südwärts bis zum Golf von Mexiko. Für die Erweiterung in die nördlichen und östlichen Bundesstaaten des Mittleren Westens stellte der Missouri River eine natürliche Barriere dar, hielt aber andererseits auch Eisenbahngesellschaften von der Expansion nach Kansas ab. Erst ab 1869 entstanden die ersten Eisenbahnbrücken über den Fluss, wie die Hannibal Bridge in Kansas City (1869), die Wabash Bridge in Saint Charles (1871) oder die Omaha Bridge in Omaha (1872), die aber unter der Kontrolle anderer Eisenbahngesellschaften standen. Kansas City war der Hauptumschlagpunkt der AT&SF mit den nordöstlichen Eisenbahnnetzen, aber mit der Expansion anderer Gesellschaften nach Kansas Anfang der 1880er-Jahre setzte der damalige Präsident der AT&SF William Barstow Strong (1881–1889) auf den Ausbau des eigenen Streckennetzes von Kansas nach Chicago. Strong wollte mit seinem Chefingenieur Albert A. Robinson die direkteste und schnellste Verbindung nach Chicago schaffen. Strong erwarb dazu 1886 in Illinois die Chicago and St. Louis Railway zwischen Chicago und Pekin und ließ von Robinson den Verlauf der neu gegründeten Tochtergesellschaft Chicago, Santa Fe and California Railway planen, die über 500 Kilometer von Kansas City nach Streator nahezu entlang der Luftlinie verlaufen sollte (daher auch als Airline bezeichnet). Erste Eisenbahnbrücke in Sibley 1888 Robinson engagierte für die größten Brücken entlang der Strecke den Bauingenieur und späteren Luftfahrt-Pionier Octave Chanute, der 1869 schon die Hannibal Bridge errichtet hatte. Zusammen planten sie Querungen über den Missouri, den Grand, den Des Moines, den Mississippi und den Illinois. Nach den Vorgaben des War Departments durfte der Schiffsverkehr auf dem Missouri und Mississippi nicht behindert werden, was Chanute bei der Mississippibrücke in Fort Madison durch eine Drehbrücke und bei der Sibley Railroad Bridge durch eine hohe Konstruktion mit ausreichend lichter Höhe über dem Fluss gewährleistete. Zur Führung des Gleisverlaufs in fast 28 Meter Höhe über Niedrigwasser waren für die Missouribrücke ausgedehnte Zufahrten nötig, wodurch sich die hauptsächlich aus Schmiedeeisen bestehende Brücke über eine Länge von 1,2 Kilometern erstreckte, ergänzt um einen Bahndamm über die nordöstliche Schwemmebene des Missouri River Valley. Zur Realisierung einer möglichst direkten Streckenführung war die Querung des stark mäandrierenden Missouri zwischen den Flussschlingen Jackass Bend (Prallhang am Nordufer) und Sibley Bend (Prallhang am Südufer) nördlich von Sibley vorgesehen (siehe unter Flusslauf des Missouri). Im Januar 1887 durchgeführte Bodenuntersuchungen entlang des Missouri River Valley zeigten jedoch, dass das Grundgestein meist erst in einer Tiefe von fast 20 Meter erreichbar war. Unterhalb der Flussschlinge Sibley Bend kam es aber zu einem Ansteigen des Grundgesteins auf eine Tiefe von weniger als 10 Meter. Das Vorkommen von größeren Gesteinsbrocken oberhalb der Erhebung ließ auf das Vorhandensein einer Endmoräne schließen, die den Endpunkt eines eiszeitlichen Gletschervorstoßes markiert, der hier maßgeblich das Profil des Grundgesteins der nördlichen Seite des Flusstals prägte. Man entschied sich daher für einen leichten Umweg in der Streckenführung nach Sibley und errichtete eine Fachwerkbrücke am unteren Ende der Sibley Bend, die durch wasserbauliche Maßnahmen heute nur noch schwach ausgeprägt ist. Die flussauf liegende Flussschlinge Jackass Bend ist nur noch ein Altarm, markiert aber nach wie vor den Grenzverlauf zwischen dem Jackson County und dem Ray County. Die Brücke gliederte sich von Südwest nach Nordost in einen kurzen Balkenträger, sieben Fachwerkträger von insgesamt 610 Meter Länge, gefolgt von einer 580 Meter langen Eisen-Trestle-Brücke. Dann folgte noch eine 1,1 Kilometer lange Holz-Trestle-Brücke, die am Anfang eine Rechtskurve beschrieb und dann in gerader Linie nach Osten verlief; sie wurde wenig später zu einem Bahndamm verfüllt. Die Steigung entlang der Zufahrt über die nordöstliche Schwemmebene betrug 8 ‰ und am Südufer des Missouri war die Gleisebene der Brücke auf Bodenniveau. Die Fachwerkbrücke ruhte auf acht bis zu 35 Meter hohen aus Sandstein gemauerten Brückenpfeilern, die größtenteils mittels Senkkästen direkt auf dem Grundgestein errichtet wurden. Die Bauarbeiten begannen im April 1887 und waren nach nur 293 Tagen im Januar des Folgejahres abgeschlossen. Ausbau der Southern Transcon und neuer Brückenüberbau 1915 Anfang des 20. Jahrhunderts wurden die Dampflokomotiven immer leistungsstärker und schwerer. Zudem nahm der Verkehr auf der wichtigen Hauptstrecke zwischen Chicago und Südkalifornien stetig zu. Während der Präsidentschaft von Edward Payson Ripley (1896–1920) modernisierte die AT&SF die Hauptstrecke und baute sie teilweise zweigleisig aus. Mit dem Belen Cutoff entstand 1903–1907 zudem eine Verbindung von der über Amarillo in Texas verlaufenden Pecos-Zweigstrecke an die Hauptstrecke über den Raton Pass, die südlich von Albuquerque in Belen angeschlossen wurde. Damit konnten die bis zu 3,5 % großen Steigungen über den Raton Pass umfahren werden. Der Güterverkehr nach Südkalifornien verläuft bis heute entlang dieser Verbindung über den Abo Canyon mit maximalen Steigungen von 1,3 %, hauptsächlich die Personenzüge der AT&SF – wie der seit 1936 verkehrende Super Chief – nutzten später noch die alte Strecke über den Raton Pass. Der so entstandene Eisenbahnkorridor wird heute als Southern Transcon bezeichnet und zählt zu den wichtigsten transkontinentalen Eisenbahnverbindungen der USA. Im Rahmen der Modernisierung mussten auch viele Brücken durch Konstruktionen für höhere Traglasten ersetzt werden. In Sibley prüfte man den Neubau einer zweigleisigen Brücke in gerader Verlängerung des nordöstlichen Bahndamms, um die vorhandenen Kurven zur alten Brücke zu umgehen. Die Modernisierung der vorhandenen Konstruktion bei Wiederverwendung der alten Brückenpfeiler war aber kostengünstiger. Die Brückenpfeiler ließen zwar keinen neuen Überbau für zwei Gleise zu, aber der zweigleisige Streckenausbau bis zur Flussquerung und die Verwendung einer Gleisverschlingung auf der Brücke wurde als vorerst ausreichend eingestuft; wenn nötig konnte später immer noch auf einen Neubau zurückgegriffen werden. Zusätzlich zum Austausch des Überbaus sollte die ursprüngliche Steigung der nordöstlichen Zufahrt auf 5 ‰ reduziert und der Bahndamm für zwei Gleise ausgebaut werden. Dies erforderte eine Erhöhung, Verlängerung und Verbreiterung des Bahndamms und eine Erhöhung der Trestle-Brücke. Da alle Arbeiten bei laufendem Verkehr erfolgen mussten, wobei etwa 16 Züge in den Tagstunden die Brücke überquerten, erstreckten sich die Bauarbeiten über mehrere Jahre von September 1911 bis Juli 1915. Zuerst besserte man witterungsbedingte Schäden im oberen Bereich der Brückenpfeiler aus und modifizierte einige von ihnen wie auch die beiden Widerlager für den neuen Überbau. Danach wurden mit Hilfe von Portalkränen nacheinander die ursprünglichen drei großen parallelgurtigen Whipple-Fachwerkträger (engl. whipple truss, nach dem Erfinder Squire Whipple, 1804–1888) der Hauptöffnung über dem Missouri durch moderne Halbparabelträger ersetzt sowie die angrenzenden kleineren Fachwerkträger ausgetauscht. Dann musste der Bahndamm stufenweise erhöht werden, bevor schließlich mit dem Austausch der Trestle-Brücke begonnen werden konnte. Eine bemerkenswerte Neuerung an der Fachwerkbrücke war die Verwendung eines Gleisbettes aus Schotter auf einem Holzunterbau, wodurch langfristig die Wartungskosten des Gleises deutlich reduziert werden konnten. Die Planung und Ausführung erfolgte unter der Leitung der Ingenieure der AT&SF Charles F. W. Felt (Chefingenieur) und Albert F. Robinson (Brückeningenieur); Robinson entwarf später auch die neue Mississippibrücke der AT&SF in Fort Madison (1927). Die American Bridge Company fertigte den neuen Stahl-Überbau, der von der Missouri Valley Bridge and Iron Co. errichtet wurde. Arbeitskräfte der AT&SF führten die Arbeiten am Bahndamm und an der neuen Stahl-Trestle-Brücke aus. Übernahme durch die BNSF Railway 1995 Mit dem Ausbau des Straßennetzes in den USA verlagerte sich der Personen- und Güterverkehr von der Eisenbahn zunehmend auf die Straße, was ab den 1960er Jahren die großen Bahnnetze in Nordamerika immer unrentabler machte und in der Folgezeit zu mehreren Insolvenzen und Fusionen der Eisenbahngesellschaften führte. Um sich breiter über weitere Wirtschaftsbereiche aufzustellen, wurde 1967 die Holdinggesellschaft Santa Fe Industries gegründet. Nach einer gescheiterten Fusion mit der Southern Pacific Company zur Santa Fe Pacific Corporation wurde die AT&SF 1995 mit der Burlington Northern Railroad zur heutigen BNSF Railway (Burlington Northern and Santa Fe Railway) vereinigt. Schon Anfang der 1990er-Jahre begann die AT&SF mit dem umfassenden zweigleisigen Ausbau der über 800 Kilometer langen Strecke zwischen Südkalifornien und dem Michigansee, der von der BNSF fortgeführt wurde. Die Sibley Railroad Bridge ist heute einer von zwei verbliebenen eingleisigen Abschnitten und wird von täglich 70–75 Zügen befahren (2017); die Gleisverschlingung auf dem Bauwerk ist nicht mehr vorhanden. Die BNSF betreibt nur noch Schienengüterverkehr, der Personenverkehr in den USA wurde bis Anfang der 1980er Jahre vollständig von der 1971 gegründeten National Railroad Passenger Corporation übernommen, bekannt unter dem Markennamen Amtrak. Der über die Brücke verkehrende Fernzug Super Chief der AT&SF wurde ab 1974 von Amtrak als Southwest Limited und ab 1984 schließlich unter dem Namen Southwest Chief weiterbetrieben. Er nutzt gleich dem Güterverkehr die Southern Transcon der BNSF, verläuft aber zwischen Kansas City und Albuquerque entlang der alten Hauptstrecke der AT&SF über den Raton Pass. Beschreibung Gesamtüberblick Die Sibley Railroad Bridge liegt senkrecht zur Fließrichtung des Missouri und erstreckt sich zwischen den Widerlagern von Südwest nach Nordost über 1244 m. Das Bauwerk gliedert sich vom Sibley-Ufer beginnend in eine Balkenbrücke von 85,6 m Länge, gefolgt von einer das Flussbett überspannenden Fachwerkbrücke aus sechs Einfeldträgern von insgesamt 548,5 m Länge und einer abschließenden 609,9 m langen Trestle-Brücke über das Schwemmland des Missouri River Valley. Die 8700 t schwere Stahlkonstruktion von 1915 ruht auf den beiden Widerlagern und neun Brückenpfeilern aus Sandstein und Beton sowie 15 Gerüstpfeilern aus Stahl. Am Sibley-Ufer ist die Gleisebene auf Bodenniveau, auf der Fachwerkbrücke liegt sie waagerecht in 28 m Höhe über Niedrigwasser und verläuft dann mit einem Gefälle von 5 ‰ über die Trestle-Brücke. Der sich anschließende bis zu 17 m hohe Bahndamm mit dem gleichen Gefälle macht dann eine Rechtskurve, bevor er in gerader Linie etwa drei Kilometer nach Osten über das Schwemmland bis zum Fishing River verläuft. Fachwerkbrücke Seit der Modernisierung der Brücke in den 1910er-Jahren beginnt das Bauwerk auf der Südseite mit einer dreifeldrigen Balkenbrücke aus Trägern von 24,5 m und zweimal 30,3 m Länge, da der ursprünglich nach dem ersten kurzen Balkenträger folgende 61,0 m lange Fachwerkträger ebenfalls durch zwei neue Vollwandträger ersetzt wurde. Dazu mussten damals der erste Brückenpfeiler erhöht und ein weiterer Betonpfeiler (1b) errichtet werden. Die Abfolge der sechs folgenden Fachwerkträger blieb bezogen auf die Spannweiten unverändert, da man die Brückenpfeiler 2–8 von 1885 weiterverwendete. Diese wurden bis auf die Pfeiler 2 und 8 mittels Senkkästen direkt auf dem Grundgestein errichtet, das in Tiefen von 9–12 m unter Niedrigwasser liegt. Die Strompfeiler ragen bis zu 26 m aus dem Wasser empor und besitzen 7–10 m hohe Fundamente, mit Grundflächen von bis zu 19 m × 8 m (Pfeiler 3 und 4). Der größte Pfeiler 5 erreicht dadurch eine Höhe von 35,2 m von der Fundamentunterkante. Der Überbau gliedert sich von Pfeiler 2 bis 5 in drei 120,7 m lange Halbparabelträger mit untenliegendem Gleis, die als spezielle Ständerfachwerke ausgeführt sind. Diese als Pennsylvania truss bezeichnete Bauform wurde von der Pennsylvania Railroad entwickelt und bis in die 1930er Jahre hauptsächlich für Eisenbahnbrücken verwendet. Durch zusätzliche Pfosten sowie zusätzliche Längs- und Querverstrebungen im unteren Bereich werden die Fachwerkfelder hier nochmals unterteilt und verstärkt. Die Bauform war bei höheren Traglasten im Design materialsparender als ältere Fachwerkskonstruktionen, was zur Minimierung des Eigengewichtes gerade bei großen Spannweiten von Bedeutung war. Zwischen Pfeiler 5 und 8 folgen dann drei parallelgurtige Fachwerkträger mit obenliegendem Gleis, mit Längen von 75,3 m und zweimal 52,6 m Länge. Der längere ist als einfaches Ständerfachwerk und die beiden kürzeren sind als Strebenfachwerke mit Pfosten ausgeführt. Die Breite der Fachwerkträger beträgt 6,4 m bei den drei langen und 4,9 m bei den drei kürzeren Trägern, wobei immer der Abstand zwischen den Mittelachsen der Fachwerke angegeben wird. Trestle-Brücke Auf die Fachwerkbrücke folgt über das nördliche Schwemmland eine 609,9 m lange Trestle-Brücke (Gerüstpfeilerviadukt) aus 30 Balkenträgern, die von 14 etwa 14 m breiten Gittermasten bzw. Gerüstpfeilern sowie zwei schmalen Stahlpfeilern am jeweiligen Ende (einer auf dem letzten Steinpfeiler Nr. 8 der Fachwerkbrücke und einer vor dem nördlichen Widerlager) getragen werden. Die gleichmäßige Abfolge von 27,4 m langen Trägern zwischen den Masten und 13,7 m langen Trägern über den Masten wird ergänzt durch einen Träger von 22,9 m Länge, der den Anschluss zur Fachwerkbrücke bildet, und zwei Trägern von 18,4 m Länge zum nördlichen Widerlager hin, zwischen denen der letzte schmale Stahlpfeiler steht. Die 14 Gittermasten und der letzte Stahlpfeiler ruhen auf jeweils vier bzw. zwei Betonsockeln, wobei quer zur Längsachse der Brücke jeweils zwei der Sockel durch eine schmale Betonwand zu einem Fundament verbunden sind. Diese sind mittels Pfahlgründung im Boden verankert und variieren in der Höhe so, dass bei Verwendung von baugleichen Gittermasten die leichten Höhenunterschiede über das Schwemmland ausgeglichen sowie das Gefälle der Gleisebene realisiert werden konnte. Die Balkenträger bestehen aus zwei parallelen Vollwandträgern in einem Abstand von etwa 3 m, wobei die Träger größer 20 m Länge höher sind als die kürzeren Träger, die wiederum auf den höheren Trägern aufgelagert sind. Dieser Umstand bedingte eine leichte Kippung des letzten Gittermastes, da die hier zum Widerlager folgenden Träger die gleiche Höhe des Trägers auf dem Mast haben. Flusslaufänderungen des Missouri am Brückenstandort Bis zum Ende des 19. Jahrhunderts war der Missouri ein wilder unregulierter Fluss und transportierte jährlich über 300 Mio. Tonnen Geschiebe, was ihm den Spitznamen Big Muddy verlieh. Besonders sein Unterlauf war dadurch ein stark mäandrierendes Fließgewässer, mit einem sich stetig verändernden Flusslauf im durchschnittlich etwa acht Kilometer breiten Missouri River Valley. Die flussaufwärts von Sibley liegende Flussschlinge Jackass Bend wanderte schon vor der Errichtung der ersten Brücke nach Osten auf deren zukünftigen Standort zu und veranlasste die AT&SF ab 1887 zum Bau von mehreren Deichen und Uferbefestigungen am Ostufer der Flussschlinge. Dies war der Auftakt zu einem bis 1909 stufenweise fortgeführten Flussbauprogramm, dessen Kosten sich auf über 340.000 US-Dollar aufsummierten. Anfang des 20. Jahrhunderts begann das United States Army Corps of Engineers mit umfangreichen Uferbefestigungen zwischen Sioux City und St. Louis. Zudem wurden zwischen 1937 und 1963 mehrere Staustufen am Oberlauf des Missouri errichtet, die die transportierte Geschiebemenge auf unter 25 % reduzierten. Im Rahmen des Bank Stabilization and Navigation Project (BSNP) wurde dann der Flusslauf bis in die 1980er Jahre begradigt, wobei 1957 oberhalb von Sibley ein künstlicher Mäanderdurchbruch der Jackass Bend entstand und die Flussschlinge zu einem Altarm machte. Der Verlauf des Missouri ist seither in der Umgebung von Sibley unverändert. Besonderes Merkmal des Flussbettes am Brückenstandort ist heute eine Sandbank zwischen Pfeiler 4 und 5, die den Flusslauf bei Niedrigwasser in zwei Seitenarme teilt. Trotz der Staustufen am Oberlauf kommt es bedingt durch die Begradigung des Missouri manchmal zu hohen Wasserständen auch bei den heute regulierten Abflussmengen, wodurch es bei extremen Wetterlagen in der Hochwassersaison zu großflächigen Überschwemmungen kommen kann. Während der größten Missouri-Flut im 20. Jahrhundert wurden 1993 daher die bisherigen Höchststände aus dem Jahre 1844 am Unterlauf teilweise überschritten. Chanute konzipierte 1885 den Überbau der Brücke mit einer lichten Höhe von über dem Hochwasserstand der Missouri-Flut von 1844 (etwa 11 m über Niedrigwasser), der hier bei der Great Flood of 1993 bis auf etwa einen Meter knapp erreicht wurde, das Bauwerk aber nicht gefährdete. Literatur The Sibley Bridge. In: Railroad Gazette. Vol. 20, 17. Februar 1888, S. 104. The Sibley Bridge Over the Missouri. In: The Railroad and Engineering Journal. Vol. 62, Nr. 3, 1888, S. 134. Octave Chanute, John F. Wallace, William H. Breithaupt: The Sibley Bridge. In: Transactions of the American Society of Civil Engineers. Vol. 21, September 1889, S. 97–132. New Bridge Across the Missouri River at Sibley, Mo. In: Railway Age Gazette. Vol. 59, Nr. 1, 1915, S. 13–16. Raising the Grade on a High Embankment. In: Railway Age Gazette. Vol. 60, Nr. 16, 1916, S. 907 f. Ballasted Timer Flour for the Sibley Bridge. In: Engineering News-Record. Vol. 74, Nr. 25, 1915, S. 1156 f. Bank Protection Above Sibley Bridge; Santa Fe Ry. In: Engineering News. Vol. 75, Nr. 14, 1916, S. 638–640. Brian Solomon: North American Railroad Bridges. Voyageur Press, 2008, ISBN 978-1-61060-458-1, S. 95–97. Weblinks Sibley Railroad Bridge (1888). BridgeHunter.com Sibley Railroad Bridge (1915). BridgeHunter.com Sibley Railroad Bridge. JohnMarvigBridges.org Anmerkungen Eisenbahnbrücke in den Vereinigten Staaten Fachwerkbrücke Stahlbrücke Trestle-Brücke Brücke in Missouri Erbaut in den 1880er Jahren Erbaut in den 1910er Jahren Brücke in Nordamerika Ray County Bauwerk im Jackson County (Missouri) Missouribrücke Atchison, Topeka and Santa Fe Railway BNSF Railway Schienenverkehr (Missouri)
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https://de.wikipedia.org/wiki/Mammut%20%28Gattung%29
Mammut (Gattung)
Mammut ist eine ausgestorbene Gattung aus der Familie der Mammutidae innerhalb der Ordnung der Rüsseltiere. Sie kam hauptsächlich in Nordamerika vor, wo sie vom Oberen Miozän vor etwa neun Millionen Jahren bis in das ausgehende Pleistozän vor rund 11.000 Jahren nachweisbar ist. Ihr bekanntester Vertreter ist das Amerikanische Mastodon. Einzelne Arten wurden auch für Eurasien berichtet, doch ist ihre eindeutige Zuordnung zu Mammut nicht ganz zweifelsfrei. Sofern dies zutrifft, starben diese Vertreter der Gattung bereits im Übergang vom Pliozän zum Pleistozän aus. Es handelt sich bei den Vertretern der Gattung Mammut um große Angehörige der Rüsseltiere, denen ein langgestreckter Körper und langer Schädel zu eigen war. Stoßzähne kamen weitgehend nur im oberen Gebiss vor und verliefen entweder gerade oder nach oben gekrümmt. Die unteren Stoßzähne hatten sich zurückentwickelt, kamen manchmal aber noch als rudimentäre Bildungen vor. Die hinteren Zähne zeichneten sich durch scharfkantige, querstehende Leisten aus. Alle Angehörigen der Gattung Mammut lebten weitgehend in Wäldern und ernährten sich überwiegend von weicher Pflanzenkost wie Blättern, Nadeln und Zweigen. Möglicherweise bildeten sie bereits, ähnlich den heutigen Elefanten, kleinere Familiengruppen. Als Gattungsname wurde Mammut bereits im Jahr 1799 wissenschaftlich eingeführt, er setzte sich aber erst etwa Mitte des 20. Jahrhunderts durch. Zuvor führten die meisten Wissenschaftler die Vertreter der Gattung unter der Bezeichnung „Mastodon“, die jedoch ungültig ist. Häufig wird der wissenschaftliche Name Mammut als Angehöriger der Mammutiden mit dem umgangssprachlichen Ausdruck Mammut verwechselt. Dieser bezieht sich allerdings auf die Gattung Mammuthus, die wiederum mit den Elefanten näher verwandt ist und damit zu einer anderen Entwicklungslinie innerhalb der Rüsseltiere gehört. Merkmale Mammut war ein großer Vertreter der Rüsseltiere. Äußerlich ähnelte er den heutigen Elefanten. Allerdings war er im Gesamthabitus niedriger, der Rücken zeigte sich langgestreckter und die Gliedmaßen waren kräftiger gebaut. Für das weitgehend vollständige Skelett des sogenannten „Warren-Mastodons“ vom Hudson River im US-Bundesstaat New York, einem Angehörigen des Amerikanischen Mastodons (Mammut americanum), wird eine Gesamtlänge von 455 cm und eine Schulterhöhe von 278 cm angegeben. Das vermutete Körpergewicht lag bei 7,8 t, was auf vergleichenden Körpergrößenberechnungen anhand des rund 106 cm langen Oberschenkelknochens basiert. Weitere Femora anderer Individuen mit Längen zwischen 98 und 122 cm ergaben Gewichtswerte von 3,6 bis 11 t und eine maximale Körperhöhe von 325 cm. Deutlich größer wurde die Art Mammut borsoni, deren Oberschenkelknochen bis zu 150 cm erreichte, was wiederum zu einer Schulterhöhe von 4,1 m und zu einem Körpergewicht von 16 t führt. Sie gehört damit zu den größten bekannten Vertretern der Rüsseltiere. Der Schädel war langgestreckt, ähnlich wie bei Zygolophodon, aber abweichend von diesem stärker aufgewölbt, so dass er als dom- oder kuppelartig angesehen werden kann. Er wies aber nicht die enorme Höhe auf, wie es bei den heutigen Elefanten der Fall ist. Abweichend von anderen Mammutiden besaß Mammut nur obere Stoßzähne, die deutlich auseinanderstanden und entweder weitgehend gerade verliefen oder nach oben gebogen waren. Beim „Warren-Mastodon“ erreichten die oberen Stoßzähne über die Krümmung gemessen eine Länge von 262 cm, davon steckten rund 60 cm, also knapp ein Viertel, in den kräftigen Alveolen. Bedingt durch die Konfiguration des Schädels verließen die Stoßzähne die Alveolen in einer nahezu horizontalen Lage, während sie bei den Elefanten mit ihren wesentlich gestauchteren Schädeln fast senkrecht nach unten austreten. Die horizontale Lage der oberen Stoßzähne trifft auch auf Zygolophodon zu, jedoch nahmen sie folgend einen abwärts gebogenen Verlauf. Zusätzlich kam hier ein schmales Zahnschmelzband an der Außenseite vor, welches wiederum bei Mammut fehlte. Im Unterkiefer von Mammut kamen nur selten Stoßzähne vor, die – sofern sie auftraten – klein beziehungsweise nur rudimentär waren. Durch das weitgehende Fehlen der unteren Stoßzähne hatten sich auch deren Alveolen zurückgebildet, die ursprünglich seitlich an der Symphyse des Unterkiefers lagen. Dies führte wiederum zu einer Kürzung der Symphyse selbst, wodurch Mammut einen kurzschnauzigen (brevirostrinen) Charakter erhielt. Abweichend dazu verfügte Zygolophodon noch über kräftige untere Stoßzähne. Die dadurch lange Unterkiefersymphyse gab ihm eine langschnauzige (longirostrine) Erscheinung. Im weiteren Gebissaufbau zeigt Mammut einzelne Merkmale, die die Gattung mit stammesgeschichtlich moderneren Rüsseltieren wie den Gomphotherien und Elefanten verbindet. Hierzu gehört der horizontale Zahnwechsel, bei dem sich im hinteren Abschnitt des Kiefers beständig neues Zahnmaterial bildet, während die voranliegenden Zähne durch die Nahrungsaufnahme abgekaut werden. Dadurch befinden sich jeweils nur wenige Zähne zur gleichen Zeit in Funktion, abweichend vom vertikalen Zahnwechsel der meisten anderen Säugetiere, bei dem alle Zähne gleichzeitig in Kauposition gebracht werden. Ähnlich den heutigen Elefanten konnte Mammut dadurch sechs Zahngenerationen ausbilden. Das Gebiss setzte sich somit aus je drei (Milch)-Prämolaren und drei Molaren je Kieferbogen zusammen. Die Zahnformel wird häufig mit angegeben. Im Zahnbau lassen sich jedoch deutliche Unterschiede zu den anderen Rüsseltiergruppen aufzeigen. Mammut besaß – wie andere Mammutiden – deutlich zygodonte bis zygolophodonte Zähne. Hierbei waren auf der Kauoberfläche quergestellte Leisten ausgebildet, die sich zwischen gegenständigen Höckerchen geformt hatten. In der Regel teilte eine Längsrille die Leisten in je zwei Halbleisten. Zwischen den einzelnen Leisten bestanden markante Eintiefungen, so dass die gesamte Zahnstruktur dachartig wirkte. Bei den Gomphotherien mit ihrem bunodonten Zahnaufbau verstellten zusätzliche Höckerchen die Längsrille und vor allem die Quertäler, wodurch ein unregelmäßigeres Oberflächenmuster entstand. Die Elefanten hingegen haben einen lamellenartigen Zahnaufbau. Bei Mammut waren die Leisten auf den oberen Zähnen senkrecht zur Zahnlängsachse orientiert, auf den unteren standen sie in einem leichten Winkel schräg dazu. Die Prämolaren und Molaren unterschieden sich durch die Anzahl der quergestellten Leisten. In der Regel wiesen die beiden vorderen Prämolaren nur zwei Leisten auf, waren also bilophodont. Der dritte Prämolar und die ersten beiden Molaren hatten jeweils drei Leisten, was als trilophodont bezeichnet wird. Der jeweils letzte Molar besaß wiederum vier, manchmal auch mehr Leisten, hinzu kam ein kräftiges Cingulum am Zahnende, also ein markanter Zahnschmelzwulst. Durch die Zunahme der Leistenanzahl nahm die Zahngröße vom vordersten Prämolar zum letzten Molar an Größe zu. Ersterer maß im Durchschnitt 3,3 cm in der Länge, letzterer konnte bis zu 19 cm lang werden. Gegenüber Zygolophodon kam es bei Mammut zu einer deutlichen Zunahme der Höhe der Zahnkrone und einer Verbreiterung der Zähne. Im postcranialen Skelettbau glichen sich die meisten großen Rüsseltiere, so dass hier nur wenige Besonderheiten auftreten. Die Gliedmaßenknochen waren allgemein schwer und massiv gebaut mit den Oberarm- und Oberschenkelknochen als größten Elementen. Die Elle zeichnete sich vor allem an ihrem unteren Ende als überaus kräftig aus und trug so wohl den Großteil des Gewichtes des Vorderbeins. Schien- und Wadenbein waren vollständig voneinander getrennt, letzteres lief in einem flachen, aber seitlich ausladenden unteren Gelenkende aus. Hand und Fuß bestanden wie bei allen Rüsseltieren jeweils aus fünf Strahlen. Die einzelnen Knochen hatten einen kurzen und kompakten Bau, der Fuß war aber insgesamt schmaler als die Hand. Verbreitung Die Gattung Mammut war sowohl in Nordamerika als auch in Eurasien verbreitet. Letzteres ist allerdings nicht ganz eindeutig, da einzelne Wissenschaftler die eurasischen Funde teilweise oder vollständig zu Zygolophodon stellen. In Nordamerika waren die Tiere vom hohen Norden, dem heutigen Alaska und dem Yukon-Territorium, bis nach Süden in das heutige Mexiko verbreitet. Ein Großteil der Funde konzentriert sich dort im nordöstlichen und zentralen Landesteil. Als südlichster Fundpunkt wurde ein Mahlzahn aus dem nördlichen Honduras angegeben, dessen stratigraphische Herkunft aber unklar bleibt. Abweichend zu einigen Vertretern der etwa zeitgleichen Gomphotherien erreichte Mammut nie Südamerika. Im zentralen Nordamerika war Mammut von der Ostküste bis zur Westküste verbreitet. Eine starke Fundkonzentration liegt im Bereich der Großen Seen und im heutigen Florida. Ungeachtet der weiten Verbreitung von Mammut bestehen starke zeitliche Unterschiede. Ein Großteil der Funde stammt aus der Zeit der letzten Kaltzeit und verteilt sich auf die beiden Arten Mammut americanum und Mammut pacificus. Sie schließen auch einige sehr gut erhaltene Skelette ein. Dagegen sind ältere Nachweise und vor allem solche aus der stammesgeschichtlichen Frühzeit eher locker gestreut und stärker fragmentarisch überliefert. Ein Schwerpunkt der Verteilung in Eurasien bildet der östliche und südöstliche Teil von Europa, hauptsächlich vom heutigen Griechenland nordwärts bis in die Ukraine. Sehr weit westlich gelegene Fundgebiete wurden aus Spanien berichtet, im zentralen Europa ist die Gattung eher sporadisch anzutreffen. Östliche Nachweise reichen bis nach Ostasien, beschränken sich bisher aber nur auf wenige Funde. Paläobiologie Ernährungsweise Informationen zur Paläobiologie der Mammutiden allgemein und der Gattung Mammut speziell liegen überwiegend für das Amerikanische Mastodon vor, das als terminale Form der Rüsseltierlinie noch bis in das ausgehende Pleistozän vorkam. Die verschiedenen Vertreter von Mammut ernährten sich überwiegend von weicher Pflanzenkost und bevorzugten daher Blätter, Zweige und ähnliches. Anatomisch lässt sich dies aus dem zygodonten bis zygolophodonten Bau der Molaren ableiten, die mit ihren quergestellten Leisten und tiefen Tälern dazwischen ausgesprochen gut an diese Nahrung angepasst waren. Darüber hinaus wird dies durch erhaltene Pflanzenreste an den Zähnen beziehungsweise in Koprolithen und Mageninhalten sowie durch Isotopenanalysen beim Amerikanischen Mastodon bestätigt. Das häufige Auffinden von Skelettresten in der Nähe ehemaliger Gewässer macht wiederum eine Abhängigkeit der Tiere von Wasser wahrscheinlich, wie es auch bei den heutigen Elefanten besteht. Vor allem in der Spätphase der stammesgeschichtlichen Entwicklung kam Mammut in Nordamerika zeitgleich mit verschiedenen Angehörigen der Elefanten vor, hierzu zählen das Präriemammut (Mammuthus columbi) und das Wollhaarmammut (Mammuthus primigenius). Diese zeichnen sich vor allem durch eine grasbasierte Nahrung aus. Die unterschiedlichen Ernährungsweisen, aber auch Pollenanalysen an verschiedenen Fundstellen zeigen, dass die Vertreter beider Rüsseltierlinien abweichende Lebensräume nutzten und so unnötige Konkurrenz vermieden. Für Mammut sprechen daher Wälder als bevorzugte Habitate, für die nordamerikanischen Elefanten offene Landschaften. Sozialverhalten Fragen zur Sozialbiologie sind weitaus schwerer zu beantworten, da ein direkter Vergleich mit heutigen Elefanten problematisch erscheint. Allerdings ist beim Amerikanischen Mastodon ein Sexualdimorphismus belegt, der unter anderem den Unterkiefer betrifft. Häufig haben männliche Individuen massivere Unterkiefer. Die teilweise vorkommenden kleinen unteren Stoßzähne sind allerdings nach einzelnen Analysen kein exklusives Merkmal der männlichen Tiere, sondern kommen bei beiden Geschlechtern vor. Daneben lassen sich auch Wachstums- und Größenunterschiede in den oberen Stoßzähnen sexualspezifisch erklären. Heutige Elefanten zeigen einen markanten Geschlechtsunterschied. Dieser ist auf die soziale Lebensweise mit starker hierarchischer Gliederung zurückzuführen. Bei einigen Stoßzähnen weiblicher Tiere sind Wachstumsanomalien feststellbar, die alle drei bis vier Jahre die ansonsten kontinuierliche Größenzunahme unterbrechen. Dies könnte etwa mit periodisch auftretenden Mineralengpässen erklärt werden, die beispielsweise bei der Versorgung des Nachwuchses mit Muttermilch entstehen. Das Geburtsintervall bei rezenten weiblichen Elefanten liegt bei vier bis acht Jahren und entspricht so den Wachstumsintervallen bei den weiblichen Vertretern des Amerikanischen Mastodon. Ebenso korrespondiert das erste Einsetzen der Wachstumsanomalien bei diesen mit einem Individualalter von rund zehn Jahren mit der Geschlechtsreife junger weiblicher und männlicher Elefanten. Bei einigen Skelettfunden des Amerikanischen Mastodon lassen sich Rippenbrüche und ähnliches nachweisen, die teilweise den Tod des Individuum verursachten. Weiteren Analysen zufolge starben die Tiere häufig im Frühjahr. Eine solche jahreszeitbezogene Sterblichkeit könnte mit Rangkämpfen unter männlichen Tieren während der Fortpflanzungsphase einhergehen. Die Fortpflanzung bei den Bullen heutiger Elefanten wird über die Musth gesteuert, deren äußeres Kennzeichen ein Sekretfluss aus der Temporaldrüse darstellt. Aufgrund fehlender Weichteilüberlieferung ist jedoch unbekannt, ob diese auch bei den Mammutiden vorkam. Einige Autoren gehen daher davon aus, dass Mammut ähnlich den rezenten Elefanten in Sozialverbänden lebten, die als kleinste Einheit aus Mutter-Jungtiergruppen bestanden. Möglicherweise schlossen diese sich wieder zu größeren Herden zusammen. Ebenso könnte das Wanderungsverhalten männlicher Individuen vergleichbar zu den heutigen Elefanten gewesen sein, was sich anhand von Isotopenanalysen an verschiedenen Wachstumsabschnitten der Stoßzähne des „Buesching-Mastodon“ aus dem US-Bundesstaat Indiana aufzeigen ließ. Hierbei ergaben sich Unterschiede zwischen den Jugendjahren (9 bis 14 Stoßzahnjahre) und dem erwachsenen Alter (29 bis 32 Stoßzahnjahre). Jungtiere, die höchstwahrscheinlich mit der mütterlichen Gruppe zogen, besaßen keine Präferenz bestimmter Landschaften. Als ausgewachsenes Individuum nahmen nicht nur die Wanderungsdistanzen zu, durchschnittlich 27 km im Monat, auch kam es zu einer deutlichen jahreszeitlichen Trennung bevorzugter Habitate, wobei wohl die frühjährlichen und sommerlichen Refugien der Fortpflanzung dienten. Fellbedeckung Häufig werden einzelne Arten der Gattung Mammut mit einem dichten Fell rekonstruiert. Heutige landlebende Großsäugetiere wie die Elefanten, Nashörner und Flusspferde sind weitgehend unbehaart, was aus ihrer Verbreitung in warm- bis wärmerklimatischen Landschaften resultiert. Da ein Haarkleid die produzierte Körperwärme zu schlecht ableitet, ist der Verlust dieses hierbei eine Form der Thermoregulation, wodurch der Körper vor einer zu starken Überhitzung geschützt wird. Das dürfte auch für die meisten Vertreter der Gattung Mammut unter den damals günstigeren Klimabedingungen des Miozäns und Pliozäns zugetroffen haben. Allerdings kam das Amerikanische Mastodon im Pleistozän auch im hohen Norden Nordamerikas vor, war aber als ausgewiesener Blätterkonsument und Waldbewohner nicht an extreme kaltklimatische Verhältnisse angepasst. Von dieser Art liegt bisher lediglich ein eindeutiger Beleg von Haarresten vor. Sie wurden an der Milwaukee Mastodont Site nahe Milwaukee im US-amerikanischen Bundesstaat Wisconsin entdeckt und hafteten zusammen mit Hautresten an einigen Schädelfragmenten an. Die einzelnen Haare sind im Querschnitt hohl, abweichend von denen des Wollhaarmammuts. Systematik Mammut ist eine Gattung aus der ausgestorbenen Familie der Mammutidae in der Ordnung der Rüsseltiere (Proboscidea). Aufgrund ihres trilophodonten (drei quergestellte Leisten) zweiten Molars stehen die Mammutidae innerhalb der Rüsseltiere in der übergeordneten Gruppe der Elephantiformes, die sich durch dieses Merkmal von den stammesgeschichtlich älteren Rüsseltieren mit bilophodonten Molaren (zwei quergestellte Leisten) absetzen. Letztere werden häufig als Plesielephantiformes zusammengefasst. Die frühen Elephantiformes beinhalten die beiden Gruppen der Mammutidae und der Gomphotheriidae, die etwa zeitgleich auftraten. Bedeutende Unterschiede zwischen den beiden Formengruppen finden sich unter anderem in ihrem Zahnbau. So weisen die Mammutiden zygodonte Molaren auf, während viele Gomphotherien über ein bunodontes Kauflächenmuster verfügen. Für beide Zahnmuster sind paarige Höckerreihen charakteristisch, die quer zur Längsachse der Molaren stehen und so die einzelnen Leisten bilden. In der Regel teilt eine Mittelfurche jede Leiste in zwei Halbleisten. Entlang der Mittelfurche sind häufig bei jeder Halbleiste kleinere Nebenhöcker ausgebildet. Im Gegensatz zu den bunodonten Zähnen der Gomphotherien stehen die Nebenhöcker bei den Mammutiden aber nicht frei, beziehungsweise ist der Zwischenraum zum Haupthöcker nicht durch weitere, wiederum kleinere Höckerchen gefüllt, vielmehr verbindet beide Höcker eine scharfe Schmelzleiste, wodurch ein durchgehender Grat entsteht. Die Mammutidae sind im Vergleich zu den vielgestaltigen Gomphotherien eher formenarm, bis heute ist lediglich rund ein halbes Dutzend an Gattungen bekannt. Den ältesten eindeutigen Vertreter bildet Losodokodon aus dem Oberen Oligozän von Afrika. Mammut hingegen ist als das Endglied der stammesgeschichtlichen Entwicklung aufzufassen und stellt gleichzeitig den bekanntesten Angehörigen dar. Nach molekulargenetischen Untersuchungen trennten sich die Mammutiden von den Gomphotherien und somit von der zu den heutigen Elefanten (Elephantidae) führenden Entwicklungslinie im Oberen Oligozän vor rund 24 bis 28 Millionen Jahren ab. Zu einem ähnlichen Ergebnis kamen auch biochemische Untersuchungen anhand von Kollagen aus dem Jahr 2019. Hierbei stehen aber die Gomphotherien den Mammutiden vermutlich näher als den Elefanten. Genetische Untersuchungen aus dem Jahr 2021 verweisen die Gomphotherien jedoch wieder an die Seite der Elefanten. Innerhalb der Mammutidae wird Mammut meist als nahe verwandt mit dem weit verbreiteten und über lange Zeit beständigen Zygolophodon eingestuft und als dessen Nachfolger angesehen. Im Gegensatz zu Mammut weist Zygolophodon einen langgestreckten (longirostrinen) Unterkiefer mit unteren Stoßzähnen auf. Möglicherweise bestehen aber auch enge Beziehungen zu Sinomammut, eine Form, die nur über einen Unterkiefer aus dem Oberen Miozän von Ostasien belegt ist. Dieser ist zwar auch langgestreckt, ihm fehlen aber die unteren Stoßzähne. Es kann dadurch angenommen werden, dass bei den Mammutidae die stammesgeschichtliche Entwicklung den Verlust der unteren Stoßzähne und nachfolgend Kürzungen im Symphysenbereich des Unterkiefers beinhaltete. Ähnliches ist auch von den Gomphotherien und den Elefanten bekannt. Der Gattung Mammut werden mehrere Art zugewiesen: amerikanische Arten Mammut americanum (Kerr, 1792) Mammut cosoensis (Schultz, 1937) Mammut matthewi (Osborn, 1921) Mammut nevadanus (Stock, 1936) Mammut pacificus Dooley Jr., Scott, Green, Springer, Dooley & Smith, 2019 Mammut raki (Frick, 1933) eurasische Arten Mammut borsoni Hays, 1834 Mammut obliquelophus Mucha, 1980 Neben diesen Arten wurden noch weitere beschrieben. Hierzu zählen in Nordamerika etwa M. oregonense oder aber M. furlongi. Erstere basiert auf einem einzelnen Zahn und stellt möglicherweise ein Nomen dubium dar. Letzterer wiederum liegt ein Unterkiefer sowie ein oberer hinterer Molar zugrunde. Der Mahlzahn weist allerdings nur drei Leisten auf und repräsentiert dadurch wohl nicht die Gattung Mammut. Ein Teil der anerkannten Formen gehörte ursprünglich anderen Gattungen an, So wurden M. matthewi, M. nevadanus oder M. cosoensis zu Pliomastodon verwiesen, das aber höchstwahrscheinlich identisch mit Mammut ist. Andere Formen wie M. sellardsi, M. adamsi und M. vexillarius werden teilweise als synonym zu M. matthewi eingestuft, was aber zumindest für M. vexillarius nicht ganz eindeutig ist. Etwas problematisch gestaltet sich der Verweis der eurasischen Formen zur Gattung Mammut, da hier auch die Ansicht einer Zuordnung zu Zygolophodon besteht. Einige Autoren trennen darüber hinaus die miozänen Vertreter als Zygolophodon von den pliozänen als Mammut ab. Dies würde dann vor allem M. obliquelophus betreffen, während M. borsoni weiterhin in Mammut verbliebe. Eine teils als eigenständig angesehene Art namens M. praetypicum kann überdies als synonym zu M. obliquelophus betrachtet werden. Stammesgeschichte Ursprung und Entwicklung Wie die meisten der größeren Rüsseltiergruppen entwickelten sich auch die Mammutiden in Afrika, wo sie mit Losodokodon seit dem Oberen Oligozän vor rund 27 Millionen Jahren nachweisbar sind. Die Entstehung einer Landbrücke nach Eurasien durch die Schließung des Tethys-Ozeans im beginnenden Unteren Miozän erlaubte es ihnen, sich weiter nach Norden auszubreiten. In der Regel werden die frühen eurasischen Funde Zygolophodon zugeordnet. Über die Beringbrücke erreichte Zygolophodon als einer der ersten Vertreter der Rüsseltiere auch den nordamerikanischen Kontinent. Der älteste Nachweis stammt mit einem fragmentierten Mahlzahn vom Massacre Lake im nordwestlichen Nevada und datiert mit 16,5 bis 16,4 Millionen Jahren in das Mittlere Miozän. Wesentlich umfangreicher ist das Material aus dem Pawnee Creek in Colorado, das mehrere Molaren und obere Stoßzähne von wenigstens drei Individuen umfasst. Es wird mit 16,3 bis 13,6 Millionen Jahren etwas jünger eingestuft. Ein vollständiger Schädel mit Unterkiefer stammt wiederum aus der Ironside-Formation im Baker County von Oregon. Der als „Hancock-Mastodon“ benannte Funde dürfte etwa 11,8 bis 11,5 Millionen Jahre alt sein. Als typisches Merkmal für Zygolophodon kommen sowohl oben als auch unten Stoßzähne vor, an denen ein Zahnschmelzband ausgebildet ist. Die hinteren Molaren verfügen wie die vorderen über drei Leisten. Die ältesten Funde der Gattung Mammut in Nordamerika werden zumeist dem Oberen Miozän zugesprochen. Generell nehmen die Wissenschaftler eine Herleitung der Gattung aus Zygolophodon an. Ob die Entstehung in situ, also auf dem Kontinent, erfolgte oder eine erneute Einwanderung aus Eurasien stattfand, ist dabei in Diskussion. Bisher ließ sich der Übergang nur unzureichend nachvollziehen, da das Material dieser Zeit eher spärlich ist. Ein Unterkiefer aus Black Butte im Malheur County von Oregon lagerte in der Juntura-Formation, die ein zeitliches Äquivalent der Ironside-Formation darstellt und damit noch mittelmiozäner Altersstellung ist. Dadurch besteht eine relative Zeitgleichheit zum „Hancock-Mastodon“. Der Unterkiefer vom Black Butte wird „Mammut furlongi“ zugewiesen, dessen systematische Position aber unklar bleibt. Er besitzt eine ausgesprochen kurze Symphyse und lässt keine Hinweise auf Stoßzähne erkennen. Außerdem weist der hintere untere Molar vier Leisten auf, was alles an Mammut erinnert. Jedoch zeigt ein assoziierter oberer dritter Mahlzahn nur drei Leisten und nähert sich damit wieder Zygolophodon. Einen eindeutigen Vertreter der Gattung Mammut stellt Mammut matthewi dar. Beschrieben wurde die Form über einige Molaren aus der Thompson Quarry im Sioux County von Nebraska. Ein Teilschädel ist wiederum aus der Nähe von Hermiston im Morrow County von Oregon dokumentiert, dessen Stoßzähne allerdings verloren gegangen sind. Das Alter der Funde reicht von 9 bis 6 Millionen Jahren. Unter Hinzuziehung einiger Synonymformen könnte die Art aber auch bis in das Pliozän vor rund 3 Millionen Jahren bestanden haben, was zumindest für einen Schädel vom Elephant Hill im Fresno County von Kalifornien diskutiert wird. Im Gegensatz zu „Mammut furlongi“ verfügten hier alle hinteren Mahlzähne, sowohl im Ober- wie im Unterkiefer, über vier Leisten. Das Auftreten von Mammut matthewi im Oberen Miozän überschneidet sich mit Mammut nevadanus, von dem ein Schädel eines noch relativ jungen Individuums vom Thousand Creek in Nevada überliefert ist. Den oberen Stoßzähnen fehlte ein Zahnschmelzband. Am oberen hinteren Molar kamen aber bereits fünf Leisten vor, was eine sukzessive Zunahme der Komplexität der Mahlzähne anzeigt. Mit einer Zeitstellung von rund 4 Millionen Jahren und damit dem Pliozän angehörend ist Mammut raki bereits deutlich jünger. Bisher wurde ein Unterkiefer aus der Palomas-Formation in Truth or Consequences in New Mexico aufgefunden, an dem lediglich der hinterste Molar mit fünf Leisten erhalten blieb. Auffallend ist aber, dass noch die Alveolen für kleine Unterkieferstoßzähne ausgebildet waren. In den gleichen Zeitabschnitt fällt ein vorderer Schädelteil und ein Unterkiefer aus den Coso Mountains im Inyo County von Kalifornien. Sie werden Mammut cosoensis zugesprochen. Als Charakteristikum können hier die besonders schmalen Mahlzähne hervorgehoben werden, bei denen die jeweils letzten vier Leisten besaßen. Die oberen Stoßzähne krümmten sich nur leicht nach oben. Schädel und Unterkiefer gehören unterschiedlichen Individuen an, da letzterer noch Teile des Milchgebisses aufweist. Ebenfalls in dem Zeitraum vor rund 4 bis 3 Millionen Jahren trat erstmals Mammut americanum, das Amerikanische Mastodon, auf. Die ältesten Funde in Form einzelner Wirbel, Stoßzähne und Zahnfragmente kamen in der Ringold-Formation im süd-zentralen Washington zu Tage. Sie waren assoziiert mit einer reichhaltigen Säugetierfauna, die Unpaarhufer, Paarhufer, Faultiere, Raubtiere, Insektenfresser und Nagetiere einschließt. Mammut pacificus hingegen ist erst im Verlauf des Mittleren Pleistozäns vor rund 190.000 Jahren fassbar. Einzelne Kieferfragmente sind hier etwa aus Murrieta im Riverside County in Kalifornien dokumentiert. Sowohl Mammut americanum als auch Mammut pacificus sind bis in das Obere Pleistozän belegt. Beide Arten repräsentieren unterschiedliche Entwicklungslinien. Für letztere sind besonders schmale Backenzähne, für erstere auffallend breite typisch. Die Herausformung des schmalzähnigen Mammut pacificus könnte sich hierbei über Mammut raki, Mammut nevadanus und Mammut cosoensis vollzogen haben, die jeweils über ähnliche Merkmale verfügten. Unter Voraussetzung, dass eurasische Funde ebenfalls zu Mammut gestellt werden, trat die Gattung hier vergleichbar früh wie in Nordamerika auf. Als Ausgangsformen kommen Zygolophodon und Sinomammut in Betracht. Generell sind Funde von Mammut vergleichsweise selten und konzentrieren sich auf das östliche bis südöstliche Europa mit einzelnen Belegen aus dem zentralen und westlichen Europa sowie dem östlichen Asien. Als ältester Vertreter kann Mammut obliquelophus angesehen werden. Die Form zeichnete sich durch eine recht lange Symphyse des Unterkiefers aus, an dem noch die Stoßzähne ausgebildet waren. Ersichtlich wird dies etwa am Typusfund der Art aus Romanovka in der Ukraine. Andere Funde wurden unter anderem aus Păgaia im nordwestlichen Rumänien berichtet. Die von hier stammenden Zähne zeigen am hintersten Molar vier Leisten. Genannt werden muss auch ein Schädel eines juvenilen Tieres sowie weitere Schädelteile und ein Unterkiefer aus dem Linxia-Becken in der nordchinesischen Provinz Shanxi, die die Anwesenheit der Art auch im östlichen Asien belegen. Die meisten Funde von Mammut obliquelophus datieren in das Obere Miozän vor etwa 8 bis 7 Millionen Jahren. Teilweise wird sie auch unter der 1918 eingeführten Bezeichnung Mammut praetypicum geführt, die aber heute aufgrund einer unscharfen Definition nicht mehr gebräuchlich ist. Im ausgehenden Miozän wurde Mammut obliquelophus durch Mammut borsoni ersetzt, welches dann hauptsächlich in Pliozän auftrat. In seiner Mahlzahnmorphologie glich es seinem Vorgänger, allerdings verkürzte sich die Unterkiefersymphyse merklich und übertraf nicht mehr die Länge der Molarenreihe. Die Unterkieferstoßzähne bildeten sich dadurch zurück. Als Besonderheit entwickelten die oberen Stoßzähne außerdem eine extrem lange und gerade verlaufende Form. Ein Teilskelett aus Milia im westlichen Makedonien besaß bis zu 5 m lange Stoßzähne, die zu den längsten der Welt gehören. Für das Tier wird teilweise eine Schulterhöhe von 3,9 m und ein Gewicht von 14 t rekonstruiert. Es ist bisher wenig untersucht, wie sich das Gewicht dieser massiven Stoßzähne auf die Nackenmuskulatur auswirkte und wie ihre Länge den Bewegungsspielraum der Tiere in den Wäldern beeinflusste. Beschrieben wurde die Art bereits im Jahr 1834 anhand eines Molaren aus Villanova d’Asti im Piemont. Neben ihrem vergleichsweise häufigen Auftreten im östlichen und südöstlichen Europa bilden die westlichsten Funde der Art einige Zähne aus dem östlichen Spanien. Im zentralen Europa ist sie nur selten nachgewiesen. Hervorzuheben sind zwei Skelette aus Kaltensundheim im südlichen und mehrere Zähne aus der Umgebung von Nordhausen im nördlichen Thüringen sowie die Reste aus dem bedeutenden pliozänen Teich von Willershausen in Niedersachsen. Erstere gehören mit einer Stellung im frühen Villafranchium und einem Alter von rund 2,6 Millionen Jahren zu den jüngsten Belegen. Aussterben Die eurasische Linie von Mammut erlosch weitgehend im ausgehenden Pliozän und beginnenden Unteren Pleistozän wieder, womit auch die gesamte Gruppe der Mammutidae dort verschwand. In Nordamerika hielt sich die Gattung bis in das Obere Pleistozän und wurde durch Mammut pacificus und Mammut americanum repräsentiert. Die jüngsten Daten ersterer Art sind nicht ganz eindeutig, sie war aber noch in der Spätphase der letzten Kaltzeit in den Asphaltgruben von Rancho La Brea und im reichhaltigen Fundgebiet des Diamond Valley, beide in Kalifornien, präsent. Die lokale Faunengemeinschaft des Diamond Valley wird mittels der Radiokarbonmethode auf etwa 40.000 bis 16.000 Jahre vor heute datiert. Für Mammut americanum liegen die jüngsten Daten momentan bei 11.800 bis 11.200 Jahren vor heute. Sie wurden am „Overmyer-Mastodon“ im Fulton County in Indiana bestimmt. Das Tier verendete natürlich in einem Sumpf. Die Daten korrelieren mit der Kälteschwankung der Jüngeren Dryas der letzten Vereisungsphase. Das Verschwinden des Amerikanischen Mastodons und auch seiner Schwesterart fällt dabei zusammen mit der Quartären Aussterbewelle, die das Erlöschen zahlreicher größerer Säugetiere am Ende des Pleistozäns verursachte. Zudem geht es einher mit dem ersten Auftreten früher menschlicher Jäger-Sammler-Gruppen in Amerika, die den Kontinent vor möglicherweise rund 14.000 bis 15.500 Jahren erreichten. Ob hier ein ursächlicher Zusammenhang besteht, wird in der Wissenschaft vielfältig diskutiert. Der Aussterbeprozess war aber weniger akut, da das Amerikanische Mastodon bereits vor dem Eintreffen des Menschen erheblich an Lebensraum eingebüßt hatte. So erbrachte eine Untersuchung aus dem Jahr 2014, dass sich die Art spätestens vor 50.000 Jahren aus den nördlichen Teilen Nordamerikas zurückgezogen hatte. Dies liegt noch weit vor dem Einsetzen der Maximalvereisung vor etwa 20.000 Jahren, stimmt aber wiederum mit dem Vordringen kaltgeprägter Steppenlandschaften überein. Die Art verblieb daraufhin in der Folgezeit im zentralen und südlichen Teil Nordamerikas jenseits des großen Eisschildes. Inwiefern beim Aussterben der großen Rüsseltiere neben dem Menschen und klimatischen Faktoren auch gegenseitige Konkurrenz eine Rolle spielte, ist ebenfalls in Diskussion und wird zumindest für den nordamerikanischen Zweig von Cuvieronius angenommen. Die im ausgehenden Pleistozän im zentralen Nordamerika eintreffenden Menschen fanden eine reichhaltige Großsäugerfauna vor, die zum Teil als Basis ihrer Jagd fungierte. Als ein frühes Beispiel für Interaktionen zwischen Mensch und Amerikanischem Mastodon gilt häufig die Fundstelle Manis auf der Olympic-Halbinsel in Washington, wo in einer Rippe eines disartikulierten Skelettes des Rüsseltierverteters ein spitzes knöchernes Objekt steckte, das als Projektilspitze gedeutet wird. Der Fundplatz besitzt ein Alter von 13.800 Jahren vor heute, was zeitlich noch vor der Clovis-Kultur liegt. Andere Autoren sehen dies kritischer und sprechen der Fundstelle jegliche menschliche Beeinflussung ab. Vielmehr führen sie den Befund auf Rangkämpfe zwischen einzelnen Individuen zurück, zumal das spitze Objekt selbst von einem Amerikanischen Mastodon stammt. Aus der Clovis-Zeit, die als eine der ältesten Steingerätekulturen Nordamerikas angesehen wird, gibt es eine Vielzahl von sogenannten kill sites („Tötungsplätze“, auch „Schlachtplätze“) größerer Säugetiere. Dazu gehören auch verschiedene Rüsseltiere. Nach einer Erhebung aus dem Jahr 2003 sind Rüsseltiere an insgesamt 26 archäologischen Fundstellen der Clovis-Zeit vertreten. Die Gesamtanzahl der Tiere beläuft sich auf 91 Individuen, was auf eine erhebliche Jagd schließen ließ. Eine weitaus restriktivere Methode, angewendet im ungefähr gleichen Zeitraum, erbrachte aber dagegen nur 14 Fundstellen. Bezogen auf die zeitliche und räumliche Ausdehnung der Clovis-Kultur kann auch diese Zahl als noch vergleichsweise groß angesehen werden. Der weitaus umfangreichere Teil der Rüsseltiere entfällt in beiden Studien auf die verschiedenen nordamerikanischen Mammute wie das Präriemammut (Mammuthus columbi) und das Wollhaarmammut (Mammuthus primigenius); das Amerikanische Mastodon konnte bei letzterer Untersuchung an insgesamt zwei Fundstellen festgestellt werden. Eine der beiden und die bekannteste ist Kimmswick im östlichen Missouri. Dort wurden in der Umgebung eines Skelettes eines Amerikanischen Mastodons zwei Clovis-Spitzen aufgefunden, die die charakteristischen Projektilspitzen dieser Kulturgruppe darstellen. Bei der anderen handelt es sich um Pleasant Lake im Washtenaw County in Michigan. Das hier aufgefundene Skelett war zwar nicht mit Steinartefakten verbunden, die Knochen weisen jedoch Spuren auf, die an Polierungen und Schnittmarken erinnern. Die Analyse von Blutrückständen an Steinartefakten aus dem südöstlichen Verbreitungsgebiet der Clovis-Kultur ergab zumindest eine gewisse Nutzung von Rüsseltieren durch die Jäger und Sammler, wobei nicht zwischen der Gattung Mammut und den Vertretern der Mammute unterschieden werden konnte. Hinweise ergaben sich an insgesamt vier von 120 untersuchten Objekten (zuzüglich eines nicht genauer klassifizierbaren Stückes). Die Anzahl entspricht der, die auch für Hirsche und Pferde ermittelt werden konnte, ist aber um die Hälfte geringer als die für Hornträger, hier vermutlich große Wildrinder. In der nachfolgenden Zeit, die die Folsom-Kultur umfasst, sind kaum kill sites von Rüsseltieren bekannt; dort dominieren vor allem Bisons in der Jagdfauna. Unabhängig von der Frage, ob die Träger der Clovis-Kultur das Amerikanische Mastodon umfangreich bejagten oder nicht, zeigt zumindest das „Overmyer-Mastodon“ das Überleben der Art über diese Zeit hinaus an. Forschungsgeschichte Erstbeschreibung Die Gattung Mammut gehört zu den forschungsgeschichtlich frühesten Rüsseltiervertretern, die einen wissenschaftlichen Namen erhielten. Bereits im Jahr 1792 hatte Robert Kerr das Amerikanische Mastodon mit Elephas americanus benannt, dessen Überreste am Ohio gefunden worden waren. Kerr stellte das Tier damit an die Seite des heutigen Asiatischen Elefanten (Elephas maximus), erwähnte aber die beim Amerikanischen Mastodonten auffallend abweichenden Backenzähne. Hinweise zu einem American elephant hatte er aus Thomas Pennants 1771 erschienenen Synopsis of Quadrupeds entnommen. Pennant seinerseits zitierte als Quelle der Informationen einen Aufsatz von William Hunter aus dem Jahr 1768. In diesem berichtete Hunter von Skelettfunden am Ohio und verglich sie mit ähnlichen Resten aus Sibirien, welche damals als Mammutknochen in der Gelehrtenwelt weit bekannt waren. In einer von ihm bereitgestellten Abbildung stellte er die Zähne moderner Elefanten den Funden vom Ohio gegenüber und hob die Unterschiede zwischen ihnen hervor, die sich vor allem in dem lamellierten Aufbau bei ersteren gegenüber dem höckerigen bei letzteren aufzeigten. Hunters Darstellung sowie die Fundlage am Ohio veranlasste im Jahr 1799 wiederum Johann Friedrich Blumenbach in seinem „Handbuch der Naturgeschichte“ das seiner Meinung nach „colossaische Land-Ungeheuer der Vorwelt“ mit Mammut ohioticum zu bezeichnen. Blumenbach erwähnte damit erstmals den Gattungsnamen Mammut, auch wenn Kerr mit Elephas americanus die Ehre der gültigen Artbenennung gebührt. In früheren Ausgaben seines Handbuches führte Blumenbach das Tier noch unter „Ohio-Incognito“, was er ebenfalls von Hunter übernommen hatte, und umschrieb es aufgrund der Zähne mit als „der vulgo so genannte fleischfressende Elephant“. Mammut und Mammuthus – zur Mammut-Problematik Die Bezeichnung „Mammut“ sollte sich folgend als wenig gebräuchlich und zudem als erheblich problematisch herausstellen, da damit nicht nur das Amerikanische Mastodon und seine unmittelbare Verwandtschaft gemeint war, sondern umgangssprachlich auch die Mammute diese tragen. Letztere stehen aber nicht in einer unmittelbaren Beziehung mit dem Amerikanischen Mastodon und anderen Mammutiden, sondern gehören in die Linie der Elefanten (Elephantidae). Das Wollhaarmammut (Mammuthus primigenius) war von Blumenbach in seinem Handbuch von 1799 mit dem Namen Elephas primigenius geführt worden. Die eigentliche Gattung Mammuthus prägte Joshua Brookes erst rund 29 Jahre später in einem Auktionskatalog für Fundstücke aus seinem eigenen Museum. Fossilien der Mammute waren schon länger sowohl aus Europa wie aus Sibirien bekannt. Von dort brachte möglicherweise Nicolaas Witsen die Bezeichnung Mammout nach Europa, da er sie im Jahr 1692 in seinem Reisebericht Noord en Oost Tartarye nutzte. Sie findet sich auch wenige Zeit später als Mammotovoi kost („Mammutknochen“) in Heinrich Wilhelm Ludolfs Grammatica russica wieder. Eine Bezeichnung Mamont ist zudem bei Peter Camper im Jahr 1784 verbürgt, doch geht aus seiner vollständig in Latein gehaltenen Schrift nicht hervor, ob er damit einen Mammutiden oder einen Elefanten aus der heutigen Gattung Mammuthus meinte. Erstmals wissenschaftlich anerkannt wurde Mammut als Gattungsbezeichnung für das Amerikanische Mastodon von Oliver Perry Hay im Jahr 1904. Dem widersprach aber Henry Fairfield Osborn im Jahr 1936 in seiner umfangreichen Monographie The Proboscidea. Hierin versuchte er sprachhistorisch den Begriff Mammut mit den sibirischen Funden zu verknüpfen und damit eindeutig festzulegen. George Gaylord Simpson wies jedoch in seiner generellen Taxonomie der Säugetiere im Jahr 1945 darauf hin, dass Mammut im Sinne der Prioritätsregel der zoologischen Nomenklatur die erste eindeutige und damit gültige Gattungsbezeichnung für das Amerikanische Mastodon und seine unmittelbare Verwandtschaft ist. Er schrieb dazu: Many authoritites refuse to use †Mammut simply because they do not want to. I do not want to either but reluctantly set aside personal desires in favor of adherence to the accepted Rules („Viele Autoritäten weigern sich, †Mammut zu verwenden, einfach weil sie es nicht wollen. Ich möchte es auch nicht, schiebe aber widerwillig persönliche Wünsche zugunsten der Einhaltung der akzeptierten Regeln beiseite“). Die Herkunft des Wortes „Mammut“ ist nicht eindeutig. Häufig wird sie auf die Nenzische Sprache zurückgeführt, wo es „unter der Erde lebend“ oder „Bodengräber“ bedeuten soll, was sich wiederum auf die im Erdreich gefundenen Knochen bezieht. Andere Autoren dagegen versuchten es mit dem biblischen Ungeheuer Behemoth in Verbindung zu bringen, dessen Name arabischen oder hebräischen Ursprungs ist. Mastodon – eine Alternative setzt sich durch Bevor sich in der ersten Hälfte des 20. Jahrhunderts der Gattungsname Mammut durchsetzte, war eine andere Bezeichnung weit verbreitet. Georges Cuvier veröffentlichte im Jahr 1806 eine Serie von Aufsätzen über rezente und fossile Rüsseltiere. Hierin erwähnte er erstmals den Begriff mastodonte, den er auf das Amerikanische Mastodon bezog, und lieferte eine umfangreiche Beschreibung der Skelettanatomie ab. In einem weiteren Aufsatz differenzierte Cuvier mehrere Formen, die er anhand der Zähne unterschied. Dadurch stellte er neben dem Mastodonte de l’Ohio oder le grand Mastodonte, also dem Amerikanischen Mastodon, auch ein schmalzähniges heraus, das er mit Mastodonte à dents ètroites bezeichnete. Zusätzlich gab er mehrere südamerikanische Formen an. Die eigentliche offizielle wissenschaftliche Benennung erfolgte aber elf Jahre später wiederum durch Cuvier. In einer umfangreichen Monographie benutzte er hierbei die latinisierte Gattungsbezeichnung Mastodon. Das Amerikanische Mastodon versah er dabei mit dem wissenschaftlichen Namen Mastodon giganteum, das schmalzähnige mit Mastodon angustidens. Den Namen Mastodon entlieh Cuvier der griechischen Sprache. Er setzt sich aus den Wörtern μαστός (mastos für „Brust“ oder „Mutterbrust“) und οδον (odon für „Zahn“) zusammen. Dies bezieht sich auf die buckelförmigen Höcker auf den Kauoberflächen der Zähne, die Cuvier an eine Frauenbrust oder an Zitzen erinnerten (dens mammelonnees). Im weiteren Verlauf des 19. Jahrhunderts wurde Mastodon fast ausschließlich gebraucht. Charles Lucien Jules Laurent Bonaparte nahm die Gattungsbezeichnung als Basis, um im Jahr 1845 die übergeordnete Gruppe der Mastodontina einzuführen. Diese wiederum erweiterte Charles Frédéric Girard im Jahr 1852 zur Familie der Mastodontidae (wobei John Edward Gray bereits 1821 ein Taxon namens Mastodonadae auf Familienebene führte). Neben der höheren Taxonomie gaben die inzwischen zahlreichen beschriebenen Arten die Möglichkeit einer inneren Differenzierung der Gattung Mastodon. Dies erfolgte in der Regel am Zahnbau. Hugh Falconer unterschied so im Jahr 1857 eine trilophodonte (drei Querleisten auf den ersten beiden Molaren) von einer tetralophodonten (vier Querleisten auf den ersten beiden Molaren) Gruppe. Weiterhin einschneidend waren die Untersuchungen von Michael Vacek im Jahr 1877. In einem umfassenden Vergleich europäischer Funde setzte er eine zygolophodonte und eine bunolophodonte Gruppe voneinander ab. Erstere umfasste Arten mit typisch freien Querfurchen wie es bei den Mammutiden der Fall ist, letztere wiesen in den Querfurchen der Molaren häufig Sperrhöcker und -leisten auf, was unter anderem auf Mastodon angusitidens zutraf. Gegenüber der zygolophodonten Gruppe wies die bunolophodonte auch eine größere morphologische Variabilität auf. Falconers und vor allem Vaceks Analysen leiteten letztendlich die Auflösung der Gattung Mastodon ebenso wie der auf sie basierenden übergeordneten Gruppen ein, auch wenn sich der Prozess noch rund ein halbes Jahrhundert hinziehen sollte. Während Richard Lydekker im Jahr 1880 anhand zahlreicher Neufunde aus den Siwaliks in Südasien mehrere Untergruppen innerhalb von Mastodon separierte, ging Edward Drinker Cope vier Jahre später weiter und teilte die Gattung in mehrere auf. In Mastodon verblieben hier weitgehend die zygolophodonten Formen. Anfang des 20. Jahrhunderts beschäftigte sich Henry Fairfield Osborn intensiv mit den Rüsseltieren. Er publizierte ab den 1920er Jahren zahlreiche Aufsätze und brachte im Jahr 1936 mit The Proboscidea das bis dato umfangreichste Werk zu den Rüsseltieren heraus. In seinem Gesamtwerk gliederte Osborn die Gattung Mastodon weiter auf, behielt den Gattungsnamen aber für die „klassische“ Gruppe um das Amerikanische Mastodon bei. Zudem schuf er bereits 1921 mit den Mastodontoidea eine übergeordnete Gruppe, innerhalb derer er alle zygolophodonten und bunolophodonten Formen vereinte und sie von den Elefanten und älteren Rüsseltiergruppen absetzte. Als eigentlichen Stamm der Mastodonten sah Osborn die zygolophodonte Gruppe an, für die er die Mastodontinae (nach seiner Auffassung die „Echten Mastodonten“) und die Zygolophodontinae aushielt. Den bunolophodonten Stamm gruppierte er weitgehend in die Bunomastodontidae, teilte diese aber wiederum in zahlreiche Untereinheiten auf. Die Benennung der einzelnen Gruppen und teilweise auch der Gattungen erfolgte dabei nach einer eigenständigen Vorgehensweise, die nicht konform mit den Regeln der zoologischen Nomenklatur ging. Dies stieß schon Anfang der 1920er Jahre auf Kritik, etwa durch Oliver Perry Hay, wurde aber vor allem im Nachklang des Werkes The Proboscidea evident. George Gaylord Simpson sah sich daher veranlasst, im Jahr 1945 Osborns Nomenklatur zu übertragen. Er rehabilitierte dabei die Gattung Mammut gemäß der Prioritätsregel und löste somit die Gattung Mastodon letztendlich vollständig auf. Darüber hinaus ersetzte er auch die gesamte Gruppe der Mastodontidae (also die Mastodontinae und die Zygolophodontinae) durch die Mammutidae, ein Vorschlag seitens Hay bei seiner Kritik an Osborn, und zerschlug überdies die Mastodontoidea als übergeordnete Einheit. Die Bunomastodontidae führte Simpson hingegen in die Gomphotherien über. Aus heutiger Sicht bildeten weder die Gattung Mastodon noch die übergeordnete Einheit der Mastodonten eine in sich geschlossene Verwandtschaftsgruppe. Vielmehr repräsentierten die darin eingeschlossene Arten unterschiedliche Entwicklungslinien. Die zygolophodonten Formen stellen die Mammutiden dar. Sie können nach heutigen phylogenetischen Auffassungen als ein Seitenzweig der Rüsseltierevolution aufgefasst werden, der vor rund 11.000 Jahren ausstarb. Die bunolophodonten Vertreter umfassen dem gegenüber einen größeren Teil der Gomphotherien und einige modernere Angehörige. Sie stellen wahrscheinlich die Basis für die Entwicklung zu den Elefanten dar. Sonstiges Mit seiner Re-Etablierung von Mammut verwies Simpson 1945 die Gattung als einziges Mitglied zu den Mammutidae und vereinte in ihr zusätzlich Zygolophodon. Dieses war wiederum von Michael Vacek 1877 aufgestellt worden und enthielt unter anderem Mammut borsoni. Spätere Autoren gliederten Zygolophodon wieder aus, allerdings wird diskutiert, wie umfassend die Gattung ist. Ein weiteres Synonym bildet Pliomastodon, das im Jahr 1926 von Osborn anhand der Form Mammut matthewi eingeführt worden war. Darüber hinaus wurden im Laufe der Forschungsgeschichte weitere Gattungsbezeichnungen gebildet, die heute als synonym zu Mammut aufzufassen sind. Erwähnt werden soll hier Leviathan, das sich auf das gleichnamige Ungeheuer bezieht. Aufgestellt wurde die Gattung von Albert Carl Koch anhand eines nahezu vollständigen Skelettes eines Amerikanischen Mastodons vom Osage River im Benton County des US-Bundesstaates Missouri. Vier Jahre später benannte Koch die Gattung in Missourium um. Literatur Wighart von Koenigswald, Chris Widga und Ursula B. Göhlich: New mammutids (Proboscidea) from the Clarendonian and Hemphillian of Oregon – a survey of MioPliocene mammutids from North America. Bulletin of the Museum of Natural History University of Oregon, 2021 Jeffrey J. Saunders: North American Mammutidae. In: Jeheskel Shoshani und Pascal Tassy (Hrsg.): The Proboscidea: Evolution and Palaeoecology of Elephants and Their Relatives. Oxford Science Publication, 1996, S. 271–279 Einzelnachweise Weblinks Rüsseltiere Ausgestorbenes Rüsseltier Proboscidea
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https://de.wikipedia.org/wiki/Gro%C3%9Fe%20Bananenspinne
Große Bananenspinne
Die Große Bananenspinne (Phoneutria boliviensis) ist eine Spinne aus der Familie der Kammspinnen (Ctenidae). Die Art ist im Norden Südamerikas verbreitet und bewohnt dort Regenwälder. In der Vergangenheit soll es wie bei einigen anderen als „Bananenspinnen“ bekannten Spinnenarten einschließlich weiterer Arten der gleichnamigen Gattung zu Einschleppungen der Großen Bananenspinne in andere Teile der Welt durch den internationalen Güterverkehr gekommen sein, darunter auch nach Europa, wo die Art jedoch keine festen Populationen aufbauen konnte. Wie bei allen zur Gattung der Bananenspinnen (Phoneutria) zählenden Arten handelt es sich bei der Großen Bananenspinne um einen vergleichsweise großen Vertreter der Echten Webspinnen (Araneomorphae), obgleich alle anderen Arten der Gattung entgegen des Trivialnamens der Großen Bananenspinne größer werden können. Mit anderen Kammspinnen teilt die Art ihre nachtaktive und nomadische Biologie sowie ihre Jagdweise als freilaufender Lauerjäger ohne die Verwendung eines Spinnennetzes. In das Beutespektrum der Spinne fallen neben anderen Gliederfüßern auch kleinere Wirbeltiere. Der Paarung geht ein Balzverhalten voraus. Das Weibchen bewacht seinen Eikokon sowie anfangs die geschlüpften Jungtiere, ehe diese sich von dem Muttertier trennen und selbstständig über mehrere Fresshäute (Häutungsstadien) heranwachsen. Die Große Bananenspinne ist dem Menschen wie andere Bananenspinnen für unangenehme Bisse bekannt, zumal die hohe Aggressivität der Spinne und die Wahrscheinlichkeit eines Kontakts Bissunfälle begünstigt. Im Gegensatz zur gattungsverwandten Brasilianischen Wanderspinne (P. nigriventer) sind bei Bissunfällen der Großen Bananenspinne allerdings keine Todesfälle belegt, da ihr Gift beim Menschen anscheinend deutlich weniger toxische Wirkung zeigt. Dennoch ist im Umgang mit der Großen Bananenspinne Vorsicht angebracht, und Bisse der Art sollten von Fachpersonen untersucht und, wenn notwendig, behandelt werden. Merkmale Das Weibchen erreicht eine Körperlänge von 12,22 bis zu 15,22 Millimetern, wovon das Prosoma (Vorderkörper) 6,33 bis 6,97 Millimeter einnimmt. Das Männchen kann eine Körperlänge von 9,7 bis zu 10,6 Millimetern erreichen. Das Prosoma nimmt 4,86 bis 5,9 Millimeter der Körperlänge ein. Damit ist die Große Bananenspinne – anders, als es ihr Trivialname vermuten ließe – der kleinste Vertreter der Bananenspinnen (Phoneutria). Die Femora (Schenkel) des ersten Beinpaars sind beim Weibchen 5,2 bis zu 5,86 und beim Männchen 5,9 bis zu 6,72 Millimeter lang. Der Körperbau mitsamt Farbgebung der Großen Bananenspinne entspricht dem anderer Bananenspinnen, sodass auch diese Art einen eher gering ausgeprägten Sexualdimorphismus (Unterschied der Geschlechter) aufweist, wobei er, verglichen mit dem anderer Bananenspinnen, wiederum höher ausfällt. Zusätzlich besitzt die Große Bananenspinne als einzige Art der Gattung zwei laterale (seitlich) auffällige weiß-gelbe Bänder im anterioren (vorderen) Bereich des Carapax (Rückenschild des Prosomas). Die Cheliceren (Kieferklauen) erscheinen wie bei einigen anderen Bananenspinnen rötlich. Genitalmorphologische Merkmale Die Pedipalpen (umgewandelte Extremitäten im Kopfbereich) des Männchens weisen jeweils eine retrolaterale (seitlich rückliegende) Apophyse (chitinisierter Fortsatz) mit abgeschnittener Spitze und eine runde mediane (mittlere) Apophyse auf, die basal (an der Basis) vergrößert ist. Außerdem sind die Tibien (Schienen) der Pedipalpen kürzer als das Cymbium (erstes und vorderes Sklerit bzw. Hartteil des Bulbus). Ein einzelner Bulbus (männliches Geschlechtsorgan) wird innerhalb der Gattung der Bananenspinnen (Phoneutria) mitunter durch das vergleichsweise kleine Tegulum (zweites und mittleres Sklerit) und durch den Embolus (drittes und letztes Sklerit) mit einer inneren Einbuchtung charakterisiert. Ein weiteres Merkmal von je einem Bulbus sind die bei dieser Art posterior (hinten) angeordneten Verriegelungslappen. Der Konduktor (Fortsatz) besitzt anders als bei anderen Bananenspinnen keine Krümmung bei der Basis des Embolus. Die Epigyne (weibliches Geschlechtsorgan) der Großen Bananenspinne besitzt ein eher breiteres Mittelfeld und stark sklerotisierte (verhärtete) Kopulationsgänge. Das für die Gattung typische epigynale Lateralfeld ist eher schmal gebaut und die epigynale Lateralapophyse weist lange, apikal (zum Ende gelegen) zugespitzte Spornen auf. Der Kopfbereich der Spermatheken (Samentaschen) ist hier reduziert. Differenzierung von ähnlichen Bananenspinnen Obwohl sich habituriell (vom Erscheinungsbild her) alle Bananenspinnen (Phoneutria) ähneln, kann die Große Bananenspinne auch hinsichtlich ihrer genitalmorphologischen Merkmale leicht mit der zur gleichen Gattung zählenden Art P. depilata verwechselt werden, die allerdings deutlich größer werden kann und überwiegend nördlicher als die Große Bananenspinne vorkommt. Außerdem hat P. depilata auf der Ventralseite des Opisthosomas zwei Reihen von jeweils vier gelben Punkten. Auch ähneln sich beide Arten sehr hinsichtlich des Aufbaus ihrer Geschlechtsorgane, zumal die retrolaterale Apophyse an je einem Pedipalpus der Männchen bei beiden Arten identisch aufgebaut ist. Allerdings hat die mediane Apophyse dieser Art eine schmalere Basis. Außerdem ist bei einem Bulbus von P. depilata das Tegulum größer und der Embolus weist keine Einbuchtung auf. Die Verriegelungslappen sind lateral (seitlich) angeordnet. Auch die Epigyne ist bei beiden Arten ähnlich aufgebaut. Die von P. depilata besitzt aber weniger sklerotisierte Kopulationsgänge und die Kopfregion der Spermatheken ist größer. Ein weiterer Verwechslungskandidat innerhalb der Bananenspinnen hinsichtlich der Morphologie der Geschlechtsorgane ist die Brasilianische Wanderspinne (P. nigriventer), doch ist beim Weibchen dieser Art die für die Gattung typische laterale Bezahnung kleiner und das epigynale Mittelfeld ist stärker sklerotisiert und weiter von der Spitze entfernt als beim Weibchen der Großen Bananenspinne. Die laterale Apophyse der Epigyne weist bei der anderen Art keine Sulci (Furchen) auf und die posterioren Lappen sind eher flach gebaut. Beim Männchen der Brasilianischen Wanderspinne ist die Basis beim Embolus eines Bulbus überdies vergleichsweise schmal. Vorkommen Das Verbreitungsgebiet der Großen Bananenspinne umfasst die südamerikanischen Länder Bolivien, Brasilien, Kolumbien, Ecuador und Peru. Dort kommt die Art im Amazonas-Regenwald vor. Lebensräume und sympatrisches Vorkommen mit anderen Bananenspinnen Die Große Bananenspinne bewohnt innerhalb des Regenwalds verschiedene Habitate (Lebensräume). In Peru beispielsweise wurde die Art vielfach in Sumpfwäldern nachgewiesen, die von der Buriti-Palme (Mauritia flexuosa) dominiert wurden. Daneben bewohnt die Spinne überschwemmte Regenwälder, auf die sie einst als beschränkt galt. 2021 fand man jedoch heraus, dass die Große Bananenspinne auch Terra-Firme-Wälder ebenso wie die Ausläufer des Amazonas-Regenwalds im Departamento del Caquetá in Kolumbien bewohnt, wo sie innerhalb dieser nicht überschwemmten Biotope in Sekundärwäldern und Waldrändern anzutreffen ist. Die Große Bananenspinne kommt sympatrisch (gemeinsam) mit den ebenfalls zu den Bananenspinnen (Phoneutria) zählenden Arten P. fera und P. reidyi vor. Allerdings ist die Sympatrie zwischen der Großen Bananenspinne und P. reidyi innerhalb Kolumbiens und Ecuadors unterbrochen, was dort mit der Sympatrie zwischen der Großen Bananenspinne und P. fera nicht der Fall ist. Trotz alldem haben alle drei Arten unterschiedliche Mikrohabitate, an die sie sich angepasst haben, um gegenseitige Konkurrenz zu umgehen. Einfuhren in andere Kontinente Die Große Bananenspinne wurde angeblich vermehrt wie andere als „Bananenspinnen“ bekannte Spinnenarten, darunter auch weitere der gleichnamigen Gattung der Bananenspinnen (Phoneutria) vermehrt in Europa und Nordamerika über menschliche Handelswege, dabei vorwiegend entsprechend der Bezeichnung über Transporte der Dessertbanane (Musa × paradisiaca) eingeführt und schien innerhalb der Gattung der Bananenspinnen nach dem Kenntnisstand von 2021 die Art zu sein, bei der dies am häufigsten der Fall ist. Dies lässt sich seit der in diesem Jahr stattgefundenen Revalidierung der Art P. depilata, die bis dahin als Synonym der Großen Bananenspinne galt und deren Verschleppung auf diesem Wege deutlich wahrscheinlicher ist, jedoch anzweifeln. Aufgrund der wie bei allen Bananenspinnen vorhandenen Ähnlichkeit der Großen Bananenspinne mit den für den Menschen wesentlich harmloseren Arten der Gattung Cupiennius, die ebenfalls mehrfach auf gleichen Wegen in andere Teile der Welt eingeschleppt wurden, kam es bei in Europa und Nordamerika nachgewiesenen Exemplaren beider Gattungen oftmals zu Fehlbestimmungen bei Spinnen beider Gattungen einschließlich der Großen Bananenspinne, was schwerwiegende Folgen haben kann. Insbesondere die Große Bananenspinne kann durch ihre den Arten der Gattung Cupiennius ähnlichere Dimensionen leichter mit diesen verwechselt werden als die anderen Bananenspinnen, die allesamt deutlich größer werden. Lebensweise Die Große Bananenspinne ist wie alle Bananenspinnen (Phoneutria) nachtaktiv und während ihrer Aktivitätszeit sehr wanderfreudig. Am Tag versteckt sich die Spinne in Spalten, unter Steinen oder umgestürzten Baumstämmen genauso wie in Bromelien. Jagdverhalten und Beutespektrum Die wie für Spinnen üblich räuberisch lebende Große Bananenspinne ist wie alle Kammspinnen (Ctenidae) ein freilaufender Lauerjäger, der demzufolge kein Spinnennetz für den Beutefang anlegt. Die Art selber ist wie alle der Bananenspinnen (Phoneutria) ein opportunistischer Jäger, der alle Beutetiere erlegt, die er zu überwältigen vermag. Dabei zeigt sie sich demnach euryphag (nicht auf bestimmte Nahrung angewiesen). Diese Annahme wird besonders durch den hohen Nahrungsbedarf und das große Beutespektrum gestützt. Einspinnen von Beutetieren Die Große Bananenspinne kann bei Bedarf Beutetiere einspinnen, was etwa bei dem Überwältigen vergleichsweise schwer erlegbarer Beutetiere für die Art, etwa der Amerikanischen Großschabe (Periplaneta americana), geschehen kann. Allerdings dient das Einspinnen im Falle der Großen Bananenspinne ausschließlich dem Ermöglichen einer Kompatibilität gefangener Beutetiere, zumal das Beutetier, sofern an einer vertikalen Oberfläche befindlich, von der Spinne durch das Einspinnen an der Oberfläche befestigt wird, was ihr dabei das Loslassen und neu ansetzende Greifen mittels der Cheliceren ermöglicht. Das Verhalten des Einspinnens von Beutetieren der Großen Bananenspinne wurde 2014 von Nicolas Hazzi in Gefangenschaft anhand Exemplaren der Amerikanischen Großschabe als Beutetiere für die Versuchstiere der Spinnen untersucht. Ergreift die Große Bananenspinne etwa eine Amerikanische Großschabe und versetzt ihr somit zeitgleich einen Giftbiss, dann klettert erstere maximal 15 Zentimeter hoch auf eine senkrechte Fläche und dreht sich um, sodass die Gesichtsregion nach unten gerichtet ist. Die Spinne wartet dann, bis das Beutetier sämtliche Bewegungen mit der möglichen Ausnahme von kleineren wie von Fühlern ausgehenden Bewegungen einstellt. Die Spinne neigt ihr Opisthosoma (Hinterleib) dann in Richtung des Untergrunds und beginnt dort, Spinnseide in Form von zwei unterteilten Anheftungen zu befestigen. Anschließend dreht die Spinne sich dann halbkreisförmig um das Beutetier herum und hält es dabei mit den Cheliceren fest, während sie eine dritte Befestigung aus Spinnseide an der Lauffläche anlegt. Die Spinnfäden der ersten Befestigung hält die Spinne noch an den Spinnwarzen fixiert, sodass sie ein Tuch aus Spinnseide bildet, das das Beutetier bedeckt. Die Spinne hält das Beuteobjekt weiterhin in den Cheliceren fest und setzte die kreisförmigen Bewegungen fort, während sie weiterhin Spinnseide an das Beutetier anheftet. Sobald das Beutetier fester am Untergrund haftet, löst die Spinne während des Einspinnens den Griff vom Beutetier mittels der Cheliceren. Die scheibenförmig angelegten Anhaftungsfäden befinden sich jedoch nicht direkt am Beutetier, sondern an der Oberfläche um dieses herum. Während des gesamten Vorgangs berührt die Spinne gelegentlich das Beutetier mit ihren Pedipalpen. Bei Hazzis Beobachtungen fertigten die Versuchstiere eine bis drei und durchschnittlich 2,4 ± 0,7 Befestigungseinheiten an, wofür sie jeweils 65 bis 100 und im Durchschnitt 81 ±s + 13 Sekunden brauchten. Ist ein Beutetier ausreichend eingesponnen, hebt die Spinne es mit den Cheliceren an und bewegt es leicht nach vorne, wodurch die am Untergrund angehefteten Spinnfäden gestrafft werden. Beim Verzehr wird der Prozess des Einspinnens gelegentlich wiederholt, wenn auch in kürzerer Dauer mit geringeren Befestigungseinheiten. Zumindest bei Hazzis Beobachtungen berührten die ersten beiden Befestigungseinheiten meistens nicht das jeweilige Beuteobjekt. Das in einer Drehbewegung ausgeführte Einspinnen geschieht scheinbar immer in Richtung des Uhrzeigersinns. Die Große Bananenspinne nutzt im Gegensatz zu einigen anderen Spinnen nicht die Beine zum Befestigen einzelner Spinnfäden an der Oberfläche, sondern schafft dies alleine durch Bewegungen mit dem Körper. Alle drei Paare der Spinnwarzen werden beim Einspinnen beansprucht. Bewegt wird jedoch nur das anteriore Paar, während die unbeweglichen posterior lateralen Spinnwarzen sich normalerweise in einer asymmetrischen Position befinden. Dies hängt allerdings von der Richtung, die die Spinne im kreisförmigen Bewegungsmuster ausführt, ab. Bewegt sich diese nach links, wird die rechte Spinnwarze des posterior lateralen Paars immer angehoben und dessen linke abgesenkt, wobei letztere dann mit dem Untergrund in Berührung kommt. Bei der fehlenden Mitbenutzung der Beine beim Einspinnen von Beutetieren seitens der Großen Bananenspinne handelt es sich um eine vergleichsweise primitive Methode zum Einspinnen von Beutetieren innerhalb der Echten Webspinnen (Araneomorphae) und auch die asymmetrischen Bewegungen der posterior lateralen Spinnwarzen, wie sie auch bei dieser Art vorkommen, sind dafür typisch. Dieses Verhalten wird auch bei anderen Familien innerhalb dieser Unterordnung angewandt, was diesen Aspekt der Homologie bekräftigt. Eine solche asymmetrische Anwendung der Spinnwarzen ändert die Verteilung einzelner Fäden auf dem Beuteobjekt gegenüber der erwarteten, wenn die Spinndüsen symmetrisch verwendet würden. Die Große Bananenspinne kann dank dieser Methode des Einspinnens die Befestigungseinheiten in Form tuchartiger Seidenbedeckung um ein Beutetier schaffen und somit ein solches effizienter umfüllen. Im Gegensatz dazu würde die Benutzung der posterior lateralen Spinnwarzen bei einer symmetrischen Stellung nur einen Streifen von Spinnfäden erzeugen. Beutespektrum Das Beutespektrum der Großen Bananenspinne setzt sichhauptsächlich aus Wirbellosen, insbesondere Gliederfüßern zusammen. Forscher stellten bei der Auswertung von Beutetieren fest, dass diese zu 96 unterschiedlichen Spezies gehörten, von denen 75 (vor 2021) noch nicht als Teil des Nahrungsspektrums der Spinne überliefert waren. Unter den identifizierten Gliederfüßern, fanden sich zahlreiche Insekten, wie Käfer, Zweiflügler, Schmetterlinge und Heuschrecken, sowie kleine Schuppenkriechtiere. Kleinere Reptilien und Amphibien erweitern das Beuteschema der Großen Bananenspinne, wie es auch bei anderen Bananenspinnen (Phoneutria) der Fall ist. Die Art ist in der Lage, Beuteobjekte überwältigen, die ihre eigene Körperlänge übertreffen, allerdings darf dabei das Dreifache der Körperlänge der Spinne allem Anschein nach nicht überschritten werden. Zu den Arthropoden, die in das Beuteschema der Großen Bananenspinne fallen, gehören für Spinnen gängige Beutetiere, wie Käfer, Schmetterlinge, Heuschrecken und andere Spinnen. Daneben ließen sich Schaben, Hautflügler und Libellen als Beuteobjekte der Großen Bananenspinne nachweisen. Genauso kann Kannibalismus vorkommen. Dass die Art außerdem dazu imstande ist, Gespenstschrecken zu erbeuten, ist bemerkenswert, da diese sowohl über eine sehr gute Tarnung als auch im Falle einiger Arten über Wehrsekrete verfügen und die Spinne demnach dazu in der Lage ist, diese Abwehrmechanismen zu umgehen. Ferner ist die Große Bananenspinne in der Lage, Fangschrecken zu überwältigen, die selber eine räuberische Ernährungsweise besitzen und aufgrund ihrer bedornten Fangarme ebenfalls vergleichsweise wehrhaft sind. Die Spinne kann also auch für sie selbst potentiell gefährliche Beutetiere überwältigen. Es wird jedoch vermutet, dass die Art jedoch eine Präferenz für Zweiflügler besitzt. Zu den Schuppenkriechtieren, die für die Große Bananenspinne als Beutetiere in Frage kommen, zählen verschiedene Vertreter der Geckos sowie der Geckoartigen, aus der Familie der Sphaerodactylidae sowie Nattern der Gattung Stenorrhina. Bei Amphibien, die als Beuteobjekte der Spinne nachgewiesen wurden, handelte es sich um Froschlurche aus der Familie der Laubfrösche (Hylidae). Jedoch wird der Tungara-Frosch (Engystomops pustulosus) von der Großen Bananenspinne gemieden, da dieser Wehrsekrete über seine Haut absondern kann, die die Spinne dazu veranlassen, den gegriffenen Frosch wieder loszulassen. Das Erbeuten von kleineren Wirbeltieren seitens der Großen Bananenspinne kann wie bei anderen vergleichsweise großen Spinnenarten wohl dabei helfen, den erforderlichen Nährstoffhaushalt zu sichern. Das Erlegen derartiger Beutetiere wird der Spinne allerdings nicht nur durch ihre Größe, sondern wohl auch durch ihr Gift ermöglicht. Dieses enthält vermutlich Toxine (Giftstoffe), die eine effektive Immobilisierung von Wirbeltieren, die als Beutetiere der Art in Frage kommen, erzielt. Ein derartiges Phänomen gilt bei den nicht näher verwandten Echten Witwen (Latrodectus) als erwiesen, da einige Arten dieser Gattung ebenfalls kleine Wirbeltiere erbeuten können. Unterschiede des Beutespektrums nach Geschlecht Das Männchen der Großen Bananenspinne kann, obgleich es kleiner als das Weibchen ist und seine Jagdunternehmungen ab dem Erlangen der Geschlechtsreife zunehmend einstellt, eine höhere Vielfalt an Beutetieren aufweisen. Da es allerdings insgesamt wanderfreudiger ist, betreibt das Männchen auch aus diesem Grund einen höheren Jagdaufwand als das Weibchen, wodurch es auf eine größere Variation an Beutetieren angewiesen ist. Ferner wirkt das Gift des Männchens der Großen Bananenspinne beispielsweise bei Käfern, die als schwerer zu erlegende Beutetiere in Erscheinung treten können, stärker als das des Weibchens. Dadurch dürfte dem Männchen ein höherer Jagderfolg gesichert sein, ohne, dass dieses Risiken von seitens des Käfers ausgehenden Defensivversuchen ausgesetzt ist. Unterschiede des Beutespektrums nach Population Das Beutespektrum der Großen Bananenspinne wird neben den Geschlechtern auch von der geographischen Lage beeinflusst, was wahrscheinlich durch die Verfügbarkeit von Beutetieren im jeweiligen Gebiet der Population beeinflusst, dies insbesondere bei der von Heuschrecken. Ein Beispiel sind die Anden, die das Verbreitungsgebiet der Spinne durchkreuzen und in denen beliebige biogeographische Faktoren wie Temperatur und Feuchtigkeit genauso wie menschengemachte Eigenschaften die Verfügbarkeit von Beutetieren beeinflussen. Immobilisierung von Beutetieren Die Große Bananenspinne immobilisiert wie die meisten Spinnen ergriffene Beutetiere mithilfe des von den Cheliceren verabreichten und in das Beutetier injizierten Gifts. Sie kann dabei die Menge des zu verabreichenden Gifts anscheinend dosieren und injiziert in größere und aktivere Beutetiere womöglich größere Mengen an Gift, um möglichen Risiken oder Verlusten entgegenzuwirken. Die Dauer der Immobilisierung hängt vom jeweiligen Beutetier und der Menge des verabreichten Gifts ab. Ein einzelner Biss genügt, da die Spinne anscheinend dazu in der Lage ist, den Beutezugriff und den Giftbiss gleichzeitig auszuüben. Andere von der Großen Bananenspinne ergriffene Spinnen gehen im Falle des Erbeutens seitens der Großen Bananenspinne schnell zugrunde, was vermutlich daran liegt, dass die Große Bananenspinne im Falle des Erbeutens anderer Spinnen eine größere Menge an Gift verabreicht, um die gepackte Spinne an einer Gegenwehr zu hindern. Bei dem Erbeuten von Geckos seitens der Großen Wanderspinne ist ein ähnliches Phänomen erkennbar, hier vermutlich aus dem Grund, dass Geckos als Tiere mit schneller Fortbewegungsmöglichkeit eine Flucht unmöglich gemacht werden soll. Im Gegensatz zu den beiden vorherigen Beispielen benötigt die Große Bananenspinne eine längere Zeit für das Immobilisieren von Schaben. Dies dürfte daran liegen, dass das insbesondere im ventralen Bereich des Thorax (Brust) und über das ganze Abdomens (Hinterleib) stark gepanzerte Exoskelett (Chitinpanzer) von Schaben der Spinne einen Zugriff und damit auch einer Giftinjektion erschwert. Alternativ besteht die Theorie, dass Schaben eine stärkere Resistenz gegen das Gift der Spinne aufweisen. Abwehrverhalten und Verteidigung Die Große Bananenspinne teilt mit anderen Bananenspinnen (Phoneutria) ihre für Spinnen außerordentlich hohe Aggressivität und ist bei Störungen leicht zu dem für die Gattung typischen Drohverhalten zu animieren. Bei Begegnung mit einem möglichen Prädator (Fressfeind) stellt sich die Spinne auf den beiden hinteren Beinpaaren auf und richtet den Körper beinahe senkrecht nach oben. Die beiden vorderen Beinpaare werden in die Höhe gehalten, sodass nun die ventral (unten) auf den Beinen und dem Körper der Spinne befindliche und markante Warnfärbung zur Geltung kommt. Die Spinne richtet sich gegen den Angreifer und bewegt die erhobenen Beine dabei seitlich. Die Drohgebärde der Art wird durch die dann gespreizten Cheliceren und aufgerichteten Stacheln an der Ventralfläche der Beine verstärkt. Bei anhaltender Störung kann sich die Große Bananenspinne auch mit einem aktiven Abwehrbiss verteidigen. Allerdings wird dabei nicht immer Gift injiziert. In dem Fall redet man von einem Trockenbiss. Lebenszyklus Der Lebenszyklus der Großen Bananenspinne ist in die für Spinnen üblichen Phasen der Fortpflanzung, der Eiablage und des Heranwachsens der Jungtiere gegliedert. Er wurde bei dieser Art ebenfalls 2014 von Hazzi ausführlich beschrieben. Zusammentreffen der Geschlechtspartner und Fortpflanzung Ein geschlechtsreifes Männchen der Großen Bananenspinne kann ein Weibchen der gleichen Art ausfindig machen, indem es den vom Weibchen verlegten Wegfäden folgt. Dabei trommelt es mit seinen Pedipalpen auf den Bodengrund. Während der Suche positioniert das Männchen seine Pedipalpen nahe dem Untergrund, behält den Berührungskontakt zum Wegfaden der potentiellen Geschlechtspartnerin und führt mit dem ersten Beinpaar langsame, klopfartige Bewegungen in verschiedene Richtungen aus. Es wird vermutet, dass die Bewegungen der Pedipalpen wie bei einigen Wolfsspinnen (Lycosidae) dazu dient, die Lokalisierung eines Weibchens zu erleichtern. Ein Balzverhalten, wie es bei Spinnen der Überfamilie der Lycosoidea anderweitig die Regel ist, ließ sich bei der Großen Bananenspinne nicht nachweisen. Stattdessen geschieht die Arterkennung bei dieser Art wohl mittels Berührungen des Weibchens, die vom Männchen ausgehen. Berührt das Männchen das Weibchen, dreht letzteres sich um, sodass Männchen und Weibchen Kopf an Kopf aneinander befindlich sind. Das Männchen berührt daraufhin das Weibchen mit dem ersten Beinpaar für eine Dauer von unter zwei Sekunden. Ist das Weibchen nicht paarungswillig, flüchtet es blitzartig. Ist es jedoch zu einer Paarung bereit, verbleibt es gegenüber dem sich angenäherten Männchen passiv. Die daraufhin stattfindende Paarung geschieht in der Stellung III, die für viele freilaufend jagende und modernere Echte Webspinnen (Araneamorphae) typisch ist und bei der das Männchen frontal auf das Weibchen steigt, sodass sich beide Geschlechtspartner in entgegengesetzter Blickrichtung übereinander befinden. Da sich alle Echten Webspinnen, die eine retrolaterale Tibiaapophyse besitzen, zu einer monophyletischen (stammestechnischen) Klade zusammengefasst werden, könnte die Anwendung dieser Paarungsstellung als eine Synapomorphie (gemeinsames Merkmal mehrerer verwandter Taxa) betrachtet werden. Im Falle der Großen Bananenspinne zieht das Weibchen zusätzlich seine Beine derartig dicht an den eigenen Körper, dass die Patellae (Glieder zwischen den Femora, bzw. Schenkeln und den Tibien bzw. Schienen) aller Beine über seinem Carapax befindlich sind und sich gegenseitig berühren. Einmal über dem Weibchen befindlich, bewegt sich das Männchen seitlich zu den Flanken vom Körper seiner Geschlechtspartnerin und beginnt in dessen Epigyne einen seiner Bulbi einzuführen. Nach Hazzis Beobachtungen ist ein Wechsel der einzuführenden Bulbi einmalig möglich, sodass ein Männchen maximal jeden Bulbus einmal einführen kann und somit maximal zwei Einführungen bei der Großen Bananenspinne vorkämen. Allerdings ist es wohl nach gleichen Analysen auch möglich, dass ein Männchen nur einen seiner Bulbi in die Epigyne des Weibchens einführt. Vor jeder Insertion der Bulbi werden die Stacheln des Männchens kurzzeitig aufgerichtet. Bei Hazzis Beobachtungen dauerten die Begattungen maximal für 15 Sekunden an. Das Männchen entfernt sich nach der Paarung fluchtartig. Eiablage und Kokonbau Ein begattetes Weibchen der Großen Bananenspinne legt einige Zeit nach der Paarung seinen ersten Eikokon an. Bei Hazzis Beobachtungen legten die Versuchstiere ihre Kokons immer an der Wand der Behausungen über dem Boden ab. Ein einzelner Kokon der Art ist weiß gefärbt und besitzt einen Durchmesser von 22 bis 33 und durchschnittlich 28 ± 64 Millimetern. Seine Fläche an dem Untergrund, an dem sich der Kokon befindet, fällt flach aus, während seine obere Fläche konvex erscheint. Die Große Bananenspinne betreibt wie viele zur Überfamilie der Lycosoidea zählenden Spinnen eine aufopferungsvolle Brutpflege und verbleibt bei ihrem vollendeten Eikokon. Sie verlässt diesen nur kurzzeitig zur Nahrungs- und Wasseraufnahme. Die Aggressivität des Weibchens wird während der Brutpflege noch einmal gesteigert und es ist in dieser Zeit deutlich leichter zu der für die Bananenspinnen (Phoneutria) charakteristischen Drohhaltung zu animieren. Das Weibchen der Großen Bananenspinne kann nach einer Begattung bis zu vier Eikokons anfertigen. Die ausgeprägte Form der Brutpflege dient bei der Großen Bananenspinnen wie wohl auch bei anderen Spinnen mit dieser Eigenschaft dazu, Prädationen der Eier und der Jungtiere zu verhindern. Damit werden die Überlebenschancen der Art sehr gesteigert. Ähnliches ließ sich auch bei anderen Spinnen, etwa der Art Cheiracanthium japonicum aus der Familie der Dornfingerspinnen (Cheiracanthiidae), belegen. Die Art der Brutpflege mitsamt der Form des Eikokons der Großen Bananenspinne ist für Kammspinnen (Ctenidae) üblich. Schlupf und Heranwachsen der Jungtiere Die Jungtiere der Großen Bananenspinne schlüpfen 28 bis 34 und im Durchschnitt 30 ± 2 Tage nach der Produktion des jeweiligen Eikokons und ihre Anzahl beträgt 430 bis 1300, wobei von Hazzi der Durchschnittswert der Schlupfrate mit 836 ± 436 angegeben wird. Eine Stunde vor dem Schlupf beginnt das Weibchen im Minutentakt vermehrt in den Eikokon mit seinen Cheliceren an verschiedene Stellen zu beißen, wobei die dabei entstehenden Löcher den Jungtieren zum Verlassen des Eikokons dienen sollen. Die Jungtiere legen nach dem Verlassen des Eikokons ein liederliches Gespinst an, in dem sie bis zur zweiten Fresshaut (Häutungsstadium) gemeinsam verbleiben. 15 Tage nach dem Schlupf verlassen die Jungtiere ihre Kolonie und wechseln zur solistischen Lebensweise über. Bis zur zweiten Fresshaut weisen die Jungtiere an allen Beinpaaren je eine dritte Klaue an den Tarsen (Fußgliedern) auf, die in den folgenden Stadien durch ein dickes Klauenbüschel ersetzt wird, wie es auch bei anderen Kammspinnen (Ctenidae) vorhanden und für die Familie die namensgebende Eigenschaft ist. Das Vorhandensein einer dritten Klaue ist für netzbauende Spinnen typisch, da diese Klauen für diese als Halterung an ihren eigenen Netzen unabdingbar sind. In den früheren Fresshäuten der Großen Bananenspinne und einigen weiteren Kammspinnen sind derartige Klauen vermutlich aus dem gleichen Grund bzw. wegen des Aufhaltens in einem Kommunalnetz ausgebildet, während diese in den folgenden Stadien ihren Nutzen verlieren und sich deshalb zurückbilden. Das Muttertier setzt seine Brutpflege nach dem Schlupf fort und bewacht auch seine geschlüpften Nachkommen auch noch dann, während diese sich in Kolonien versammeln. Sobald die Jungtiere sich kurz nach der zweiten Häutung verstreuen, verlässt auch das Muttertier seinen vorherigen Aufenthaltsort bei seinem Nachwuchs. Sollten die Jungtiere noch in Verbänden leben und dabei gestört werden, bewegen sie sich erst einmal von dem Gemeinschaftsnetz weg, kehren aber nach gut 10 Minuten wieder zu diesem zurück. Sollten mehrere Jungtiere durch äußere Einflüsse von ihrer einstigen Kolonie entfernt werden und sich an einem anderen Ort wieder zusammenfinden, bilden sie dort neue Gruppen, wobei dieses Verhalten wenige Tage nach dem Erlangen der zweiten Fresshaut nachlässt. Insgesamt gilt neben der nach dem Schlupf fortgeführten Brutpflege auch das anfängliche gemeinsame Aufhalten der Jungtiere bis zur zweiten Fresshaut und die danach stattfindende Verstreuung dieser bei der Großen Bananenspinne für einige Kammspinnen typisch. Zumindest ist beim Weibchen der Großen Bananenspinne durch Hazzi überliefert, dass dieses 14 bis 17 Fresshäute bis zum Erlangen des adulten Stadiums durchläuft. Obwohl anderweitig keine nennenswerten Variationen der jeweiligen Dauer einer Fresshaut zu vermerken sind, weist die erste grundsätzlich eine kürzere Dauer und Variation als die darauf folgenden auf. Die Jungtiere benötigen 300 bis 465 und im Durchschnitt 396,7 ± 72 Tage bis zum Erlangen des Adultstadiums. Über die gesamte Lebenserwartung der Großen Bananenspinne liegen keine Informationen vor. Toxikologie Die Toxikologie befasst sich mit der Lehre von Giftstoffen und somit auch dem Gift der Großen Bananenspinne. Wie bei der Körpergröße auch gibt es bei der abgegebenen Giftmenge einen Sexualdimorphismus. Weibchen geben eine größere Menge Gift ab, die je nach Studie mit 20,9 mg oder 8,6 μl angegeben wird, während Männchen nur 9,7 mg bzw. 3,31 μl abgeben. Die Bestandteile des Gifts wurden noch nicht vollständig aufgeklärt, jedoch wurden bereits einige toxikologisch relevante Bestandteile mittels verschiedener Chromatographiemethoden identifiziert. Mittels SDS-PAGE können mehrere Banden zwischen 14 Kilodalton (kDa) und 45 kDa identifiziert werden. Dabei wird eine Häufung von Banden um 14 kDa beobachtet. Beim Gift der Weibchen können drei Banden zwischen 25 kDa und 45 kDa beobachtet werden, während im Gift des Männchens keine dieser Banden auftaucht. Zwei isolierte Peptide, die gemäß der Nomenklatur von King als Ctenitoxin-Pb48 und Ctenitoxin-Pb53 bezeichnet werden, weisen Ähnlichkeiten mit anderen, bekannten Peptiden auf. Das Ctenitoxin-Pb48 besteht aus 11 Aminosäuren und wiegt 1341,5 Da. Die Aminosäuresequenz kann so auch im ω-Ctenitoxin-Pr1a (U2-CNTX-Pk1a), welches im Gift der ebenfalls zu den Bananenspinnen (Phoneutria) zählenden Art P. keyserlingi vorkommt, und im ω-Ctenitoxin-Pn1a (Tx3-2), welches im Gift der ebenfalls gattungsverwandten Brasilianischen Wanderspinne (P. nigriventer) vorhanden ist, gefunden werden. Eine 54%ige Übereinstimmung der Aminosäuresequenz liegt mit dem κ-Ctenitoxin-Pr1a (Tx3-1) vor, welches ebenfalls im Gift der Brasilianischen Wanderspinne vorkommt. Das Ctenitoxin-Pb53 besteht aus 11 Aminosäuren und wiegt 1265,7 Da. Die Aminosäuresequenz kann so auch im U2-Ctenitoxin-Pk1a (Tx3-7), welches im Gift der zur gleichen Gattung zählenden Art P. reidy vorkommt, gefunden werden. Mit dem U1-Ctenitoxin-Pn1a (U2-CNTX-Pn1a), welches ebenfalls im Gift der Brasilianischen Wanderspinne vorkommt, liegt eine 81%ige Übereinstimmung der Aminosäuresequenz vor, mit dem ebenfalls im Gift der gleichen Art vorkommenden Ctenitoxin-Pn1a (Tx4(5-5)) liegt eine 62%ige Übereinstimmung vor. Systematik Die Systematik der Großen Wanderspinne war mehrfach Änderungen unterworfen. Der Artname boliviensis deutet darauf hin, dass bei der Erstbeschreibung der Art lediglich Bolivien als ihr Vorkommensgebiet in Betracht gezogen wurde. Beschreibungsgeschichte Die Große Bananenspinne wurde bei ihrer 1897 von Frederick Octavius Pickard-Cambridge durchgeführten Erstbeschreibung unter der Bezeichnung C. boliviensis in die Gattung Ctenus eingeordnet. Anschließend erhielt die Art von verschiedenen Autoren unterschiedliche Bezeichnungen. Günter Schmidt ordnete die Art 1954 der Gattung der Bananenspinnen (Phoneutria) schon damals unter der noch heute gültigen Bezeichnung P. boliviensis zu, die seit 1973 auch durchgehend angewandt wird. Innere Systematik Bei einer 2001 seitens Miguel Simó und Antonio Domingos Brescovit durchgeführten Revision der Bananenspinnen (Phoneutria) wurden auch die phylogenetischen (stammestechnischen) Stellungen einzelner Arten der Bananenspinnen (Phoneutria) teilweise anhand von fünf Arten der Gattung erforscht. Dabei wurden die fünf Arten in zwei Artengruppen aufgeteilt. Eine der beiden ist nach der Brasilianischen Wanderspinne (P. nigriventer) benannt und enthält neben dieser auch die Große Bananenspinne. Die Andere ist die der Art P. reidyi und setzt sich neben dieser aus den Arten P. bahiensis und Phoneutria fera zusammen. Folgendes Kladogramm verdeutlicht die nähere Beziehung der fünf Arten nach Simó und Brescovit zueinander: Bei einer 2021 von Nicolas A. Hazzi und Gustavo Hormiga durchgeführten morphologischen (Struktur und Form betreffenden) und molekularen Versuchsreihe erhielt die zuvor mit der Großen Bananenspinne synonymisierte Art Phoneutria depilata wieder ihren Artstatus zurück. Gleiche Autoren stellten außerdem die Hypothese auf, dass auch P. fera die Schwesterart der Großen Bananenspinne sein könnte. Synonymisierte Arten Insgesamt fünf, fast alle von Embrik Strand erstbeschriebene und in die Gattung Ctenus eingegliederte Arten wurden 2001 von Simó und Brescovit im Zuge der Revision mit der Großen Bananenspinne synonymisiert und verloren somit ihren Artstatus. Dies blieb bei all diesen Arten mit Ausnahme von Phoneutria depilata auch unverändert. Zwei dieser ehemaligen Arten sind C. valvehirsutulus und C. chilesicus, die von Strand jeweils 1910 und 1915 beschrieben wurden. Die Morphologie der Epigyne gleicht der der Großen Bananenspinne, sodass beide Arten nunmehr als jüngere Synonyme der Großen Bananenspinne gelten. Bei der 1907 beschriebenen Art C. nigriventoides ähnelte die Epigyne der der Brasilianischen Wanderspinne (Phoneutria nigriventer), doch waren die Ecken des Mittelfelds divergent (auseinanderstrebend). Der von Strand verwendete Holotypus (für die Erstbeschreibung angewandtes Exemplar) ist mittlerweile verloren, doch deutet das Vorhandensein eines dreieckigen Lappens laut Simó und Brescovit darauf hin, dass C. nigriventoides ein jüngeres Synonym der Großen Bananenspinne ist. Strand beschrieb 1910 für die 1900 von Frederick Octavius Pickard-Cambridge erstbeschriebene Art C. peregrinus zwei in Guatemala gefundene Weibchen. Dabei wies Strand auf Unterschiede der Morphologie bei der Epigyne des Holotyps und der zwei von ihm gefundenen Weibchen hin und schlug vor, die von ihm gefundenen Tiere einer weiteren Art, C. peregrinoides zuzuordnen. Simó und Brescovit ordneten die von Strand beschriebenen Tiere der Großen Bananenspinne zu, sodass C. peregrinoides ebenfalls zu einem Synonym dieser Art wurde. Ferner beschrieb Strand 1910 die Art C. signativenter anhand eines einzelnen Exemplars aus Ecuador, das später von Simó und Brescovit anhand der Verbreitung und der Färbung als juveniles Individuum der Großen Bananenspinne zugeordnet werden konnte. Bissunfälle und Symptome Die Große Bananenspinne ist wie andere Bananenspinnen (Phoneutria) vor allem aufgrund ihrer unangenehmen Bisse beim Menschen bekannt und gefürchtet, zumal die Wahrscheinlichkeit von Bissunfällen aufgrund des aggressiven Verhaltens der Spinne gesteigert werden kann. Trotz alledem sind Bisse der Art selten nachgewiesen worden. Ferner scheint das Gift der Großen Bananenspinne im Vergleich zu denen anderer Bananenspinnen, etwa der Brasilianischen Wanderspinne (P. nigriventer) oder P. keyserlingi, beim Menschen eine deutlich schwächere Wirkung zu zeigen. Das Gift der Großen Bananenspinne gilt als mild toxisch bis toxisch beim Menschen wirkend und ihr Biss soll für etwa 24 Stunden mit Schmerzen einhergehen, wobei die schwerwiegenden Symptome anderer Bananenspinnen wie den beiden genannten bei Bissen dieser Art ausbleiben. Einzelnachweise Literatur Weblinks bei Global Biodiversity Information Facility Phoneutria boliviensis bei araneae – Spiders of Europe Phoneutria beim Staatlichen Museum für Naturkunde Karlsruhe Phoneutria bei der University of Florida Kammspinnen Giftspinnen
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https://de.wikipedia.org/wiki/Gew%C3%B6hnlicher%20Ameisenvagabund
Gewöhnlicher Ameisenvagabund
Der Gewöhnliche Ameisenvagabund (Phrurolithus festivus), auch bekannt unter dem Namen Gefleckte Feldspinne, ist eine Spinne aus der Familie der Ameisensackspinnen (Phrurolithidae). Er war ursprünglich nur paläarktisch verbreitet und wurde in Kanada eingeführt. Die äußerst anpassungsfähige Art bewohnt eine Vielzahl sowohl an trockenen als auch an feuchten Habitaten (Lebensräume) und kann ebenfalls in menschengemachten Lebensräumen angetroffen werden, bevorzugt aber allgemein Freiflächen. Ein besonderes Merkmal des Gewöhnlichen Ameisenvagabunds, das dieser mit anderen Ameisensackspinnen teilt, ist das Nachahmen von Ameisen in Form der Bates’schen Mimikry. Dafür imitiert die Art die Bewegungen von Ameisen und ahmt diese auch optisch nach. Diese Imitation dient dem Prinzip der Bates’schen Mimikry entsprechend dazu, gegenüber Prädatoren (Fressfeinden) abschreckend zu wirken, da Ameisen aufgrund ihrer Wehrhaftigkeit für viele Räuber eine unbeliebte Beute darstellen. Der wie alle Arten der Gattung tagaktive Gewöhnliche Ameisenvagabund bewegt sich ebenso nach Eigenart der Ameisenvagabunden zumeist schnell umher und erbeutet dabei als aktiver Laufjäger beliebige Gliederfüßer, die kleiner als der Jäger selbst sind. Der Paarung geht kein Balzverhalten voraus. Ein begattetes Weibchen legt einige Zeit nach der Paarung mehrere Eikokons mit vergleichsweise wenig Eiern ab. Ansonsten ist der Lebenszyklus der Spinne wenig erforscht. Merkmale Das Weibchen des Gewöhnlichen Ameisenvagabunds kann nach Sven Almquist (2006) eine Körperlänge von 2,7 bis zu 3,8 sowie im Durchschnitt 3,1 ± 0,2 und das Männchen eine von 2,6 bis zu 3 sowie durchschnittlich 2,8 ± 0,1 Millimetern erreichen. Damit handelt es sich wie bei allen Ameisensackspinnen (Phrurolithidae) um eine kleinere Spinnenart. Der grundsätzliche Körperbau der Spinne gleicht dem anderer Ameisenvagabunden (Phrurolithus). Die Beinformel lautet wie bei vielen Spinnen 4-1-2-3. Legende für angegebene Richtungslagen: d = dorsal (oben) pl = prolateral (seitlich vorne) v = ventral (unten) Bei der Art erscheint das Opisthosoma (Hinterleib) abgewinkelt und anterior (vorne) wie posterior (hinten) etwa gleich breit. Sexualdimorphismus Der Gewöhnlicher Ameisenvagabund weist wie viele Spinnen einen ausgeprägten Sexualdimorphismus (Unterschied der Geschlechter) auf. Dieser macht sich neben den Dimensionen auch in der Farbgebung von Weibchen und Männchen bemerkbar. Außerdem verfügt das Männchen wie bei Ameisenvagabunden (Phrurolithus) üblich über ein Scutum (sklerotisierte, bzw. verhärtete Platte) auf dem Opisthosoma, das dem Weibchen fehlt. Weibchen Beim Weibchen kann laut Almquist der Carapax (Rückenschild des Prosomas, bzw. Vorderkörpers) eine Länge von 1,04 bis zu 1,35 und durchschnittlich 1,2 ± 0,06 sowie eine Breite von 0,86 bis zu 1,09 und im Durchschnitt 0,97 ± 0,05 Millimetern aufweisen. Das Verhältnis zwischen Länge und Breite des Carapax beläuft sich beim Weibchen auf 1,16 bis 1,34, wobei der Durchschnittswert hier 1,23 ± 0,05 beträgt. Der Carapax ist beim Weibchen außerdem um 52 Grad geneigt. Der Carapax des Weibchens ist dunkel gelblich braun und die Cheliceren (Kieferklauen) bräunlich gefärbt. Promarginal (innen vorderseitig) sind die Cheliceren je mit drei und retromarginal (innen rückseitig) mit einem Zahn versehen. Das Sternum (Brustschild des Prosomas) hat eine braune Grundfarbe, wobei es marginal (randseitig) eine dunklere Farbgebung aufweist, die in die Weite geht. Die Beine sind gelblich braun gefärbt, die Femora (Schenkel) erscheinen dunkler. Das Opisthosoma des Weibchens hat dorsal eine dunkelbraune Grundfärbung sowie schillernde Setae (chitinisierte Haare). Anterolateral (vorne seitlich) befinden sich auf dem Opisthosoma zwei weiße Flecken, während median (mittig) auf diesem Körperabschnitt ein weißes Zickzackband verläuft. Nicht selten befinden sich posterior auf dem Opisthosoma schmale und blasse Winkelflecken. Ventral erscheint das Opisthosoma gräulich und es verfügt dort außerdem über kleine blasse Punkte. Männchen Beim Männchen ist der Carapax 1,2 bis 1,38 und im Durchschnitt 1,27 ± 0,04 Millimeter lang sowie 0,97 bis 1,2 und durchschnittlich 1,06 ± 0,05 Millimeter breit. Das Längen-Breiten-Verhältnis des Carapax beträgt hier 1,13 bis 1,3 und zumeist 1,21 ± 0,04 und seine Neigung 28 Grad. Der Carapax des Männchens hat eine dunkelbraune Farbgebung und ist medial am kephalen (am Kopf gelegenen) Bereich mit weißen sowie posterior mit radiär angelegten Reihen ebenso weißer Setae bedeckt. Die Cheliceren des Männchens sind dunkelbraun gefärbt und tragen anders als die des Weibchens keine Zähne. Das Sternum ist wie beim Weibchen braun gefärbt und marginal dunkler, hier jedoch weniger ausladend. Die Beine des Männchens haben eine gelblich braune Grundfärbung. Dabei sind hier die Femora dunkelbraun und die Coxae (Hüftglieder) sowie die Trochanter (Schenkelringe) hellgelbbraun gefärbt. Die Dorsalseite des Opisthosomas weist beim Männchen eine schwarze Färbung auf, während sich hier anterolateral je zwei fleckenartige Formationen aus weißen Setae befinden. Wie beim Weibchen verläuft auch beim Männchen median auf der Dorsalseite des Opisthosomas ein weißes Zickzackband. Zusätzlich befindet sich beim Männchen ein Büschel aus weißen Setae am Apex (Spitze) des Opisthosomas. Die Ventralfläche des Opisthosomas ist hier gelblich braun bis braun gefärbt. Genitalmorphologische Merkmale Die Pedipalpen (umgewandelte Extremitäten) vom Männchen des Gewöhnlichen Ameisenvagabundes sind fast schwarz gefärbt. Dabei erscheinen die Femora dunkelbraun. Ein einzelner Pedipalpus kann von denen anderer männlicher Ameisenvagabunden (Phrurolithus) mitunter durch die für die Gattung typische retrolaterale (seitlich rückliegende) Apophyse (chitinisierter Fortsatz) an seiner Tibia (Schiene) unterschieden werden, die hier im Vergleich sehr groß ist und ein schaufelförmiges Erscheinungsbild aufweist. Der basale (an der Basis gelegene) Teil eines Bulbus (männliches Geschlechtsorgan) der Art ist hervorstehend. Eine weitere teguläre (rückseitige) Apophyse an je beiden Pedipalpen ist beim Gewöhnlichen Ameisenvagabund breit gebaut und verfügt über eine gebogene Spitze. Der gebogene Embolus (drittes und letztes Sklerit bzw. Hartteil eines Bulbus) erscheint pflockartig. Die Epigyne (weibliches Geschlechtsorgan) des Gewöhnlichen Ameisenvagabunds wird innerhalb der Gattung mitunter durch ihre posterior sklerotisierte (verhärtete) Platte gekennzeichnet. Außerdem ragt das Geschlechtsorgan über die epigastrische (beim Magen befindliche) Furche geringfügig hinaus. Die Epigyne des Gewöhnlichen Ameisenvagabunds besitzt eine eher kleinere Kopulationsöffnung und die Kopulationsgänge sind vergleichsweise kurz und breit. Die primärem Spermatheken (Samentaschen) der Art sind transversal (quer) angelegt, die sekundären sind groß und oval geformt. Differenzierung von anderen Ameisenvagabunden Da sich alle Ameisenvagabunden (Phrurolithus) mitsamt dem Gewöhnlichen Ameisenvagabunden einander sehr ähneln und insbesondere die Fleckenzeichnung vermutlich bei allen Arten der Gattung derart vorhanden ist, ist eine Unterscheidung dieser wie auch beim Gewöhnlichen Ameisenvagabunden nur anhand der genitalmorphologischen Merkmale gegeben. Beim Kleinen Ameisenvagabunden (P. minimus) sind beim Männchen die Pedipalpen schwarz gestreift und eine einzelne daran befindliche Tibialapophyse stark gebogen. Ein Bulbus besitzt hier je distal (von der Körpermitte entfernt) eine spitz zulaufende und gekrümmte Apophyse. Die Epigyne des Kleinen Ameisenvagabunden besitzt median gelegene Kopulationsöffnungen. Für den Südlichen Ameisenvagabunden (P. nigrinus) ist vor allem die gebogene Tibialapophyse mit langer, abgesetzter Spitze an einem einzelnen Pedipalpus beim Männchen typisch, während die Epigyne der Art durch eine große mediane Grube charakterisiert wird. Für das Männchen des Östlichen Ameisenvagabunden (P. pullatus) ist mit symmetrischer Spitze ausgestattete Tibialapophyse an einem Pedipalpus typisch. Ferner hat hier ein Bulbus jeweils zwei distale Apophysen, die den Embolus überragen. Die Epigyne dieser Art verfügt über lateral gelegene Kopulationsöffnungen. Bei P. szilyi, dem fünften in Mitteleuropa vorkommenden Ameisenvagabunden, ist die Tibialapophyse an einem Pedipalpus des Männchens mit einer wenig abgesetzten Spitze und ein Bulbus mit breiter und rundlicher distaler Apophyse versehen. Die Epigyne hat, ähnlich wie die des Südlichen Ameisenvagabunden eine große mediane Grube, die hier allerdings am Vorderrand eingedellt erscheint. Vorkommen Das ursprüngliche Verbreitungsgebiet des Gewöhnlichen Ameisenvagabunds erstreckte sich über Europa, Nordafrika, die Türkei, Kaukasien, Russland (europäischer bis fernöstlicher Teil), Kasachstan, Iran, China, Korea, Japan. In Kanada wurde er überdies eingeführt. Auch in Europa selber ist die Art flächendeckend vertreten und fehlt in Kontinentaleuropa lediglich in Kroatien, Bosnien und Herzegowina und dem Kosovo sowie zusätzlich auf der russischen Doppelinsel Nowaja Semlja, in Franz-Josef-Land, Island und auf der Inselgruppe Spitzbergen, Sardinien, den Balearischen Inseln, Kreta und Zypern. In Nordafrika fehlen Nachweise der Spinne aus Tunesien und Ägypten. Der Gewöhnliche Ameisenvagabund ist vor allem in West- und Mitteleuropa weit verbreitet. Auf Großbritannien ist er vor allem im südlichen Teil der Insel häufig, während sein Vorkommen dort im Westen stark verstreut ist. Nach Norden hin reicht das Verbreitungsgebiet der Art auf Großbritannien bis in den zentralen Teil Schottlands. Lebensräume Der Gewöhnliche Ameisenvagabund bewohnt eine große Anzahl sowohl an trockenen als auch an feuchten Habitaten (Lebensräumen) und wurde mitunter in Graslandschaften, Gärten, Streuschichten und der Unterseite von Steinen nachgewiesen. Gleiches trifft auf die Nähe von mit Wasser gefüllten Gruben sowie der Unterseite von Steinen in Steinbrüchen zu. Weitere erwiesene Lebensräume der Art sind Trockenwiesen, Dünenheiden, Bodenstreu unter Wacholder (Juniperus) und die Unterseite von Steinen auf Kalkflächen. Auch wurde die Spinne in Weinbergen, sonnigen Wäldern und an Stränden nachgewiesen. Der Gewöhnliche Ameisenvagabund kann bis in Höhen von bis zu 1.350 Metern über dem Meeresspiegel angetroffen werden. Auf Großbritannien beschränkt sich diese Höhe auf 700 Meter über dem Meeresspiegel. Gefährdung Die Bestandssituation des Gewöhnlichen Ameisenvagabunds wird je nach Land unterschiedlich gewertet. In Deutschland etwa ist er sehr häufig und seine Bestände gelten dort sowohl lang- als auch kurzfristig als gleichbleibend. Aufgrund dessen wird die Art in der Roten Liste gefährdeter Arten Tiere, Pflanzen und Pilze Deutschlands (2016) als „ungefährdet“ eingestuft. Gleiches war auch in der vorherigen Version dieser Roten Liste aus dem Jahr 1996 der Fall. Auch wird die Spinne in der Roten Liste der Spinnen Kärntens (1999) in selbiger Kategorie erfasst. Ähnlich wie in Deutschland und in Kärnten ist der Gewöhnlichen Ameisenvagabund in der Roten Liste Großbritanniens (2017) nach IUCN-Maßstab in der Kategorie LC („Least Concern“, bzw. nicht gefährdet) gelistet. Gleiches ist bei der Roten Liste der Spinnentiere (Arachnida) Norwegens (2015) der Fall, während die Spinne in der Roten Liste der Spinnen Tschechiens (2015) in Anbetracht der dortigen Bestandssituation in der Kategorie ES („Ecologically Sustainable“, bzw. ökologisch anpassbar) erfasst wird. Lebensweise Der Gewöhnliche Ameisenvagabund ist wie alle Ameisenvagabunden (Phrurolithus) tagaktiv und bewegt sich ebenso wie die anderen Arten der Gattung auf besonnten und offenen Flächen flink umher. Dazu zählt etwa die Oberfläche des Bodengrunds oder Baumrinde. Nachts versteckt sich die Spinne dann in Spalten von Baumrinde, Streuschichten oder unter Steinen. Auch ahmt er wie andere Ameisenvagabunden entsprechend des Trivialnamens Ameisen in Form der Bates’schen Mimikry nach. Als mögliche Modellarten des Gewöhnlichen Ameisenvagabunds werden die Grauschwarze Sklavenameise (F. fusca), die Rote Waldameise (F. rufa) und die Blutrote Raubameise (F. sanguinea) aus der Gattung der Waldameisen (Formica) als auch die Gelbe Wiesenameise (L. flavus), die Glänzendschwarze Holzameise (L. fuliginosus) und die Schwarze Wegameise (L. niger) aus der Gattung der Wegameisen (Lasius) in Betracht gezogen. Da die Spinne oft in Gesellschaft mit Ameisen angetroffen werden kann, wird bei ihr eine Myrmekophilie (Bindung an Ameisen) vermutet. Bedingt durch seine myrmekomorphe (ameisenimitierende) Eigenschaft ist der Gewöhnliche Ameisenvagabund vor möglichen Prädatoren (Fressfeinden) gut geschützt, da Ameisen zumeist aufgrund ihrer Wehrhaftigkeit unbeliebte Beutetiere darstellen und die Spinne selber aufgrund ihres myrmekomorphen Erscheinungsbildes sehr an diese erinnert. Gleichermaßen ist der Gewöhnliche Ameisenvagabund auch vor den Ameisen durch Schutzmaßnahmen weitestgehend sicher, etwa, indem er selber den Ameisen ausweicht. Damit hat der Gewöhnliche Ameisenvagabund wie viele myrmekomorphe Spinnen deutlich höhere Überlebenschancen gegenüber den Spinnen, denen diese Eigenschaft fehlt. Die circadiane (den Schlaf-Wach-Rhythmus betreffende) Aktivität der Art reicht am Tag etwa von 7:00 Uhr bis 21:00 Uhr und entspricht somit weitestgehend der der Wegameisen. Jagdverhalten und Beutespektrum Der wie alle Spinnen räuberisch lebende Gewöhnliche Ameisenvagabund ist ein Laufjäger, der kein Spinnennetz für den Beutefang anlegt. Beutetiere werden von der Art aktiv aufgesucht und dann ergriffen. Ein Giftbiss der Spinne hindert ein ergriffenes Beutetier dann sowohl an einer Flucht als auch an einer Gegenwehr. Der Gewöhnliche Ameisenvagabund ist euryphag (nicht auf bestimmte Nahrung angewiesen) und demzufolge ein opportunistischer Jäger, der andere Gliederfüßer erlegt. Dabei werden jedoch bevorzugt solche erbeutet, die die Größe des Prosomas der Spinne nicht übertreffen. In Gefangenschaft konnte das Erlegen von Springschwänzen (Collembola), Taufliegen (Drosophilidae) und Gleichflüglern (Homoptera) und demnach von Beutetieren nachgewiesen werden, die kleiner als 70 % der Körperlänge der Spinne sind. Einige kleinere Wirbellose, darunter Springschwänze und Milben, erhalten von den Ameisen, bei denen sich der Gewöhnliche Ameisenvagabund aufhält, keine Aufmerksamkeit und können von ihm deshalb in großer Menge als Nahrung dienen. Allerdings ließ sich auch das Erbeuten von Ameisen seitens der Spinne belegen. Lebenszyklus und Phänologie Der Lebenszyklus des Gewöhnlichen Ameisenvagabunds ist wie bei anderen Spinnen in die Phasen der Fortpflanzung, der Eiablage und des Heranwachsens unterteilt. Die Phänologie (Aktivitätszeit) ausgewachsener Individuen beläuft sich beim Weibchen der Art auf den Zeitraum zwischen Februar und Oktober und beim Männchen auf den zwischen März und Oktober. Der Lebenszyklus der Spinne wurde neben dem Beutespektrum in Teilen 2011 von Stano Pekar und Martin Jarab analysiert. Ein Männchen des Gewöhnlichen Ameisenvagabunds stürmt, sofern es in die Nähe eines Weibchens gelangt, sofort auf dieses zu und die Paarung beginnt. Ein Balzverhalten ließ sich bei der Art nicht belegen. Die nach Pekar und Jarab im Durchschnitt 252 ± 15,7 Minuten dauernde Begattung wird in der Position III ausgeführt, bei der sich das Männchen während der Begattung in die entgegengesetzte Blickrichtung gewendet über dem Weibchen aufhält. Dieser Prozess findet beim Gewöhnlichen Ameisenvagabund am Tag und auf offenen Flächen, wie Baumrinde oder dem Bodengrund statt, sodass die Paarung hier im Gegensatz zu einigen anderen myrmekomorphen Spinnen während der Fortpflanzung keine Schutzmaßnahmen enthält. Bei einigen anderen Spinnen mit dieser Eigenschaft, etwa den nicht näher verwandten Ameisenspringern (Myrmarachne), findet die Paarung in einem Gespinst statt. Einige Zeit nach der Paarung, jedoch noch im gleichen Jahr der Begattung, legt das Weibchen durchschnittlich 4 Eier in einem Eikokon ab. Die Eigelege des Gewöhnlichen Ameisenvagabunds enthalten demnach im Vergleich zu denen anderer Spinnen sehr wenig Eier. Zwar ist dies auch bei anderen myrmekomorphen Spinnen der Fall und ist dort aufgrund des zugunsten der ameisenähnlichen Gestalt verschmälerte Opisthosoma zurückzuführen, beim Gewöhnlichen Ameisenvagabund dürfte die geringe Anzahl abgelegter Eier jedoch an der allgemein eher geringen Körperlänge der Art liegen. Bei einer höher ausfallenden Körperlänge können die Eigelege größer ausfallen, obgleich der Unterschied nicht signifikant wäre. Ein begattetes Weibchen des Gewöhnlichen Ameisenvagabunds fertigt nach Pekars und Jarabs Beobachtungen im Durchschnitt nacheinander in gewissen Zeitabständen zwei Eikokons an. Auch diese im Vergleich geringe Anzahl an Eikokons kommt bei einigen anderen myrmekomorphen Spinnen vor, während stärker myrmekomorphe Spinnen mit einem verengten Opisthosoma – darunter Zwergameisenspringer (Synageles) – mit sieben bis acht Kokons jedoch eine deutlich höhere Anzahl dieser produzieren. Da bei den weniger myrmekomorphen Spinnen, wie dem Gewöhnlichen Ameisenvagabund, die Kokonanzahl jedoch deutlich geringer ausfällt, ist außerdem erwiesen, dass Iteroparität (Fähigkeit zur mehrmaligen Fortpflanzung) nicht durch eine Mimikry beeinflusst wird. Die Jungtiere wachsen dann wie bei Spinnen üblich über mehrere Fresshäute (Häutungsstadien) heran. Es ist nicht bekannt, wie sich die frisch geschlüpften Jungtiere der Spinne ausbreiten. Die Methode des Spinnenflugs kann wie bei anderen myrmekomorphen Spinnen ausgeschlossen werden, da diese ohnehin im Regelfall die Nähe von Ameisen bevorzugen. Funktion und Theorien zur Evolution der Myrmekomorphie Es wird vermutet, dass die Myrmekomorphie bei Spinnen wie dem Gewöhnlichen Ameisenvagabunden vor allem bei Vögeln abschreckend wirken soll. Daneben dient dessen myrmekomorphe Erscheinung auch als Schutz vor anderen mittels optischer Wahrnehmung jagender Räuber neben Vögeln, etwa Reptilien wie Skinken. Im Gegensatz zu Ameisen, die sich mittels ihrer Ameisensäure zur Wehr setzen können, verfügt der Gewöhnliche Ameisenvagabund über keine Möglichkeit einer direkten Feindabwehr, ist jedoch durch seine Ähnlichkeit von Ameisen vor Fressfeinden relativ sicher. Das myrmekomorphe Erscheinungsbild des Gewöhnlichen Ameisenvagabundes erweist sich jedoch abgesehen von Prädatoren, die ihren Sehsinn für die Jagd nutzen, auch bei solchen als effektiv, die mittels chemischer Reize jagen, darunter Grabwespen (Spheciformes). Es wird vermutet, dass diese sich parasitoid entwickelnden Wespen ihre jeweils bevorzugten Beutetiere mitsamt Spinnen anhand der chemischen Struktur von dessen Integuments (äußerer Körperhülle) identifizieren können. Insgesamt erbeuten Grabwespen deutlich seltener myrmekomorphe Spinnen als andere. Da sich die die chemische Zusammensetzungen des Integuments sowohl bei myrmekomorphen als auch nicht myrmekomorphen Spinnen einander identisch sind, besteht noch Forschungsbedarf, ob und inwiefern myrmekomorphe Spinnen von Grabwespen tatsächlich eher gemieden werden. Viele andere Spinnen, die die Gestalt und Färbung von Ameisen stark nachahmen werden auch als Ameisenspinnen bezeichnet, jedoch wird der Gewöhnliche Ameisenvagabund nicht dazu gezählt. Er ist weniger myrmekomorph als beispielsweise Spinnen aus der Gattung der Ameisenspringer (Myrmarachne), bei denen die Ähnlichkeit durch die Gestalt von Körper und Beinen zu Ameisen noch deutlicher ausgeprägt ist; diese beiden genannten habituriellen (das Erscheinungsbild betreffenden) Eigenschaften fehlen beim Gewöhnlichen Ameisenvagabunden. Letztere Art imitiert lediglich durch ihre Bewegungsweise und Färbung ihre Modellarten. Allerdings erwies sich auch das weniger myrmekomorphe Erscheinungsbild des Gewöhnlichen Ameisenvagabunds dennoch als genauso effektiver Schutz zumindest vor Vögeln wie das stärker myrmekomorpher Spinnen. Dies mag allerdings auch mit der Anwendung der Sehfäfigkeit bei visuell jagenden Prädatoren begründbar sein. Räuberische Wirbellose, die mittels optischer Sinne jagen, darunter Fangschrecken oder Springspinnen (Salticidae), begegnen einer myrmekomorphen Spinne auf deutlich geringerer Distanz und nehmen diese Spinnen optisch vermutlich aus einer anderen Perspektive wahr, als es bei Vögeln der Fall ist. Letztere suchen Beutetiere allerdings visuell aus weiteren Entfernungen, so macht die Kohlmeise beispielsweise Beuteobjekte aus Entfernungen von 30 Zentimetern aus. Ameisen sind innerhalb ihrer Kolonien noch effektiver vor Prädatoren geschützt. Gleiches trifft möglicherweise auf myrmekomorphe Spinnen mitsamt dem Gewöhnlichen Ameisenvagabunden zu, die sich in diesen Kolonien aufhalten. Es ließ sich experimentell belegen, dass Vögel Schwierigkeiten haben, myrmekomorphe Spinnen von Ameisen mittels ihres Sehsinns zu unterscheiden. Gleichermaßen werden myrmekomorphe Spinnen jedoch von Vögeln ebenso gemieden, wenn sie sich nicht in Gesellschaft von Ameisen oder gar in welcher von nicht myrmekomorphen Spinnen befinden, sodass eine Myrmekomorphie Spinnen mit dieser Eigenschaft auch in verschiedenen Situationen Schutz gewährt, unabhängig davon, ob myrmekomorphe Spinnen bei Ameisenkolonien befindlich sind oder nicht. Da verschiedene Prädatoren jedoch unterschiedliche Methoden zur Wahrnehmung von Beutetieren nutzen, ist noch unklar, wie effektiv die Myrmekomorphie auch bei anderen Antagonisten des Gewöhnlichen Ameisenvagabunds ist. Wird eine myrmekomorphe Spinne wie der Gewöhnliche Ameisenvagabund dennoch von einem Vogel attackiert, frisst dieser nicht selten dann die Spinne wegen der fehlenden chemischen Abwehrmethoden. Ameisen werden von Vögeln aufgrund ihrer Ameisensäure überwiegend gemieden oder damit abgewehrt, sollten sie dennoch versuchen, eine Ameise zu attackieren. Damit stehen Ameisen im Kontrast zu anderen wehrhaften oder für Prädatoren anderweitig abschreckenden Beuteobjekten, die mittels Warnfarben Räuber von einem Angriff abhalten können. Im Gegensatz dazu sind Ameisen zumeist einheitlich schwärzlich, bräunlich oder rotbraun und damit eher unauffällig gefärbt. Demnach können Ameisen von potentiellen Prädatoren auf optische Art also nur anhand ihres Habitus und ihrer Bewegungsweise erkannt werden. Die Fähigkeit, Ameisen visuell zu erkennen, ließ sich neben Vögeln auch bei Wirbellosen nachweisen, so meiden Fangschrecken etwa Ameisen als Beutetiere und Schmetterlinge der Gattung Eunica legen keine Eier auf von Ameisen besuchten Pflanzen ab. Die erwähnten Faktoren lassen die Schlussfolgerung zu, dass zumindest Vögel als visuell jagende und bedeutende Räuber von Spinnen maßgeblich für die evolutionäre Entwicklung von Myrmekomorphie bei Spinnen wie dem Gewöhnlichen Ameisenvagabund verantwortlich wären, wobei das Vorhandensein dieser Eigenschaft auch bei vielen anderen möglichen Prädatoren von Spinnen Wirkung zeigen könnte. Myrmekomorphie kann neben optischen Sinnen auch den Geruchs-, den Geschmackssinn oder die taktile Wahrnehmung von Prädatoren beeinflussen. Diesbezüglich besteht allerdings noch Forschungsbedarf. Systematik Die Systematik des Gewöhnlichen Ameisenvagabunds erfuhr vermehrt Änderungen. Der Artname festivus ist ein Adjektiv aus der lateinischen Sprache und bedeutet übersetzt „festlich“ oder „heiter“. Er deutet auf die kontrastreiche Farbgebung der Spinne. Der Gewöhnliche Ameisenvagabund ist die Typusart der Ameisenvagabunden (Phrurolithus). Bei seiner 1835 von Carl Ludwig Koch durchgeführten Erstbeschreibung wurde der Gewöhnliche Ameisenvagabund vom Autor der Gattung Macaria unter der Bezeichnung M. festiva untergliedert. Danach erhielt die Art von verschiedenen Autoren unterschiedliche Bezeichnungen mitsamt Umstellungen. Allerdings hat Koch selber den Gewöhnlichen Ameisenvagabund bereits vier Jahre nach seiner Erstbeschreibung der zu dem Zeitpunkt ebenfalls von ihm erstbeschriebenen Gattung der Ameisenvagabunden unter der noch heute gängigen Bezeichnung P. festivus untergeordnet. Seit einer 1968 seitens Wilhelm Job durchgeführten Revision des Gewöhnlichen und des Kleinen Ameisenvagabunden (P. minimus) ist P. festivus die durchgehend angewandte Bezeichnung für den Gewöhnlichen Ameisenvagabunden. Einzelnachweise Literatur Weblinks bei Global Biodiversity Information Facility Phrurolithus festivus beim Rote-Liste-Zentrum Phrurolithus festivus bei der British Arachnological Society Phrurolithus festivus bei araneae – Spiders of Europe Phrurolithus festivus beim Wiki der Arachnologischen Gesellschaft e. V. Ameisensackspinnen